Möwenjagd - Jobst Schlennstedt - E-Book

Möwenjagd E-Book

Jobst Schlennstedt

4,7

Beschreibung

Endlich ist das Filetstück der Hansestadt an einen schwedischen Investor verkauft. Wirtschaftssenator Michael Sonntag feiert den Erfolg mit Parteifreunden in einem Lübecker Edelrestaurant. Doch am nächsten Tag ist er verschwunden. Was zunächst nur seiner Frau Sorgen bereitet, beschäftigt schon bald auch die Kripo. Kommissar Birger Andresen taucht immer tiefer in die korrupte Welt der Politik und Wirtschaft ein. Als am Priwallstrand eine Leiche angespült wird, geraten die Schweden ins Visier der Polizei. Andresen ermittelt auf Hochtouren zwischen Lübeck und Malmö - bis der Fall plötzlich eine überraschende Wendung nimmt.

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geographie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Hauptberuflich ist er als Projektmanager in einem Hamburger Beratungsunternehmen tätig. Im Emons Verlag erschienen die Küstenkrimis »Tödliche Stimmen«, »Der Teufel von St. Marien« und der Ostwestfalenkrimi »Westfalenbräu«. Mit »Möwenjagd« liegt jetzt sein neuester Band der Kriminalreihe um den Lübecker Kommissar Birger Andresen vor.

www.jobst-schlennstedt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-749-9 Küsten Krimi Originalausgabe

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»Wenn man einem Menschen trauen kann,

erübrigt sich ein Vertrag.

Wenn man ihm nicht trauen kann,

ist ein Vertrag nutzlos.«

Jean Paul Getty,

amerikanischer Ölindustrieller und Milliardär

Prolog

Michael Sonntag beobachtete die marineblaue Tinte auf dem Papier mit Argusaugen. Da sie noch nicht ganz getrocknet war, hielt die Anspannung in seinem Körper noch immer an. Zu viel war passiert in den vergangenen Wochen, als dass er den Moment genießen konnte.

»Auf Lübeck! Skål!«, rief sein Gegenüber unvermittelt.

»Und auf die Wallhalbinsel!«, stimmte ein anderer am Tisch ein. »Dieses Projekt wird der Stadt ein anderes Gesicht geben.«

Sollen sie nur reden, dachte er. Worauf es tatsächlich hinauslaufen würde, wusste er. Sein Job war es gewesen, Geld für den Verkauf des Grundstücks in die leeren Kassen der Stadt zu spülen. Den hatte er getan.

Dabei hätte allen klar sein müssen, worauf man sich einließ, als die Entscheidung zugunsten der »Möwen« gefallen war. Der Bürgermeister höchstpersönlich hatte sich für den schwedischen Investor starkgemacht. Doch wie so oft waren die entscheidenden Informationen an ihm vorbeigeflossen.

»Michael, jetzt heb doch auch du dein Glas!«, forderte ihn der Bausenator auf. »Es ist vollbracht. Freust du dich denn gar nicht?«

»Doch«, antwortete er emotionslos.

»Deine Zurückhaltung in allen Ehren, aber bei dieser Sache habe ich wirklich ein gutes Gefühl.«

»Ja, du hast recht. Aber es dauert wohl noch eine Weile, bis ich endgültig realisiert habe, dass wir die Kuh endlich vom Eis haben.« Sonntag lächelte und prostete dem Bausenator mit einem Glas Rotwein zu.

Gab es eigentlich niemanden, der erkannte, auf welchen Wahnsinn sie sich eingelassen hatten? Niemanden, der sah, dass sich die Stadt gerade ihr Millionengrab schaufelte? Für einen Moment verspürte er ein schlechtes Gewissen. Seiner Stadt und ihren Menschen gegenüber. Doch sofort besann er sich wieder und blickte auf den unterschriebenen Vertrag, der ihm soeben über den Tisch geschoben worden war. Die Tinte war jetzt trocken, der letzte Zweifel weggewischt. In Kürze würde das Unheil seinen Lauf nehmen.

Vorsichtig verstaute Sonntag den Vertrag in einer braunen Ledermappe. Dann klemmte er sie sich unter den Arm, ging um den Tisch herum und trat auf Göran Norén zu. Den Mann mit dem angegrauten Kurzhaarschnitt, den teuren Anzügen und den Krokodillederschuhen umgab eine seltsame Aura. Irgendetwas zwischen Professionalität und Zwielichtigkeit. Eine gefährliche Mischung. Obwohl es der Chef der GÖNO AB in der Regel vermied, selbst in Erscheinung zu treten, war er eigens aus Malmö angereist, um seine Unterschrift unter den Vertrag zu setzen.

»Herr Norén, ich danke Ihnen für das Vertrauen in unsere Stadt.« Sonntag presste die Worte hervor, ohne dem Schweden in die Augen zu schauen.

Norén nickte kurz und streckte ihm die Hand mit dem wuchtigen Siegelring entgegen. Wortlos, nur mit einem flüchtigen Lächeln, erwiderte er Sonntags Dank. Ihr Verhältnis war selbst in dieser feierlichen Stunde unterkühlt.

Sonntag reichte den anderen Schweden einem nach dem anderen die Hand. Dem Finanzvorstand Södergren, dem Vertriebsmanager, dessen Namen er sich nie merken konnte, und Mats, dem Nachwuchsmann aus der Marketingabteilung. Er saß etwas abseits an der langen Tafel. Sein Blick verriet, dass er beunruhigt war.

Mats war der Einzige gewesen, mit dem Sonntag in den vergangenen Monaten offen hatte reden können. Der einzige Verbündete in dem Spiel. Er hatte durchschaut, was Norén vorhatte, und wollte offenbar nicht länger Teil davon sein.

»Ich muss mit dir reden«, flüsterte Mats. Mit seinen halblangen blonden Haaren und den blauen Augen sah er nicht nur wie der typische schwedische Naturbursche aus, er passte auch sonst so gar nicht zu den anderen, deutlich älteren Kollegen. Mats hatte auch heute dunkelblaue Jeans und ein modisches Karohemd an, während alle anderen Schweden am Tisch dunkle Anzüge, weiße Hemden und konservativ gestreifte Krawatten trugen.

