Velmerstot - Jobst Schlennstedt - E-Book

Velmerstot E-Book

Jobst Schlennstedt

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Beschreibung

Atmosphärisch, mystisch, schonungslos: Bielefelds Kult-Ermittler in ihrem brisantesten Fall. Auf dem lippischen Velmerstot im Eggegebirge werden die enthaupteten Leichname zweier Frauen gefunden – und eines Mannes, der sich womöglich nach der Tat selbst das Leben genommen hat. Kriminalkommissar Jan Oldinghaus und seine Kollegen von der Bielefelder Kriminalpolizei stehen vor einem Rätsel. Haben sie es mit einem erweiterten Suizid zu tun? Oder handelt es sich um einen Ritualmord? Dann wird eine weitere Tote gefunden ...

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Hauptberuflich ist er Geschäftsführer eines Lübecker Beratungsunternehmens. Im Emons Verlag schreibt er Küsten- und Westfalenkrimis und gemeinsam mit seiner Frau Alexandra Entdeckungsreiseführer in der 111-Orte-Reihe. Mit »Velmerstot« liegt jetzt der vierte Band seiner Kriminalreihe um den Bielefelder Kriminalkommissar Jan Oldinghaus vor.

www.jobst-schlennstedt.de

www.instagram.com/jotes.hl

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Werner/stock.adobe.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-609-8

Ostwestfalen Krimi

Originalausgabe

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Nur die Widerwärtigkeiten des Lebens können uns von der Eitelkeit des Lebens überzeugen und so die uns angeborene Liebe zum Tod oder zur Wiedergeburt zu einem neuen Leben verstärken.

Die Begegnung

Sommersonnenwende, vor sieben Jahren

Über den Tod hatten sie an diesem Tag nicht gesprochen. Das war nicht der Grund, weshalb sie hier waren. Weder er noch die anderen hatten ihn auch nur ein einziges Mal erwähnt.

Nein, sie waren hier an den Externsteinen zusammengekommen, um Energie zu tanken, ihre Körper an diesem einzigartigen Kraftort neu aufzuladen. Um das Kribbeln zu spüren, das durch ihre Glieder fuhr, wenn sie gemeinsam um die große Kastanie herumsaßen.

Sie alle hatten viel erlebt in den letzten Jahren. Einige von ihnen zu viel – Verlust, Erniedrigungen, so schlimme Dinge, dass ihnen auch dieser magische Ort wahrscheinlich nicht mehr helfen würde. Aber sie waren hier und heute zusammen. Und nur das zählte jetzt.

Er erinnerte sich zurück an die Zeit ihres Kennenlernens vor wenigen Monaten. Ganz zu Beginn waren der Tod und die Sehnsucht nach ihm seine Türöffner gewesen. Andernfalls wäre es wohl schwierig, vielleicht sogar unmöglich geworden, eine gemeinsame Ebene zu finden.

Die Frauen waren am Ende gewesen. Der Tod eine Erlösung, der sie lieber früher als später folgen wollten.

Sie hatten ganz offen über den Tod gesprochen. Er hatte ihnen klargemacht, dass der Zeitpunkt ihres Ablebens noch nicht gekommen war. Zuerst würden sie sich vorbereiten müssen: auf ein Leben nach diesem Leben. Ein besseres Leben. An einem anderen Ort. Nicht auf dieser Welt.

Das verstanden sie noch nicht. Und es würde wohl noch sehr viel Zeit vergehen, bis sie begriffen, was sie nach ihrem Tod erwartete, nämlich ein neues Leben, das so viel besser war als das Elend im Hier und Jetzt.

Sie würden es mit der Zeit verinnerlichen, wenn sie ihm folgten. Sie mussten lernen, auf ihn zu hören, und er würde sie führen. Er würde sie erziehen, ohne dass sie es merkten.

Der Tod sollte, vorerst jedenfalls, kein Thema mehr zwischen ihnen sein. Ihre Seelenwunden mussten erst einmal heilen. Er würde ihnen ein positives Gefühl vermitteln. Sie brauchten Kraft und Stärke. Aber natürlich auch eine harte Hand.

Irgendwann würde der Moment dann gekommen sein. Wenn er sie von dem, woran er glaubte, wirklich überzeugt hatte. Wenn er sich sicher sein konnte, dass sie ihm tatsächlich folgten und im letzten Augenblick niemand mehr abspringen würde. So lange musste er die Gruppe zusammenhalten, das war seine große Aufgabe.

Er ließ seinen Blick über die Gesichter der vielen Menschen kreisen, die an diesem besonderen Tag hier zusammenkamen. Und über die der Personen direkt neben ihm.

Da saßen sie. Vier Frauen, die er in den vergangenen Monaten auf ganz unterschiedliche Weise kennengelernt hatte.

Vier Frauen, die hoffentlich bereit waren, ihm bedingungslos zu folgen und seinen Glauben anzunehmen.

Vier Frauen, die jede für sich einen riesigen Rucksack voller traumatischer Erinnerungen mit sich trug.

Vier Frauen, die hinter dem schweren Schleier ihres Lebens gleichzeitig auch wunderschön anzusehen waren. Körperliche Abhängigkeit schadete nicht, wenn er sie an sich binden wollte.

Vier Frauen.

Und er.

Auf dem langen Weg in ein anderes, besseres Leben.

Eigentlich hätte er in diesem Augenblick eine tiefe Zufriedenheit empfinden müssen. Denn im Grunde hatte er alles erreicht, wovon er je geträumt hatte. Und trotzdem wartete er vergebens auf dieses Gefühl. Stattdessen beschäftigte ihn seit einigen Minuten etwas, das ihn aus irgendeinem Grund zunehmend nervös machte.

Rechts neben ihm saß ein Mann, etwa in seinem Alter. Sie hatten ein paar Blicke miteinander getauscht, ohne jedoch ein Wort zu wechseln. Da war etwas Einnehmendes an diesem Mann, das ihn von den anderen Menschen hier unterschied. Schwer zu beschreiben, was es war. Etwas in seinem Blick, seine ruhige und leicht distanzierte Ausstrahlung.

