Der Teufel von St. Marien - Jobst Schlennstedt - E-Book

Der Teufel von St. Marien E-Book

Jobst Schlennstedt

4,5

Beschreibung

Am Nordturm der Lübecker Marienkirche hängt eine enthauptete Leiche. Es ist der Bruder eines stadtbekannten Kriminellen. Zur gleichen Zeit explodiert ein Sprengsatz auf dem Grundstück eines erfolgreichen Unternehmers. Bei ihren Ermittlungen geraten Kommissar Birger Andresen und sein Team immer tiefer in einen Sumpf aus finsteren Machenschaften und religiösem Fanatismus. Welche Rolle spielt dabei eine vor zweihundert Jahren aktive Christenbewegung?

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geographie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck und arbeitet hauptberuflich als Projektmanager in einem Hamburger Beratungsunternehmen. Nach »Tödliche Stimmen« ist mit »Der Teufel von St.Marien« mittlerweile der zweite Band um den Lübecker Kommissar Birger Andresen im Emons Verlag erschienen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-750-5 Küsten Krimi Originalausgabe

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»Bei keiner Sache hat man so sehr

den Kern von der Schale zu unterscheiden

wie beim Christentum.«

Arthur Schopenhauer

1

Sein Atem hallte durch das feuchte Gemäuer, ebenso wie die Schritte auf der ausgetretenen Steintreppe. Das war es, was ihn noch mehr verängstigte. Womöglich war es aber auch die Tatsache, dass er das Gefühl hatte, die kalte, modrige Luft schnüre ihm die Lunge zu.

Wenn er doch bloß schon oben wäre und die Sache hinter sich gebracht hätte, vielleicht würde er dann etwas ruhiger werden. Auf dem Weg zurück nach unten würde ihm bestimmt nichts mehr zustoßen.

Was dachte er da bloß für einen Schwachsinn? Wer sollte ihn denn hier oben erwischen? Und vor allem, wer konnte überhaupt wissen, dass er hier war? Niemand. Sie hatten die ganzen letzten Wochen nichts gemerkt, wieso sollten sie also ausgerechnet jetzt Wind von der Sache bekommen haben? Und doch verfolgte ihn eine unbestimmte Angst, seitdem er die Kirche betreten hatte. Verzweifelt versuchte er die absurden Gedanken beiseitezuschieben.

Einen kurzen Augenblick hielt er inne und sah durch einen der schmalen Schlitze hinaus auf die Stadt. Er befand sich bereits in einer Höhe, in der er seinen Blick nicht mehr allzu lange senken konnte, ohne dass er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend empfand. Zur anderen Seite musste der Südturm der St.Marien zu Lübeck liegen, versuchte er sich vorzustellen.

Ein schneidender Windstoß blies durch die kleine Öffnung und ließ ihn für einen Moment erschauern. Hastig nahm er die nächsten Stufen und lief weiter. Immer schneller, immer höher. Die Stelle, an der er die Bombe platzieren wollte, lag noch ein gutes Stück weiter oben.

Erneut überkam ihn ein Angstgefühl. Es trieb ihn noch schneller voran. Die Schmerzen, die durch seine Kniescheiben und Handflächen jagten, als er wegrutschte und auf allen vieren auf die steinernen Treppenstufen fiel, versuchte er zu verdrängen. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.

Jetzt erinnerte er sich wieder. Die größeren Fenster, die flacher werdende Wendeltreppe, gleich da vorne musste die Plattform mit den schweren Glocken kommen. Wie eine Lichtung im finsteren Wald erwartete sie ihn. Von dort ging es steil, beinahe senkrecht, noch tiefer in den Kirchturm hinein. Das spielte für ihn jedoch keine Rolle mehr. Er hatte sein Ziel erreicht. Nur noch wenige Meter, dann war es geschafft.

Als er seinen schweren Rucksack abnahm und sich am hölzernen Geländer der Glockenstube festhielt, spürte er, dass sich sein Puls allmählich beruhigte. Hatte er etwa nur Angst gehabt, weil er außer Atem gewesen war?

Er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und sich stattdessen auf das zu konzentrieren, weswegen er hergekommen war. Vorsichtig befühlte er das zusammengeschnürte Paket in seinem Rucksack, ehe er es schließlich hervorzog und beiseitelegte. Er griff erneut in seinen Rucksack, holte ein Stück Seil hervor und legte es sich um den Hals. Er bemerkte, dass er plötzlich wieder am ganzen Körper zitterte. Der kalte Wind pfiff durch die Mauern des Kirchturms. Hier oben war es noch einmal gefühlte zehn Grad kälter. Aber egal, lange würde es ohnehin nicht dauern.

Er nahm das Paket und ging einige Schritte auf das hölzerne Gestell der größten der sieben Glocken zu. Pulsglocke war ihr Name, erinnerte er sich. Alles sah noch immer so aus wie bei seinem ersten Ausflug nach hier oben, als er an einer der öffentlichen Führungen teilgenommen hatte. Auch die Zeichnungen, die er sich besorgt hatte, hatten ihm geholfen. Jeder einzelne Zentimeter der Glockenstube war ihm vertraut, so als wäre er schon unzählige Male hier gewesen.

Jetzt stand jedoch der schwierigste Moment an. Er musste die Bombe so am Glockenstuhl befestigen, dass sich die volle Wirkung des Sprengstoffs entfalten konnte. Dass sich die tragische Geschichte der Zerstörung der Marienkirche auf diese Weise wiederholte, würde die größtmögliche Aufmerksamkeit sichern.

Ein Geräusch unterbrach seine Gedanken. Es war ihm, als hätte er etwas rasseln hören. Augenblicklich stieg wieder die Angst in ihm hoch. Was, wenn sie ihn und seine Absichten doch durchschaut hatten? Wozu sie imstande waren, wusste er. Vielleicht würde es ihm ergehen wie der armen Krankenschwester.

Der verdammte Wind war einfach zu laut, als dass er seine Ohren spitzen konnte. Einen Moment lang hielt er inne. Er musste dringend weg von hier, egal ob sie ihm auf den Fersen waren oder nicht. Doch bevor er den Kirchturm verlassen und in den Gassen Lübecks verschwinden konnte, musste er seinen Plan ausführen.

