Todesbucht - Jobst Schlennstedt - E-Book

Todesbucht E-Book

Jobst Schlennstedt

4,9

Beschreibung

Es ist Sommer, und die Sonne brennt seit Tagen über der Lübecker Bucht. Die Urlaubssaison steuert auf ihren Höhepunkt hin, da wird die ausgelassene Stimmung jäh zerstört. Am helllichten Tag spülen die Fluten die Leiche eines Mannes an den Strand. Schnell wird klar, dass der Mann ermordet wurde. Als es kurz darauf erneut zu einem gewaltsamen Vorfall kommt, hat Kriminalhauptkommissar Birger Andresen keinen Zweifel daran, dass er es mit einem Serientäter zu tun hat.

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Hauptberuflich ist er als Projektmanager in einem Hamburger Beratungsunternehmen tätig. Im Emons Verlag erschienen die Westfalenkrimis »Westfalenbräu« und »Dorfschweigen«. Außerdem die Küstenkrimis »Tödliche Stimmen«, »Der Teufel von St. Marien«, »Möwenjagd«, »Traveblut« und »Küstenblues«. Mit »Todesbucht« liegt jetzt sein sechster Band der Kriminalreihe um den Lübecker Kommissar Birger Andresen vor.

www.jobst-schlennstedt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: © Ulf Böttcher/LOOK-foto

Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-86358-432-0

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Wer auf Rache sinnt, der reißt seine eigenen Wunden auf.

Francis Bacon

MONTAG, 5:54UHR

Vom Steg aus glitt sein Blick über die ruhige Ostsee. Die Erinnerungen an damals waren so klar, dass er an sich herunterblicken musste, um sicherzugehen, dass er mittlerweile ein Mann war. Nicht mehr der fröhliche Junge, der so unbeschwert gewesen war. So glücklich und ausgelassen wie in jenem Sommer. Damals vor zwanzig Jahren.

Nichts hätte sie trennen sollen. Das hatten sie sich seit Langem fest geschworen. Und doch hatte er bereits vor dem Sommer 1994 diese seltsamen Gedanken gehabt. Grauenhafte Alpträume, dass eines Tages etwas Schlimmes passieren würde. Da war dieses große schwarze Loch gewesen, von dem sie beide aufgesogen und getrennt wurden. Schon als kleines Kind hatte er diese Träume gehabt, so hatten es ihm seine Eltern später erzählt.

Die Erkenntnis, dass er recht behalten hatte, war wie ein Schlag mit einem Hammer mitten in sein Gesicht gewesen. Seine Vorahnung war an diesem Sommertag vor zwanzig Jahren grausame Realität geworden. Sein Leben, wie er es gekannt hatte, von einer zur anderen Sekunde zerstört. Alles vernichtet, was ihm wichtig gewesen war. Und das Schlimmste: Er hatte es nicht verhindern können, obwohl er dabei gewesen war.

Die Jahre danach existierten in seiner Erinnerung nur noch schemenhaft. Vieles war verschwommen, das meiste infolge des Medikamentenkonsums für immer von seiner Festplatte gelöscht. Unwiderruflich.

Er hatte auf der Kippe gestanden. Der Tod war ihm nahe gewesen. Näher, als er damals verstanden hatte. Die Gefahr war von außen gekommen, durch die Psychopharmaka, die sie ihm jahrelang in hohen Dosen verabreicht hatten. Schlimmer noch war jedoch der eigene, innere Todesdrang gewesen. Sein Lebensmut war aufgebraucht, die Sehnsucht nach dem Jenseits, dem Ort, wo sie wieder vereint sein würden, stärker als der Wille, allein weiterzuleben.

Und doch hatte er schlussendlich die Kurve gekriegt. Der Moment, in dem er sich geschworen hatte, sein Leben wieder in die Hand zu nehmen, hatte sich nicht minder grauenhaft in seine Erinnerungen eingebrannt.