»Wir treffen uns auf der Toilette«, antwortete Sonntag leise. »In zwei Minuten.«

Er entfernte sich von der langen Tafel, die das Servicepersonal des edlen Restaurants in der Hüxstraße für diesen Abend hergerichtet hatte, und verschwand in den Gang, an dessen Ende die Toilettenräume lagen.

Es dauerte länger als zwei Minuten, ehe Mats die Tür hinter sich schloss und sofort seinen Zeigefinger auf den Mund legte. »Wir dürfen nicht so laut sein.«

»Gibt es Neuigkeiten?«

»So kann man das nennen«, antwortete Mats in perfektem Deutsch. Sonntag wusste, dass Mats’ Mutter aus Deutschland stammte und er in Lübeck geboren und aufgewachsen war.

»Nichts kann schlimmer sein, als dass der Vertrag unterzeichnet wurde.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass wir kein Interesse mehr an der Wallhalbinsel haben«, antwortete Mats.

»Ich dachte, Norén will …«

»Offenbar hat er seine Pläne über den Haufen geworfen«, unterbrach Mats. »Ich habe aber dafür gesorgt, dass alles gut wird.«

»Wovon sprichst …?«

»Maaats!« Eine laute Männerstimme drang zu ihnen. Jemand näherte sich mit schnellen Schritten der Toilettentür.

»Jävla skit!«, fluchte Mats leise. »Ich verstecke mich in der Kabine. Sie müssen nicht unbedingt sehen, dass wir uns hier unterhalten.«

»Aber …«

»Sag ihnen, dass du keine Ahnung hast, wo ich stecke!« Mats verschwand in der rechten der drei Kabinen und verriegelte das Schloss. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und Finanzvorstand Södergren betrat den modern gestalteten Toilettenraum.

»Haben Sie Mats Persson gesehen?«, fragte er mit starkem schwedischem Akzent.

Sonntag schüttelte wortlos den Kopf und wusch sich reflexartig die Hände.

»Vielleicht in der Kabine dort hinten?«

»Ich glaube, das Klo ist defekt.«

Södergren sah ihn mürrisch an und nickte. Gerade als er die Toilettenräume wieder verlassen wollte, drang ein Geräusch aus der rechten Kabine. Das Knacken eines Toilettenkastens.

Obwohl Södergren die sechzig bestimmt schon überschritten hatte, kehrte er mit zwei kraftvollen Schritten um und baute sich vor Sonntag auf. »Defekt, ja?«

»Glauben Sie mir etwa nicht?« In Sonntags Ton schwang Unbehagen mit.

»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, Herr Senator? Ich mag es nicht, mit Menschen Verträge abzuschließen, die mich belügen.«

»Herr Södergren, ich glaube …«

»Seien Sie still«, unterbrach ihn der grauhaarige Schwede barsch. »Ich habe doch gehört, dass jemand in der Kabine ist.«

Ehe Sonntag reagieren konnte, öffnete Södergren die Tür der mittleren Kabine, stieg auf die Toilettenschüssel und warf einen schnellen Blick über die Kabinenwand. Sonntag sah sofort die Ernüchterung in dessen Gesicht.

»Ich sagte doch, dass niemand in der Kabine ist.«

Wortlos stieg Södergren von der Toilettenschüssel herunter und verschwand sichtlich irritiert.

Sonntag wartete einige Sekunden, bis er sich sicher war, dass der Finanzvorstand nicht noch einmal zurückkehren würde. Dann sagte er leise: »Mats, die Luft ist rein.« Er atmete geräuschvoll aus und spürte einen Moment lang die Erleichterung förmlich durch seinen Körper fluten. Es war der Blick des Schweden gewesen, der ihm Angst eingejagt hatte.

Langsam öffnete sich die linke Kabinentür. Mats erschien mit besorgter Miene.

»Ich spare mir jetzt zu fragen, wie du es geschafft hast, unbemerkt über zwei Kabinenwände zu klettern, denn ich glaube, es wäre besser, wenn du so schnell wie möglich von hier verschwindest.«

»Denkst du etwa, Södergren kommt noch einmal zurück?«

»Nein, aber sie werden dich im Restaurant suchen. Hier kannst du auf keinen Fall bleiben. Kletter am besten durch das Fenster. Das führt auf den Gang im Hinterhof. Dann läufst du zurück zur Straße und gehst noch einmal rein ins Restaurant. Du tust einfach so, als wärst du eine rauchen gewesen.«

»Du hast recht. Wir sehen uns also drinnen.« Mats stieß das kleine Fenster am Ende des Raums auf und zwängte sich ins Freie.

»Warte! Was wolltest du mir eben eigentlich sagen?«

Seine Frage kam zu spät. Mats Persson war bereits außer Hörweite.

Sonntag stützte sich mit beiden Armen auf dem Waschbecken auf und betrachtete sich im Spiegel. Der Stress der letzten Wochen zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Tiefe Falten zerfurchten die Stirn; unter den Augen lagen dunkle Schatten. Er war gerade einmal achtundvierzig, doch in diesem Moment fühlte er sich reif für die Pension. Nichts an ihm schien mehr so zu sein wie zu der Zeit, bevor er das Amt als Wirtschaftssenator angetreten war.

Ein kühler Luftzug traf ihn. Das Fenster stand noch immer offen. Die Hitze der letzten Wochen hatte ihm zu schaffen gemacht, ein wenig frische Luft nahm er dankend an.

Er bildete sich ein, Regentropfen auf das Kopfsteinpflaster der Hüxstraße fallen zu hören. Ohne lange nachzudenken, kletterte er durch das Fenster hinaus auf den schmalen dunklen Gang, der zu den rückseitig gelegenen Häusern führte. Er lief die wenigen Meter in Richtung Hüxstraße, bis ihm helles Laternenlicht den Weg wies.