Vorsichtig kletterte er auf den frisch renovierten Holzabsatz. Er blieb stehen und sah sich um. Unter ihm hingen die wuchtigen Glocken der größten Lübecker Kirche. Rasch knotete er das Seil samt dem Paket am oberen Ende des Glockenstuhls fest.

Plötzlich war etwas anders. Er spürte es, ohne im ersten Moment sagen zu können, was es war. Dann jedoch war er sich sicher. Der Wind, der bis eben noch durch die Glockenstube geweht war, hatte mit einem Mal nachgelassen. Er hatte das Gefühl, als hätte jemand den Stecker aus einem unsichtbaren Ventilator gezogen.

Die plötzliche Stille verunsicherte ihn. Gespannt lauschte er in die Richtung, aus der er vorhin das Geräusch gehört zu haben glaubte.

Nichts.

Er war unschlüssig. Waren sie etwa doch hier?

Mit einer schnellen Handbewegung stellte er sicher, dass das Paket mit der Bombe fest an den Streben des Glockenstuhls befestigt war. Dann kletterte er den hölzernen Absatz hinunter, bis er wieder den alten Steinboden der Marienkirche unter seinen Füßen spürte.

Dennoch gelang es ihm nicht, seine Gedanken zu ordnen. Was war es bloß, das ihn hier noch hielt? Konnte es sein, dass ihm dieser zugige, ungemütliche Ort ein Gefühl der Sicherheit gab, weil er wusste, was ihn erwartete, wenn er sich erst einmal wieder in den Straßen der Stadt befand? Oder war es so, dass ihn etwas lähmte? Etwas, das sich ganz in seiner Nähe befand? Nur ein paar Schritte von ihm entfernt?

Sein Atem bebte mit einem Mal. Er spürte, dass der Wind zurückkam. Was um alles in der Welt …?

Sein Blick erfror. Er hatte das Gefühl, der Teufel höchstpersönlich habe sich Zutritt zu den heiligen Hallen verschafft und sehe ihm mit stechenden Augen aus dunklen, knöchernen Höhlen direkt in die Seele. Er war hier, um ihn sich zu holen.

Es war zu spät. Eine Gänsehaut legte sich über seinen Körper. Der Anblick seines Gegenübers versetzte ihn in Panik. Gleichzeitig verspürte er unendliche Machtlosigkeit.

Flieh!, durchzuckte es ihn. Die Chance dazu bestand noch immer. Einfach nur weglaufen, sich dem Bann des anderen entziehen. Weg von hier!

Dann sah er, dass der andere etwas unter seinem Gewand hervorzog. Er taumelte nach hinten und wurde von kräftigen Armen, die wie aus dem Nichts erschienen, aufgefangen. Er ließ sich fallen und schloss die Augen, weil er wusste, dass es vorbei war. Sein Tod war unausweichlich.

Das Letzte, das er durch seine blinzelnden Augenlider sah, war etwas metallisch Glitzerndes, das sich auf ihn zu bewegte. Dann wurde ihm warm.

2

Der Anruf am Freitagmorgen kam um kurz vor sieben. Fast im selben Moment schrillte Wiebkes Wecker los. Andresen saß kerzengerade in seinem Bett und versuchte die unterschiedlichen Geräusche zuzuordnen. Dann sprang er auf, trat Wiebke bei seinem ungelenken Versuch, vom Bett zu klettern, versehentlich gegen den Oberschenkel und stürzte in die Küche, wo er das Mobilteil des Telefons gestern Abend liegen gelassen hatte.

Andresen erkannte die Nummer auf dem Display. Einen Moment lang überlegte er, ob er es einfach klingeln lassen und wieder unter die warme Daunendecke kriechen sollte, um sich an Wiebkes weichen Körper zu schmiegen. Noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, wusste er, dass er sich anders entscheiden würde. Er nahm ab.

»Sechs Uhr achtundfünfzig.«

»Hier auch«, kam die Antwort zurück. »Birger, du musst so schnell wie möglich kommen. Zum Portal der Marienkirche, sofort.«

»Könntest du mir bitte sagen, was … Ach egal, ich bin gleich da.«

Andresen legte auf, ließ den Hörer zurück auf den Küchentisch gleiten und ärgerte sich sofort, das Telefonat einfach so abgebrochen zu haben. Aber wahrscheinlich hätte ihm Kregel ohnehin keine Details am Telefon verraten. Dass etwas Ernstes geschehen sein musste, hatte er bereits am Tonfall seines Kollegen gehört.

Er ging zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte rasch in seine Jeans, die über einem Stuhl hing. Wiebke saß müde auf der Bettkante und fuhr sich durch ihre blonden langen Haare. Mit fragendem Blick sah sie ihn an.

»Ben hat angerufen. Es ist etwas passiert.«

»Was denn?«

Andresen zuckte mit den Schultern und griff nach einem dicken Pullover. »St.Marien«, murmelte er nur.

»Soll ich mitkommen?«

»Du weißt doch, wozu das führt.«

»Jaja, schon gut. Ich frage nicht noch einmal, auch wenn ich es ehrlich gesagt nicht verstehe.«

Andresen verzog den Mund, schluckte die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, jedoch hinunter. Es war längst alles gesagt zu diesem Thema. Sibius, sein Chef, hatte ein kategorisches »Nein« ausgesprochen. Und wenn Andresen ehrlich war, legte auch er keinen allzu großen Wert darauf, dass Wiebke ausgerechnet in den Fällen ihrer Arbeit als Journalistin nachging, in denen er ermittelte.

»Ich melde mich bei dir. Es wird wohl später werden.« Er beugte sich zu ihr hinunter, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und flüsterte ihr rasch etwas ins Ohr. Sie musste lächeln und zog ihn so heftig an sich, dass Andresen neben ihr auf dem Bett landete. Für einen kurzen Moment übermannte die beiden die Leidenschaft, ehe sich Andresen endgültig aufraffte und von Wiebke verabschiedete.