Es war ein Samstag zwischen zwei Klinikaufenthalten gewesen. Er hatte seinen Vater besuchen wollen, seine Mutter war mit einer Freundin über das Wochenende verreist.

Die Beziehung zu seinen Eltern war innig gewesen. Nach den Erlebnissen vor zwanzig Jahren noch stärker als vorher. Sie waren für ihn da gewesen, als er nicht gewusst hatte, wie er mit dem Schmerz umgehen sollte. Hatten alles versucht, wozu sie selbst in dieser Situation in der Lage gewesen waren. Aber letztlich war ihr eigener Schmerz viel zu groß gewesen.

Seinen Vater hatte er an diesem Samstag im Garten vorgefunden. Es war ein friedlicher Anblick gewesen, wie er da am Apfelbaum gehangen hatte. Er war schon kalt gewesen, sein Körper starr. Der Tod musste bereits einige Stunden zuvor eingetreten sein.

In diesem Augenblick, als er sich im Garten seiner Eltern, dort, wo er eine glückliche Kindheit verbracht hatte, erbrechen musste, hatte er sich etwas geschworen. Etwas, das womöglich sein Leben gerettet und ihn an den Ort geführt hatte, an dem er gerade stand. Nicht mehr lange, und er würde endlich mit diesem dunkelsten Kapitel seiner Vergangenheit abschließen können.

Die Ostsee lag vor ihm wie ein blauschwarzer Teppich. Algen schwammen an der Oberfläche und verströmten einen unangenehmen Gestank von Fäulnis. Das Resultat der Hitzewelle der vergangenen Wochen. Am Horizont erkannte er eine der großen Skandinavienfähren, die demnächst in den Hafen von Travemünde einlaufen würde.

Es war kurz vor sechs. Schon bald würde es nicht nur auf dem Wasser belebter zugehen, auch die ersten Frühaufsteher würden die morgendliche kühle Stunde ausnutzen, um ein paar Runden im Meer zu schwimmen. Allmählich wurde es Zeit für ihn, auf Tauchstation zu gehen. Auf die Position, auf der er ausharren würde, bis der Zeitpunkt gekommen war. Der Moment, auf den er sich in den vergangenen Monaten so gewissenhaft und intensiv vorbereitet hatte. Der Anfang dessen, was ihm endlich, nach all den Jahren, die Genugtuung verschaffen würde, für die er so lange durchgehalten hatte.

Er blickte sich um. Noch immer befand er sich allein auf dem Steg. Auch am Strand war niemand zu sehen. Doch lange würde es nicht mehr dauern.

Er hielt die Luft an, zog seinen Bauch ein und schloss den Reißverschluss seines Neoprenanzugs. Dann setzte er die Tauchmaske mit dem integrierten Schnorchel auf und stieg langsam die schmale Metallleiter am Ende des Stegs hinunter ins Wasser. Zur Badeinsel, die schon seit Jahrzehnten vor Travemündes Küste lag, waren es maximal hundert Meter. Dort würde er sich versteckt halten. So lange, bis Martin auftauchte. Dass er auftauchte, da war er sich sicher. Sein Anruf bei ihm war unmissverständlich gewesen. Er hatte ihm klar und deutlich gesagt, dass sie sich dringend unterhalten mussten.

Er glitt ins warme Wasser und ließ sich eine Weile treiben. Es hatte etwas Beruhigendes und zugleich auch etwas zutiefst Traumatisches. Das Gefühl der Schwerelosigkeit rief die Erinnerungen an damals derart schlagartig wieder hervor, dass er einen heftigen Schauer verspürte. Für einen Moment war er versucht, sich einfach auf den Grund der Ostsee sinken zu lassen. Beine zusammen und Arme an den Körper. Luft anhalten und den Mund erst am Meeresboden öffnen. So wie er es für den Fall der Fälle trainiert hatte. Doch dann besann er sich wieder.

