Mord im Hotel Sacher - Beate Maxian - E-Book

Mord im Hotel Sacher E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

Mord im Hotel Sacher – ein Albtraum für die feine Wiener Gesellschaft ...

Im Hotel Sacher wird ein rauschendes Frühlingsfest gefeiert, und Journalistin Sarah Pauli ist für den Wiener Boten unter den illustren Gästen. Die Feier ist in vollem Gange, als plötzlich ein Schrei ertönt – in den Waschräumen wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Wie sich herausstellt, war das Opfer Konditorin in einer nicht weit vom Sacher entfernten Patisserie. Die Boulevard-Presse hat schnell den Täter ausgemacht: Konditor Max Brücker, Chef und Exfreund der Toten. Sarah ist skeptisch und stößt bald auf rätselhafte Kuchenverzierungen und jede Menge dunkle Geheimnisse …

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Buch

Im glamourösen Hotel Sacher wird ein rauschendes Frühlingsfest gefeiert. Auch Sarah Pauli, Journalistin beim Wiener Boten, ist unter den illustren Gästen. Die Feier ist in vollem Gange, als plötzlich ein Schrei ertönt – in den Waschräumen wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden, offenbar erschlagen. Wie sich herausstellt, hieß das Opfer Iris Reuter und war Konditorin in einer kleinen, nicht weit vom Sacher entfernten Patisserie. Iris Reuter war hochgeschätzt, ihre süßen Kreationen erfreuten sich großer Beliebtheit. Bei der sofort eingeleiteten Befragung der Festgäste fällt der Verdacht auf Max Brücker, Iris' Chef und Exfreund, der mit ihr im Streit lag. Während die Boulevardpresse sich auf Max Brücker als Täter stürzt, ist Sarah skeptisch und stellt Nachforschungen im Umfeld der Ermordeten an. Dabei stößt sie schon bald auf rätselhafte Kuchenverzierungen und jede Menge dunkle Geheimnisse …

Weitere Informationen zu Beate Maxian

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Beate Maxian

Mord im Hotel Sacher

Der neunte Fall für Sarah Pauli

Ein Wien-Krimi

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Originalausgabe März 2019

Copyright © 2019 by Beate Maxian

Copyright © dieser Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München; Gary Yeowell/getty images

Redaktion: Susanne Bartel

KS · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22569-8V004

www.goldmann-verlag.de

Aus derselben Blüte zieht die Biene ihren Honig und die Wespe ihr Gift.

Italienisches Sprichwort

Freitag, 13. April

1

Iris’ Herz raste. Abgespannt nestelte sie am Anhänger ihrer Halskette. Sie stand in dem langen Gang vor dem Marmorsaal im Hotel Sacher und wartete. Das Dunkelgrün ihres Kleides machte sie vor den grünen Flurwänden nahezu unsichtbar. Die lebensgroßen Steinstatuen lenkten ebenfalls von ihr ab. An den festlich weiß gedeckten Tischen im Saal saßen geschmackvoll gekleidete Menschen, die Champagner, Wein und Bier tranken und angeregt miteinander plauderten. Ober in eleganten Anzügen stellten auf Sacher-Porzellan angerichtete Köstlichkeiten auf den Tischen ab. Die Menschen lachten, redeten und genossen sichtbar den Moment. Ein großes Schauspiel. Ein Streichquartett, das sich außerhalb ihres Blickfeldes aufgebaut hatte, spielte ein beschwingtes Stück. Iris erkannte es nicht. Mit klassischer Musik hatte sie nichts am Hut, aber sie war sich sicher, dass es entweder von Strauß, Mozart oder Lehár war, weil Stücke dieser Komponisten zu Gelegenheiten wie dieser oft gespielt wurden. Ihre Augen tasteten die gut gelaunte Menschenmenge ab. Es war ein Fehler, hier zu stehen, aber sie konnte nicht anders. Ihr Blick verharrte jäh.

Du hinterfotziges Beidl, knurrte sie stumm. So derb hatte sie ihn noch nie beschimpft. Nicht einmal in Gedanken. Verständnislos beobachtete sie, was sich direkt vor ihren Augen abspielte. Obwohl sie faktisch damit gerechnet hatte. Irgendwann einmal, später. In einem halben Jahr oder so, aber doch nicht jetzt schon. Fassungslos starrte sie auf das Pärchen, das unter dem strahlenden Luster, etwa vier Meter von ihr entfernt, intensiv mit sich beschäftigt war und absolut keine Augen für seine Umgebung hatte. Ihr Ex turtelte wie ein frisch verliebter Jüngling mit einer pummeligen Blondine. Seit wann stand Max auf Kurven? Zudem trug die Frau ihrer Meinung nach völlig unpassenden Schmuck. Sie sah aus wie eine dieser neureichen Tussen aus amerikanischen Fernsehserien und steckte obendrein in einem viel zu engen fliederfarbenen Etuikleid, das nicht zu ihrem blassen Teint passte. Ihre Brüste reckte sie ihm entgegen, als wären es Äpfel im Angebot. Wie bedürftig konnte man sein?

Die sind sicher nicht echt, dachte Iris.

Die Trennung von Max lag erst drei Wochen zurück. Doch dieser Scheißkerl hatte tatsächlich die Chuzpe, mit einer anderen auszugehen und einen auf verliebter Gockel zu machen. Gut, die Trennung war spontan gewesen und von ihr ausgegangen. Aber gerade deshalb sollte er sich noch voller Trennungsschmerz nach ihr, Iris, verzehren.

Sie waren nach der Arbeit bei dem Würstelstand neben der Albertina gestanden. Dem, den man auch das Kleine Sacher nannte, mit dem grünen Dürer-Hasen auf dem Dach. Nach dem zweiten Bissen Käsekrainer hatte sie ihm die Trennung vorgeschlagen. Einfach so, als teilte sie ihm mit, noch ins Fitnesscenter gehen zu wollen. Max war sein Bissen förmlich im Hals stecken geblieben.

»Wovon redest du?«, hatte er gefragt.

»Von unserer Beziehung. Sie funktioniert nicht.«

»Das hat sie noch nie«, erwiderte er achselzuckend und grinste anzüglich. »Dafür haben wir umso besseren Sex.«

»Ich mag nicht mehr.«

Zuerst nahm er sie nicht ernst. Er lachte sogar, als ob sie sich einen Scherz erlaubt hätte. Also wiederholte sie es zwei-, dreimal. Schließlich wischte Max sich die Finger ab und packte sie fest am Handgelenk. »Was soll das heißen, du magst nicht mehr?«

»Es haut mit uns einfach nicht hin«, erklärte sie und ignorierte den brennenden Schmerz an ihrem Handgelenk.

»Aber so funktioniert es auch nicht, Iris. Hast du mich verstanden? Du kannst nicht einfach so Schluss machen.«

»Und warum nicht?«

»Gibt es einen anderen? Wer ist es?«, fuhr er eine Spur zu laut im selben Atemzug fort. Sein Gesicht war rot vor Zorn geworden. Seine Reaktion war heftiger, als sie erwartet hatte. Die umstehenden Leute horchten alarmiert auf. Zwei Männer wappneten sich, um ihr notfalls zu Hilfe zu kommen.

»Es gibt niemanden«, flüsterte sie.

»Lass dich ja nicht mit einem anderen Kerl erwischen«, drohte er ihr, und sie schwieg eisern.

»Kann ich irgendwas tun, damit du bleibst?«, fragte er schließlich mit Tränen in den Augen.

»Nein.« Sie entwand ihre Hand seiner Umklammerung. Die beiden Männer entspannten sich und widmeten sich wieder ihren Begleiterinnen und ihren Würsteln. Frankfurter und Käsekrainer erkannte sie.

»Dann fick, mit wem auch immer du ficken willst«, knurrte er. »Du kommst ja doch wieder angekrochen. Verlass dich drauf! Aber ich schwör dir, dann hast den Scherben auf, weil ich dich nimmer zurücknehme.«

Sie hatte den Kopf geschüttelt und Max stehen lassen. Warum Männer hinter einer Trennung immer sofort einen anderen Mann vermuteten?