Um zehn nach sieben verließ er sein Altstadthaus in der Großen Gröpelgrube, in dem er seit mittlerweile fast zehn Jahren lebte. Am Koberg bog er ab auf die Breite Straße und ging vorbei an der altehrwürdigen Schiffergesellschaft, internationalen Fast-Food-Geschäften und den zahlreichen Filialen großer Modeketten. Schließlich schlüpfte er unter einem der Torbögen des Kanzleigebäudes hindurch und trat auf den Kirchenvorplatz.

Augenblicklich hielt er inne und starrte auf das, was sich vor seinen Augen abspielte. Obwohl er damit gerechnet hatte, dass Kregels besorgter Anruf nicht ohne Grund erfolgt war und etwas Schlimmes geschehen sein musste, war er derart überrascht, mit welchem Aufgebot seine Kollegen bereits vor Ort waren, dass er nicht bemerkte, wie sich ihm sein Kollege Kai Lorenz von der Seite näherte.

»Was für ‘ne Scheiße! Und das gerade jetzt. Eigentlich wollte ich Urlaub nehmen, hätte ich es bloß gemacht.«

Andresen sah Lorenz irritiert an. Seine Aufmerksamkeit war zu stark von den anderen Kriminalpolizisten, Technikern und der Spurensicherung gefangen, als dass er dessen Worten hatte folgen können.

»Hörst du mir eigentlich zu? Hier ist das totale Chaos ausgebrochen. Wir schaffen es nicht einmal, den Tatort abzusperren. Wir können schließlich kaum die halbe Innenstadt lahmlegen.«

»Kannst du bitte mal der Reihe nach erzählen? Ich würde gerne erst mal verstehen, was überhaupt passiert ist. Ben hat mir am Telefon nichts weiter gesagt.« Andresen fiel wieder ein, dass er es selbst gewesen war, der das Telefonat beendet hatte.

Lorenz schüttelte den Kopf und unterdrückte ein verständnisloses Grummeln. »Dann schau mal nach oben. Vielleicht wird dir dann klarer, wovon ich spreche.«

Langsam hob Andresen den Kopf und blickte am Nordturm der St.Marien zu Lübeck hinauf. Augenblicklich hatte er das Gefühl, als bliebe ihm der Atem weg. Mit der linken Hand zupfte er am Kragen seines Pullovers, um mehr Luft zu bekommen. Er spürte, dass das Blut in seinen Adern pulsierte und gleichzeitig ein Kälteschauer durch seine Gliedmaßen fuhr. Am Nordturm der Marienkirche baumelte der leblose Körper eines Menschen. Soweit Andresen es von unten erkennen konnte, fehlte dem Toten der Kopf.

»Was zur Hölle …?«, stieß er aus. Andresen wollte tausend Fragen auf einmal stellen, schaffte es jedoch nicht einmal, eine einzige zu formulieren.

»Komm mit, ich erzähle dir, was wir wissen«, sagte Lorenz.

»Wie lange hängt der denn schon da oben? Warum kümmert sich keiner darum?«

Lorenz reagierte nicht auf Andresens Fragen und ging stattdessen weiter in Richtung Kirchenportal. Andresen sah Frank Sibius, den Leiter der Mordkommission. Er stand windgeschützt im Eingangsbereich und hantierte hektisch mit seinem Handy herum. Neben ihm sprach Kriminalmeisterin Barbara Kracht mit einem Kollegen der Schutzpolizei.

»Was ist hier los?«, rief Andresen schon von Weitem.

Jetzt registrierte auch Sibius Andresens Ankunft.

»Na endlich, wo hast du denn so lange gesteckt? Wir halten gleich eine kurze Teambesprechung ab. Der Küster hat uns einen kleinen Raum im Innern der Kirche aufgeschlossen.«

»Frank, ich weiß noch nicht einmal, was überhaupt geschehen ist. Ich habe gerade eben erst das Opfer gesehen. Sollten wir die Leiche nicht so schnell wie möglich von dort oben runterholen? Wenn die Leute diesen Anblick sehen müssen.«

»Erst müssen die Techniker ihre Arbeit erledigen. Außerdem ist die Bergung nicht ganz unkompliziert.«

»Warst du schon oben?«

Sibius nickte. Im selben Moment rief er aufgeregt etwas in sein Telefon, in der Hoffnung, die Leitung, die er aufzubauen versuchte, würde endlich stehen.

Andresen ging auf seine Kollegin Barbara zu und zog sie ein Stück zur Seite.

»Was ist passiert?«, flüsterte er beinahe.

»Viel weiß ich auch nicht. Aber der Mann ist offenbar erstochen worden. Angeblich mit einem Schwert oder zumindest einer gewaltigen Klinge. Anschließend hat man ihn dann wohl geköpft und mit einem Seil in die Position gebracht, in der er jetzt da oben hängt.« Barbara seufzte als Ausdruck ihrer Fassungslosigkeit über den Anblick des Toten rund fünfzig Meter über ihr.

»Wissen wir schon, wer er ist?«

»Nein, wir können …«

»Birger, kommst du bitte mal!« Barbara wurde von Sibius unterbrochen. Andresen war überrascht, welchen Tonfall sein Chef anschlug. Üblicherweise hielt er sich gerne bedeckt und überließ Andresen die Ermittlungsleitung.

»Wie es aussieht, handelt es sich um so etwas wie einen Ritualmord.« Sein ohnehin schon ernstes Gesicht wirkte steinern. »Ich hatte Siederdissen von der Technik gerade dran. Sie haben einen grauenhaften Fund gemacht. Auf dem Altar im Mittelschiff der Kirche liegt offenbar der Kopf des Toten. Er ist mit einem glatten Schnitt vom Rumpf abgetrennt worden.«

Einen Augenblick lang zögerte Andresen, dann wurde er hektisch. »Ich gehe rein. Ich will es mit eigenen Augen sehen.«

»Pass aber auf, Birger! Das Areal ist noch nicht vollständig abgesperrt. Ich will nicht, dass sich irgendein Unbefugter Zutritt verschafft und Wind von den Einzelheiten des Mordes bekommt. Du weißt ja selbst, wohin das führen kann.«

Noch bevor Andresen sich gegen den Seitenhieb wehren konnte, klingelte Sibius’ Handy. Er verschwand und ließ einen aufgebrachten Andresen zurück. Die Anspielung seines Chefs war nicht die erste dieser Art gewesen. Die Recherchen seiner Freundin Wiebke im Fall des zweifachen Frauenmörders, der die Lübecker Kripo im letzten Sommer beschäftigt hatte, und Wiebkes anschließende Entführung hatten ihre Spuren hinterlassen.