Sein Armschlag setzte wie fremdgesteuert ein. Erst langsam, dann steigerte er sich schnell. Bereits als Kind hatten sie ihm eine Karriere als Schwimmer vorausgesagt. Später, in einer Phase, in der es ihm nicht gut gegangen war, hatte er sich bei der Bundeswehr zum Kampfschwimmer ausbilden lassen. Er hatte gehofft, dort etwas Abstand zu gewinnen, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Seine psychischen Probleme hatten ihn in dieser Zeit fest im Griff gehabt.

Gemächlich schwamm er weiter. Eine knappe Minute später erreichte er die Badeinsel. Er zog sich an der Plattform hoch und legte sich rücklings auf die Holzplanken. Zehn nach sechs, zeigte seine wasserdichte Armbanduhr an.

Er sah in den wolkenlosen Himmel. Auch heute würde es wieder heiß werden. Seit Wochen hielten sich die Temperaturen jenseits der Dreißig-Grad-Marke. Ein Jahrhundertsommer, wie die Zeitungen schrieben. Nur noch ein paar Stunden, und hier am Strand würde die Hölle los sein. Urlauber und Einheimische würden sich um die letzten freien Strandkörbe streiten. Und irgendwann inmitten dieses Sonnentages würde die friedliche Atmosphäre ein jähes Ende finden.

Aus dem Hintergrund nahm er das monotone Stampfen der großen Fähre wahr. Sie befand sich bereits in Höhe der Nordermole und bog in die Travemündung ein. Noch knapp eine Stunde. Dann würde er endlich auf Martin treffen.

MONTAG, 6:57UHR

Der Lärm der Kehrmaschine dröhnte in seinen Ohren. Unerträglicher Krach, wie jeden Morgen. Hinter seiner Stirn pulsierte der Schmerz, während er hektisch die Treppenstufen von der Promenade hinab zum Strand stolperte.

Er hatte versucht, ruhig zu bleiben. Doch der Anruf vor ein paar Tagen hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. Nach all den Jahren war alles wieder hochgekommen. Die fürchterlichen Erinnerungen, die er so lange erfolgreich verdrängt hatte.

Er wolle mit ihm sprechen, hatte er gesagt. Ausgerechnet hier. Auf diesem Steg, auf dem sie einen Großteil ihrer Jugend verbracht hatten. Im Sommer, wenn sie ins Meer gesprungen und zur Badeinsel geschwommen waren. In lauen Nächten, wenn er sich mit Tanja verabredet hatte. Und selbst im Winter, als sie damals auf die vereiste Ostsee hinausgelaufen waren.

Weshalb wollte er mit ihm sprechen? Es gab nichts, was nicht längst zwischen ihnen geklärt war. Was passiert war, war passiert. Alle wussten, dass es nicht seine Schuld gewesen war. Und auch nicht die der anderen. Das hatte selbst die Polizei in ihrem Abschlussbericht bestätigt. Also was zum Teufel wollte er von ihm nach all den Jahren?

Er lief über die Holzbohlen am Strand in Richtung Wasser. Überall lagen Glasscherben. Die gestrige Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Ihn schauderte es bei dem Gedanken daran, dass die Travemünder Woche gerade erst begonnen hatte. Der Stress und die langen Tage und Nächte, die ihm bevorstanden, waren nicht das, was er sich vorgestellt hatte, als er sich mit einem eigenen Stand für das Segelregattaevent angemeldet hatte.

Doch trotz der Müdigkeit, die seinen Körper durchströmte, war er hellwach. Der Anruf hatte ihn aufgewühlt. Außer Datum, Uhrzeit und Treffpunkt hatte er nichts in Erfahrung bringen können.