Sonntag blickte in beide Richtungen der noblen Einkaufsstraße und trat schließlich vor das Restaurant. Durch die Fensterscheibe sah er die Umrisse der Gesellschaft, mit denen er eben noch an einem Tisch gesessen hatte. Die Schweden, den Bürgermeister, die Wirtschaftsförderer, die Unternehmer und Architekten. Irgendwo musste auch Mats sein. Er hoffte, dass sich sein schwedischer Geschäftsfreund unauffällig unter die Leute hatte mischen können.

Bei der Vorstellung, den Schweden noch einmal zu begegnen, wurde ihm flau im Magen. Obwohl er wusste, dass er sich nicht unbemerkt davonstehlen konnte, wollte er nur noch weg von hier.

Er dachte daran, sich ein Taxi zu nehmen, doch dann entschied er sich anders. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm guttun. Den Kopf freibekommen, die unangenehmen Dinge, die hinter ihm und zugleich noch vor ihm lagen, für ein paar Minuten verdrängen.

Sonntag ging strammen Schrittes die Hüxstraße hinunter in Richtung des Parkhauses. Hinter ihm verklang allmählich das Stimmengewirr aus dem La Tortue, das durch die geöffneten Fenster des Restaurants über die Straße hallte.

Außer ihm war kaum eine Menschenseele unterwegs, dabei war es gerade mal halb elf. Ein typischer Freitagabend in Lübeck. Es störte ihn gelegentlich, dass in dieser Stadt meist schon um sieben, kurz nach Geschäftsschluss, die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Er stammte aus Hamburg, undenkbar, dort um diese Zeit durch einsam verlassene Straßen in der Innenstadt zu laufen.

Auf Höhe der caféBAR kreuzte ein Auto seinen Weg. Für einen Moment erhellten die Halogenscheinwerfer der großen Limousine die Nacht.

Sonntag ging zielstrebig weiter. An der Wakenitzmauer bog er rechts ab in Richtung Wahmstraße. Hier war es erheblich dunkler als in der Hüxstraße. Sonntag erkannte einen einzelnen Fahrradfahrer, der die Wahmstraße in Richtung Rehderbrücke entlangschoss.

Das Motorengeräusch, das plötzlich zu hören war, nahm er im ersten Augenblick kaum wahr. Erst als der Motor hinter ihm aufheulte, schrak er zusammen und drehte sich abrupt um. Das dunkel lackierte Auto rollte im Schritttempo heran. Er war sich sofort sicher, dass er den Wagen kannte.

Der Fahrer schaltete das Fernlicht an. Instinktiv hielt er sich die Hände vors Gesicht. Als er sie nach einigen Sekunden herunternahm und sich seine Augen allmählich an das Licht gewöhnten, versuchte er einen Blick ins Innere des Wagens zu werfen. Obwohl er nur Umrisse wahrnehmen konnte, glaubte er zu erkennen, wer hinter dem Steuer saß.

Die Angst, die er eben im La Tortue verspürt hatte, war mit einem Mal wieder da. Das flaue Gefühl in der Magengegend. Was zum Teufel geschah hier gerade? Er wandte sich um und ging hastig weiter in Richtung Wahmstraße.

Im nächsten Moment traf ihn ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf.

Sonntag fiel vornüber zu Boden und blieb reglos auf dem Asphalt liegen, ehe ihn unbekannte Arme hochhoben und in den Kofferraum des Mercedes hievten.

Langsam und mit abgeblendetem Licht rollte der Wagen an. Als er auf die Wahmstraße abbog, schaltete der Fahrer die Scheinwerfer wieder ein. Im Bewusstsein, dass ihn niemand beobachtet hatte, gab er Gas und verschwand in der hereinbrechenden Nacht.

1

Noch eine Schraube, dann war es geschafft. Noch einmal den verbogenen Inbusschlüssel ansetzen und dann den Schrank hochwuchten. Danach würde er sich nie wieder überreden lassen, auch nur einen Fuß in das schwedische Möbelhaus zu setzen. Nicht einmal, wenn er Heißhunger auf Hotdogs oder diese schwedischen Klopse hatte. Ein für allemal war Schluss mit dem endlosen Geschraube und Geklopfe, in Zukunft würde er nur noch Fertigmöbel, vorzugsweise antike Stücke, kaufen.

Birger Andresen hatte in den vergangenen zwei Stunden so viel geflucht, dass er fast gleichgültig zur Kenntnis nahm, dass ein paar der Nägel, die die Rückwand befestigen sollten, ihr Ziel verfehlt hatten. Er schloss rasch die Türen des weißen Schranks, ehe er seine Freundin Wiebke zum Bestaunen des Werks rief.

»Sieht super aus!«, sagte Wiebke strahlend. »Marlenes erster eigener Kleiderschrank – gefällt er dir denn auch?«

»Na ja, ehrlich gesagt …« Andresen stockte, als er sah, dass Wiebke die Türen öffnete. »Diese Nägel …«, versuchte er sich sofort zu rechtfertigen. »Ich meine, das kann schon mal pass…«

»Oh Mann!« Wiebke sah Andresen vorwurfsvoll an. »Hätte ich das bloß selbst gemacht. Du hast wirklich zwei linke Hände.« Wütend drehte sie sich um und verließ das Kinderzimmer.

»Hättest mir ja auch helfen können!«

Sie schien seine Worte nicht mehr gehört zu haben. Eine Viertelstunde später tauchte sie wieder auf. Sie hielt Marlene auf dem Arm und hatte einen hochroten Kopf.

»Würdest du sie bitte kurz mal nehmen, ich muss in der Redaktion Bescheid geben, dass ich später komme.«

»Warum denn?«, wollte Andresen wissen. Seine Frage klang so naiv, dass sie Wiebke noch mehr auf die Palme brachte.

»Es wäre schön, wenn du sie auch gleich fütterst und ihr die Windeln wechselst!«

»Kein Problem, welchen Brei bekommt sie denn?«

»Pah! Als wenn das was werden würde!« Wiebke wandte sich ab und verschwand im unteren Stockwerk in der Küche, wo nach einigen Sekunden das Geräusch des Pürierstabs einsetzte.

Andresen seufzte und lief die Treppen hinunter. So wollte er das Gespräch nicht enden lassen.