Danach hatte er sie tagelang angefleht, bei ihm zu bleiben. Am Ende war das Flehen in bösartige Drohungen umgeschlagen. Alles Show, vermutete sie jetzt, denn offensichtlich hatte der Trennungsschmerz nicht lange angehalten. Sonst würde er nicht schon auf dem Frühlingsfest im Sacher mit einer anderen antanzen. Sollte sie hingehen und ihm eine Szene machen? Er hätte es im umgekehrten Fall mit Sicherheit getan. Max war besitzergreifend und zeitweise sogar jähzornig. Manchmal in den letzten Jahren hatte sie sich wie sein Eigentum und nicht wie seine Freundin gefühlt. Die Blondine legte den Kopf in den Nacken, lachte übertrieben laut und schrill.

Du musst es ja nötig haben. So witzig, wie du tust, ist er nämlich nicht, dachte Iris bitter und erinnerte sich augenblicklich an ihre guten gemeinsamen Zeiten.

»Will man in Wien für einen Moment die Zeit anhalten, muss man ins Sacher gehen«, hatte Max ihr noch vor einem halben Jahr im Schlafzimmer zärtlich ins Ohr geflüstert und eine Flasche Original Sacher Cuvée vom Welschriesling geöffnet.

Obwohl sich auch hier die Uhren weiterdrehten, nur eben zauberhaft verpackt, in verwinkelten Gängen, neben beeindruckenden Gemälden an den Wänden und in geschmackvollen Räumlichkeiten, die an eine Villa des neunzehnten Jahrhunderts erinnerten.

Ins Sacher ausgeführt hatte Max sie nie, obwohl sie das Haus gerne mochte. Mit seiner Neuen war er dafür anscheinend umso schneller hergekommen. Und die war wirklich nicht sein Typ. Er stand auf sportliche Frauen, so wie sie. Trainiert, mit lässigem Style. Wenn sie nicht wie jetzt ein schlichtes Kleid und Pumps trug, dann Jeans und flache Schuhe. Die Blondine, der er in diesem Moment zärtlich über die Wange streichelte, war das krasse Gegenteil. Sie lachte nicht nur zu laut, sondern machte zudem auf kleines Mädchen, schenkte ihm einen unschuldigen Blick und zwirbelte eine Haarsträhne, wenn sie mit ihm sprach. Jetzt küsste er auch noch ihre Fingerspitzen. Iris kam gleich das Kotzen. Unglaublich, dass vor den Türen noch kein Unwetter niedergegangen war, bei so viel Verlogenheit im ehrwürdigen Marmorsaal. Ein böser Gedanke zauberte ein kleines Lächeln auf Iris’ Gesicht. Wenigstens hatte sie Max vor wenigen Tagen noch einen weiteren herben Schlag versetzt.

Und jetzt sollte sie aufhören, ihn anzustarren, und abhauen, bevor es zu spät war.

2

Gelbe und weiße Blumenarrangements in weißen Bodenvasen verströmten zarten Frühlingsduft im Marmorsaal. In den beigegrau anmutenden Grundton des Marmors an den Wänden mischten sich rot gefärbte Steinflächen. Die faltbare Spiegeltrennwand war aufgeschoben, wodurch der Raum seine gesamte Größe darbot. Auf den weiß gedeckten Tischen brannten Kerzen in bauchigen Gläsern. Gedimmtes Licht sorgte zusätzlich für eine behagliche Atmosphäre. Die Stimmung war ausgelassen. An so einem Abend wollte jeder nur das Leben genießen, es einatmen und in sich aufnehmen.

Fast schon ein bisschen kitschig, befand Sarah, während sie darüber nachdachte, warum sie das Gefühl beschlich, dass irgendetwas an dieser Szenerie nicht stimmte. Und dass es auf gar keinen Fall daran lag, dass heute Freitag, der Dreizehnte, war.

Seit sie im Chronik-Ressort des Wiener Boten arbeitete und nicht mehr ausschließlich Kolumnen über Aberglauben und die mystischen Seiten Wiens schrieb, scannte sie ihre Umgebung auch nach gesellschaftsrelevanten Themen. Natürlich interessierte die Leser des Wiener Boten eher, welche Promis sich auf dem Frühlingsball im Hotel Sacher tummelten, als per se die Tatsache, dass im Hotel ein Fest gefeiert wurde. Normalerweise mochte Sarah keine Schickimicki-Feste. Doch das hier war anders. Es war elegant und gediegen und wurde damit der längst verstorbenen, ehrwürdigen Sacher-Chefin Anna Sacher gerecht. Ein Streichquartett in der Schönbrunner Loge vor dem Salon Metternich spielte gefällige Stücke, die auch im angrenzenden Salon Mayerling und im Marmorsaal gut zu hören waren. Im Moment befand sich das Quartett mitten im WienerHochzeitswalzer von Johann Strauss’ Sohn.

»Ein wahrer Segen, dass im Sacher wieder gefeiert wird, nicht wahr, Herr Magister Gruber?« Ein älterer Herr blieb neben ihrem Tisch stehen und begrüßte die weiblichen Gäste. Dem »Küss die Hand, die Damen« folgte ein angedeuteter Handkuss. Zuerst war Sarah, dann Gabi seine Empfängerin. Ganz alte Schule.

»Da haben Sie recht, Herr Hofrat«, gab David lächelnd zurück und stellte den Neuankömmling als seinen ehemaligen Uniprofessor vor.

»In Erinnerung schwelgen könnt man, hätt man die Zeit der Anna Sacher noch selbst erlebt«, sagte der Hofrat mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. »Ich wünsch Ihnen allen einen schönen Abend. Kompliment an die Damen«, verabschiedete er sich galant, erneut eine Verbeugung andeutend.

Sarah lächelte und widmete sich wieder der Frau am Eingang, die seit den ersten Walzertakten ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie spielte ständig mit dem Anhänger ihrer Kette. Leider stand sie zu weit weg, um erkennen zu können, worum genau es sich bei dem Schmuckstück handelte. Außerdem wurde es von ihrer Hand verdeckt, an der Sarah einen goldenen Ring registrierte. Kein Ehering, eher einer von der Sorte, den man zum Geburtstag geschenkt bekam.

Sarah riss sich von dem Anblick der Fremden los. Immerhin war sie privat im Sacher und überglücklich, weil all ihre Liebsten vereint an einem Tisch saßen. Sie nahm Davids Hand und beugte sich zu ihm hinüber.

»Schaust heute verdammt gut aus«, hauchte sie ihm ins Ohr. Er trug ein weißes Hemd und einen dunkelblauen Anzug von Ermenegildo Zegna. Er saß wie eine zweite Haut.

Davids dunkle Augen blitzten sie fröhlich an. »Und du unwiderstehlich. Ich freu mich jetzt schon, dir nachher dieses atemberaubende Kleid ausziehen zu dürfen«, flüsterte er.

»Habt ihr keine eigene Wohnung?«, fragte Chris gespielt empört.

»Neidisch? Oder kocht dein neapolitanisches Blut, wenn du deine Schwester mit einem Mann flirten siehst?«, fragte Gabi herausfordernd mit gespielt italienischem Akzent.

»Sei froh, dass ich dich mitgenommen hab, Bruderherz, und benimm dich, wie sich ein angehender Arzt zu benehmen hat«, grinste Sarah.

Für David und Gabi war es nicht schwer gewesen, an diesem Abend freizumachen. David war der Herausgeber des Wiener Boten und damit zugleich Sarahs Chef, ihre seit sieben Jahren beste Freundin Gabi seine Sekretärin. Ihr Freund, Sarahs Bruder Chris, diente die letzten zwei Monate seines Klinisch-Praktischen Jahres im AKH ab, dem größten Krankenhaus Wiens. Den Medizinstudenten wurden gerne Wochenenddienste untergejubelt, doch diesmal hatte es geklappt: Sie hatten alle frei.