Es war kurz vor sieben. Noch war der Strand leer. In einiger Entfernung sah er ein paar Frühaufsteher, die in der sanft daliegenden Ostsee schwammen. Vierundzwanzig Grad Wassertemperatur. Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte sich kaum an eine vergleichbare Hitzewelle erinnern. Als Kind und Jugendlicher war er regelmäßig in sechzehn Grad kaltes Ostseewasser gesprungen. Nicht selten war er mit blauen Lippen und schlotternden Knien wieder herausgekommen. Einzig der Sommer 1994 war ähnlich heiß gewesen. Damals hatte die Sommersonne wochenlang am Himmel gestanden, ohne dass sich auch nur eine Wolke davorgeschoben hatte.

Er blickte sich um. Doch auf dem Steg war niemand zu sehen. Ganz bis zum Ende sollte er gehen, hatte er gesagt. Was sollte dieses Theater bloß? Und warum ließ er sich überhaupt darauf ein? Schuldgefühle musste er nicht haben. War es das schlechte Gewissen, das ihn dennoch in seine Arme trieb? Oder hatte er Angst? Angst, weil er nicht wusste, wie es ihm in den vergangenen Jahren ergangen war.

Fünf nach sieben. Er war noch immer allein auf dem Steg.

Ein einziger Anruf. Sechzig Sekunden. Ein abruptes Ende. Er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass es seine Stimme gewesen war. Und trotzdem war er nun zu dieser frühen Stunde hierhergekommen und wartete auf ihn.

Er ging in die Hocke und setzte sich auf die Holzplanken des Stegs. Langsam ließ er seine Beine baumeln. Knapp über der Wasseroberfläche. Aus der Ferne beobachtete er das Seezeichen auf der Nordermole. Die Bake war vor einigen Monaten neu errichtet worden. Statt des alten schwarz-weißen Turms stand dort nun ein grün-weißer.

Warum war er hier? Weshalb nur diese unterschwellige Angst, dass er etwas anderes plante, als nur mit ihm zu sprechen?

Sein Blick glitt über das Wasser. Hunderte kleiner und großer Quallen bewegten sich anmutig durch die aufgewärmte Ostsee. Auch einige Feuerquallen hatten sich in das seichte Wasser verirrt. Plötzlich hallte der lang gezogene Signalton eines Schiffshorns durch die Luft. Aus der Entfernung erkannte er, dass einige Segler in Höhe der Nordermole vor einer auslaufenden Fähre kreuzten und gefährliche Manöver fuhren.

Zehn nach sieben.

Der Steg war leer. Weit und breit war niemand zu sehen, der dem Mann ähnlich sah, der ihn angerufen hatte. Vielleicht hatte er es sich doch noch anders überlegt. Mühevoll versuchte er, sein Unbehagen abzuschütteln.

Das dumpfe Wummern der Fähre dröhnte in seinen Ohren. Der Wind trug die Motorengeräusche der großen Fähren bis an den Strand. Einen Moment lang glaubte er zu erkennen, dass die Wasseroberfläche leichte Wellen schlug. Doch das Kielwasser des Schiffes konnte unmöglich bereits einen Wellenschlag ausgelöst haben.

Er blickte in den Himmel. Er war strahlend blau. Keine Wolke, nicht einmal Kondensstreifen waren zu sehen. Heute würde die Fünfunddreißig-Grad-Marke geknackt werden, für den späten Abend waren Wärmegewitter vorhergesagt.

Erschöpft stemmte er seine Hände auf die Planken des Stegs, um sich aufzurichten. Wie bloß sollte er die nächsten Tage überstehen? Die Travemünder Woche, die Hitze und dann auch noch die Sache mit Hannes, seinem Bruder. Er musste endlich die ganze beschissene Situation mit seiner Familie klären. Und er musste sich dringend um sein Restaurant und die katastrophale Finanzlage kümmern, anstatt hier in aller Früh auf jemanden zu warten, den er längst vergessen zu haben glaubte.