»Was ist denn los mit dir?«

»Deine bescheuerte Exfrau«, reagierte sie gereizt. »Sie hat wieder geschrieben, diesmal droht sie sogar mit ihrem Anwalt.«

»Geht es immer noch um die Gartenmöbel?«, fragte Andresen etwas zu flapsig und erntete einen bösen Blick.

»Lies selbst!« Wiebke drückte ihm einen Brief in die Hand. Andresen faltete ihn auseinander und blickte auf eine zweiseitige Liste mit Gegenständen, die seine Exfrau Rita für sich beanspruchte. Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Ich sag ja, die spinnt«, echauffierte sich Wiebke weiter. »Im Übrigen – wenn sie noch einmal so etwas wie neulich macht, dann garantiere ich für nichts mehr.«

»Jetzt beruhig dich doch mal. Ich werde mit ihr sprechen.«

Andresen wusste natürlich, worauf Wiebke anspielte. Der Vorfall lag zwei Wochen zurück. Auf offener Straße war Rita auf Wiebke losgegangen. Obwohl Wiebkes Tochter Emilie, die aus einer früheren Beziehung stammte, und ihre gemeinsame neun Monate alte Tochter Marlene dabei gewesen waren, wäre die Situation um ein Haar eskaliert. Passanten hatten verhindert, dass Rita handgreiflich geworden war. Über den Grund für Ritas Verhalten konnte er nur spekulieren, aber vieles sprach dafür, dass sie die Trennung, die von ihr ausgegangen war, plötzlich bereute. Wahrscheinlich hatte sie realisiert, was sie verloren hatte, als sie gehört hatte, dass Wiebke bei Andresen eingezogen war.

»Sag ihr klipp und klar, dass sie uns in Ruhe lassen soll! Ich habe keine Lust auf so eine rachsüchtige, frustrierte …«

»Es reicht, Wiebke!«

»Verteidigst du sie jetzt etwa auch noch?«

»Nein, das tue ich nicht, aber du musst ja nicht mit gleichen Mitteln zurückfeuern. Lass uns über etwas anderes reden. Ich habe noch zwei freie Tage, bevor mein Urlaub zu Ende ist. Da kann ich mir Schöneres vorstellen, als mich mit Rita zu beschäftigen.«

»Versprich mir, dass du mit ihr redest!«

Andresen nickte plötzlich gedankenverloren. Aus dem Wohnzimmer drang das Klingeln des Handys an sein Ohr.

»Bin gleich zurück.« Froh darüber, der Diskussion durch den Anruf entkommen zu können, verließ er die Küche und eilte die Treppe hinauf.

Er griff nach dem Telefon, das auf der Couch lag, und warf einen flüchtigen Blick auf das Display. Gerade noch rechtzeitig hielt er inne, als er sah, dass es Rita war. Sie war die Letzte, mit der er im Augenblick sprechen wollte.

Hastig drückte Andresen den Anruf weg und steckte das Handy in seine Gesäßtasche. Plötzlich stockte er und spitzte die Ohren. Aus dem unteren Stockwerk waren Stimmen zu hören. Frauenstimmen. Eine davon war Wiebkes, doch die andere war ihm unbekannt.

Noch immer in Gedanken bei Rita lief er die Treppe hinunter. Auf einer der letzten Stufen blieb er abrupt stehen und starrte auf die Person, die tränenüberströmt im Flur seines Hauses stand. Neben ihr Wiebke, die ratlos den Kopf schüttelte.

»Ich konnte nichts machen, sie ist einfach reingestürmt. Kennst du sie?«

Andresen musterte die Frau. Ihre Schönheit war noch immer atemberaubend. Doch die Traurigkeit, die sie ausstrahlte, ließ sie wie eine ältere Frau erscheinen. Dabei war sie erst Anfang vierzig.

»Ja«, antwortete er schließlich. »Darf ich euch kurz vorstellen? Nicola, Wiebke. Wiebke, Nicola. Nicola und ich haben uns vor ein paar Jahren bei einem Presseball kennengelernt. Sie arbeitet als Pressesprecherin im Stadtmarketing. Aber jetzt erzähl doch erst einmal, was überhaupt los ist. Du siehst ja furchtbar aus.«

»Ich befürchte, es ist etwas Schreckliches passiert.« Nicolas Worte waren unter ihrem Schluchzen kaum zu verstehen.

»Komm erst mal richtig rein. Mensch, was ist denn bloß los mit dir?« Andresen trat einen Schritt auf die Frau mit den halblangen brünetten Haaren und dem perfekt sitzenden schwarzen Kleid zu und machte Anstalten, sie in den Arm zu nehmen. Als er aus dem Augenwinkel Wiebkes eifersüchtigen Blick registrierte, sah er jedoch davon ab.

»Sagst du mir, was los ist?« Seine Frage klang mehr wie eine Aufforderung.

Nicola hob den Kopf und blickte Andresen eindringlich an. Sie atmete tief ein, dann gab sie ihm die Antwort. Eine Antwort, die Andresen sofort beunruhigte. Er wusste, dass Nicola so etwas nicht grundlos behauptete.

»Bist du dir absolut sicher?«, vergewisserte er sich.

»Ja«, seufzte sie. »Es ist noch nie vorgekommen, dass Michael nicht nach Hause gekommen ist.« Sie senkte den Blick wieder, die Stimme wurde brüchig. »Ihm muss etwas zugestoßen sein.«

2

Mats wartete im Schatten des alten Museumskrans auf der Wallhalbinsel. Die Lichter der Straße An der Untertrave spiegelten sich im still dahinfließenden Wasser der Trave. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und stieß den Qualm in perfekten Kreisen in die laue Augustluft.

Die Angst war allgegenwärtig. Jetzt noch viel stärker, nachdem sich Sonntag noch immer nicht bei ihm gemeldet hatte. Fast vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seitdem er ihn in den Toilettenräumen des La Tortue zum letzten Mal gesehen hatte. Eigentlich hatten sie verabredet, sich ein paar Minuten später im Inneren des Restaurants wiederzutreffen, aber Sonntag war nicht mehr aufgetaucht. Weder gestern Abend noch heute im Tagesverlauf hatte er sich bei ihm gemeldet. Mats hatte einige Male versucht, ihn telefonisch zu erreichen, doch Sonntags Handy war ausgeschaltet geblieben.