»Ich freu mich unglaublich, dass wir gemeinsam hier sind«, sagte Sarah zufrieden und griff nun ebenfalls unbewusst nach ihrer Kette mit dem roten Corno, das farblich zu ihrem figurbetonten roten wadenlangen Kleid passte. Die Farbe kontrastierte perfekt mit ihren dunklen halblangen Haaren.

»Du kannst wohl nie ohne Schutz vor dem bösen Blick das Haus verlassen«, witzelte ihr Bruder und stieß sein Glas Cabernet Sauvignon gegen Sarahs.

»Familienkrankheit«, gab sie amüsiert zurück, ließ den Anhänger los und nahm einen Schluck Wein. Ihre Großmutter war eine eingefleischte Neapolitanerin und somit bis in die Haarspitzen abergläubisch gewesen. Sarah hatte sich einige ihrer Verhaltensweisen unbewusst angeeignet. Sie traten verstärkt zutage, seit sie für den Wiener Boten Kolumnen zu dem Thema Aberglauben schrieb. Chris hingegen hatte von den Eigenschaften ihrer nonna nichts geerbt, lediglich das südländische Aussehen mitbekommen, das bei den Frauen in seiner Nähe reihenweise zu weichen Knien führte. Ein Umstand, den ihr Bruder zu nutzen gewusst hatte. Vor viereinhalb Jahren hatte er sich schließlich ernsthaft in Gabi verliebt. Seitdem verhielt er sich sittsam. Zu Sarahs Freude, denn sie hatte sich die Namen der Mädels gar nicht so schnell merken können, wie ihr Bruder sie davor gewechselt hatte. Heute Abend trug Chris einen dunklen Anzug von Strellson und dazu ein weißes Hemd. Er sah aus wie die südländische Verführung in Person.

»Außerdem ist heute Freitag, der Dreizehnte«, fügte Sarah in betont mystischem Tonfall hinzu.

»Warum ist die Dreizehn eigentlich eine Unglückszahl?«, wollte David wissen.

»Dafür gibt es viele Erklärungen. Eine ist, dass sie ein Synonym für den Teufel ist. Deshalb auch die Bezeichnung Teufelsdutzend, wenn etwas aus dreizehn Teilen besteht. Im Tarot wird die Dreizehn dem Tod zugeordnet, in der Numerologie steht sie für Wandel und Umbruch. In Italien ist übrigens die Siebzehn die Unglückszahl.«

»Und aus welchem Grund?«, fragte Gabi.

»Es gibt die These, dass der Ursprung dafür in einer Grabinschrift liegt, die in der Antike und im Mittelalter oft verwendet wurde. Zu der Zeit standen auf vielen Grabsteinen die Buchstaben VIXI. Auf Lateinisch bedeutet vixi: Ich habe gelebt. Was wiederum eigentlich heißt, dass ich schon tot bin. Und ändert man die Reihenfolge der Buchstaben, erhält man die römische Zahl XVII, also die Siebzehn.«

»Und Freitag?«, hakte Gabi nach. Ihre Freundin trug ein weißes, gerade geschnittenes, knielanges Kleid und ihre blonden Locken zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Für Gabi eine ungewöhnliche Frisur, die ihr aber gut zu Gesicht stand.

Sarah zuckte mit den Schultern. »Such’s dir aus!« Sie begann, die unterschiedlichen Thesen an ihren Fingern abzuzählen. »Jesus wurde an einem Freitag gekreuzigt. Einer Legende nach soll der Großmeister der Tempelritter an einem Freitag auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sein. Aufgrund der Zeitverschiebung schreibt man den großen Börsenkrach 1929 in Europa dem Freitag zu, obwohl er bereits an einem Donnerstag seinen Anfang nahm. Aber gut …« Sie drehte belustigt die Handflächen nach oben. »Der Donnerstag wird ja Thor beziehungsweise Donar, also dem Gewitter- und Wettergott, zugeordnet. So gesehen passt es wieder. Ich finde es jedenfalls großartig, an so einem mystischen Tag ein Frühlingsfest zu veranstalten.«

Intuitiv wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Frau am Eingang gelenkt. Die Fremde fixierte mit versteinerter Miene einen Mann in weißem Hemd mit offenem Kragen und im dunkelblauen Sakko. Sarah registrierte kurz geschnittene wellige blonde Haare, Dreitagebart und ein spitzes Kinn. Sie schätzte ihn wie die Frau auf Ende zwanzig. Gerade war er dabei, eine Blondine im hautengen fliederfarbenen Etuikleid zu bezirzen, die schon den ganzen bisherigen Abend auffallend laut lachte. Der Kerl musste unglaublich witzig sein. Die beiden saßen nur wenige Meter vom Eingang entfernt allein an einem Tisch und schienen ihre Umgebung vergessen zu haben. Auf Sarah wirkten sie frisch verliebt.

»Beunruhigt dich etwas?«, fragte Gabi. »Ich meine, weil du ständig zur Tür schaust.«

Sarah wandte sich langsam zu ihr um. »Seht ihr die Frau, die zwischen Tür und Angel steht? Dunkelgrünes Kleid und Pumps, die offenbar ziemlich unbequem sind, weil sie ständig die Knie durchdrückt, um die Füße zu entlasten. Die benimmt sich komisch.« Sie schaute wieder hin, und die anderen folgten ihrem Blick. »Seht ihr, wie sie an ihrer Halskette herumfingert? Sie ist schon eine ganze Weile so nervös.«

»Die ist mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen«, sagte Chris. »Was du alles siehst.«

David runzelte die Stirn. »Das findest du eigenartig? Du fingerst doch auch oft an deiner Kette herum.«

»Eben. Aber eigentlich nur dann, wenn ich nervös oder angespannt bin. Ich frag mich, was sie so aufregt.«

»Du bist heute privat hier«, erinnerte David sie wohlweislich. »Niemand verlangt von dir einen Bericht für die nächste Ausgabe. Dafür ist Conny zuständig.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Sarah und winkte Conny Soe, der Gesellschaftsreporterin der Zeitung, zu. Die Society-Lady erwiderte den Gruß und widmete sich dann wieder dem Gespräch mit drei prominenten Schauspielern am Nebentisch. Ihr smaragdgrünes wadenlanges Sommerkleid passte perfekt zu ihrer hochgesteckten kupferroten Lockenmähne und den großen goldenen Creolen. Simon, der Fotograf des Wiener Boten, lichtete sie währenddessen ab. Die Schauspieler hatten in der Verfilmung von Anna Sachers Leben mitgespielt, wusste Sarah. Simons Foto würde übermorgen auf Connys Society-Seite erscheinen, so viel war sicher. Es war das zweite Mal, dass Sarah Simon in Sakko und Hemd und nicht in Skaterklamotten sah. Seiner Körpersprache nach zu urteilen, fühlte er sich nicht wirklich wohl. Wahrscheinlich sehnte er sich in sein kleines Büro zurück, umgeben von unzähligen Computern.

»Meine Schwester kann nicht anders«, meinte Chris. »Immer im Dienst und immer auf der Suche nach Geschichten. Da hast du dir eine unverbesserliche Workaholikerin angelacht, David«, spottete er. Dann fügte er augenzwinkernd hinzu: »Sehr schlauer Schachzug von dir als Herausgeber des Wiener Boten. Das muss man neidvoll anerkennen.«

»Ich glaube, wir werden ihn doch nicht einziehen lassen. Oder, David, was meinst du?«, lachte Sarah.

David hatte das Wohnhaus im Cottageviertel im achtzehnten Bezirk, in dem seine Wohnung lag, gekauft und ließ es seitdem zum Teil renovieren und komplett neu malern. Schon bald würden sie alle einziehen. Sarah würde ihr geliebtes Zuhause am Yppenplatz mit dem Brunnenmarkt vor der Haustür für immer verlassen. Ganz wohl war ihr noch immer nicht bei dem Gedanken, obwohl der Umzug bedeutete, mit David zusammenzuleben. Aber das Grätzel in dieser Gegend Ottakrings war ihr ans Herz gewachsen. Gabi und Chris würden die Wohnung über ihnen beziehen, im ersten Stock. Ohne ihren Bruder wäre Sarah der Umzug doppelt schwergefallen. Er wohnte seit dem Unfalltod ihrer Eltern bei ihr. Damals war er erst siebzehn gewesen und hatte kurz vor dem Schulabschluss gestanden.