Andresen drängelte sich an zwei Technikern, die er nicht kannte, vorbei, glitt unter dem Absperrband vor dem Kircheneingang hindurch und stemmte sich gegen das große hölzerne Portal.

Als er das Innere der Kirche betrat, verharrte er für einen Augenblick. Das gewaltige Mittelschiff der St.Marien zu Lübeck war überwältigend. Der Innenraum war nach dem Krieg größtenteils puristisch konzipiert worden, was der baumeisterlichen Leistung jedoch keinen Abbruch tat. Der Gigantismus, mit dem das Gotteshaus vor mehr als siebenhundert Jahren erbaut worden war, beeindruckte noch heute.

Ein Geräusch durchbrach seine Gedanken. Das schnelle Klicken einer Fotokamera hallte durch das riesige Kirchenschiff. Andresens Blick fiel in Richtung des Altars, wo mehrere Techniker in weißen Schutzanzügen ihrer Arbeit nachgingen.

Er ging die sieben Treppenstufen, die zum Altar führten, hinauf und begrüßte sie mit einem kurzen Nicken. Erst jetzt bemerkte er die Blutspur, die sich quer über den Altar und den Steinboden erstreckte. Ein junger Techniker, der neben ihm stand, sah seinen fragenden Blick und hielt mit unerschrockener Miene eine große Klarsichttüte hoch. Andresen versuchte nicht hinzuschauen, hatte im Augenwinkel jedoch bereits den dunkelrot verschmierten Kopf in der Tüte erkannt. In seinem jetzigen Zustand hatte der Kopf jeden menschlichen Bezug verloren. Er wirkte wie ein präpariertes Körperteil aus einem Gruselkabinett.

»Gibt es Spuren?«, fragte er.

Der Techniker, den Andresen nicht älter als fünfundzwanzig schätzte, sah ihn an und lächelte. »Spuren gibt es immer. Die Frage ist, was wir damit anfangen können.«

Für ihn war es anscheinend noch ein Spiel, dachte Andresen. Jugendliche Abenteuerlust und der Gedanke daran, in einem spektakulären Mordfall ermitteln zu dürfen. Er wusste, dass diese Phase schon bald einer Ernüchterung und im Einzelfall auch den Zweifeln, ob man sich tatsächlich für den richtigen Job entschieden hatte, weichen würde.

Andresen beschloss, den Kommentar des Technikers zu ignorieren und zu den Kollegen zurückzukehren, die noch immer draußen vor der Kirche standen. Er nahm den Umweg durch die Sitzreihen. Plötzlich blieb sein Blick an etwas hängen. Ein cremefarbener Stofffetzen, der an einer Ecke einer Holzbank hing, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er rief den jungen Techniker herbei und bat ihn, den Stofffetzen sicherzustellen.

Andresen drehte sich um, als er Stimmen hörte, die aus Richtung des Eingangs kamen. Sibius kam entschlossenen Schrittes herein. Ohne Unterlass redete er auf Barbara ein, die entnervt von den hektischen Anweisungen neben ihm herlief.

Andresen folgte ihnen in einen kleinen Raum gleich neben dem wuchtigen Portal. In der Mitte des Raums standen ein abgegriffener Eichentisch und einige Klappstühle.

Jetzt kam auch Lorenz herein. Er trug eine überdimensionale Kaffeekanne in der Hand und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Sibius nickte stumm in die Runde und nahm ebenfalls Platz.

»Die anderen werden hoffentlich gleich kommen, wir legen schon mal los.«

Ein lautes Poltern unterbrach ihn. Jemand hatte das Portal kräftig zufallen lassen und stapfte mit schwerem Tritt über den Steinboden der Kirche. Im nächsten Augenblick stand Kriminalkommissar Ben Kregel in der Tür. Obwohl die Außentemperatur um die null Grad pendelte und sein hochgewachsener Körper einen durchtrainierten Eindruck machte, hatten sich Schweißperlen auf seinem kurz rasierten Kopf gesammelt. Sein gehetzter Blick verriet, dass er schlechte Nachrichten zu verkünden hatte.

»So eine verdammte Scheiße!«, stieß er wütend aus. »Nichts bleibt uns heute Morgen erspart.«

Andresen spürte, dass sich sein Magen zusammenzog. Auf eine weitere Hiobsbotschaft zu so früher Stunde konnte er gut und gerne verzichten. Ungläubig hörte er Kregels Worten zu.

»Am Mühlenteich hat es gerade eine Explosion gegeben. Einer von uns sollte schleunigst hinfahren. Allem Anschein nach war es kein Unfall.«

3

Der Privatsteg der imposanten weißen Villa existierte nicht mehr. Die Holzplanken trieben im dunkelgrünen Wasser des Mühlenteichs; einige lagen wild durcheinander auf dem fein geschnittenen englischen Rasen.

Unter Andresens Füßen knirschte es. Die Splitter der zerborstenen Terrassentür bohrten sich in seine Schuhsohlen. Der kleine Garten und die Rückseite des Hauses sahen aus wie nach einem Frontalangriff mit schwerem Geschütz.

Andresen und Kregel standen nahe am Wasser und ließen ihre Blicke schweifen. Gleich nachdem Kregel in den kleinen Raum der Marienkirche gestürmt war und von der Explosion berichtet hatte, waren sie mit Blaulicht und Martinshorn zu dem Haus in der Musterbahn, das direkt am Mühlenteich lag, gefahren.

Auch wenn sie vereinbart hatten, schnellstmöglich zurückzukehren, war Andresen der plötzliche Aufbruch vom Tatort recht gewesen. Die Atmosphäre in der Kirche, der abgetrennte Kopf in der Plastiktüte und das hektische Durcheinander auf dem Kirchenvorplatz, all dem war er nicht ungern entflohen.