Er stand auf. Noch einmal fiel sein Blick ins Wasser. Es hatte sich beruhigt, die leichten Wellen waren verschwunden. Stattdessen lag die Ostsee wieder wie ein sanft anmutender Teppich vor ihm.

Viertel nach sieben.

Er wollte nicht länger warten. Es gab genug anderes, das zu erledigen war. Noch während er sich umdrehte, sah er aus den Augenwinkeln, dass er nicht mehr allein war. Hinter ihm stand plötzlich jemand. Ein groß gewachsener Mann, der in einem Neoprenanzug steckte und ihn regungslos ansah. Er war nass und musste gerade erst aus dem Wasser gestiegen sein, ohne dass er etwas gemerkt hatte.

»Erkennst du mich nicht?«, fragte der Mann.

Martin schüttelte den Kopf, obwohl ihm sofort dämmerte, wer da vor ihm stand. Zwanzig Jahre waren nicht spurlos an seinem Gegenüber vorbeigezogen. Die Falten in seinem Gesicht waren ein deutliches Zeichen. Er sah mitgenommen aus, als hätte das Schicksal ihm nicht nur psychisch zugesetzt.

»Kein Problem. Ich weiß, du hast mich tatsächlich nicht erkannt. Ich war gestern Abend nämlich sogar an deinem Stand.«

»Du siehst nicht mehr so aus wie damals. Ich hatte ein anderes Bild von dir in Erinnerung.«

»Die letzten Jahre waren nicht gerade einfach für mich. Kannst du bestimmt nachvollziehen, oder?«

Martin nickte.

»Seit damals schlafe ich nachts nicht mehr als drei Stunden. Mit Wodka komme ich wenigstens etwas zur Ruhe. Immerhin bin ich seit einiger Zeit von den Tabletten weg. Leider haben sie mein Gehirn schon völlig zerfressen.«

»Das tut mir leid für dich«, antwortete Martin. »Wirklich.«

Er nickte stumm und verzog seine Mundwinkel zu einem schrägen Lächeln.

»Warum sind wir hier?«, fragte Martin.

»Warum fragst du?«

»Geht es um Malte?«

»Um wen denn sonst?«

»Aber wir beide wissen, dass ich nichts mit seinem Tod zu tun habe.«

»Weiß ich das wirklich?«

»Aus meiner Sicht ist alles zu der Sache gesagt worden.«

»Aus deiner Sicht? Das hast du schön gesagt. Mich interessiert in dieser Sache deine Sicht nicht im Geringsten. Hierbei geht es um mich.«

»Der Polizeibericht war eindeutig.«

»Natürlich, der Polizeibericht, wie konnte ich den vergessen.« Er lächelte erneut.

Martin fand, dass sein Gegenüber einen verwirrten, irren Eindruck machte. Und trotzdem ahnte er, dass er bei klarem Verstand war. »Ob du es glaubst oder nicht, aber es war auch für mich nicht leicht«, sagte er nach einer Weile. »So eine Sache kann man nicht einfach vergessen und zur Tagesordnung übergehen. Wir alle haben gelitten.«

»›So eine Sache‹ nennst du es also?«

»Es war eine verdammte Scheiße, die damals passiert ist. Wir alle konnten nichts mehr machen. Weißt du eigentlich, dass ich sogar noch versucht habe, Malte zu reanimieren? Hast du dir den Polizeibericht jemals durchgelesen?«

»Der Polizeibericht …« Er schüttelte den Kopf und lächelte wieder. Diesmal wirkte das Lachen gequält. »Glaubst du wirklich, ich wüsste nicht, wie dieser Bericht und das Urteil zustande gekommen sind?«

»Worauf spielst du an?«

»Lassen wir das. Sprechen wir lieber darüber, weshalb wir hier sind. Ich will Gerechtigkeit, ganz einfach.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Doch, das tust du. Aber ich denke, es wäre nicht richtig, alles so zu belassen, wie es ist.«

»Was soll das heißen? Verdammt, wovon redest du überhaupt?«

»Ich habe lange überlegt, ob es nicht Strafe genug für dich ist, mit dieser Schuld zu leben.«

Martin starrte ihn an. Insgeheim hatte er es geahnt, aber dennoch nicht wahrhaben wollen. Er hatte sich in eine Falle locken lassen. »Was genau hast du vor?«, fragte er.