Der Türkenschanzpark mit verschiedenen Denkmälern, Teichen, Springbrunnen und Bächen lag direkt gegenüber ihrem baldigen Zuhause, und auch sonst war der achtzehnte Bezirk im Gegensatz zum sechzehnten, wo sie jetzt wohnte, eher ruhig. Zudem tummelten sich in dem kleinen Garten im Hinterhof von Davids Haus viele Vögel. Sie hatten Marie, Sarahs schwarze Halbangora, in angespannte Verzückung versetzt, als Sarah sie einmal in Davids Wohnung mitgenommen hatte.

Sarahs Augen wanderten genau in dem Moment wieder zwischen dem Eingangsbereich und dem Paar am Tisch hin und her, als auch der Blick des Mannes einen winzigen Augenblick lang durch den Raum flackerte. Er sah zufrieden und verliebt aus. Bis er die Frau am Eingang wahrnahm. Er erstarrte kurz. Es schien, als müsste er sich zwingen, einen klaren Gedanken zu fassen. Er sagte etwas zu seiner Begleiterin, stand auf und ging auf die Frau zu. Seine Bewegungen wirkten hölzern, und seine Miene war alles andere als fröhlich. Das sah nicht nach einer bevorstehenden netten Plauderei aus, eher nach einem handfesten Streit. War der Kerl etwa mit seiner Geliebten hier und von der Ehefrau im Türrahmen überrascht worden? Wurden sie jetzt gleich Zeugen einer Auseinandersetzung?

Die Frau drehte sich augenblicklich um und eilte davon. Die Schritte des Mannes wurden schneller. Sarah schaute zu ihren Lieben, die inzwischen intensiv mit dem Thema Haussanierung beschäftigt waren. David erklärte Gabi und Chris, welche Instandsetzungsarbeiten noch notwendig waren, bevor sie ihre zukünftige Wohnung beziehen konnten. Zudem mussten sämtliche Wände neu gestrichen werden. Keiner von ihnen interessierte sich für das Szenario.

»Ihr entschuldigt mich.« Sarah erhob sich und folgte den beiden Unbekannten. Sie konnte nicht anders, sie musste auf ihren Instinkt hören. Doch sie war zu langsam. Als sie in den Flur trat, war von den beiden weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie ging in die geräumige und in sanftes Rot getauchte Lobby. Dort entdeckte sie die zwei. Sie standen nahe dem offenen Durchgang, durch den man zur etwas versteckten Rezeption und den Toiletten gelangte. An den Wänden des Ganges hingen unzählige gerahmte Fotos von prominenten Gästen, einige mit Signatur. Doch die Aufnahmen offenbarten auch private Einblicke in längst vergangene Zeiten. Nicht nur die berühmte Anna Sacher, auch ihre geliebten Hunde waren hier verewigt. Französische Bulldoggen, liebevoll Sacher-Bully genannt.

Sarah erkannte sofort, dass der Mann und die Frau nicht ein einziges Bild wahrnahmen. Ihre Körpersprache spiegelte eine Mischung aus Enttäuschung, Verzweiflung und Feindseligkeit wider. Aber auch eine besondere Art von Anziehung.

Sarah schlich näher, gab vor, die früheren Aufnahmen vom Hotel Sacher auf dem Bilder-Paravent zu betrachten, der in der Lobby nahe dem offenen Durchgang stand.

Die beiden zogen sich einige Schritte zurück.

Sarah konnte nicht verstehen, was sie sich gegenseitig mit zusammengebissenen Zähnen an den Kopf warfen. Zuneigung sah anders aus. Die Frau hatte die Hände zu Fäusten geballt und war bleich vor Wut. Der Mann griff nach ihrem Arm, drückte fest zu. Sie zischte ihm etwas ins Ohr. Ihre Augen funkelten angriffslustig, dann trat sie ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein. Er unterdrückte einen Schrei, ließ sie jedoch augenblicklich los. In dem Moment bemerkte die Frau Sarah.

Sarah lächelte und warf einen raschen Blick auf den Anhänger ihrer Halskette. Ein Baumkuchen! »Kann ich Ihnen helfen?«

Die Frau schüttelte energisch den Kopf und bedachte Sarah mit einem Blick, der sagte: Hau ab, Schwester, sonst tret ich dir auch noch gegen das Schienbein.

Sarah schob sich unsicher lächelnd an den beiden vorbei und bog auf die Damentoilette ab. Zum Glück war niemand in dem Raum. Sie drückte ihr Ohr gegen die Tür und horchte angestrengt, doch kein Laut drang von außen in den stilvollen Waschraum aus dunklem Marmor.

Als sie die Toilette wieder verließ, waren die beiden verschwunden. Sie ging nach links ins Foyer, das offiziell den Namen Rendezvous trug. Auch das war menschenleer. Sie tat, als interessierte sie sich für die Bilder von Wilhelm Gause an den Wänden, denn es bestand immer noch die Möglichkeit, dass die beiden über die Stufen hinauf zum Salon Maria-Theresia verschwunden waren, jetzt vor dessen Tür standen und jeden Moment wieder herunterkommen würden. Stimmen hörte sie jedoch keine. War der Mann inzwischen wieder an seinem Tisch und die Frau gegangen? Oder hatten sie das Hotel miteinander verlassen? Enttäuscht machte sich Sarah auf den Rückweg.

3

Er hatte sie mit stummer Wut die Stufen hinaufgezerrt und drückte nun mit der freien Hand die Klinke zum Salon Maria-Theresia hinunter. Mit Verwunderung stellte Iris fest, dass die Tür nicht verschlossen war.

Max zog sie in den Raum. Die Tische waren nicht gedeckt, die Stühle zur Seite gestellt. Mit dem Fuß schob Max die Tür hinter ihnen zu und drückte Iris gegen die Wand. »Du zerstörst alles«, zischte er.

Auf der gegenüberliegenden Seite spiegelten sie sich im goldgerahmten Spiegel.

»Was denn? Etwa dein Tête-à-Tête mit der bladen Funsn?«, schnaubte sie verächtlich und versuchte, sich von ihm loszumachen.

»Hättest du mich nicht verlassen, wäre ich nicht mit ihr hier. Das weißt du. Es ist allein deine Schuld.«

Was für eine schwachsinnige Ausrede. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, während sie selbst die Luft anhielt. Ihr Bauchgefühl riet ihr, nicht auf seinen Vorwurf einzugehen. Das führte doch zu nichts.

»Deine Neue ist nicht nur eine modische Katastrophe, sondern ein gesamtästhetisches Problem«, blaffte sie ihn stattdessen an, weil sie ihn, Miss Piggy im Marmorsaal und die ganze Welt verletzen wollte.

»Es geht dich nichts mehr an.«

»Genau.«

Eine bedrückende Vertrautheit machte sich zwischen ihnen breit. Eine Intimität, die alles andere in den Hintergrund schob. Max lockerte seinen Griff, ließ dann ihre linke Hand ganz los und fuhr mit dem Zeigefinger zärtlich über den Anhänger ihrer Kette. Sie sah ihm an, dass die Berührung schöne Erinnerungen in ihm wachrief und er sie am liebsten geküsst hätte. Doch sein Blick verriet ihr, dass ihn eine Mischung aus Wut und Vorsicht davon abhielt.

»Was machst du überhaupt hier?«, fragte er in normalem Tonfall.