Er dachte darüber nach, was dieser Ort ihm bedeutete. Was er mit ihm und aus ihm gemacht hatte. Schon als Kind war er von der Formation dieser Sandsteinfelsen fasziniert gewesen, wenn seine Eltern Ausflüge mit ihm hierher unternommen hatten. Die Externsteine hatten ihn sein ganzes Leben lang begleitet, er war immer wieder hierher zurückgekehrt, nicht nur um Ruhe zu finden, sondern auch um darüber nachzudenken, wohin sein Weg ihn führte. Hier hatte er zum ersten Mal die Sehnsucht nach einem Leben nach seinem Tod verspürt.

Aber zweifellos waren die Externsteine auch einer der bedeutendsten Kraftorte überhaupt. Allerdings war er keiner dieser rechten Spinner, die hier ihr Germanentum auslebten. Und auch kein spiritueller Esoteriker, der die Externsteine nur als mystische Kultstätte ansah, letztlich allerdings gar nicht verstand, dass der Tod an diesem Ort schon immer eine wesentliche Rolle gespielt hatte. Sie vor allem bevölkerten an diesem Tag die Felsen und die Umgebung. Manche von ihnen legten sich nachts sogar in das alte Steingrab, um die Energie der darunterliegenden Wasseradern zu spüren. Aber die eigentliche Bedeutung dieses Rituals kannten sie nicht. Denn kaum jemand von ihnen hatte jemals wirkliche Todessehnsucht verspürt. Niemand konnte nachvollziehen, was es bedeutete, diese Verbindung ins Jenseits erleben zu können. Sich dem Leben nach dem Tod so nahe zu fühlen.

Dieser Mann neben ihm war anders als die vielen Menschen um ihn herum. Dieser Mann dachte und fühlte genauso wie er. Das hatte er sofort gespürt. Zumindest, da war er sich sicher, trug er das Potenzial in sich, einer von ihnen zu werden.

Aber wollte er das überhaupt?

Sein Blick fiel wieder nach links. Zu seinen Frauen.

Vier Frauen.

So hatte er es immer gewollt.

Er lächelte.

Im nächsten Moment vernahm er von rechts ein kaum wahrnehmbares Räuspern. Als er sich ihm zuwandte, war er sich sicher. Der Mann neben ihm, der sich ihm jetzt vorstellte, war tatsächlich einer von ihnen.

Wollte er das wirklich?

Wie Butter

Voller Hoffnung war er an jenem Tag vor sieben Jahren gewesen, daran konnte er sich noch gut erinnern. Genau wie an den Tag, an dem sich alles verändert hatte. Obwohl das Ganze ein Prozess gewesen war, der sich über Monate hingezogen hatte, war da dieser eine Moment gewesen, an dem er endgültig verstanden hatte, dass seine Zeit abgelaufen war.

Er hatte sie gesehen. Und, viel schlimmer, er hatte sie gehört. Ihre Worte waren unmissverständlich gewesen. Die beiden Frauen hatten sich nicht nur von ihm abgewendet, nein, sie wollten auch ihr großes Ziel, auf das sie jahrelang hingearbeitet hatten, einfach aufgeben. Für ein ganz normales Leben auf dieser Welt, die ihnen bislang nur Unglück gebracht hatte. Sie hatten sich tatsächlich auf die Seite dieses Mannes ziehen lassen. Sich von seinem Versprechen, dass sie nicht sterben müssten, um glücklich zu werden, einlullen lassen.

Die ganze Sache war ihm einfach vollkommen entglitten. Weil er wohl niemals damit gerechnet hatte, dass es so weit kommen konnte. Keinen einzigen Gedanken hatte er daran verschwendet, die Kontrolle verlieren zu können und auf diese Weise hintergangen zu werden.

Aber an diesem Tag vor knapp drei Monaten hatte er endlich begriffen, was um ihn herum tatsächlich vor sich ging. Natürlich viel zu spät. Er war blauäugig gewesen. Hätte, wenn er ehrlich zu sich selbst war, viel früher die Zeichen erkennen müssen. Aber er hatte auf das große Ziel vertraut, das sie verfolgten. Das vor allem er verfolgte.

Irgendetwas war also offenbar schiefgelaufen. Was hatte einige von ihnen dazu bewogen, sich gegen ihn und gegen all das, was sie über so lange Zeit aufgebaut hatten, aufzulehnen?

Jetzt, in diesem Augenblick, wo er die beiden Frauen sah, wie sie da standen und so hübsch anzuschauen waren, empfand er zweifellos Reue. Doch den Drang, noch einmal auf sie zuzugehen, um mit ihnen zu reden, versuchte er schon seit gefühlten Stunden zu unterdrücken. Er hatte einen Entschluss gefasst, und davon würde er nicht mehr abzubringen sein. Vollkommen egal, welche Grenzen er dafür überschreiten musste. Vollkommen egal, dass er dabei töten musste. Das tun, woran jeder von ihnen schon so oft gedacht hatte. Er würde es tun. Wenn auch völlig anders, als er sich das jemals hatte vorstellen können.

Es war bereits nach halb zehn. Der gelbe Feuerball am Himmel verschwand allmählich am Horizont, sorgte aber noch immer für ein gleißendes Licht. Die großen Sandsteine auf dem Gipfel des Velmerstot schimmerten in warmen orangeroten Tönen.

Es war der Abend der Sommersonnenwende. Mittsommernacht. Ein passenderes Datum konnte es nicht geben für das, was er vorhatte. Ein Tag, um den sich Mythen rankten. Voller Freude und gleichzeitig voller Todessehnsucht. Und er würde sie erfüllen.

Er atmete so leise wie möglich. Am liebsten hätte er sich noch eine letzte Zigarette angezündet, aber dafür war es zu spät. Er musste aufpassen, durfte auf keinen Fall riskieren, dass sie ihn sahen. Und er wusste auch, dass er ihnen nicht in die Augen blicken durfte. Er würde sonst weich werden. Wie sollte er sie töten, wenn sie ihn ansahen und um Gnade flehten?

Nein, er hatte keine andere Wahl, als sich anzuschleichen. Um das zu tun, was notwendig war, und sich anschließend auf die eigentliche Herausforderung zu konzentrieren. Der Moment war jetzt gekommen. Er hatte lange genug beobachtet und gewartet.

Er trat hinter der alten Kiefer hervor und ging mit großen, aber leisen Schritten in Richtung der beiden. Trat langsam von Stein zu Stein. Bis er direkt hinter ihnen stand.

Es hatte funktioniert. Sie hatten offenbar nicht bemerkt, dass er sich ihnen genähert hatte. Die beiden redeten miteinander, ohne dass sie auch nur den Hauch einer Ahnung hatten. Er stand einen knappen halben Meter hinter ihnen, mit einem Schwert in der Hand, das ihr Leben in wenigen Sekunden auslöschen würde.

Er bereitete sich vor. Aber die Wortfetzen, die er aufschnappte, verwirrten ihn. Sie sprachen über Dinge, die früher tabu gewesen waren. Sie schienen fröhlich zu sein. Bestens gelaunt. Und sie redeten auch über ihn. Worte, die ihn zwar nicht überraschten, aber schmerzten. Die Wut darüber zerriss ihn beinahe.

Ein letztes Mal schloss er seine Augen. Umfasste den Griff des Schwertes so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß wurden. Dann holte er aus.

Er hatte sich viele Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde, einen Menschen zu enthaupten. Was ihn am meisten beschäftigt hatte, war der Gedanke, dass das Schwert womöglich einfach am Hals abprallte oder stecken blieb. Dass seine Kraft nicht ausreichte oder irgendein anderes Missgeschick geschah. Dass es schiefging und er womöglich doch gezwungen war, in ihre Augen zu sehen. Im schlimmsten Fall sogar in ihre sterbenden Augen.

Umso überraschter war er, als er erkannte, dass das Schwert durch die Körper der beiden Frauen glitt wie ein scharfes Messer durch Butter. Es war wie in einem Computerspiel. Vollkommen surreal. Wenn da nicht diese Unmengen an Blut gewesen wären.

Er kämpfte mit sich. Spürte den Brechreiz in sich aufsteigen, während sich seine Augen weigerten, genauer hinzusehen. Wie in Trance fühlte er sich plötzlich. Als wollte die Information darüber, was er gerade getan hatte, noch nicht vollständig in seinem Bewusstsein ankommen. Sich vielleicht sogar verweigern.

Er versuchte, sich zu sammeln. Das Schwierigste stand ihm noch bevor. Die eine Sache zu erledigen, die noch viel wichtiger war, als die beiden Frauen zu töten.

Er atmete ein letztes Mal tief durch. Dann ging er los, um es hinter sich zu bringen. Um den Schlussstrich unter die letzten Jahre zu ziehen.

Im nächsten Augenblick hörte er bereits die Schritte, die sich näherten. Der Moment war also gekommen. Und er war bereit.

Obelisk

Die Bilder waren sofort wieder da.

Hildes Vater hatte damals keine Gnade gekannt. Immer und immer wieder hatte er sie an der Hand gepackt und hinter sich her geschleift. Dass er dabei ununterbrochen geflucht hatte, war vielleicht sogar verständlich gewesen. Mit Sicherheit hatte er sich an diesem Tag geschworen, sie nicht noch einmal hierher mitzunehmen. Oder zu irgendeinem anderen Ausflug.

Sechzig Jahre waren seither vergangen. Gerade einmal acht war sie damals gewesen. Dass sie sich so renitent verhalten hatte, lag allerdings nicht an der anstrengenden Wanderung durch das Silberbachtal hinauf zum Velmerstot, sondern vor allem an ihm. Er war ein Vater wie viele andere damals gewesen, ein Tyrann, aber schon in so jungen Jahren hatte sie nicht akzeptieren wollen, dass er über ihre Mutter und sie bestimmte, wie er es gerade wollte. Wenn nötig auch mit aller Härte. Er entschied und ließ nicht zu, dass ihre Mutter auch nur eine eigene Meinung hatte. Es waren furchtbare Jahre gewesen, bis er eines Tages, einige Wochen nach ihrem zwölften Geburtstag, gestorben war. Einfach so, ohne Vorankündigung, am Frühstückstisch. Mit dem Gesicht hinter der Zeitung war er vornüber in sein Marmeladenbrot gefallen. Sie hatten sich minutenlang in den Armen gelegen, ehe ihre Mutter schließlich den Notruf gewählt hatte.

Sechzig Jahre.

Und der Geruch des Waldes kam ihr sofort vertraut vor. Was natürlich vollkommen absurd war, denn jeder andere Wald roch ebenfalls so oder ähnlich. Zumindest gab es keinerlei besondere Duftnote im Silberbachtal, die sie hätte wiedererkennen können. Vielleicht waren es einfach nur die Fetzen der Erinnerung an ihre Kindheit, die wie kleine Blitze vor ihrem inneren Auge zuckten.

Petra lief einige Meter hinter ihr. Sie hatte bereits nach Luft gejapst, als sie noch nicht einmal losgegangen waren. Der Sommer meinte es in diesem Jahr schon besonders frühzeitig sehr gut. Seit Anfang Juni hing ein mächtiges Azorenhoch über halb Europa. Und heute Morgen hatte die Digitalanzeige in ihrem Auto bereits siebenundzwanzig Grad angezeigt. Sie konnte sich an keine Mittsommernacht erinnern, die ähnlich heiß gewesen wäre.

Hilde sah sich um und war einen Moment lang versucht, stehen zu bleiben und auf ihre Freundin zu warten. Aber sie wusste, dass sie sich nicht aus ihrem Rhythmus bringen lassen durfte. Obwohl die Wanderung nicht sonderlich anspruchsvoll war, kannte sie ihren Körper gut genug. Wanderte sie zu langsam oder in ungleichem Tempo, setzte sofort ein schmerzendes Seitenstechen ein, das sie das eine oder andere Mal schon zur Aufgabe einer Tour gebracht hatte.

Knapp zwei Stunden später lief Petra wieder an ihrer Seite. Sie hatten Rast auf dem Gipfel des Preußischen Velmerstot gemacht und das grandiose morgendliche Panorama des Eggegebirges genossen. Vor ihnen breitete sich jetzt eine Heidelandschaft aus, die im Herbst in voller Blüte bestimmt noch wesentlich eindrucksvoller wirkte, aber auch jetzt ein wohliges Gefühl von Wärme in ihr entfachte. Der Anblick der Sandsteinfelsen auf dem Lippischen Velmerstot, der sich nun unmittelbar vor ihnen erhob, tat sein Übriges. Hilde erkannte den Obelisken, der wie ein Gipfelkreuz inmitten der großen Steine stand.

Für einen kurzen Augenblick konnte sie es sogar ein wenig verstehen, dass ihr Vater sie hier hinaufgeschleppt hatte. Denn dieser Ort strahlte etwas wahrhaft Magisches aus.

Ihre Gedanken hingen noch immer an der Szenerie vor sechzig Jahren fest, als Petra, die mittlerweile einige Meter vor ihr lief, unvermittelt stehen blieb und sich nach links abwandte. Im nächsten Moment ging sie in die Knie und erbrach sich. Von einer auf die andere Sekunde befand sich Hilde wieder im Hier und Jetzt.

Sie rannte zu Petra und legte den Arm um sie. Vorsichtig stützte sie ihre Freundin und redete ihr gut zu. War es ihre Schuld? Hatte sie Petra zu viel zugemutet? Immerhin hatte sie ein ordentliches Tempo angeschlagen, und sie waren nicht mehr die Jüngsten. Dazu noch diese Hitze.

»Warum hast du denn nichts gesagt?«, fragte Hilde, nachdem sich Petra etwas beruhigt zu haben schien. »Wir hätten doch langsamer gehen können.«

Petra atmete schwer. Mühevoll hob sie ihren Kopf und blickte Hilde mit angsterfüllten Augen an. Ihre Gesichtsfarbe war aschfahl, als sei mit einem Mal sämtliches Leben aus ihrem Körper gewichen. »Sieh nicht hin«, sagte sie plötzlich mit zitternder Stimme. »Tu es dir nicht an.«

»Was ist los mit dir? Du siehst aus, als wäre dir der leibhaftige Teufel erschienen …« Hilde lächelte unsicher, merkte aber sofort, dass nicht der Moment für einen flapsigen Spruch war.

»Schlimmer«, antwortete Petra schließlich leise. »Viel schlimmer.«

Hilde spürte einen kalten Schauer, der von ihrem Nacken in alle Richtungen ausströmte. Sie verstand allmählich, dass Petras Übelkeit nichts mit ihrer Wanderung zu tun hatte. Sie hatte sich auch keinen Virus eingefangen oder sich bei ihrem spärlichen Frühstück heute in den frühen Morgenstunden den Magen verdorben.

Da war etwas anderes. Etwas, das sie gesehen haben musste. Das so schrecklich sein musste, dass … Ganz langsam wandte sie den Kopf über ihre rechte Schulter. Entgegen der Warnung ihrer besten Freundin. Doch in der Bewegung hielt sie noch einmal inne und schloss die Augen. Sollte sie wirklich? Oder war es nicht vernünftiger, auf Petra zu hören?

Sie wusste, dass sie unvernünftig war. Ein letztes tiefes Durchatmen, dann öffnete sie ihre Augen und wandte sich so weit um, bis ihr Blick wieder auf den Obelisken und die Sandsteinfelsen fiel.

Hilde brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was sie sah. Dann sank sie ebenfalls in die Knie, um darauf zu warten, dass auch ihr Magen sich entleerte.

Bitter Sweet Symphony

Die Blumen in der Vase, von denen er nicht wusste, wer sie neben den großen Stein gestellt hatte, waren bereits verwelkt. Daneben stand ein Grablicht, das unstet hin und her flackerte.

Warmer Sommerregen fiel auf die frisch geharkte Erde und lief in kleinen Rinnsalen unter seinen Füßen auf den feinen Kieselsteinen den Weg hinunter.

In Gedenken an Heinrich August Meyer zu Oldinghaus

Weiter hatte Jan die Inschrift auf dem Grabstein nicht gelesen. Er konnte einfach nicht.

Auf den Tag genau neun Monate waren vergangen, seitdem Jan Oldinghaus die Diele des elterlichen Hofes betreten und seinen Vater regungslos am Boden liegen gesehen hatte. Um ihn herum ein Arzt und mehrere Rettungssanitäter. Und natürlich der Rest seiner Familie. Aber niemand hatte mehr etwas ausrichten können. Sein alter Herr war an diesem Tag verstorben.

Obwohl der Tod nicht ohne Vorankündigung gekommen war, erschien ihm die Tatsache, dass der Patriarch der Familie das Schiff verlassen hatte, noch immer vollkommen surreal. So lange er denken konnte, hatte immer nur sein Vater Heinrich darüber bestimmt, was mit dem Hof und seiner Familie geschah. Immer wieder hatte er sich in Jans Leben eingemischt, selbst als der längst nicht mehr auf dem Hof gelebt hatte. Und sei es nur durch das unterschwellige schlechte Gewissen gewesen, das ihm gemacht wurde, weil er sich nicht ausreichend um seine Eltern kümmere.

Sein Vater war mitten im Zweiten Weltkrieg geboren. Erzogen worden war er von seiner Mutter, weil der Vater kurz nach dem Krieg verstorben war. Er war in Verhältnissen aufgewachsen, die einfach, aber besser als die der meisten anderen Menschen zu dieser Zeit gewesen waren. Von klein auf immer mit dem einen Ziel, den Hof wieder zu dem zu machen, was er vor langer Zeit einmal gewesen war. Er hatte dafür mehr geschuftet, als es gesund für ihn war. Mehr, als es für seine Ehe gut war. Und viel zu viel, um ein guter Vater zu sein.

Neun Monate waren vergangen.

Jan atmete tief durch.

Der Tod seines Vaters hatte ein Neuanfang werden sollen. Das zumindest hatte er gehofft. Vielleicht nicht für das kaputte Verhältnis zu seinem Bruder Cord – die Risse zwischen ihnen würden sich wohl niemals kitten lassen. Aber wenigstens für die Beziehung zu seiner Mutter und natürlich auch zu Isabel, seiner Schwester.

Tatsächlich war Jan zurück auf den elterlichen Hof zwischen Herford und Bielefeld gezogen. Zurück in sein altes Zimmer, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Aber der Neuanfang hatte nicht funktioniert.

Er hatte es bereits nach zwei Wochen gespürt, aber mehr als ein halbes Jahr hatte vergehen müssen, bevor er vor rund einem Monat schließlich den Entschluss gefasst hatte, bald wieder vollständig in seine Herforder Wohnung zu ziehen. Oder sich etwas Neues zu suchen. Diesmal vielleicht in Bielefeld. Näher am Polizeipräsidium. Näher am Leben.

Im Grunde war es nicht verwunderlich. Die tägliche Auseinandersetzung mit seiner Mutter und Cord hatte Jan mehr zugesetzt, als er ohnehin befürchtet hatte. Im Gegensatz zu ihm waren die beiden offenbar zu keiner Zeit bereit gewesen, sich auch auf ihn einzulassen. Cord hatte sich so egoistisch und herablassend verhalten wie schon all die Jahre zuvor. Er kannte ihn nicht anders.

So sehr sich Jan in diesen Monaten auch bemüht hatte, ihr Verhältnis wieder in einigermaßen normale Bahnen zu lenken, musste er sich eingestehen: Cord hatte kein Interesse an ihm, und er letztlich auch nicht an seinem Bruder.

Mit seiner Mutter verhielt es sich weitaus schwieriger. Sie hatten sich zwischendurch immer mal wieder angenähert, um im nächsten Augenblick weiter voneinander entfernt denn je zu sein.

Die unterschwelligen Vorwürfe, dass er seine Familie in den vergangenen Jahren im Stich gelassen habe, waren allgegenwärtig gewesen. Sie hatte keinerlei Zweifel daran gelassen, dass er es sei, der sich bei seiner Familie entschuldigen müsse. Ihr Vorwurf, dass er sogar Schuld am Tod seines Vaters trüge, stand noch immer im Raum.

Und Isabel? Sie war die Einzige aus seiner Familie, der sich Jan eigentlich immer nah gefühlt hatte. Zumindest bis zu dem Tag im letzten Jahr, als er herausgefunden hatte, dass sie mit seinem besten Freund Philipp zusammen war.

Während sie alle gemeinsam mit ihrer Band auf Tour gewesen waren, hatten die beiden ihm verschwiegen, dass sie ein Paar waren. Ganz zu schweigen davon, dass seine Schwester und sein Freund dann auch noch ihn aus der Band geschmissen hatten.

So merkwürdig die Situation auch war, konnte er mit Isabel dennoch einigermaßen normal umgehen. Sie zeigte auch Verständnis dafür, dass er sich auf dem Hof nicht wohlfühlte. Und sie ging dazwischen, wenn Cord oder seine Mutter sich wieder einmal unmöglich verhielten. Doch gestand er sich ein, dass mittlerweile auch zwischen ihnen eine unsichtbare Mauer stand, da das, was vor nicht allzu langer Zeit noch Gültigkeit besessen hatte, mit einem Mal nicht mehr zählte.

Vertrauen.

Isabel und er waren merklich auf Distanz zueinander gegangen. Und er tat auch nicht so, als freue er sich darüber, dass sie mit Philipp zusammen war. Dem war nämlich nicht so. Genau gesagt kotzte es ihn sogar an.

Sein bester Freund seit Kindheitstagen. Er konnte sich nicht erinnern, dass Philipp und er sich jemals etwas verschwiegen hätten. Schon gar nicht, wenn es um die Liebe gegangen war.

Sie hatten gesprochen. Zumindest hatten sie es versucht. Philipp und er. Manchmal auch zu dritt, gemeinsam mit Isabel. Aber die Gespräche waren nicht zufriedenstellend gewesen. Die beiden hatten ihm keine befriedigende Erklärung für ihr Verhalten geben können. Wahrscheinlich, weil es keine Erklärung gab. Manchmal hatte er sich gefragt, ob er zu empfindlich war. Ob er übertrieb, wenn er das Gefühl hatte, den beiden nicht mehr vertrauen zu können, wenn er nicht einmal mehr ertrug, in ihrer Nähe zu sein. Wenn er sich als Fremdkörper im elterlichen Haus fühlte.

Neun Monate. Und nichts hatte sich verändert. Die Familie war entgegen seiner Hoffnung nicht wieder zusammengewachsen.

Dass er hier heute am Grab seines Vaters stand, war auch keine Selbstverständlichkeit. Es war nämlich das erste Mal seit der Beerdigung.

Seit Tagen hatte er Angst vor diesem Moment verspürt, vor den Gefühlen, die ihn womöglich übermannen würden. Aber, und das machte ihm in diesem Augenblick mindestens genauso zu schaffen, die Gefühle waren vollständig ausgeblieben.

Da war kein bisschen Trauer, während er hier stand und auf die Familiengrabstätte auf dem Friedhof Hermannstraße blickte. Ein beklemmendes Gefühl – offenbar gelang es ihm nicht einmal nach dem Tod seines Vaters, Frieden mit ihm zu schließen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Dafür hatte er sich viel zu lange von ihm als Sohn nicht geachtet gefühlt.

Jan versuchte die trüben Gedanken beiseitezuschieben, als er das Vibrieren seines Handys in der Jackentasche spürte. Er zögerte nicht und zog das Telefon hervor.

Es war Ben Kregel. Er leitete seit etwas mehr als einem halben Jahr die Bielefelder Mordkommission. Ein waschechter Ostwestfale, der vor über zehn Jahren in den hohen Norden nach Lübeck gewechselt und vor einigen Monaten zurückgekehrt war, um die Stelle von Vera Jesse zu übernehmen, die sich mit einigem Geschick und so manchen Machtspielchen, die Jan übel aufgestoßen waren, weiter nach oben gearbeitet hatte und nun die komplette Kriminalinspektion leitete.

Jan meldete sich mit einem knappen »Ben, was gibt’s?«.

»Bist du schon auf dem Weg ins Präsidium?«

»Es ist Samstag, was sollte ich denn da im –«

»Schon gut«, unterbrach Kregel ihn. »Hätte ja sein können, dass du von den anderen schon etwas gehört hast. Jedenfalls brauchst du gar nicht erst ins Präsidium zu kommen.«

Jan sagte nichts. Er ahnte bereits, was kommen würde.

»Vor einer Viertelstunde sind wir verständigt worden, dass drei Leichen auf dem Gipfel des Velmerstot im Eggegebirge gefunden wurden. Was genau dort geschehen ist, weiß ich aber selbst noch nicht. Allerdings soll der Anblick wohl nicht gerade schön sein.«

»Was heißt das?«

»Zwei Wanderinnen haben die Leichen entdeckt. Sie sprachen bei ihrem Anruf davon, dass die Opfer enthauptet wurden und alles voller Blut sei.«

Wieder sagte Jan nichts. Es gehörte zu seinem Job, solche Nachrichten entgegenzunehmen, aber hier auf dem Friedhof, die letzte Ruhestätte seines Vaters vor Augen, ging es ihm nahe. Sein Magen verkrampfte sich.

»Bist du noch dran?«

»Ja.«

»Ich habe oben an der Ostsee in den letzten Jahren verdammt viele harte Ermittlungen erlebt«, redete Kregel weiter. »Und hier haben wir es ziemlich sicher mit einer Sache zu tun, die uns an unsere Grenzen bringen wird.«

»Wenn wir es tatsächlich mit Enthauptungen zu tun haben, ist das keine allzu überraschende These«, entgegnete Jan. Er spürte sofort, dass das unverhältnismäßig barsch klang. Es hatte nicht direkt mit Kregel zu tun, er mochte den groß gewachsenen, erfahrenen Kriminalhauptkommissar nämlich. Aber seit dem letzten großen Fall im vergangenen Jahr und Veras plötzlicher Metamorphose von einer guten Freundin zu einer kühl agierenden Karrierefrau hatte er genug von Vorgesetzten, die ihn mit klugen Ratschlägen bevormunden oder sich zumindest wichtigmachen wollten.

»Schließ dich bitte mit Stahlhut und Cengiz kurz.« Kregel ignorierte Jans Kommentar ganz einfach. »Ich will, dass ihr in spätestens einer Stunde vor Ort seid. Ich verständige die anderen. Nolte und sein Team sind schon unterwegs. Und denk dran: Kein Wort über die Sache gegenüber den Medien, bevor wir nicht wissen, womit wir es überhaupt zu tun haben. Die Kommunikation nach außen läuft in Absprache mit mir.«

»Was ist mit den Wanderinnen?«

»Mehrere Streifen sind vor Ort und kümmern sich um sie. Wir müssen sie von der Pressemeute so lange wie möglich fernhalten.«

»Lippischer oder Preußischer?«

»Wie bitte?«

»Auf welchem Gipfel des Velmerstot wurden die Leichen gefunden?«

»Das müsste …« Kregel stockte. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich. »Aber ich geb es dir durch, sobald ich es weiß. Fahr schon mal los und sammele die anderen ein.«

Jan hielt sein Handy noch eine Weile am Ohr, obwohl Kregel längst aufgelegt hatte.

Er musste an seinen Urlaub denken, der in vierzehn Tagen begann. Der erste seit mehr als fünf Jahren. Zwei Wochen Algarve. Nach langer Zeit wollte er endlich mal wieder auf sein Board steigen und die grandiosen Atlantikwellen reiten.

Nur noch vierzehn Tage. Ohne zu wissen, was genau vorgefallen war, war ihm sofort klar, dass sein Urlaub womöglich ins Wasser fallen würde.

Monatelang hatte es für die Mordkommission kaum etwas zu tun gegeben. Aber ausgerechnet jetzt, so kurz vor seinem Urlaub, sollte er zu einem Tatort irgendwo im Eggegebirge fahren, an dem an diesem Samstagmorgen drei enthauptete Leichen gefunden worden waren.

Jan seufzte. Eigentlich hatte er sich schon seit Längerem nach einer Ermittlung gesehnt, die ihn herausforderte. Ihn von den Problemen mit seiner Familie ablenkte. Aber doch nicht zu dem Preis, seinen Urlaub absagen zu müssen.

Er schloss für einen kurzen Moment seine Augen und klopfte sich mit den Handinnenflächen mehrfach auf die Wangen. So lange, bis er wieder Energie in seinem Körper spürte. Die Lethargie war verschwunden. Er wandte sich um und ging zurück zum Parkplatz.

Als er ein paar Minuten später hinter dem Steuer seines alten Minis saß und aus den Boxen die ersten Klänge von »Bitter Sweet Symphony« hallten, hatte er die Gedanken an seinen verstorbenen Vater und den Rest der Familie weitestgehend verdrängt. Stattdessen kreiste eine ganz andere Frage in seinem Kopf.

Was zum Teufel war vorgefallen, dass sie im beschaulichen Ostwestfalen in einem Fall ermitteln mussten, bei dem offenbar mehrere Menschen enthauptet worden waren?

Gipfel des Grauens

Cengiz’ Miene war noch finsterer als sonst, als Jan auf dem Waldparkplatz im Silberbachtal aus seinem Wagen ausstieg und auf ihn zuging. In solchen Momenten konnte er durchaus verstehen, dass der Kollege als harter Hund und Wunderwaffe für besonders schwierige Fälle galt. Als V-Mann in der Bekämpfung von Clan-Kriminalität in deutschen Großstädten wäre Cengiz wahrscheinlich besonders prädestiniert, war sich Jan sicher. In der ostwestfälischen Provinz wirkte sein bisweilen kompromissloses Auftreten dagegen gewöhnungsbedürftig. Aber auch hier schadete es nicht, jemanden wie ihn an seiner Seite zu haben.

Jan mochte Cengiz und war froh, ihn zu sehen. Die Fahrt nach Horn-Bad Meinberg über die B 239 durch Lage und Detmold hatte sich fürchterlich hingezogen. Zumal Kai Stahlhut als Beifahrer die Höchststrafe gewesen war. Dagegen war jeder andere Kollege eine Wohltat. Und sein Lieblingskollege Cengiz sowieso.

Wahrscheinlich wäre die Fahrt weitaus erträglicher gewesen, wenn Jan einfach eine seiner Britrock-CDs laut aufgedreht hätte. Doch stattdessen hatte ihm sein in Herford lebender Kollege Stahlhut ohne Unterlass versucht zu erklären, weshalb dieser Fall genau das Richtige für ihn sei, um sich im gleichen Atemzug darüber zu beschweren, dass die Welt doch immer schlimmer werde.

Es fiel Jan noch immer schwer zu akzeptieren, dass Stahlhut, der bis vor etwas mehr als einem Jahr als Kommissar in der Herforder Polizeiinspektion gearbeitet hatte, mittlerweile Teil der Bielefelder Mordkommission war. Stahlhut war aus Jans Sicht kein herausragender Ermittler. Er war weder Analytiker noch Taktiker und schon gar keine Spürnase. Nicht einmal ein kollegialer Typ. Er war vor allem eines: laut. Und bisweilen so ein Kotzbrocken, dass jeder einen großen Bogen um ihn machte, wann immer es ging. Weshalb Vera ausgerechnet ihn letztes Jahr ins Team geholt hatte, war ihr Geheimnis geblieben.

Auf dem Weg hinauf zum Velmerstot ließ sich Jan immer wieder einige Meter hinter seine beiden Kollegen zurückfallen. Nicht nur, weil er keine Lust auf Stahlhuts ständige Kommentare hatte, er wollte vor allem allein sein mit seinen Erinnerungen. An seine Kindheit und die sonntäglichen Ausflüge ins Grüne – zu den Externsteinen und rauf zum Hermann. Oder aber auch hierher, auf den Lippischen Velmerstot, einen der höchsten Punkte im Eggegebirge. Es war ein kalter, aber sonniger Wintertag gewesen. Sie waren exakt dieselbe Strecke gewandert, die er auch jetzt in diesem Moment ging. Und auch damals, vor über dreißig Jahren, hatte er sich zurückfallen lassen. Ein ordentliches Stück hinter seine Eltern und Isabel. Und natürlich hinter Cord, der vorweggestampft war und schon damals als Zwölfjähriger keine Situation ungenutzt gelassen hatte, um seinem Vater zu imponieren.

Diese Wanderungen hatten sich tief in sein Gedächtnis gebrannt, diese Momente, in denen die Familie zusammen etwas unternommen hatte. So wie es sich jedes Kind eigentlich wünschte, nur leider hatte die Realität in seiner Familie ganz andere Erinnerungen geschaffen. Unerträgliche Belehrungen seines Vaters, wie die Kinder, und vor allem Jan, sich zu verhalten hatten. Eine eingeschüchterte Mutter, die, statt ihm zur Seite zu springen, lieber schwieg. Und ein älterer Bruder, der keine Chance ausließ, ihn vor ihren Eltern schlechtzumachen. Besonders schlimm wurde es immer dann, wenn die Stimmung vollends kippte, weil sein Vater auch noch einen seiner cholerischen Wutanfälle bekam. Augen zu und durch – mit dieser Devise hatte er einen Großteil seiner Kindheit überhaupt nur überstanden. Schmerzhafte Erinnerungen und Bilder, die wie im Zeitraffer vor seinen Augen vorbeirasten.

»Heißt es eigentlich der oder die Velmerstot?«

Jan zuckte zusammen. Um ein Haar wäre er mit Stahlhut zusammengestoßen. Die beiden Kollegen vor ihm waren einfach stehen geblieben.

»Was ist los?«

»Der oder die Velmerstot?«, wiederholte Stahlhut. »Ich habe im Internet gelesen, dass beides möglich ist.«

»Meine Eltern haben immer der Velmerstot gesagt«, antwortete Jan. »Und bevor du fragst, mit dem Tod hat der Velmerstot nichts zu tun.«

»Schlaumeier«, raunte Stahlhut zurück. »Heute allerdings schon.« Sein lautes Lachen erstarb so schnell, wie es gekommen war, als sich Cengiz neben ihm aufbaute und ihn mit einer unmissverständlichen Miene ansah.

»Dann gehen wir wohl besser weiter.« Stahlhut winkte ab. »Ich hatte für einen kurzen Moment vergessen, was für Spaßbremsen ihr seid.«

Jan sparte sich eine Erwiderung und beließ es bei einem Kopfschütteln.

Zehn Minuten später verließen die drei den stetig ansteigenden Waldwanderweg. Vor ihnen machte sich allmählich die Lichtung des Gipfels breit. Das Licht und die Landschaft veränderten sich schlagartig. Heidekraut und massive Sandsteine bestimmten das Bild.

Jan versank für einen kurzen Augenblick erneut in Erinnerungen an damals. Sein Vater war überwältigt gewesen, als sie den nördlichen der beiden Gipfel des Velmerstot erreicht hatten. Der Blick über das Eggegebirge und den Teutoburger Wald bis zum Hermannsdenkmal hatte ihm beinahe Tränen in die Augen getrieben.

In diesem Moment war die Szenerie um ihn herum jedoch eine gänzlich andere. Die Aussicht auf den Gebirgskamm und das Wahrzeichen Ostwestfalen-Lippes rückte angesichts der rot-weißen Absperrbänder und des Equipments, das die Kriminaltechniker aus Noltes Team gerade aufbauten, komplett in den Hintergrund.

Jan spürte trotz der warmen Temperaturen einen kühlen Schauer seinen Rücken hinunterlaufen, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass sie nur noch wenige Meter vom Fundort der Toten entfernt waren. Und der Gedanke an enthauptete Leichen sorgte wohl selbst bei dem erfahrensten Ermittler für ein Gefühl der Ohnmacht.

»Weiche Knie?« Stahlhut blickte Jan herausfordernd an, hob aber sofort beide Arme, als wolle er sich entschuldigen.

»Bevor ich mir den Tatort ansehe, würde ich gerne mit Nolte sprechen«, sagte Jan in Richtung Cengiz.

»Hast du ihn denn schon gesehen?« Sein türkischstämmiger Kollege musterte ihn.

»Ich gehe davon aus, dass er irgendwo dahinten bei dem Obelisken steht.«

»Und jetzt möchtest du, dass ich ihn hole?«

»Sehr gut kombiniert.«

»Vielleicht hat Stahlhut ausnahmsweise gar nicht mal unrecht.«

»Wie bitte?«

»Du hast Schiss vor dem Anblick der Toten, und deshalb schickst du mich vor.«

»Nach dem wenigen, was mir Kregel am Telefon erzählt hat, bin ich tatsächlich noch nicht sonderlich scharf darauf, mir die Sache aus der Nähe anzusehen«, antwortete Jan ehrlich. »Zumindest hätte ich gerne noch ein paar mehr Informationen.«

»Schon gut«, sagte Cengiz. »Ich suche Nolte und gebe ihm Bescheid, dass du hier wartest.«

Aus dem Augenwinkel erkannte Jan, dass sich auch Stahlhut bereits von ihnen entfernt hatte. Er kletterte gerade über einige große Sandsteinquader und ging weiter in Richtung des kleinen Obelisken.

Jan atmete mehrfach tief durch. Wieder schlug er sich mit den Handinnenflächen auf die Wangen. Er hatte frischen Tatorten noch nie etwas abgewinnen können. Obwohl er der Überzeugung war, dass die Begutachtung extrem wichtig war, hasste er den Anblick jedweder Leiche. Dabei war es im Grunde egal, ob die Opfer auf brutale Weise ermordet worden waren oder aber kaum Verletzungen aufwiesen. Es war vor allem die Konfrontation mit dem Tod, die ihm zusetzte. Früher hatte er dieses Gefühl oftmals unterdrücken können, aber seit dem Tod seines Vaters gelang ihm dies immer schlechter.

Er hatte sogar darüber nachgedacht, den Polizeipsychologen um Rat zu fragen, letztlich diesen Gedanken aber wieder fallen gelassen. Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Panik beim Anblick eines toten Menschen eines Tages wieder besiegen und in einer unsichtbaren Schachtel irgendwo tief in seinem Unterbewusstsein verstecken ließ.

»Nicht die schlechteste Entscheidung, einfach hier zu warten.«

Jan vernahm Noltes Stimme aus einigen Metern Entfernung. Der groß gewachsene Leiter des KK 32 Kriminaltechnik und Daktyloskopie mit dem kahl geschorenen Kopf kam ihm so unaufgeregt, wie er eigentlich immer war, entgegen.

»So schlimm?«

»Schlimmer«, antwortete Nolte. »Ich befürchte allerdings, dass du es dir genau deshalb selbst ansehen musst.«

»Geht es etwas weniger kryptisch?«

»Kannst du gerne haben.« Nolte drehte sich zur Seite und zeigte in Richtung des Obelisken. »Dort hinten liegen zwei weibliche und eine männliche Leiche. Die beiden Frauen wurden enthauptet. Ihre Köpfe sind akkurat auf einem der großen Steine platziert und dahin ausgerichtet worden, wo der tote Mann nur wenige Meter entfernt in einer großen Blutlache liegt. In seinem Oberkörper steckt ein großes Schwert. Bemerkenswert ist zudem, dass die beiden Frauen nur sehr spärlich bekleidet sind.«

Jan nickte eine Weile und massierte sich mit der linken Hand beide Schläfen.

»Reicht dir das erst mal?«, durchbrach Nolte die Stille.

»Sind die Leichen abgedeckt?«

»Noch nicht«, antwortete Nolte. »Wir gehen nicht davon aus, dass hier Dritte auftauchen werden, da wir die Zugänge zum Gipfel bereits einigermaßen weitläufig abgesperrt haben. Außerdem solltet ihr wirklich sehen, was passiert ist.«

»War er es?«

»Du meinst, ob die Person mit dem Schwert in der Brust die beiden Frauen getötet hat?«

»Ja.«

»Liegt bei dieser Szenerie durchaus auf der Hand, aber zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich, dazu etwas Belastbares zu sagen.«

»Weißt du sonst bereits irgendetwas? Zum Beispiel, wer die Toten sind?«

Nolte schüttelte den Kopf.

»Na schön, dann lass uns gehen. Ich habe ja noch immer die Hoffnung, dass ich irgendwann so viele Tatorte gesehen habe, dass nicht jedes neue Bild dieselben Mechanismen in mir auslöst und für immer abgespeichert bleibt.«

Wenige Minuten später war sich Jan sicher, dass es ein Fehler gewesen war, auf Nolte zu hören. Er hatte es in seinen Jahren bei der Kripo Bielefeld schon mit so einigen Leichen zu tun gehabt, aber der Anblick dieses Tatorts war das mit Abstand Grauenhafteste, mit dem er je konfrontiert worden war.

Die abgetrennten Häupter der beiden Frauen sahen aus wie Puppenköpfe, und die starren Augen wirkten wie aus Glas. Dass es sich allerdings um echte menschliche Köpfe handelte, stand außer Frage. Allein das viele Blut, das sich auf den großen Sandsteinquadern ergossen hatte und bereits angetrocknet war, war ein deutliches Zeichen. Den offensichtlichsten Beweis lieferten allerdings die beiden Rümpfe der Frauen, die in einigen Metern Entfernung zwischen den Steinen und einigen Heidekräutern lagen.

Jan verspürte keinerlei Drang, noch näher an die Opfer heranzutreten. Stattdessen versuchte er, sich aus sicherer Distanz einen Überblick zu verschaffen. Auffällig war tatsächlich, wie präzise die beiden Köpfe nebeneinander platziert waren. Der Täter musste sie nach der Enthauptung so ausgerichtet haben.

Die toten Augen starrten auf einen Punkt direkt hinter Jan. Dorthin, wo die dritte Leiche lag, an der er vorhin vorbeigegangen war und auf die er nur einen flüchtigen Blick geworfen hatte. Die Leiche eines mittelgroßen Mannes, in dessen Oberkörper ein altertümlich anmutendes Schwert mit einer mindestens fünfzig Zentimeter langen Klinge steckte.

»Wahnsinn, oder? Man glaubt, schon alles gesehen zu haben, und dann muss man sich so ein Gemetzel ansehen.« Stahlhut trat neben Jan und schüttelte mit einer ungläubigen und gleichzeitig faszinierten Miene den Kopf. »Ich hoffe, wir haben es hier nicht mit dem IS oder irgend so einer anderen fanatischen Scheiße zu tun.«

»Was?«, fragte Jan.

»Wegen der Enthauptungen, meine ich. Der IS