»Wir werden jetzt einen kleinen Ausflug machen. Dorthin, siehst du?« Er zeigte auf die Badeinsel, die vor Travemünde lag. »Kannst du dich erinnern, wie wir damals immer rübergeschwommen sind? Immer und immer wieder. Auf die Rutsche oder einfach nur, um mal einen Moment allein zu sein. Meistens war ich der Schnellste. Seid ihr an dem Tag, als es passiert ist, eigentlich auch dort gewesen?«

»Nein«, antwortete Martin. »Malte wollte unbedingt, aber es kam ja nicht mehr dazu …« Er brach ab. »Wir haben damals alles zu Protokoll gegeben. Es steht im Polizeibericht.«

»Hör endlich mit diesem beschissenen Polizeibericht auf!«, schrie er plötzlich. »Es interessiert mich nicht, was du denen damals erzählt hast. Ich will endlich die Wahrheit wissen. Warum habt ihr mir all diese Lügen aufgetischt? Niemand hat mir gesagt, was tatsächlich passiert ist. Ich weiß mittlerweile aber, dass es kein Unfall gewesen ist.«

»Wir haben mit dir gesprochen«, sagte Martin. »Wir waren jeden verfluchten Tag bei dir und haben versucht, gemeinsam mit dem Schmerz klarzukommen. Irgendwann wurde dir alles zu viel. Du wolltest uns nicht mehr sehen.«

»Du hast dich also entschieden, mich zu provozieren.« Seine Stimme hatte sich wieder beruhigt, das sanfte Lächeln war zurück auf seinen Lippen. »Ich hatte allerdings auch nicht ernsthaft erwartet, dass du deine Schuld eingestehen würdest. Das ist wirklich schade.«

»Ich kann nichts eingestehen, was ich nicht getan habe.«

»Das brauchst du auch nicht. Die Wahrheit hätte schon genügt. Wenn du es nicht warst, wer dann? Wer hat Malte auf dem Gewissen?«

»Ich kann dir keine Antwort darauf geben.«

»Gut«, sagte er. »Dann zieh dich jetzt aus.«

»Wie bitte?«

»Ausziehen, sofort! Wir schwimmen jetzt zur Badeinsel. Ich will dir dort etwas zeigen.«

»Warum sollte ich mitkommen?«

»Frag nicht so viel, mach einfach.«

»Weshalb?«

»Ich will dir etwas zeigen, das ich vor einiger Zeit entdeckt habe. Etwas, das alles verändert hat. Seitdem weiß ich, dass ihr mich angelogen habt. Einer von euch hat Malte umgebracht. Aus Eifersucht.«

»Verdammt, das stimmt einfach nicht«, sagte Martin aufgebracht. »Wie kommst du denn darauf?«

»Lass uns jetzt zur Badeinsel schwimmen, dann zeige ich dir, was ich meine.«

»Warum sollte ich? Um dort zu sterben?«

»Um zu verstehen, was mich antreibt.«

»Was zum Teufel soll es dort geben, das ich gesehen haben muss?«

»Nun tu doch nicht so, Martin. Du weißt genau, was damals vorgefallen ist. Ihr alle wusstet es. Und ich weiß, dass es euch nicht recht war.«

»Wovon zum Teufel sprichst du? Was soll das Ganze jetzt noch?«

»Es gibt etwas, das beweist, dass ihr ihn auf dem Gewissen habt. Wenn du wissen willst, was es ist, solltest du mitkommen.«