»Das ist ein freies Land.« Sie riss nun auch die andere Hand los und wandte rasch den Blick ab, damit er nicht ihre Tränen schimmern sah. Sie liebte ihn noch immer. Das wussten sie beide. Doch eine Zukunft gab es nicht mehr für sie. Leichtes Pochen in den Schläfen kündigte Kopfschmerzen an. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft, das Zusammentreffen war ein Fehler gewesen. Mit schmalen Lippen schluckte sie die aufsteigenden Tränen hinunter. Auf keinen Fall würde sie vor ihm weinen. Ihre Entschlossenheit kehrte zurück und mit ihr der Ärger wegen seines Rendezvous. Sie würde ihm schon noch zeigen, dass sie auch ohne ihn klarkam. Niemand und nichts konnte Iris Reuter stoppen. Vernichten würde sie ihn! Ja, das würde sie. Oder zumindest seine zukünftige Konkurrentin sein. Sie schenkte ihm noch einen letzten frostigen Blick, dann stürzte sie zur Tür und verließ wutentbrannt den Salon. Sie musste so schnell wie möglich weg. Weg von ihm. Sie lief die Stufen hinunter. Er folgte ihr, das spürte sie.

»Iris.« Ihr Name war nur noch ein Zischen.

Rasch stieß sie die Tür zum Waschraum auf, nur um endlich seinem Blickfeld zu entkommen. »So ein verfluchtes Arschloch.« Mit voller Wucht schlug sie mit ihrer Hand auf den Marmorwaschtisch. Sie spürte, wie ihr Herz heftig gegen die Brust hämmerte. Schmerzhafte Eifersucht durchströmte ihren Körper. Dabei war sie es doch gewesen, die gegangen war. Ihre Hände zitterten vor Aufregung.

»Ich hätte ihm in die Eier statt gegen das Schienbein treten sollen«, giftete sie ihr eigenes Spiegelbild an. Ob er vor der Tür auf sie wartete? Sie schloss die Augen und zählte bedächtig bis zehn. Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Sie öffnete die Augen, wandte sich ab und machte zwei Schritte Richtung Kabinen. In dem Moment hörte sie ein Geräusch. Kam Max etwa in die Damentoilette? Die Bewegung erahnte sie mehr, als dass sie sie wirklich wahrnahm. Sie drehte den Kopf zur Seite. »Du …«

Der Schlag traf sie unvermittelt. Ihr blieb keine Zeit zu reagieren.

Als sie auf den Marmorboden sank, war sie bereits tot.

4

Der Tisch des Paares war leer. Lediglich zwei halb volle Weingläser bezeugten, dass dort vor wenigen Momenten noch jemand gesessen hatte. Auch die Frau in dem fliederfarbenen Etuikleid war verschwunden.

Sarah nahm gerade wieder auf ihrem Stuhl Platz, als ein Ober ihnen vier Teller mit der weltberühmten Sacher-Torte servierte. David und Chris besprachen noch immer die Arbeiten in Davids Haus, aber Gabi schob sich sofort genussvoll eine Gabel voll Torte in den Mund.

»Weißt du, dass die Marille im alten China für den Wunsch nach einem Kind stand?«, fragte Sarah, weil die berühmteste Torte Wiens traditionell mit Marillenmarmelade gefüllt wurde.

Gabis Nasenlöcher weiteten sich, während sie schluckte. »Kannst du nicht einmal etwas einfach nur das sein lassen, was es ist? So als wärst du ein ganz normaler Mensch?«, erwiderte sie schmunzelnd.

»In Europa galt die Marille wie Schokolade als Aphrodisiakum. Selbst Casanova trank Schokolade zur Stimulation. Und nachdem mein kleiner Bruder und du ja heute sicher noch …« Sarahs Grinsen wurde breiter.

David grinste jetzt ebenfalls. Er musste mit einem Ohr mitgehört haben. Chris runzelte die Stirn, und Gabi rollte mit den Augen. »Wo warst du eigentlich so lange?«

»Ich hab die beiden auf dem Weg zur Toilette gesehen. Die haben sich ziemlich heftig gestritten.«

»Wen meinst du?«

»Na, die Frau und den Mann von vorhin.«

Gabi sah sie fragend an. Sie hatte die Fremde offenbar bereits vergessen. »Ah, die mit der Kette«, erinnerte sie sich dann doch. »Und welchen Mann?«

»Ist nicht so wichtig! Lasst uns lieber Sacher-Torte essen.« Sie zwinkerte David und ihrem Bruder herausfordernd zu.

In dem Moment sah sie, wie die Frau in dem fliederfarbenen Etuikleid zurückkam. Sie blickte sich nervös um, setzte sich an ihren Tisch und trank das Glas Wein vor sich auf ex. Was war passiert? Auch der Mann tauchte wieder auf. Sein Gesicht rot vor Zorn. Er trug einen dunklen Übergangsmantel und über dem Arm einen beigen Trenchcoat und tauschte einige Worte mit seiner Begleiterin. Sarah erkannte, dass er es eilig hatte. Die Blondine erhob sich, er half ihr in den Trenchcoat, und wenig später waren die beiden verschwunden. Das vermeintliche Drama hatte sich offenbar in Wohlgefallen aufgelöst oder würde woanders oder ein andermal ausgetragen werden. Sarah beschloss, ihren freien Abend wieder zu genießen.

»Lasst uns doch nach der Torte noch auf ein Glas Sacher-Sekt nebenan in die Blaue Bar gehen«, schlug sie vor und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war halb neun.

Die Musik wurde leiser und endete schließlich. In dem Moment störte ein lang gezogener, durchdringender, schriller Laut Sarahs Hochgefühl. Ein alarmierender Schrei, einer Sirene gleich.

Sarah sprang auf.

»Was war das?«, fragte Chris ebenfalls aufgeschreckt.

Wieder dieser markerschütternde Schrei.

Gabi blickte sich wie die meisten anderen im Raum überrascht um. Kaum jemand bewegte sich, es schien, als hielten alle mit vor Schreck aufgerissenen Augen die Luft an. Auch die Kellner waren wie erstarrt. Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit zogen, verstrichen. Dann sickerte nach und nach die Erkenntnis, dass etwas passiert sein musste, in die Köpfe der Gäste, und auf einmal erwachte der Raum wieder zum Leben. Stimmen riefen aufgeregt durcheinander. Die Kellner verschwanden. Die Musik begann wieder. Offenbar hatten die Musiker, die ums Eck standen, nichts mitbekommen. Die Stimmen der Leute im Saal wurden lauter, man versuchte, die Musik zu übertönen. Fragen hallten durch den Saal. Die Stimmung kippte. Energisches Stühlerücken. Eine Vase fiel um, Wasser lief über den Marmorboden.

Zu dem Zeitpunkt eilten Sarah und Chris bereits durch den Saal, den Flur entlang zur Lobby. Sarah trieb eine Ahnung an. Die Frau mit dem Anhänger brauchte Hilfe. Chris peitschte sein ärztliches Verantwortungsgefühl vorwärts.

Der durchdringende Schrei war währenddessen zu einem Wimmern mutiert.

Zuerst sahen sie nur zwei Personen direkt vor der Toilettentür. Die Frau trug ein beiges Kleid, stand vornübergebeugt und zitterte am ganzen Körper. Sie sah aus, als müsste sie sich übergeben, doch bei näherem Hinsehen wurde klar, dass sie hyperventilierte. Ihre Körperhaltung katapultierte ihre Fassungslosigkeit förmlich nach außen. Was immer sie gesehen hatte, es musste grausam gewesen sein. Aus ihrer akkuraten Hochsteckfrisur hatte sich eine Strähne gelöst, die nun an der schweißnassen Stirn klebte. Der Mann im eleganten Sacher-Outfit hatte den Arm um sie gelegt und versuchte, sie zu beruhigen. Sarah tippte darauf, dass es sich um den Rezeptionisten handelte, da der Empfang nur wenige Schritte entfernt war. Die Frau richtete sich langsam auf, ihr Atem kam stoßweise. Ihr Gesicht aschfahl, ihre Augen leer, als wäre sie dem Leibhaftigen persönlich begegnet. Die Dreizehn, das Symbol des Teufels, schoss es Sarah ausgerechnet jetzt durch den Kopf.

»Ich bin Arzt«, hörte sie Chris’ Stimme.

Ihr Bruder übernahm die Frau aus den Händen des Rezeptionisten.