Sein Blick wanderte wieder über die Trave. Wenige Meter entfernt lag die »Lisa von Lübeck«, die original nachgebaute Kraweel. Erst vorgestern hatte die Hansestadt Lübeck die »Möwen« zu einer Rundfahrt auf der »Lisa« entlang der Ostseeküste eingeladen. Obwohl die Stimmung vordergründig gelöst gewesen war, hatte er die Spannungen zwischen den Beteiligten gespürt. Auch Michael Sonntag war dabei gewesen. Das Unbehagen hatte den Senator seekrank werden lassen.

»Bist du allein?«

Mats schrak zusammen und fuhr herum. Der Mann, mit dem er verabredet war, hatte sich lautlos genähert. Hilmar Wille war Gutachter und in die Kaufverhandlungen der Wallhalbinsel eingebunden gewesen. Er sah Mats mit einem Zweifeln in den Augen an.

»Natürlich, hast du etwas anderes erwartet?«

»Erhofft träfe es besser«, erwiderte Wille. »Ich muss dringend mit Sonntag reden.«

»Nicht nur du.« Mats musterte den älteren Mann mit den grau melierten Haaren. Wille war einer der wenigen Geschäftskontakte, die vertrauenserweckend schienen. Nachdenklich schnippte er die Kippe ins Wasser. »Ich habe keine Ahnung, wo er steckt. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Na gut, lass uns zum Thema kommen. Weshalb wolltest du dich mit mir treffen?«

»Es geht um Norén und Södergren. Ich glaube, es ist besser, wenn wir etwas unternehmen, bevor …«

»Vergiss es!«, unterbrach Wille ihn. »Egal, was du vorschlägst, da spiele ich nicht mit. Die letzten Tage waren aufreibend genug. Auf weitere schlaflose Nächte kann ich gut und gerne verzichten.«

»Jetzt hör mir doch erst einmal zu!« Mats kramte eine weitere Zigarette aus der zerquetschten Packung und zündete sie sich an. »Wenn wir zulassen, dass die ›Möwen‹ all das hier in die Finger bekommen, dann hat die Stadt ein echtes Problem.«

»Was soll das jetzt noch? Das wussten wir doch vorher schon. Das Gelände ist verkauft, wir werden die ›Möwen‹ nicht an ihren Plänen hindern können. Und wenn ich dich daran erinnern darf, du bist einer von ihnen.«

»Vielen Dank, das hatte ich fast vergessen.« Mats warf Wille einen bösen Blick zu und begann nervös hin und her zu laufen.

»Wir alle stecken mit drin. Sonntag, du, ich selbst und ein paar andere, die noch nicht einmal ahnen, was ihnen bevorsteht. Wir können jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Was stellst du dir denn vor?«

»Ich habe dafür gesorgt, dass nicht alles so ist, wie es scheint«, antwortete Mats vielsagend.

»Geht es etwas genauer?«

»Am Donnerstagabend hatte ich die Chance, mir in Ruhe die Verträge durchzulesen, falls du verstehst, was ich meine.«

Hilmar Wille runzelte die Stirn und fixierte Mats. Ihm schien zu schwanen, worauf Mats hinauswollte.

»Du hast es ernsthaft gewagt, die Verträge zu manipulieren?«

»Was heißt manipulieren? Diese Stadt liegt mir am Herzen. Ich bin hier geboren. Soll ich dabei zusehen, wie diese raffgierigen ›Möwen‹ Lübeck in den Ruin treiben?«

»So sprichst du über deine eigene Firma? Weshalb arbeitest du überhaupt noch für Norén? Was soll dieses Doppelspiel?«

»Überleg doch mal, an welche Informationen ich komme, solange ich Teil der ›Möwen‹ bin.«

»Das klingt ja, als seist du ein Spitzel«, entgegnete Wille lachend.

»Wenn du es so nennen willst.« Mats trat einen Schritt zur Seite und hustete beinahe lautlos.

»Ich verzichte darauf, nach Einzelheiten zu fragen. Du musst selbst wissen, was du tust. Was genau ist denn nun dein Plan?«

»Das, was ich dir jetzt sage, muss unter allen Umständen unter uns bleiben. Versprichst du mir das?«

Wille zuckte unverbindlich mit den Schultern. »Wir trauen einander doch, oder etwa nicht?«

»Ich denke schon.«

»Dann erzähl mir, was du vorhast.«

»Es geht um eine Klausel des Vertrags«, antwortete Mats. »Sie sichert der Stadt eine Entschädigung zu, wenn die ›Möwen‹ ihre baulichen Pläne nicht binnen zwölf Monaten in Angriff genommen haben.«

»Klingt doch gar nicht so schlecht«, entgegnete Wille flapsig. »Hätte unserem Bürgermeister gar nicht zugetraut, so gut zu verhandeln. Oder hat das Sonntag eingefädelt?«

»Es war tatsächlich Sonntag. Allerdings war der Betrag der möglichen Entschädigung so lächerlich gering, dass das Ganze ein riesiges Verlustgeschäft für die Stadt bedeutet hätte.«

»Hätte?«

»Dank meiner Hilfe kann Lübeck einen ganz dicken Fisch an Land ziehen.«

»Weil du die Verträge manipuliert hast.« Wille nickte und verzog seinen Mund zu einem Lächeln.

»Nur ein klein wenig.« Auch Mats lächelte jetzt.

»Über welche Summe sprechen wir?«

»Fünfzig.«

»Du meinst wohl kaum fünfzigtausend?«

»Ich spreche von fünfzig Millionen Euro.«

»Das ist das Fünffache des Verkaufspreises!« Plötzlich änderte sich Hilmar Willes Stimme. Die Ruhe, die er bis eben ausgestrahlt hatte, wich einem nervösen Augenflackern.

»Ja, nicht schlecht, oder? Und niemand hat etwas gemerkt, nicht einmal unser Anwalt. Der hatte den Vertrag vorher bereits geprüft. Norén hat den Vertrag einfach so unterschrieben.«

»So viel Naivität hätte ich ihm gar nicht zugetraut«, murmelte Wille. »Das würde das sichere Ende der ›Möwen‹ bedeuten.«

»Solange Norén an seinen ursprünglichen Plänen festhält, wird die Klausel nicht zum Tragen kommen.«

»Wer weiß noch davon?«, fragte Wille. Seine Stimme klang noch immer angespannt.

»Niemand«, antwortete Mats. »Ich wollte gestern Abend mit Sonntag darüber sprechen, aber wir sind nicht mehr dazu gekommen.«

»Glaub mir, es ist besser, wenn vorerst kein anderer davon erfährt. Und wie du schon sagtest, wahrscheinlich wird die Klausel niemals in Kraft treten müssen.«

»Was heißt denn müssen? Es wäre das Beste, was der Stadt passieren könnte. Und ich habe auch eine Idee, wie wir erreichen können, dass Norén in den nächsten Jahren die Finger von der Wallhalbinsel lässt.«

»Und die wäre?«

Mats musterte Hilmar Wille. Er hatte mit ihm sprechen wollen, weil er nach einem Verbündeten gesucht hatte. Doch plötzlich zögerte er. Etwas an Wille schien ihm in diesem Moment gar nicht mehr vertrauenserweckend zu sein. Vielleicht war es besser, seinen Plan allein durchzuführen.

»Ich muss nur noch ein paar kleine Dinge klären, dann weiß ich Bescheid«, sagte er vage. »Wir treffen uns wieder. Ich melde mich bei dir.«

Mats nickte Wille kurz zu und verschwand im dunklen Schatten der Media Docks.

3

Eine Leiche an einem Sonntagmorgen – und das am letzten Urlaubstag – war so ziemlich das Unpassendste, was sich Kriminalhauptkommissar Birger Andresen vorzustellen vermochte. Noch dazu, wenn wahrscheinlich ein Mord vorlag. Warum konnten Verbrechen nicht einfach mal an einem stinknormalen Dienstag oder einem sterbenslangweiligen Donnerstag geschehen? Gab es ein ungeschriebenes Gesetz für Mörder, nur an Wochenenden zuschlagen zu dürfen?

Ausgerechnet zwischen Frühstücksei und Marmeladenbrötchen hatte das Telefon geklingelt. Sein Kollege Ben Kregel berichtete ihm von einer Leiche im Niendorfer Hafen.

»Der Name des Toten ist Jörg Evers«, erklärte Kregel. »Du findest ihn an Bord des Kutters ›Marie‹. Mehr weiß ich momentan auch noch nicht.«

Andresen atmete unmerklich auf. Er war froh, dass es sich bei dem Toten nicht um Michael Sonntag handelte. Nicolas gestriger Besuch hatte seine Spuren hinterlassen.

»Danke, dass du einspringst. Du hast einen gut bei mir! Wenn du Verstärkung brauchst, kannst du Julia oder Bettina anrufen. Wir sehen uns dann morgen.« Kregel verabschiedete sich und legte auf.

Rasch schlang Andresen eine Brötchenhälfte hinunter und entschuldigte sich bei Wiebke. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verließ sein Altstadthaus in der Großen Gröpelgrube.

Obwohl die Straßen Lübecks frei waren, setzte Andresen das mobile Blaulicht auf das Dach seines Volvos. Auch auf der A1 in Richtung Norden waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Doch angesichts des spätsommerlichen Wetters war es nur eine Frage von wenigen Stunden, bis die Blechlawinen zu den Ostseestränden rollen würden.

Andresen kannte den Weg wie seine Westentasche. Vor zwanzig Jahren – während seiner ersten Monate bei der Mordkommission Lübeck – hatte er in einer vierzig Quadratmeter großen Wohnung gleich in der Nähe des Niendorfer Hafens gewohnt. Obwohl der Hafen und einige Zufahrtsstraßen aufwendig saniert worden waren, hatte der kleine Fischerort seither nichts von seinem Charme verloren.

Er parkte seinen Wagen vor der »Fischkiste« und ging die letzten Meter zum Hafen zu Fuß. Vorbei an den Holzverschlägen mit den markanten roten Türen, in denen die Fischer ihre Utensilien lagerten, und den Buden auf der Wasserseite, in denen der fangfrische Fisch verkauft wurde.

Schon von Weitem sah Andresen die Menschentraube vor einem der Fischkutter, die im Hafen lagen. Er näherte sich dem Geschehen, bis er plötzlich einen leisen Pfiff vernahm. Andresen drehte sich um und erblickte einen alten Bekannten. Kalle Hansen, seines Zeichens Privatdetektiv und langjähriger Weggefährte Andresens, lehnte mit Fluppe im Mundwinkel an einer der Wellblechbuden.

»Manchmal bist du mir wirklich unheimlich«, sagte Andresen anstatt einer Begrüßung. »Kaum ein Verbrechen, bei dem du nicht als Erster auf der Matte stehst.«

»Ich wünsch dir auch einen schönen guten Morgen!« Hansen verzog den Mund zu einem müden Lächeln und strich sich durch die hellblonden Haare.

»Was machst du denn hier?«, fragte Andresen. »Hast du durchgemacht und bekämpfst deinen Kater jetzt mit Fischbrötchen?«

»Nicht ganz«, antwortete Hansen ungewohnt ernst. »Jörg Evers war ein alter Kumpel von mir. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«

»Hast du ihn gefunden?«

Hansen schüttelte den Kopf und zeigte in Richtung mehrerer Fischer, um die sich die Menschentraube versammelt hatte. »Einer von denen.« Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch stoßweise aus. »Kai, Peter und Harry. Niendorfer Urgesteine.«

»Haben sie etwas mit der Sache zu tun?«

»Nein, ich denke nicht. Der Mörder dürfte längst abgehauen sein. Aber möglich, dass die drei etwas gesehen haben.«

Andresen nickte. »Ich sehe mich mal ein wenig um. Gut, dass du hier bist. Ich muss dich nachher noch wegen einer anderen Sache etwas fragen.«

»Na klar, Kalle Hansen ist doch immer mit Rat und Tat zur Stelle. Vor allem wenn die Kripo meine Hilfe in Anspruch nehmen möchte.«

»Bis später.« Andresen ignorierte Hansens Sarkasmus und wandte sich ab.