»Verdammt, ich glaube dir kein Wort«, sagte Martin entschieden. »Es kann keinen Beweis dafür geben.«

»Malte und Christine … Ich weiß, dass die beiden ein Paar waren. Ich wusste es schon damals. Malte hat es mir am Tag zuvor gesagt.«

Martin riss die Augen auf und schluckte schwer. Das, was niemand erfahren sollte und er selbst erfolgreich verdrängt hatte, traf ihn in diesem Moment mit voller Wucht. Plötzlich zitterte er. Das war es also gewesen, was ihm die ganze Zeit Angst bereitet hatte. Die Furcht davor, dass er irgendwann dahinterkommen und die falschen Schlüsse ziehen würde.

»Damit hast du nicht gerechnet, oder? Ich habe es all die Jahre geahnt, aber erst als ich die Entdeckung auf der Badeinsel gemacht habe, war ich mir sicher.«

»Ich weiß noch immer nicht, wovon du redest«, sagte Martin. »Glaub mir, alles war anders, als du dir vorstellen kannst. Wir alle haben dir damals sehr geholfen, andernfalls …«

»Was?«

»Du hättest die letzten zwei Jahrzehnte im Knast gesessen. Denk mal drüber nach.«

»Was soll der Scheiß?«

»Wir haben dich geschützt, vergiss das nie«, antwortete Martin. »Du solltest die ganze Sache ruhen lassen.«

»Zwei Jahrzehnte habt ihr mir einreden wollen, dass alles nur ein Unfall war. Und jetzt sagst du mir allen Ernstes, ich hätte meinen eigenen Bruder umgebracht. Verstehe ich dich richtig?«

»Ja.«

»Ihr schreckt wirklich vor nichts zurück.« Er schüttelte den Kopf und trat zwei Schritte zurück. »Wenn du am Leben bleiben willst, machst du das, was ich dir sage.«

»Was verlangst du von mir?«, fragte Martin mit belegter Stimme.

»Dass du mit zur Badeinsel kommst und zugibst, was wirklich passiert ist. Mehr nicht.«

»Und dann? Lässt du mich in Ruhe?«

»Ich denke schon.«

Martin fixierte sein Gegenüber. Die Antwort war zögerlich gekommen. Und dann noch dieses unterdrückte Grinsen. Konnte er ihm glauben? Wollte er das überhaupt? Letztendlich spielte es keine Rolle. Er musste wissen, was er entdeckt hatte, das beweisen sollte, dass er etwas mit Maltes Tod zu tun hatte. Der Vorwurf war absurd, und dennoch wollte er verhindern, dass die Polizei die Ermittlungen noch einmal aufnahm. Was damals passiert war, sollte ein für alle Mal begraben werden. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich komme mit.«

»Sehr gut.«

Martin wandte sich um und blickte ins Wasser. Er würde springen und zur Badeinsel schwimmen. Ob es richtig war? Er wusste es nicht. Wahrscheinlich war es nicht einmal notwendig? Trotzdem wurde er von einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Angst getrieben. Langsam zog er sich aus. Schuhe, Socken, Hose. Dann das T-Shirt, das er bereits gestern Abend getragen hatte. Es roch nach Schweiß und Küchenfett.

Plötzlich hielt er inne. Ein flüchtiger Gedanke, dass etwas nicht stimmte. Erneut das Gefühl, dass er sich in eine Falle hatte locken lassen.

Im nächsten Moment traf ihn ein harter Schlag am Hals. Direkt auf der Halsschlagader. Für den Bruchteil einer Sekunde realisierte Martin, dass er sich hatte täuschen lassen. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

MONTAG, 11:42UHR

Andresen kniete vor dem Leichnam und fühlte ein seltsames Gefühl der Befreiung. Dass der Anblick des toten Mannes und die ganze Situation alles andere als erbaulich waren, störte ihn in diesem Augenblick nur wenig. Stattdessen atmete er durch.

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