Der Mann sah fast genauso schlimm aus. »Wir haben schon die Rettung gerufen.« Er deutete mit dem Kopf zum Empfang, wo Sarah eine junge Kollegin mit erschrockenem Gesichtsausdruck stehen sah. »Unsere Chefs sind auch schon verständigt«, fügte er noch hinzu, als würde das an der Gesamtsituation etwas ändern.

»Was ist passiert?«, fragte Sarah.

Hinter ihnen tauchten die ersten Gäste im Gang auf. In den blassen Gesichtern spiegelten sich gleichzeitig Neugierde und Entsetzen wider. Eine Dame im orangefarbenen Kleid fächelte sich mit einem Fächer Luft zu. Der Herr Hofrat hielt ihre andere Hand und sprach leise auf sie ein. Die allgemeine Starre hatte sich offenbar in Voyeurismus verwandelt. Der Rezeptionist zeigte stumm auf die dunkle Tür der Damentoilette.

Sarah drückte die goldene Klinke nach unten und schob die Tür vorsichtig auf, konnte aber nicht sofort etwas Außergewöhnliches erkennen. Erst als sie drei Schritte nach vorne zur offen stehenden Verbindungstür von Waschraum und Toiletten machte, erblickte sie die Frau auf dem Boden. Ihr Oberkörper in der Kabine, die Beine davor. Die Augen starr an die Decke gerichtet, das rechte Bein abgeknickt, das linke ausgestreckt. Auf ihrer Stirn klaffte eine große Wunde. Der Kopf lag in einer immer größer werdenden Blutlache. Ein oder mehrere Schläge auf den Hinterkopf, mutmaßte Sarah. Details der Wunde konnte sie nicht sehen, weil Blut die Haare verklebte. Sie hatte sie sofort erkannt. Das Kleid, das Gesicht und der Anhänger in Form eines Baumkuchens waren ihr sofort ins Auge gestochen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, trotzdem kniete sie sich hin und legte zwei zitternde Finger an die Halsschlagader der Frau. Womöglich lebte sie noch, auch wenn ihr das unwahrscheinlich erschien. Der Anblick verriet den Tod.

»Können Sie mich hören?«, stellte Sarah die vermeintlich unnötige Frage. Sie spürte nichts. Kein Pochen, kein anderes Zeichen, das auf Leben hinwies, nur die letzte verbliebene Körperwärme an ihren Fingerkuppen.

Ihr Blick fiel auf den verstreuten Inhalt der Handtasche. Lippenstift, Make-up, Puder, Taschentücher lagen um die Toilette herum verteilt. Sarah entdeckte kein Portemonnaie, keinen Ausweis, kein Handy und auch keine Schlüssel. Das Bild, das sich ihr bot, erzählte die Geschichte eines Raubmordes. Als sie auch nach weiterer Betrachtung des Toilettenraums keine Tatwaffe ausmachen konnte, drehte sie sich um, ging zur Tür zurück und öffnete sie.

»Ist der Notarzt schon da?«, fragte sie den Rezeptionisten, obwohl ihr klar war, dass dieser nur mehr den Tod der Frau feststellen würde.

»Sollte gleich kommen«, antwortete er mechanisch.

Die Frau, die die Leiche entdeckt hatte, wurde inzwischen von einem anderen Mann im Arm gehalten, vermutlich ihrem Ehemann. Immer wieder schüttelte sie verzweifelt den Kopf. Den Anblick der Toten würde sie so schnell nicht vergessen. Ähnlich würde es auch Sarah ergehen.

Chris schob sich an ihr vorbei in den Waschraum.

Inzwischen hatten sich noch mehr Gäste in dem schmalen Gang versammelt. Obwohl die Leute dicht gedrängt standen, war es totenstill. Sarah erblickte Gabi und David. Auch Conny tauchte auf, in ihrem Schlepptau einer der Schauspieler, der jedoch gleich wieder kehrtmachte und aus Sarahs Blickfeld verschwand.

David drängte sich bis zu Sarah vor. »Was ist los?«, fragte er.

»In der Toilette liegt eine Frau. Ich glaub, sie ist tot«, murmelte Sarah. »Chris ist bei ihr. Könntet ihr veranlassen, dass die Leute wieder auf ihre Plätze gehen? Die Polizei will sicher mit allen reden.«

David nickte, und Sarah begab sich wieder in den Toilettenraum.

»Sie ist tot«, bestätigte Chris, was sie schon wusste.

Endlich trafen zwei Polizisten in Uniform und ein Team vom Roten Kreuz ein. Chris stellte sich dem Notarzt vor und besprach sich kurz mit ihm.

Sarah trat währenddessen wieder in den Gang. Ihr Puls raste. Ihr Kopf schmerzte. In dem Moment dachte sie zum ersten Mal daran, dass die Toilette ein Tatort war und ihre und Chris’ DNA dort wie verstreutes Konfetti zu finden war.

5

Dagmar Pospischil atmete tief durch und spähte durchs offene Wohnzimmerfenster auf die Stiftgasse hinunter. Sie hoffte, einen dunkelblauen Passat mit dem burgenländischen Kennzeichen ND oder Reiners blonden Haarschopf zu entdecken. Doch vergebens. Energisch fasste sie ihre halblangen hellbraunen Haare mit einem Haarband zusammen und begann verärgert, den Tisch abzuräumen. Reiner hatte sich nicht gemeldet, obwohl er seit einer Stunde bei ihr sein sollte. Extra für ihn hatte sie Paprikahenderl gekocht. Das mochte er so gerne. Vor genau sechzig Minuten hatte sie aufgetragen und die in der gesamten Wohnung verteilten Kerzen angezündet. Alles sollte perfekt sein und romantisch aussehen, wenn er eintraf. Jetzt war das Henderl kalt. Sie stellte die Teller und Schüsseln auf die Anrichte, goss sich ein großes Glas voller Wein und stürzte ihn in einem Zug mitsamt ihrer Wut hinunter. Sie hatte sogar das Kleid angezogen, das er ihr letztens mit leuchtenden Augen geschenkt hatte. Dunkelblau und viel zu kurz. Sie trug es nur für ihn, niemals auf der Straße oder sonst wo in der Öffentlichkeit. Dazu hochhackige Schuhe. Reiner fand das Outfit sexy. Sie eher billig und unbequem. Doch sie wusste, was sie wollte. Reiner. Regelmäßig. Jederzeit. Ausschließlich. Obwohl er eigentlich nicht ihr Typ war. Blond, Geheimratsecken, hellhäutig und mit seinen eins siebzig drei Zentimeter kleiner als sie. Zuerst hatte sie ihn gar nicht beachtet. Ute, ihre Freundin, hatte sie auf ihn aufmerksam gemacht. »Der zieht dich mit Blicken aus«, hatte sie gemeint.

Aber auch das beeindruckte Dagmar nicht. Erst als er sie ansprach und sie sich daraufhin eine Weile alleine unterhielten, weil Ute schon hatte gehen müssen, bekam sie weiche Knie. Seine charmante Art, sein gutes Benehmen und sein durch und durch schwarzer Humor nahmen sie für ihn ein. An diesem Abend landeten sie noch nicht im Bett, sondern verabschiedeten sich wie gute Bekannte voneinander. Gute Bekannte, die Handynummern ausgetauscht hatten. Drei Tage später rief er an und lud sie zum Essen ein.

Reiner war ein Romantiker, der weder ihren Jahres- noch den Kennenlerntag oder ihren Geburtstag vergaß. Zudem konnte er sich immer noch genau daran erinnern, wie sie bei ihrem ersten Treffen ausgesehen hatte. Mit dem wadenlangen Sommerkleid und den flachen Sandalen, dazu eine dezente Halskette und goldene Creolen in den Ohren. Ihre Haare hatte sie offen getragen. Reiner liebte lange Haare bei Frauen. Außerdem zeigte er sich äußerst großzügig, wenn er sie beschenkte. Ihr Schmuckbestand hatte sich seit Beginn ihrer Affäre verdoppelt. Es gab Momente, da fragte sie sich, woher er das Geld dafür nahm. Reiner war Buchhalter in einem international agierenden Baukonzern und verdiente sehr gut, wenn auch nicht überdurchschnittlich. Doch meistens freute sie sich einfach über den Ring, die Halskette oder die Ohrringe und dachte nicht weiter über deren Beschaffung nach.