»Ich arbeite übrigens seit Neuestem auch bei Kleinanfragen direkt auf Rechnung«, rief Hansen lachend hinter ihm her. Obwohl nur wenige Meter entfernt sein toter Kumpel Evers lag, schien er nichts von seinem eigenwilligen Humor verloren zu haben.

Andresen entfernte sich raschen Schrittes und kletterte auf den Kutter »Marie«, der in einer Reihe mehrerer Fischerboote im Hafen lag. Mit einer schnellen Reaktion wich er einer Möwe aus, die im Steilflug herangeflogen kam.

»Aufgepasst! Die sind alle mutiert«, rief ihm ein Kollege der Schutzpolizei zu. Andresen verkniff sich ein Lächeln und ging ein paar Meter über die Holzplanken in Richtung Kajüte.

Vor ihm lag Jörg Evers. Eine seltsam anmutende Leiche, wie in einem Theaterstück drapiert. Als würde Evers jeden Moment wieder aufstehen. Die Position, in der er auf dem Deckboden lag, deutete darauf hin, dass er zur Seite gestürzt sein musste. Der Angelhaken, der seitlich im Hals steckte, hatte sich nur um Haaresbreite unter der Haut verkeilt, sodass kaum Blut hervorgetreten war.

»Hier, daran ist er gestorben«, erklärte der Kollege, dessen Name Andresen nicht einfallen wollte, und zeigte auf die Angelschnur, die sich tief in Evers’ Haut geschnitten hatte. Jemand hatte sie ihm unzählige Male um den Hals gewickelt, bis sie durchgerissen war. Evers war offenbar so lange stranguliert worden, bis er qualvoll erstickt war.

»Wann ist es passiert?«

»Heute Morgen zwischen sieben und acht. Gefunden hat man ihn allerdings erst gegen halb zehn.«

Andresen bedankte sich und ließ seinen Blick noch eine Weile kreisen. Nachdem er sich den Tatort eingeprägt hatte, verließ er die Kajüte wieder und sprang zurück an Land. Er ging an der Menschentraube vorbei auf die drei Fischer zu, die in ein Gespräch mit Hansen verwickelt waren.

»Birger Andresen, Kripo Lübeck«, stellte er sich vor. »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

»Ich habe nichts mit der Sache zu tun«, antwortete ein großer, schmaler Mann mittleren Alters. Sein Dreitagebart und die ungepflegten Haare erweckten den Anschein, als wäre er tagelang auf hoher See an Bord seines Kutters gewesen. »Aber fragen Sie mal die beiden hier. Harry und Peter lagen doch immer mit Jörg im Clinch.«

»Ich verpass dir gleich eine, du kleiner mieser Bückling!« Der Älteste der drei Fischer, ein untersetzter Mann mit ergrauten Haaren, versuchte sich vor seinem Kollegen aufzubauen. Auch der dritte Fischer mischte sich jetzt ein, indem er den Untersetzten etwas unsanft anstupste.

»Bei Harry wäre ich mir da auch nicht sicher«, rief er.

Kalle Hansen reagierte sofort und schob seinen wuchtigen Körper zwischen die beiden Streithähne.

»Sehen Sie!«, sagte der Große. »Unser Harry wird nicht nur von mir verdächtigt. Fragen Sie ihn doch mal, wo er heute Morgen gewesen ist. Oder soll ich lieber sagen, heute Nacht?« Er lächelte den zwei Köpfe kleineren Harry selbstzufrieden an und trat noch einen Schritt näher auf ihn zu.

»Ach ja?«, fragte Harry. »Da bin ich aber mal gespannt. Ute kann bezeugen, dass ich die ganze Zeit bei ihr gewesen bin.«

»Ausgerechnet Ute? Dass ich nicht lache. Die steckt doch mit dir unter einer Decke!«

»Schluss jetzt!«, ging Andresen dazwischen. »Ein Kollege von Ihnen ist tot, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als zu streiten? Sie werden mir jetzt nacheinander erzählen, wer Sie sind, wie gut Sie Jörg Evers kannten und was Sie heute in den frühen Morgenstunden gemacht haben. Fangen wir mit Ihnen an, Herr …«

»Sie können mich Kai nennen«, sagte der Große jovial. »Mir gehört die ›Silbermöwe‹. Jörg und ich kannten uns seit mehr als zehn Jahren. Man kann sagen, dass wir ein freundschaftliches Verhältnis hatten.«

»Pah!«, stieß Peter aus. »Du Heuchler!«

»Jörg Evers ist zwischen sieben und acht Uhr heute Morgen zu Tode gekommen«, fuhr Andresen fort. »Wo waren Sie zu dieser Zeit?«

»Auf meinem Boot«, antwortete Kai und zeigte auf die »Silbermöwe«, die nur wenige Meter entfernt von der »Marie« lag.

»Und Sie haben nichts mitbekommen?«

»Sie kennen meinen Schlaf nicht, Herr Kommissar. Da kann die Welt untergehen, und ich merke nichts.«

»Das nehmen Sie diesem Lügner doch wohl nicht ab, oder?«, ereiferte sich Harry. »Kai ist der Einzige, der ein Motiv hat.«

»Ach ja?«, fragte Andresen. »Und welches wäre das?«

»Jörg hat ihn bei der Belieferung der großen Fischkette in Timmendorf ausgestochen«, erklärte Peter. »Ihm steht das Wasser bis zum Hals.«

»Euch doch auch!«, konterte Kai.

»Ganz bestimmt nicht«, entgegnete Harry. »Ich will meinen Fisch schließlich nicht als Nuggets in zu viel altem Fett gebraten sehen.«

»Besitzen Sie auch einen eigenen Kutter?«, wandte sich Andresen Peter zu.

»Ja, aber nicht vergleichbar mit denen meiner Mitstreiter. Da kann ich nicht mithalten.«

»Wie war Ihr Verhältnis zu Evers?«

»Neutral.«

»Neutral?«

»Ich mochte ihn nicht, aber wir kamen miteinander aus.«

»Und wo waren Sie heute Morgen?«

»Tut mir leid, ich kann Ihnen wohl kein Alibi liefern«, antwortete Peter lächelnd. »Ich war zu Hause und habe ebenfalls noch geschlafen.«

»Wer hat Sie darüber informiert, dass Evers tot ist?«

»Niemand. Als ich hier ankam, war schon die Hölle los.« Peter zuckte mit den Achseln.

»Dann komme ich jetzt zu Ihnen«, sagte Andresen zu Fischer Harry. Seine Worte waren unter dem lauten Gezeter einer Möwe, die über ihnen kreiste, kaum zu verstehen. »Wer ist diese Ute, die Sie erwähnt haben?«

»Ute?«, erwiderte Harry. »Sie arbeitet im Kiosk am Hafeneingang.«

»Sieh mal da hinten«, unterbrach Hansen plötzlich das Gespräch. »Ist das nicht Ellen Makatsch?«

Andresen erblickte die brünette Frau, die sich unauffällig von der Menschenansammlung entfernte und eilig in Richtung Strand unterwegs war. »Na klar ist sie das! Frau Makatsch?«, rief er. »Was machen Sie denn hier?«

Für den Bruchteil einer Sekunde sah sich die Frau um und blickte Andresen mit weit aufgerissenen Augen an. Dann lief sie auch schon weiter. So schnell, als flüchte sie vor ihnen.

»Kalle, warte!« Andresen hielt Hansen am Arm zurück. »Wir können später mit ihr reden. Ich glaube kaum, dass sie etwas mit Evers’ Tod zu tun hat.«

»Ellen Makatsch«, schnaubte Hansen. Von dem kurzen Sprint war der übergewichtige Privatdetektiv bereits außer Atem. »Wahrlich keine Unbekannte!«

»Sie wohnt bei mir in der Straße«, sagte Andresen. »Ich werde ihr morgen mal einen Besuch abstatten und mit ihr sprechen.«

»Ist sie eigentlich noch immer aktiv in der Politik engagiert?«

»Soweit ich weiß, schon seit zwei Jahren nicht mehr«, antwortete Andresen. »Ich habe schon seit einiger Zeit nichts mehr von ihr gehört. Zuletzt stand sie an der Spitze dieser linken Bürgerbewegung.«

»War sie nicht mal gelb?«

»Auch. Ich glaube, die hat schon alle Parteien durch.«

»Was sie wohl hier zu suchen hatte?«

»Gute Frage. Noch interessanter dürfte sein, warum sie vor uns weggelaufen ist.« Andresen wandte sich ab, trat an die Hafenkante und ließ seinen Blick über das Wasser schweifen. Er spürte, dass ihm die Ruhe fehlte, sich auf Evers und den Tatort zu konzentrieren. Innerlich beschäftigte ihn noch immer der gestrige Besuch von Nicola Sonntag. Die Panik in ihren Augen hatte sich tief in ihm eingebrannt. Sie war sich absolut sicher gewesen, dass ihrem Mann etwas zugestoßen sein musste.

»Wie wollt ihr denn jetzt weitermachen?« Hansens Frage unterbrach Andresens Gedanken. »Wenn du mich fragst, war das eine persönliche Abrechnung. Das Strangulieren mit der Angelschnur – da hatte es jemand auf ihn abgesehen. Vielleicht so ein paar Aktivisten von Greenpeace. Die sind doch gegen diese ganze Überfischung.«

»Wir werden sehen«, antwortete Andresen ausweichend. Manchmal konnte Kalle Hansen ziemlich anstrengend sein. So gern er dessen Kontakte hin und wieder nutzte und sich mit ihm auf ein paar Bier traf, so seltsam konnten die Unterhaltungen mit ihm gelegentlich auch sein. Hansen vermutete hinter jeder noch so kleinen Angelegenheit eine große Sache. Eine globale Verschwörung. Den ultimativen Auftrag für ihn als Privatdetektiv.

»Diese andere Sache, von der ich vorhin gesprochen habe …«, sagte Andresen nach einer Weile. »Du kennst doch unseren Wirtschaftssenator, oder?«

»Michael Sonntag?«, fragte Hansen überrascht. »Klar, was hat er denn mit Evers zu tun?«

»Gar nichts«, antwortete Andresen leicht genervt. »Seine Frau war gestern bei mir und hat ihn als vermisst gemeldet.«

»Mal wieder ein Ehemann, der seiner nervtötenden Alten davonrennt?«, entgegnete Hansen flapsig.

»Ich kenne Nicola schon länger«, erklärte Andresen. »Sie ist alles andere als eine nervtötende Alte. Ich bin mir sicher, dass hinter ihrer Sorge um ihren Mann etwas Ernstes steckt.«

»Warum sollte Sonntag denn einfach verschwinden?«, wunderte sich Hansen. »Meines Wissens saß er fest im Amt. Oder glaubt seine Frau, dass er einen Unfall hatte? Oder etwa dass ihm jemand an den Kragen wollte?«

»Nicola hat erzählt, dass ihr Mann am Freitagabend zu einem Geschäftsessen eingeladen war. Irgendein Vertrag sollte feierlich unterschrieben werden. Das Ganze fand wohl im La Tortue statt, diesem Nobelrestaurant.«

»La Tortue! Na, die Herren Senatoren lassen es sich ja gut gehen. In dem Schuppen stehen nicht einmal Preise auf der Karte, das heißt schon alles.«

»Hast du eine Ahnung, welchen Vertrag die Stadtoberen abschließen und so groß feiern wollten?«

»Keinen Schimmer«, gab Hansen zurück. »Mir stellt sich grundsätzlich die Frage, was diese Typen überhaupt zu feiern haben. Außer Hiobsbotschaften gab’s doch in letzter Zeit kaum etwas zu verkünden.«