Der Mühlenteich begrenzte zusammen mit dem nahe gelegenen Krähenteich die südliche Altstadt. Das idyllische Fleckchen lag mitten im Zentrum Lübecks und war eine der begehrtesten Immobilienlagen. Die Villen wohlhabender Lübecker reihten sich hier zwischen Mühlenteich und Dom aneinander und beherbergten neben Anwaltskanzleien und Arztpraxen auch die schicksten Wohnungen der Stadt.

Nachdem die Kollegen von der Streife, die zuerst herbeigerufen worden waren, ihnen in aller Kürze berichtet hatten, was offenbar geschehen war, trat der Besitzer der Villa auf die beiden zu. Andresen erkannte den Mann sofort. Es war Norman Winkler, einer der einflussreichsten Jungunternehmer der Hansestadt. In Zeiten der New Economy war es ihm gelungen, eine Software für Hochschulen zu programmieren und diese weltweit erfolgreich zu verkaufen. Im Gegensatz zu vielen seiner Konkurrenten hatte Winklers Unternehmen den Niedergang der Dotcom-Blase überlebt und schien heute gestärkter denn je. In dem teuren anthrazitfarbenen Anzug wirkte er älter, als er mit seinen knapp vierzig Jahren tatsächlich war. Andresen bemerkte, dass Winklers Blick besorgt war.

»Hauptkommissar Birger Andresen, guten Tag, Herr Winkler. Das ist Kriminalkommissar Ben Kregel. Ist Ihnen in den letzten Stunden irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, kam Andresen direkt zur Sache. »Ein Geräusch? Vielleicht ein Boot auf dem See?«

»Glauben Sie tatsächlich, dass ein Anschlag auf mich verübt wurde? Ich meine … weshalb denn?« Winkler fuhr sich durch seine halblangen, nach hinten gekämmten Haare.

Andresen zögerte. Er wusste, was explodierter Sprengstoff anrichten konnte. Die Planken, die zu seinen Füßen lagen, wiesen die typischen Spuren einer Detonation auf. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich danach aus, als wäre die Explosion durch einen Anschlag hervorgerufen worden.

»Wir werden genauestens überprüfen, was vorgefallen ist. Die Kollegen von der Spurensicherung und die Taucher werden gleich hier sein. Bitte erzählen Sie uns jetzt, was Sie mitbekommen haben.«

Andresen versuchte sich zu konzentrieren, doch immer wieder huschten die Bilder des toten Mannes, der am Nordturm der Marienkirche hing, vor seinem inneren Auge vorbei. Dessen grauenhafte Darstellung und der abgetrennte Kopf ließen ihm keine Ruhe mehr. Bei dem Gedanken daran, was in den nächsten Tagen auf sie zukam, zog sich sein leerer Magen zusammen. Und jetzt kam auch noch ein Anschlag auf das Haus eines bekannten Lübecker Unternehmers hinzu. Er zwang sich, den Ausführungen Winklers zu folgen, der bereits damit begonnen hatte, von den Ereignissen des noch jungen Morgens zu berichten.

»… und bin dann mit meiner Zeitung zurück in die Küche. Im Radio hörte ich etwas von einem Mord in der Marienkirche.«

Winkler hielt kurz inne. Andresen tauschte einen raschen Blick mit Kregel. Wieder hatten sie es nicht vermeiden können, dass die Medien frühzeitig Wind von einem Mordfall bekommen hatten.

»Als dann das Wetter lief, geschah es. Das gesamte Haus wurde von einem heftigen Knall und einer fürchterlichen Druckwelle erschüttert. Ich habe mich instinktiv auf den Küchenboden geworfen und versucht, mein Gesicht zu schützen. Wie lange ich so da lag, kann ich nicht mehr sagen, aber es waren mit Sicherheit ein paar Minuten.«

Andresen hatte das Gefühl, dass es Winkler genoss, den beiden Kriminalpolizisten seine Geschichte zu erzählen und Stück für Stück, wie in einem großen Epos, zum Höhepunkt zu kommen. Was fehlte, waren nur noch die Liebesgeschichte und der große Held der Erzählung.

»Irgendwann habe ich mich dann getraut und bin in Richtung Terrassentür gegangen. Vor lauter Schreck über das, was ich sah, hätte ich beinahe eine teure Vase umgeworfen. Es brannten sogar noch einige Planken des Stegs. Es sah aus wie im Krieg. Wer zum Teufel macht denn so etwas?«

»Was haben Sie dann gemacht?«, fragte Kregel.

»Ich bin sofort zurück in den Flur gerannt und habe die Polizei angerufen. Was sonst?«

»Und Sie haben heute Morgen niemanden auf dem See gesehen? Kein Boot, keinen Schwimmer oder jemanden am anderen Ufer?«

»Nein, ich glaube nicht.« Die Antwort kam zögerlich.

»Waren Sie allein zu Haus?«, fragte Kregel weiter.

»Ja, meine Haushälterin kommt nur montags und donnerstags.«

»Sind Sie verheiratet oder leben Sie in einer festen Partnerschaft?«

Winkler lachte kurz auf. »Ist das eine Grundvoraussetzung, um als Zeuge glaubwürdig zu sein? Um ehrlich zu sein, ich halte nicht viel von Beziehungen. Mit einer einzigen Frau werde ich auf Dauer nicht glücklich.«

Andresen sah ihn irritiert an. »Kennen Sie Menschen, die nicht gut auf Sie zu sprechen sind? Beruflich oder privat? Vielleicht Neider?«

»Natürlich gibt es immer wieder den ein oder anderen, der mir die Pest an den Hals wünscht. Irgendjemand fühlt sich immer ungerecht behandelt. Das bleibt nicht aus, wenn man Chef von zweihundert Mitarbeitern ist. Aber es kann doch nicht so weit gehen, dass man mir Schaden zufügen will.« Winklers Stimme schien für einen Moment zu entgleisen, fing sich dann jedoch wieder. »Ich hoffe, Sie finden heraus, wer das hier war.«

»Bestimmt«, antwortete Andresen. »Wir werden Ihre Aussage allerdings noch einmal offiziell zu Protokoll nehmen müssen.« Er wurde durch das Klingeln der Haustürglocke unterbrochen.

Winkler verschwand im Haus und kam wenig später mit Harald Seelhoff, dem Leiter der Kriminaltechnik, und zwei weiteren Kollegen des Kommissariats 6 der Lübecker Kriminalpolizei zurück. Andresen erklärte Seelhoff kurz, was passiert war, und setzte bereits zur Verabschiedung an, als Norman Winkler noch einmal auf ihn zukam.

»Darf ich noch einmal kurz mit Ihnen unter vier Augen sprechen?«, fragte er leise. Andresen nickte stumm und folgte Winkler in die geräumige Küche, die wie die lübsche Variante einer amerikanischen Küche aussah, in der es alles gab und nichts benutzt wurde.

»Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«

»Nichts, das mit der Explosion zu tun hat«, antwortete Winkler geheimnisvoll. »Es geht um etwas anderes.«

Andresen verzog den Mund als Zeichen dafür, dass er keine Lust auf eine Rätselstunde hatte.

»Ich habe Ihnen vorhin erzählt, dass ich allein zu Haus gewesen wäre, als es passiert ist. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit.«

Andresen spürte, dass Winkler mit den Worten kämpfte. Er verschränkte die Arme und lehnte sich demonstrativ wartend an die massive Marmorarbeitsplatte.

»Es ist so … Ich meine, Sie verstehen das wahrscheinlich nicht, aber …«

»Ja?«

»Ich habe mit einer meiner Projektleiterinnen ein Verhältnis. Sie war heute Nacht bei mir. Es wäre allerdings gut, wenn die Affäre keine Wellen schlagen würde.«

»Gut für Sie oder für Ihre Mitarbeiterin?«

»Das tut hier nichts zur Sache«, antwortete Winkler gereizt. »Ich habe es Ihnen gesagt, weil Sie es vielleicht irgendwann selbst herausgefunden hätten.«

»Gibt es Leute, die davon wissen?«

Winkler schüttelte den Kopf.

»Wie ist der Name Ihrer Mitarbeiterin?«, fragte Andresen weiter.

»Ist das wirklich notwendig?« In Winklers Stimme schwang etwas Flehendes mit.

»Sie können davon ausgehen, dass wir diskret vorgehen. Dennoch müssen wir natürlich mit ihr reden. Immerhin ist auch sie Zeugin der Explosion geworden.«

»Sie heißt Kristina Lufft. Wenn Sie unbedingt mit ihr sprechen müssen, dann bitte nicht in der Firma. Ich gebe Ihnen ihre Handynummer.« Winkler verschwand ins Wohnzimmer.

»Glaubst du, er verschweigt etwas?«, fragte Kregel, der inzwischen wieder zu Andresen getreten war.

»Möglich. Ob es mit dem Anschlag auf ihn zu tun hat, ist allerdings eine ganz andere Frage.«

Winkler kam zurück und drückte Andresen einen gelben Zettel in die Hand. »Seien Sie bitte rücksichtsvoll. Kristina ist verheiratet, ihr wird das Ganze überaus unangenehm sein.«

»Selbstredend«, antwortete Andresen. »Wir melden uns bei Ihnen wegen der offiziellen Vernehmung. Rufen Sie uns an, falls Ihnen noch etwas einfällt.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß«, grummelte Winkler hinter den beiden Kriminalpolizisten her.

* * *

Der Kirchvorplatz und große Teile der angrenzenden Straßenzüge waren mittlerweile vollständig abgesperrt, als Andresen und Kregel sich ihren Weg durch die Fußgängerzone bahnten. Schon von Weitem konnten sie erkennen, dass die Kollegen den Leichnam des unbekannten Mannes mittlerweile von seiner exponierten Stelle am Kirchturm entfernt hatten.

Andresens Magen machte sich wieder bemerkbar. Es war mittlerweile kurz vor halb zwölf, und noch immer hatte er nichts gegessen. Er wollte sich gerade von Kregel verabschieden, um sich in einer nahe gelegenen Bäckerei ein belegtes Brötchen zu kaufen, als sein Handy klingelte. Auf dem Display sah er, dass es seine Kollegin Barbara war. Bevor er sich melden konnte, fing sie bereits an zu reden.

»Wo steckt ihr gerade? Könnt ihr schnell kommen?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Wir wissen jetzt, wer der Tote ist. Du wirst nicht glauben, um wen es sich handelt.«

»Sagst du es mir?«

»Ohne seinen Führerschein, den er bei sich trug, wären wir wohl nicht so schnell drauf gekommen. Sein Name ist Roloff.«

»Boris Roloff?«, fragte Andresen erstaunt.

»Eben nicht.« Barbara wartete einen kurzen Augenblick, ehe sie weitersprach. »Es ist sein Zwillingsbruder.«

»Roloff hatte einen Zwillingsbruder?«

»Sandro Roloff. Wir haben die Daten abgeglichen, sie sind am selben Tag geboren.«

»In Ordnung, ich bin auf dem Weg.« Andresen legte auf und beschleunigte seinen Schritt. Er hatte es plötzlich eilig. Wenn es sich bei dem Toten tatsächlich um den Bruder von Boris Roloff handelte, dann befürchtete er das Schlimmste.

»Wer ist dieser Roloff?«, fragte Kregel, während er hinter Andresen her eilte.

Unter den Kollegen der Kripo war Boris Roloff bekannter als der eigene Polizeipräsident, wurde gelegentlich gewitzelt. Dass Kregel nicht wusste, wer er war, lag einzig daran, dass er erst seit einem Dreivierteljahr der Lübecker Mordkommission angehörte. Doch der »Herr der Gänge«, wie Roloff von manchem Lübecker in Anspielung auf die kleinen Gassen der Altstadt genannt wurde, tauchte nur selten aus den düsteren Gefilden von Lübecks Unterwelt auf. Um seinen schmutzigen Geschäften und kriminellen Machenschaften nachzugehen, bewegte er sich meistens im Verborgenen. Drogendelikte, Diebstahl, Hehlerei, schwere Körperverletzung waren noch das Harmloseste, was auf sein Konto ging.

Der letzte Vorfall lag gerade einmal drei Monate zurück. Roloff war bei einer Verkehrskontrolle mit einer beträchtlichen Menge Marihuana erwischt worden und hatte anschließend sämtliche Schuld von sich gewiesen. Da es sich nicht um seinen Wagen, sondern um den eines Bekannten gehandelt hatte, und die Drogen im Polsterbezug eingenäht waren, hatte man von einer Anklage gegen Roloff abgesehen und stattdessen den Halter des Fahrzeugs verurteilt. Obwohl sie sich sicher gewesen waren, dass Roloff in den Deal eingeweiht gewesen war, hatten sie keine Beweise gegen ihn gehabt. Wie so oft in den vergangenen Jahren. Immer wieder hatte Roloff seinen Kopf aus der sich bedrohlich zuschnürenden Schlinge der Justiz ziehen können, unter anderem auch, weil sein Kontaktnetzwerk so weit verzweigt war, dass es in viele Bereiche des öffentlichen Lebens reichte.

Nur ein einziges Mal war es ihnen gelungen, Roloff für kurze Zeit hinter Gitter zu bringen. Damals, es musste mehr als drei Jahre zurückliegen, hatte Andresen ihn zufällig beim Aufbrechen eines Autos erwischt. Roloff hatte Marihuana und Kokain im Wert von zehntausend Euro bei sich gehabt. Auf sechs Monate Freiheitsentzug hatten die Richter entschieden, weil er sich bei seiner Festnahme zur Wehr gesetzt und in den anschließenden Verhandlungen keinerlei Kooperationsbereitschaft gezeigt hatte. Seither verband Roloff und Andresen eine besonders intensive »Freundschaft«.

»Ich erkläre es dir später«, antwortete Andresen. »Das ist eine längere Geschichte.«

Die Kollegen der Mordkommission saßen noch immer in dem kleinen Raum in St.Marien, als Andresen und Kregel zurückkehrten.

Kriminalrat Sibius schien die Besprechung gerade beenden zu wollen. Aus dem Augenwinkel sah Andresen, dass auch Julia mittlerweile eingetroffen war. Obwohl die Jüngste im Team, war sie bereits eine der scharfsinnigsten und besten Kräfte. Selbst ihren schweren Unfall bei einem Einsatz im vergangenen Jahr, als sie bei der Festnahme eines mutmaßlichen Mörders verletzt worden war, hatte sie ohne physische und psychische Spätfolgen weggesteckt.

»Haben wir eine zweite Baustelle?«, hörte Andresen seinen Chef aus dem Hintergrund fragen. Er zuckte zusammen, weil er für einen Moment mit seinen Gedanken an den Geschehnissen des letzten Sommers hängen geblieben war.

»Es sieht verdammt noch mal danach aus«, kam ihm Kregel in seiner unnachahmlich direkten Art zuvor. »Es ist zwar nur Sachschaden entstanden, aber die Detonation der Bombe hatte eine Wirkung, die Opfer gefordert hätte, wenn sie woanders hochgegangen wäre.«

»Gibt es denn keine andere Erklärung für die Explosion?«, hakte ein sichtlich verstimmter Sibius nach.

»Ich befürchte nicht«, mischte sich jetzt auch Andresen ein. »Der Sprengsatz ist direkt am Ufer des Mühlenteichs explodiert. Wir müssen klären, ob es ein gezielter Anschlag auf den Besitzer des angrenzenden Hauses war. Die Villa gehört übrigens Norman Winkler.«

»Wie dem auch sei, wir müssen uns so aufteilen, dass wir die Ermittlungen in beiden Fällen koordiniert bekommen. Birger, du stellst die Teams zusammen. Solange noch kein Ersatz für Willi da ist, müssen wir so effizient wie möglich arbeiten.«

Andresen sah Sibius nachdenklich an. Die ungeklärte Nachfolge des krankheitsbedingt ausgeschiedenen Kriminaloberkommissars Willi Wibel schwebte noch immer wie ein Damoklesschwert über ihnen. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Polizeipräsident Franz Zeichner eine Frau auf dem zweithöchsten Posten der Mordkommission installieren wollte, eines Tages vielleicht sogar als potenzielle Nachfolgerin von Frank Sibius, dem Kommissariatsleiter. Andresen war nicht wohl bei dem Gedanken, dass das Hierarchiegefüge, in dem er sich mühsam seinen Platz erkämpft hatte, möglicherweise schon bald auf den Kopf gestellt werden würde.

»Was wissen wir über den Toten?« Andresen lenkte das Thema zurück auf den Mord. »Außer dass es sich um Roloffs Bruder handelt.«

»Nicht viel«, musste Sibius zugeben. »Die einzige Spur ist derzeit sein Führerschein, er ist vor zehn Jahren in Berlin ausgestellt worden. Bislang ist es uns noch nicht gelungen, seinen Wohnort ausfindig zu machen.«

»Schon seltsam«, entgegnete Andresen. »Boris Roloff hatte einen Zwillingsbruder, und wir wussten es nicht. Welche Erkenntnisse haben wir denn sonst bislang noch?«

»Die Jungs von der Spurensicherung haben einige Anhaltspunkte, unter anderem den Stofffetzen, der vom Täter stammen könnte. Es wird allerdings ein paar Tage dauern, ehe wir brauchbare Ergebnisse aus dem Labor vorliegen haben.«

»Was ist mit dem abgetrennten Kopf?«, fragte Andresen. »Und warum diese Zurschaustellung am Kirchturm? Glaubt ihr, dass der Mord einen religiösen Hintergrund haben könnte?«

»Es liegt auf der Hand, keine Frage, aber du kennst meine Einstellung«, antwortete Sibius. »Solange wir keine Spuren haben, will ich keine Spekulationen hören. Genauso gut kann es sich auch um einen missglückten Deal gehandelt haben oder um irgendeine offene Rechnung. Wundern würde es mich nicht, immerhin heißt der Tote Roloff.«

»Ein gescheiterter Deal, bei dem anschließend der Kopf des Toten abgetrennt und auf einen Altar gelegt wird?«, warf Kregel ein. »Nicht sehr wahrscheinlich, wenn ihr mich fragt. Was ist überhaupt mit der Tatwaffe? Ist sie gefunden worden? Was war es noch gleich?«

»Möglicherweise ein Schwert. Es muss eine sehr lange Klinge gewesen sein«, antwortete Julia. »Am Tatort lag jedoch keine Waffe.«

»Gibt es Zeugen, die irgendetwas gesehen haben?«, fragte Andresen nach einigen Sekunden des Schweigens.

»Bislang Fehlanzeige«, murrte Sibius. »Momentan stochern wir vollkommen im Nebel. Gerade deshalb dürfen wir keine Option ausschließen.«

Er klatschte in die Hände und stand auf. Als er sich an Andresen vorbeidrängte, gab er ihm ein Zeichen, dass er ihn unter vier Augen sprechen wollte. Andresen folgte ihm nach draußen auf den Kirchvorplatz, über den ein eisiger Wind hinwegzog.

»Dieser Mord bereitet mir große Sorgen«, sagte Sibius mit leiser Stimme. »Im Grunde sind es sogar zwei Dinge, die mich beunruhigen.«

»Die Art und Weise?«

»Ja, das ist das eine. Wir hatten noch nie einen vergleichbaren Fall.«

»Woran denkst du noch? Ist es Roloff?« Andresen sah das Unbehagen in Sibius’ Augen.

»Was immer Sandro Roloff auch getan hat, dass er sterben musste, sein Bruder wird versuchen, ihn zu rächen«, fuhr Sibius nachdenklich fort. »Das bereitet mir mindestens ebenso großes Kopfzerbrechen.«

»Vielleicht hat Sandro Roloff aber auch auf eigene Faust gehandelt, ohne dass Boris etwas davon wusste.«

»Mag sein, aber die Familienbande werden stark genug sein, dass Boris Roloff den Mörder seines Bruders zur Strecke bringen will.«

Andresen ahnte, wovon sein Chef sprach. Roloff würde alle ihm verfügbaren Hebel in Bewegung setzen, um die Verantwortlichen der Bluttat zu finden. Egal, mit welchen Mitteln.

»Ich will, dass du ihn findest.«

Sibius’ Stimme war jetzt noch leiser und klang beinahe verschwörerisch. Andresen dachte einen Moment lang, Sibius hätte den Mörder gemeint, den er ausfindig machen sollte. Dann verstand er jedoch, worauf sein Chef tatsächlich hinauswollte.

»Boris Roloff?«, fragte er ungläubig. »Das ist nicht dein Ernst?«

»Du musst versuchen, mit ihm zu sprechen. Vielleicht kann er uns helfen, Licht ins Dunkel zu bringen. Er weiß bestimmt, warum sein Bruder sterben musste.«

»Ausgerechnet ich. Du weißt genau, wie sehr ich ihn hasse. Statt dass wir ihn endlich einbuchten, soll er uns jetzt auch noch helfen?«

Sibius’ Antwort blieb aus. Eine aufgeregte Stimme drang zu ihnen herüber. Andresen sah, dass sich eine laut schimpfende, dunkel gekleidete Person unter dem Absperrband hindurchzwängte. Als sie sich wieder aufrichtete, erkannte Andresen den leicht untersetzten Mann, den alle nur Bruder Tuck nannten. Mit energischen Schritten kam er auf sie zu.

»Was in hoffentlich Gottes Namen tun Sie denn hier? Sie können doch nicht ganz St.Marien absperren, selbst wenn …« Der Mann stockte.

Andresen sah ihm in die Augen und nickte ihm zu.

»Ich habe gewusst, dass eines Tages etwas passieren wird«, sagte der Propst der St.Marien-Gemeinde schließlich.

»Was meinen Sie?«, fragte Andresen erstaunt.

»Seit Wochen geschehen seltsame Dinge in unserer Gemeinde«, antwortete Radbruch.

Andresen und Sibius sahen den kleinen, kräftigen Mann fragend an.

»Propst Radbruch, bitte klären Sie uns auf! Was meinen Sie mit seltsamen Dingen?«

»Tut mir leid, Sie können es nicht wissen«, wiegelte Radbruch ab. »Vielleicht war es mein Fehler, dass ich nicht mit der Polizei gesprochen habe. Jetzt ist es zu spät.« Propst Hinnerk Radbruch alias Bruder Tuck räusperte sich. Dann sprach er weiter. »Es begann vor ein paar Wochen, als einige Zeichnungen unseres neuen Glockenstuhls aus meinem Büro im Marienwerkhaus verschwanden. Auch Pastor Boyen und der Kirchenvorstand hatten das Gefühl, als hätte jemand in ihren Unterlagen geschnüffelt. Ein paar Tage später war mein Kirchenschlüssel unauffindbar, jemand muss ihn mir gestohlen haben. Und schließlich habe ich jemanden dabei erwischt, wie er sich Zutritt zum Nordturm verschaffen wollte. Außerhalb unserer Gewölbeführungen ist dies strengstens untersagt.«

»Wie sah die Person in der Kirche aus? Konnten Sie sie erkennen?«, hakte Andresen ein.

»Nein, es ging alles sehr schnell. Es war ein Mann, da bin ich mir sicher. Nicht älter als dreißig, dunkle Haare, schlank.«

»Warum haben Sie sich denn nicht an die Polizei gewandt?«, fragte Sibius verärgert.

»Ich bin manchmal etwas schusselig«, antwortete Radbruch. »Da habe ich nicht gleich an etwas Schlimmes gedacht, als die Dinge verschwanden. Nur das mit dem Mann im Nordturm … das war dann wirklich komisch. Wissen Sie denn, um wen es sich bei dem Toten handelt?«

»Sein Name ist Sandro Roloff«, klärte Andresen den Propst auf. »Er ist der Bruder von Boris Roloff. Vielleicht haben Sie diesen Namen schon einmal gehört?«

Andresen wartete vergebens auf eine Antwort. Radbruchs Gesicht zuckte kurz, dann setzte der Propst eine unwissende Miene auf.

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