Das einzige Problem war, dass er verheiratet war, wenngleich seine Ehe längst nur mehr auf dem Papier bestand.

»Meine Frau und ich bleiben wegen unserer gemeinsamen Tochter zusammen. Bis sie die Schule beendet hat«, hatte er ihr jedes Mal versichert, wenn das Gespräch auf das Thema Scheidung zusteuerte. Vor einem Jahr hatte seine Tochter maturiert. Dagmar hatte gewartet. Bis vor fünf Tagen. Dann hatten sie sich heftig gestritten.

»Du magst dich einfach nicht trennen«, warf Dagmar ihm an den Kopf. »Gib’s endlich zu! Wie es ist, ist es für dich bequem. Deine Frau für den Alltag, die Geliebte fürs Bett.«

»Sei doch froh, dass es nicht umgekehrt ist«, erwiderte er belustigt.

Sie lachte nicht, sodass er letztlich knurrte, nicht länger darüber sprechen zu wollen. Er habe eh schon Stress in der Firma und auch sonst genug am Hals.

»Meine Tochter studiert jetzt, das kostet mich Unsummen. Eine Scheidung kann ich mir einfach nicht leisten«, erklärte er ihr dann doch noch. Reiners Frau war nach der Geburt ihrer Tochter nicht mehr arbeiten gegangen. Ein befreundeter Anwalt hatte ihm vorgerechnet, wie viel von seinem Einkommen für die Unterhaltszahlungen an seine Frau draufgehen würde. Und damit war das Thema vom Tisch gewesen. Also wohnte Reiner weiterhin unter der Woche in Wien und verbrachte das Wochenende und die Feiertage bei seiner Frau im Burgenland. Seine Tochter studierte zum Glück weit entfernt in Salzburg, sodass sie ihren regelmäßigen Treffen nicht in die Quere kam.

»Verdirb uns doch nicht unsere gemeinsame Zeit«, meinte er schließlich versöhnlich. »Die ist viel zu wertvoll, um sie mit Streiten zu verbringen. Schau lieber, was wir beide haben.«

»Was haben wir denn?«, giftete sie ihn an. »Die Wochentage Montag bis Donnerstag und manchmal ein Wochenende oder einen Feiertag, wenn«, sie malte Anführungszeichen in die Luft, »offiziell eine Tagung ansteht.«

»Wir haben keinen langweiligen Alltag, keinen Trott und keine …« Er verstummte.

Dagmar wusste auch so, welches Wort er verschluckt hatte: Verpflichtungen.

Sie glaubte schon lange nicht mehr daran, dass Reiner sich scheiden ließ. Sie war nicht blöd. Was sie sich jedoch wünschte, war, dass er die Karten auf den Tisch legen und endlich Tacheles sprechen würde. Dann könnte sie ihr Leben danach ausrichten. Sich vielleicht sogar einen anderen Mann suchen. Anwärter gab es einige. Dagmar sah gut aus, hatte eine sportliche Figur und war als leitende Beamtin im Gesundheitsamt finanziell unabhängig.

Sie konnte sich nicht erklären, weshalb der Streit an diesem Abend eskaliert war. Am Ende hatten sie sich angebrüllt. Sie warf ihm vor, sie zu missachten, und er ihr, dass sie ihm das Messer auf die Brust setzte. Schließlich stand Reiner auf und verließ türenschlagend die Wohnung. Danach herrschte erst einmal Funkstille.

Am Tag danach redete sie mit Ute, ihrer besten Freundin, darüber.

»Ich hab dir immer schon gesagt: Finger weg von verheirateten Männern! Es sei denn, du stehst darauf, die zweite Geige zu spielen«, war deren einziger Kommentar. »Such dir endlich einen anderen. Einen, der frei ist und zu dir steht.«

Ute war gegen die Verbindung. Verständlich. Sie war seit zwölf Jahren verheiratet und hatte drei Kinder. Aus dem Grund erwähnte Dagmar Reiner in ihrer Gegenwart normalerweise kaum bis gar nicht.

Gestern Morgen hatte Reiner dann endlich angerufen und etwas von unstillbarer Sehnsucht und dem Druck, unter dem er derzeit stehe, gefaselt. Er klang traurig und müde.

»Ich bleib bis Samstag in Wien. Lass uns einen gemütlichen Freitagabend verbringen. Wir könnten ins Ulrich essen gehen«, schlug er vor, weil sie sich dort vor dreieinhalb Jahren kennengelernt hatten und das Lokal ums Eck von Dagmars Wohnung lag. »Oder zu Hause bleiben. Was immer du möchtest.«

Sie ließ sich erweichen und verabredete sich für heute Abend. Der Vorschlag zu kochen kam von ihr.

»Gut, dann bring ich den Wein mit«, hatte er daraufhin schon besser gelaunt erklärt.

Und jetzt das!

Sie sah auf die Uhr. Es war zehn nach neun. Vor eineinhalb Stunden waren sie verabredet gewesen. Sie griff zum Handy. Reiner besaß eines, das er ausschließlich für ihre Gespräche benutzte. Er ließ es in seiner Wiener Wohnung liegen, wenn er am Wochenende zu seiner Frau fuhr. Augenblicklich sprang die Mailbox an.

»Verflucht, wo bist du?«

Sie legte auf, öffnete den Reißverschluss ihres Kleides und stieg aus den High Heels.

Nicht weiter darüber nachdenken, entschied sie und griff noch einmal zum Telefon. Es war Freitagabend, vielleicht hatte ja eine ihrer Freundinnen Zeit, mit ihr um die Häuser zu ziehen. Danach war ihr jetzt nämlich. Dann aber legte sie das Telefon doch wieder auf den Tisch zurück. Sie musste nicht telefonieren. Irgendwer war immer im Ulrich. Wenn schon keine engen Freunde, dann zumindest Bekannte, die genau wie sie durch die Freitagabende schwebten wie Quallen im Meer.

»Das hast jetzt davon«, knurrte sie, während sie sich umzog und neuen Lippenstift auftrug. Eine Verabredung abzusagen, wenn etwas dazwischenkam, das gehörte sich nun einmal. »Merk dir das, Reiner!« Wütend stopfte sie das Portemonnaie in ihre Handtasche und nahm ihre Schlüssel aus der Glasschale neben der Wohnungstür. Doch eigentlich war es genau das, was sie beunruhigte. Reiner hatte noch nie eine Verabredung abgesagt, geschweige denn nicht eingehalten. Das Verhalten passte nicht zu ihm. Als sie die Wohnungstür zusperrte, hielt sie in der Bewegung inne.

Es musste einen triftigen Grund geben, weshalb er nicht erschienen war. Ihre Hand lag auf der Klinke, da meldete sich ihr Handy. Der Melodie nach zu urteilen, war es Reiner.

Sie zögerte, gab sich dann einen Ruck und ging ran.

»Dagmar?« Es war nicht Reiner.

6

Das Licht im Stiegenhaus erlosch.

Anja tastete nach dem Wohnungsschlüssel in ihrer Handtasche, während sie mit dem Ellbogen den Lichtschalter betätigte. Eine Tonfolge erklang. Super! Jetzt fing auch noch ihr Handy an zu läuten. Sie ignorierte es. Warum musste auch immer alles gleichzeitig passieren? Wahrscheinlich rief eh nur Michaela an, um sie an das morgige Abendessen zu erinnern. Das tat sie immer am Tag davor, als hätte sie schon jemals einen gemeinsamen Abend vergessen. Timon, Franko und sie an einem Tisch, beladen mit Wein und gutem Essen. Sie freute sich schon darauf. Timon war Banker, mit ihm konnte sich Franko über Anlagen, Fonds und so Zeug unterhalten. Sie würde vom Schulalltag erzählen und mit Michaela, der Floristin in der Runde, über Blumen reden. Der einzige Wermutstropfen war, dass Max und Iris vor wenigen Tagen abgesagt hatten. Aber vielleicht war das im Moment auch besser so. Das Klingeln brach ab. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Die Wohnung lag im Dunkeln. Sie machte im Flur Licht, warf die Tür zu, stellte ihre Handtasche auf die Kommode, ging direkt ins Badezimmer und streifte ihre Kleidung ab. Durch die geschlossene Tür hörte sie erneut ihr Handy.

»Später«, sagte sie in Richtung des Geräuschs und stellte die Dusche an. Kaum hatte sie sich abgetrocknet und umgezogen, setzte das Klingeln erneut ein. Anja ging zurück zur Eingangstür, nahm das Smartphone aus dem Seitenfach ihrer Handtasche und hob ab, ohne vorher auf das Display geschaut zu haben. Vielleicht war es Franko, der ihr sagen wollte, dass es später werden würde. Wieder einmal!

»Hast du ihr gesagt, wo ich heute Abend bin?«

»Max?«

»Wer sonst?«

»Was willst du?« Die Frage klang frostiger als gewollt. Anja ging in die Küche.

»Das hab ich doch gerade gesagt. Wusste Iris von dir, wo ich bin?«

Anja verdrehte die Augen. Jetzt ging das schon wieder los. Sie hatte gehofft, endlich Ruhe vor ihm zu haben. »Nein.« Ihr Blick wanderte zur Küchenuhr. Es war Viertel vor zehn. »Ist deine Verabredung etwa schon nach Hause gegangen? Die Dame hat’s aber nicht lange mit dir ausgehalten«, spottete sie, nahm eine Flasche Rotwein und ein Glas, ging damit ins Wohnzimmer und stellte alles auf dem Couchtisch ab. Dann riss sie die Fenster auf, und Straßenlärm erfüllte augenblicklich das Zimmer. Sie sollte sich endlich ihren Traum erfüllen, die Taubstummengasse im vierten Bezirk verlassen und an den Stadtrand ziehen. Trotz der Geräuschkulisse ließ sie die Fenster offen. Der Frühling hatte sehr lange auf sich warten lassen, zu Ostern hatte es noch einmal geschneit.

»Iris war im Sacher«, drang Max’ Stimme wieder in ihre Gedanken.

»Warum auch nicht? Es ist ihr gutes Recht hinzugehen, wo immer sie hingehen möchte«, erwiderte sie flapsig, obwohl sie genau verstand, worauf er hinauswollte.

»Du hast gewusst, dass ich dort bin.«

»Und?«, fragte sie und dachte: Warum musstest du mir auch erzählen, dass du dich dort mit einer anderen Frau verabredet hast? Wir wissen schließlich beide, wie so etwas ausgeht. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und schenkte sich Wein ein.

»Warum hast du’s ihr gesagt?«

Sie nahm einen Schluck. Das Gespräch strengte sie jetzt schon an. »Hab ich doch gar nicht«, antwortete sie.

»Warum war sie dann dort?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du eine Ahnung …«, brauste Max auf.

Anja legte das Handy auf den Couchtisch und ging zurück in die Küche. Sie kannte Max, wusste, dass nach dieser Einleitung ein dreiminütiges Lamento über Beziehungen, Freundschaft und Loyalität folgen würde. Immerhin erwartete er keine Antworten, das tat er nie. Er wollte sich lediglich seinen Frust von der Seele reden. Sie richtete ein wenig Käse auf einem kleinen Teller an, legte ein Vollkornbrot dazu, ging mit dem Teller zurück ins Wohnzimmer und nahm das Handy wieder in die Hand. Wie vermutet, war Max noch immer am Jammern.

»Jetzt hör mir mal gut zu«, fiel Anja ihm ins Wort. »Ich misch mich schon lange nicht mehr in eure Streitereien ein, das weißt du. Als Gegenleistung verlange ich nur, dass ihr mich nicht in euer Chaos mit reinzieht.« Sie erinnerte sich noch mit Grauen an die Trennung vor drei Wochen. Nächtelang hatte sie abwechselnd Iris und Max getröstet. Die Mengen an nass geweinten Taschentüchern konnte sie nicht beziffern.

»Da vertraut man dir einmal etwas an …«

»Nicht in diesem Ton, Max. Das wird langsam fad.« Anja wusste, dass ihr Max lediglich aus einem Grund von dem Rendezvous erzählt hatte. Damit sie es brühwarm Iris weitersagte. Dass Iris danach im Sacher auftauchen würde, war so klar wie Leitungswasser gewesen. So lief das nun einmal zwischen den beiden. Iris und Max waren ihre zwei besten Freunde, aber ihr Beziehungschaos ging Anja so was von auf die Nerven. Deshalb hatte sie dieses Mal auch geschwiegen. Jemand anders musste Iris gesteckt haben, dass sich Max mit einer Frau traf.

»Was hat s’ denn getan?«, fragte sie im auffällig ruhigen Tonfall, um Max zu signalisieren, wie sehr sie das Gespräch inzwischen langweilte.

»Nichts.«

»Nichts?«

»Sie ist dagestanden.«

»Was für eine Unverschämtheit«, spottete Anja. Ein kurzes Summen ihres Handys verkündete eine eingegangene Nachricht.

»Du weißt genau, was ich meine.«

»Ist denn etwas passiert?«, fragte sie und warf einen raschen Blick aufs Display. Die SMS kam von Iris: Max ist so ein Wappler. »Hat sie dir eine Szene gemacht?«

»Nein.«

Seine Antwort fühlte sich falsch an. »Sicher?«

»Sicher.« Seine Stimme klang auf einmal rau. Er räusperte sich.

»Weißt du was, Max? Du beruhigst dich jetzt erst mal«, schlug sie vor. »Und morgen schaut alles schon ganz anders aus.« Sie fragte sich, ob seine Begleitung vom Frühlingsfest noch bei ihm war.

»Du weißt, dass das nicht so sein wird. Diesmal nicht«, brummte Max.

»Was heißt das?«, fragte sie alarmiert.

»Wusstest du, dass Timon und Iris etwas am Laufen haben?«

»Blödsinn.«

»Mein bester Freund bumst meine Frau.«

»Das glaub ich nicht.« Sie durchforstete ihr Hirn. Hatte Iris jemals eine diesbezügliche Andeutung gemacht? Sie konnte sich nicht erinnern. »Wer behauptet so etwas? Außerdem seid ihr getrennt, und du bist doch auch mit einer –«

»Aber nicht mit dir, ihrer besten Freundin«, unterbrach Max sie aufgebracht. »Und das zwischen dem Timon und der Iris läuft auch schon länger. Wahrscheinlich hat das eh jeder von euch g’wusst. Nur ich war zu deppert dazu.«

Anja setzte erneut zu einer Entgegnung an.

Doch in dem Moment brüllte Max: »Geht’s alle in Oasch!« und legte einfach auf.

Anja holte tief Luft. Auch das noch! Sie lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Sie hoffte, dass Max nicht auf die Idee käme, vor ihrer Tür aufzutauchen. Dann müsste sie sich sein Gejammer noch länger anhören. Iris und Timon, ging es in Endlosschleife durch ihren Kopf. War das möglich? Anja erinnerte sich an ihren letzten gemeinsamen Abend. Sie hatten im 7stern Bräu im siebten Bezirk zu Abend gegessen und waren danach noch in einer Bar in der Innenstadt versumpft. Hatte es Zeichen gegeben, die sie übersehen hatte? Einen zu langen Blick? Eine zufällige Berührung? Hatten die beiden vielleicht einmal gemeinsam die Gruppe verlassen? Nein. Unmöglich. Michaela und Timon waren seit drei Jahren ein glückliches Paar, und dennoch machte sich ein ungutes Gefühl in ihr breit. Was war im Sacher passiert? Sie öffnete die Augen wieder und rief Iris an. Da sich augenblicklich die Mailbox einschaltete, schrieb sie ihr eine Nachricht: