Mord in Schönbrunn - Beate Maxian - E-Book

Mord in Schönbrunn E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

In Schönbrunn bietet sich der Wiener Polizei ein grausiges Bild: Mitten im Park des Schlosses liegt – auf Rosen gebettet und in ein Brautkleid gehüllt – die Leiche einer Frau. Die Ermordete ist keine andere als die vor fünf Jahren verschwundene Exverlobte des prominenten Wiener Hoteliers Felix Beermann, der in wenigen Tagen seine neue Liebe heiraten will. Die Journalistin Sarah Pauli, die für eine Sonderausgabe gerade über Hochzeitsbräuche recherchiert, macht der Fall misstrauisch. Und als sie kurz darauf eine geheimnisvolle Botschaft mit Bezug zu dem Fund in Schönbrunn erhält, beginnt sie zu ermitteln. Dabei stößt sie auf weitere mysteriöse Spuren, die sie in gefährliche Nähe zum Täter bringen ...

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Buch

In Schönbrunn wird ein grausiger Fund gemacht: Im Park des Schlosses liegt die Leiche einer Frau, liebevoll zwischen Grablichtern aufgebahrt. Der blasse Körper ist in ein Brautkleid gehüllt, das dunkle Haar mit Rosen geschmückt, die Lippen rot geschminkt – wie Schneewittchen. Wie sich herausstellt, ist die Ermordete keine andere als die vor fünf Jahren verschwundene Exverlobte des prominenten Wiener Hoteliers Felix Beermann, der in wenigen Tagen seine neue Liebe heiraten will. Auch die Journalistin Sarah Pauli, die für eine Sonderausgabe des Wiener Boten gerade über Hochzeitsbräuche recherchiert, fasziniert der Fall. Als ihr kurz darauf ein Strauß roter Rosen geschickt wird, glaubt sie zunächst an einen heimlichen Verehrer. Doch dann entdeckt sie, dass sich hinter den Blumen eine geheimnisvolle Verbindung zum Mord in Schönbrunn verbirgt. Sie beginnt zu ermitteln und stößt dabei auf weitere mysteriöse Spuren, die sie in gefährliche Nähe zum Täter bringen …

Weitere Informationen zu Beate Maxian

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

BEATEMAXIAN

Mord inSchönbrunn

Der sechste Fall für Sarah Pauli Ein Wien-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Nachweis:

Die Zitate aus den Märchen der Gebrüder Grimm entstammen der Ausgabe Die Märchen der Gebrüder Grimm. Vollständige Ausgabe der »Kinder- und Hausmärchen« nach dem Wortlaut der Ausgabe letzter Hand (Göttingen 1857). Copyright © 1957 by Wilhelm Goldmann Verlag, München.

Originalausgabe Oktober 2016

Copyright © 2016 by Beate Maxian

Copyright © dieser Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: Getty Images / Sergio Del Rosso Photography;

FinePic®, München

Redaktion: Karin Ballauff

KS · Herstellung: Str.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18251-9V006

www.goldmann-verlag.de

Brautjungfern sollen die bösen Geister von der Braut ablenken und vertreiben. Deshalb tragen sie Kleider, die dem der Braut ähneln – eine Tradition, die auf die Römerzeit zurückgeht.

Prolog

Hell und freundlich die Wände. Kinderbettwäsche mit Bambi darauf. Ein rosarotes Wandtattoo über dem Bett:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,

wer ist die Schönste im ganzen Land?

Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«

Das gilt heute Morgen sicher nicht für mich, dachte sie. Sie atmete tief durch und setzte sich auf. Ihr Kopf schmerzte. Verfluchte Party! Sie hätte nicht so viel trinken sollen.

Sie sah sich um. Die Möbel waren weiß und rosarot. Märchenfiguren zierten die Tapete an den Wänden. Ein Glas Wasser stand auf dem Nachtkästchen. Daneben lag ein Aspirin. Sie riss die Verpackung auf und ließ die Brausetablette ins Glas fallen. Es perlte.

Was war letzte Nacht passiert? Sie versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Bildfragmente. Tanzende Menschen. Laute Musik. Ausgelassene Stimmung. Gelächter. Oberflächliche Gespräche. Filmriss.

Mit wem zum Teufel war sie nach Hause gefahren? Sie schloss die Augen und versuchte, sich an den Moment des Aufbruchs zu erinnern. Eine Szene, konturenlos, unscharf. Nicht einmal eine vage Vermutung. Sie öffnete die Augen wieder. Der Einrichtung nach zu urteilen lag sie in einem Kinderzimmer. Sie trank das Glas ex, stellte es zurück und stieg schwerfällig aus dem Bett. Gott, war ihr das peinlich! Sie würde sich, bei wem auch immer sie gelandet war, entschuldigen und so schnell wie möglich nach Hause fahren. Felix, dachte sie. Er macht sich sicher schon Sorgen. Was hieß Sorgen? Er war sicher schon in voller Panik, weil sie letzte Nacht nicht nach Hause gekommen war.

Sie suchte nach ihrer Handtasche, fand sie jedoch nicht. Ihr wurde übel, und um sie herum begann sich alles zu drehen. Hatte man ihr gestern womöglich etwas in den Wein gemischt?

Sie bemühte sich um eine gerade Haltung, ging zur Tür, öffnete sie und kam in ein Wohnzimmer. Zum Glück war niemand anwesend. Ihre Blase meldete sich. Wo war hier das Klo? Sie entschied sich für eine schmale weiße Tür und war erleichtert, auf Anhieb die richtige erwischt zu haben. Auch hier zierte eine Tapete mit Märchenmotiven die Wand. Sie setzte sich und pinkelte. Ihr Blick musterte die Handtücher mit Cinderella-Applikationen. Und noch ein rosarotes Wandtattoo.

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.«

Also bei aller Liebe zu Kindern – aber das schien ihr jetzt doch ein bisschen übertrieben, auch noch die Toilette danach auszurichten. Sie erhob sich, betätigte die Klospülung und wusch sich die Hände. »Klar, ein Schneewittchen-Seifenspender«, murmelte sie fast schon amüsiert.

Dann ging sie zurück in das Wohnzimmer. Noch immer niemand da. Ihre Handtasche! Sie musste doch irgendwo hier sein! Sie nahm eines der Kissen auf dem Sofa in die Hand und sah sich die Stickerei darauf an – ein kleines Mädchen saß neben einem Baum, vor ihm blickte ein weißes Kaninchen mit Weste gehetzt auf die Taschenuhr in seinen Pfoten.

»Alice im Wunderland«. Wo war sie hier bloß gelandet? In einem Märchenfilm? Man konnte es auch übertreiben. Sie ging zur Eingangstür und drückte die Klinke nach unten. Doch die Tür war verschlossen.

Sie klopfte mit der Handfläche dagegen.

»Hallo! Hört mich jemand?«

Wo war ihre verdammte Handtasche? Die Vermutung, sie auf der Party im Palais Pallavicini vergessen zu haben, drängte sich auf. Sie hörte Schritte. Sie kamen näher.

Na endlich!

»Hallo!«, rief sie noch einmal.

Am unteren Ende der Tür öffnete sich eine Luke. Eine Flasche Mineralwasser rollte durch die schmale Öffnung.

Fünf Jahre später

Donnerstag, 16. April

1

SCHNEEWITTCHEN

Sie lief.

Drei Mal die Woche. Immer derselbe Weg. Valentina Macek war so etwas wie ein Gewohnheitstier. Sie begann mit ihrer Joggingrunde jeden Morgen um halb sieben. Sobald die Tore zum Schlosspark Schönbrunn geöffnet wurden, passierte sie das Meidlinger Tor. Um diese Uhrzeit begegnete ihr in dem weitläufigen Areal kaum jemand. Sie genoss die Stimmung in der Frühe: kühle Luft, friedliches Vogelgezwitscher und der Duft eines noch unverbrauchten Tages. Inzwischen war der Frühling in Wien erwacht. Frühjahrsblüher schossen aus der Erde, Bäume schlugen aus, und Menschen, die darauf allergisch waren, liefen mit knallroten Augen und triefender Nase herum. Zwei Wochen zuvor hatte es in Österreich vielerorts noch geschneit, und heute kletterten die Temperaturen im Laufe des Tages bereits auf sommerliche 28 Grad – das jedenfalls hatte der Wetterbericht im Radio prophezeit.

Als sie am Ende der Lichte Allee ins Große Parterre einbog, schickte ihr Gehirn die Botschaft, dass an dem Bild der Parkanlage etwas nicht stimmte. Komisch, dachte sie noch im Laufen. Unvermittelt fiel ihr die Märchenszene mit Schneewittchen im gläsernen Sarg dazu ein. Eine Figur oder Puppe – so genau konnte sie das nicht erkennen – lag wie aufgebahrt auf einem Tisch mitten auf dem breiten Weg zwischen den Rasenflächen. Vom Schloss aus gesehen die dritte Reihe der Parterrefelder. Brennende Grablichter umrahmten das seltsame Setting. Eine Kunstinstallation? Oder wurde hier gerade eine Filmszene gedreht? Allerdings fehlten die Crew und die Kameras. Hier war überhaupt weit und breit kein Mensch zu sehen, weder weiter vorne beim Neptunbrunnen noch sonst irgendwo.

Deshalb blieb Valentina Macek stehen und schärfte ihren Blick. Neugierde machte sich in ihr breit. Valentina stand zu dieser kleinen Schwäche: neugierig zu sein. Sie machte das Leben spannender. Valentina gab sich einen Ruck und ging auf die Szene zu. Eine Frau lag dort. Sie trug ein langes weißes Spitzenkleid, das seitlich über den Tisch drapiert worden war. Sie hielt die Hände über der Brust gefaltet, und ihre Augen waren geschlossen. Kleine zartrosa Rosen zierten das zu einer eleganten Frisur hochgesteckte brünette Haar, und ihre Lippen waren rot geschminkt. Eine schlafende Braut, dachte Valentina. Doch war das wirklich eine Kunstinstallation? Valentina zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen, und erkannte auf der Stelle, dass diese Frau tot war. Augenblicklich spannten sich Valentinas Muskeln an, und reflexartig wollte sie davonlaufen. Doch ihr Geist sträubte sich dagegen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte die aufgebahrte Frau an.

Unter dem weißen Kleid lugten zarte Arme hervor, die Handgelenke so schmal wie die eines Kindes. Ihre blasse Haut war durchscheinend wie Seidenpapier, unter dem sich die Knochen deutlich abzeichneten. Ein Wesen wie aus der Feder der Brüder Grimm, wären da noch Haare schwarz wie Ebenholz gewesen. Schneewittchen. Die Haut so weiß wie Schnee, die Lippen so rot wie Blut …

Valentina traute sich nicht, näher an den Tisch heranzugehen oder die Tote gar zu berühren, aus Angst, sie zu zerbrechen. Die Frau war tot, und irgendjemand hatte sie sorgsam hier aufgebahrt. Valentina war sich plötzlich sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Ihr fiel nur partout nicht ein, wann und wo das war.

Sie griff nach dem Handy in ihrer Bauchtasche und rief die Polizei an.

Während sie wartete, tauchten immer mehr joggende und walkende Menschen auf, blieben neugierig stehen und fragten sie, was geschehen sei. Was Valentina ihnen selbstverständlich nicht beantworten konnte.

Ob sie Ruth anrufen sollte, um ihr Bescheid zu geben, dass sie erst später ins Büro kommen würde? Da sah sie die Polizei kommen. Die Gruppe aus Schaulustigen um Valentina und den Tisch herum löste sich langsam auf und bildete stattdessen ein Spalier, das den Polizisten den Weg bis zu der Toten säumte.

Einer der Älteren in Uniform fragte in die Menge, wer angerufen habe. Valentina meldete sich. Der Uniformierte notierte ihren Namen, die Anschrift und Telefonnummer, obwohl sie das schon alles am Telefon angegeben hatte. Dann beantwortete sie ein paar Fragen und versprach zu warten, bis die Ermittler der Kriminalabteilung eintrafen. Der Rest der Umstehenden wurde aufgefordert weiterzugehen. Nur widerwillig setzten die Leute sich in Bewegung, doch die nun gezogenen Absperrbänder drängten sie immer weiter vom Geschehen weg. Das geschäftige Treiben erinnerte Valentina an einen Bienenschwarm. Es war nicht erkennbar, wer wofür zuständig war, doch schien die chaotisch anmutende Vorgehensweise einer Logik zu folgen und äußerst produktiv zu sein. Denn innerhalb kürzester Zeit war der gesamte Fundort abgesperrt. »Fundort« – das klang, als hätte sie ein verloren gegangenes Schmuckstück wiedergefunden.

Bald darauf traf ein Schwarm neuer Bienen ein. Sie trugen weiße Overalls, packten verschiedenste Instrumente aus, fotografierten, prüften, vermaßen. So etwas kannte Valentina nur aus dem Fernsehen. Sie vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, als ein recht massiv wirkender Mann in ihrem Blickfeld erschien.

»Martin Stein, ich bin der Chefinspektor. Würden Sie mir bitte noch einmal erzählen, was passiert ist?«, fragte er, und es war keine Frage, sondern eine Anweisung.

Valentina schilderte zum wiederholten Mal die Ereignisse des frühen Morgens und suchte in den Augen des Inspektors nach einer Reaktion. Doch der stechende Blick des Ermittlers verriet keinen seiner Gedanken. Unbewegt sah er sie an, während sie sprach. Nein, sie habe die Tote nicht näher gekannt, und ja, sie jogge immer um diese Uhrzeit. Sie sei nämlich Frühaufsteherin und beginne bereits um halb neun zu arbeiten.

»Zuerst dachte ich, dass hier gerade ein Film gedreht wurde. Oder dass es eine Kunstinstallation ist. Jedenfalls hab ich erst begriffen, dass sie tot ist, als ich näher an sie herangegangen bin.«

Valentina senkte den Kopf. Ihre Finger verkrampften sich ineinander, ihre Knöchel traten weiß hervor. Sie sah wieder auf.

»Und dann habe ich die Polizei angerufen.«

Die Antwort auf die Frage nach ihrem Beruf entlockte dem Mann ein spöttisches Lächeln, und er wiederholte das Wort »Hochzeitsplanerin«, als habe Valentina es soeben erst erfunden.

»Ja. Seit es im Fernsehen diese Hochzeitssendungen gibt, ist’s halt immer mehr angesagt, sich Hochzeitsplaner zu leisten«, fügte Valentina fast entschuldigend hinzu. Sie strich sich über ihre ebenfalls brünetten langen Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Der Ermittler musterte sie. In dem Moment schien ihm etwas einzufallen, denn sein Blick durchdrang sie wie ein Röntgenstrahl: »Die Tote trägt ein Brautkleid.«

Valentina schluckte. »Das bedeutet aber noch nicht, dass ich sie kennen muss!« Sie klang erschrockener als sie wollte.

Doch der Ermittler zeigte sich nicht weiter beeindruckt. »Kennen Sie die Frau?«

»Ich … weiß es nicht. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.« Sie hob unsicher die Hände.

»Woher könnten Sie sie kennen?«

»Ich weiß es einfach nicht … Kann auch sein, dass ich mich täusche.«

»Haben Sie ein gutes Personengedächtnis?«

»Ja. Normalerweise schon.«

Was waren das für eigenartige Fragen? Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann gar nicht klar denken. Eine Leiche zu finden ist der blanke Horror, da kommt einem ja alles Mögliche in den Sinn.«

»Was?«

»Wie, was?«

»Was kam Ihnen in den Sinn?«

Valentina schüttelte erneut den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich hab mich gefragt, warum ausgerechnet mir das passieren muss.«

Der Polizist machte sich Notizen.

»Haben Sie sonst irgendjemanden gesehen?«

Valentina schüttelte den Kopf. »Nein. Niemanden.«

»Laufen Sie öfter hier?«

»Nein. Ja.«

»Also was jetzt?«

»Ja … Ja, ich laufe drei Mal die Woche hier, immer dieselbe Route.«

Er schien nachzudenken.

»Vielleicht war’s eben kein Zufall, dass ausgerechnet Sie die Tote gefunden haben.«

Wollte der Kerl sie provozieren?

»Der blanke Horror«, wiederholte sie.

Wenn sie geahnt hätte, dass ihr heute so etwas passiert, wäre sie zuhause geblieben oder zumindest woanders gelaufen. Es gab viele Wege im Schlosspark Schönbrunn, etwa die Rusten Allee entlang und beim Neptunbrunnen den Schlossberg hinauf zur Gloriette … Allerdings hätte sie auch dann die Tote entdeckt. Wäre. Hätte. Wäre das Leben leichter, wenn es keine Möglichkeitsform gäbe? Sie versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Ihr Magen knurrte.

»Sie können jetzt gehen. Ihre Daten haben wir ja. Wenn es noch Fragen gibt, setzen wir uns mit Ihnen in Verbindung. Oder soll Sie jemand nach Hause bringen?«

Valentina schüttelte den Kopf. »Nein, danke, es geht schon.« Sie atmete erleichtert auf.

In dem Moment trat eine junge Polizistin neben den Chefinspektor und zog ihn zur Seite. Valentina rührte sich nicht vom Fleck, als ahnte sie das bevorstehende Unheil. Die Polizistin gab dem Ermittler einen Ausweis und flüsterte ihm irgendetwas zu. Valentina sah, wie sich die Augenbrauen des Mannes in die Höhe schoben und wusste, dass es noch nicht vorbei war.

Dann kam der Ermittler zu ihr zurück. »Kennen Sie den Namen Daniela Meier?«

»Daniela Meier«, wiederholte Valentina leise. In Österreich hießen Millionen von Menschen Meier. Doch dann begriff sie augenblicklich, und sie wurde blass.

»Ist die Tote etwa Daniela Meier?«

Martin Stein nickte. »Wir haben ihren Ausweis im Ausschnitt gefunden.«

Valentina schluckte. Wer steckte einer Leiche den Ausweis ins Dekolletee? Schneewittchen. Sie sah aus wie Schneewittchen, dachte sie.

2

ROTE ROSEN

Was ist mir da zu Ohren gekommen?«

Jetzt ist es also so weit, dachte Sarah Pauli.

Die Journalistin hatte mit sich selbst gewettet, wie lange es dauern würde, bis die Gesellschaftsreporterin Conny Soe von dem Geschenk erfuhr, das sie erhalten hatte. Sie tippte auf eine halbe Stunde – und hatte gewonnen. In Gedanken klopfte sie sich anerkennend auf die Schulter. Wien war ein Dorf und der Wiener Bote der dazugehörende Dorfplatz. Ihre Kollegin war die Königin darin, heimliche Affären aufzudecken, und das hier roch nach einem Verhältnis der Extraklasse. Sarah seufzte laut und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück: Lasset die Spiele beginnen!

»Unsere Sarah!«, sagte Conny belustigt. »Was sagt man dazu?«

Conny und Gabi – Sarahs Freundin und zugleich Sekretärin des Herausgebers – lehnten in der offenen Tür zu Sarahs Büro. Keine der beiden Frauen machte Anstalten, sich in nächster Zeit von dort wegzubewegen.

Conny trug ein luftiges ärmelloses Kleid in Hellgelb, farblich perfekt abgestimmt auf ihre kupferrote Löwenmähne. Die Ohrringe glitzerten wie Morgentau im Sonnenschein, und natürlich hatten ihre High Heels dieselbe Farbe wie das Kleid. Gabi stand in weißer Bluse, Jeans, blauen Sandalen und rot lackierten Fußnägeln neben ihr. Mit unverhohlener Neugier starrten die beiden den Blumenstrauß an, der mangels passender Vase in einem großen Eimer voller Wasser vor Sarahs Schreibtisch sein Dasein fristete. Sissi, Connys schwarzer Mops, stand zwischen ihnen und wedelte heftig mit dem ganzen Hinterteil. Worüber sich der kleine Hund auch immer so freuen mochte, blieb ein Geheimnis, denn er hatte weder die Frauen noch den Blumenstrauß im Blick.

»Rote Rosen«, meinte Gabi, und ihre tiefblauen Augen blitzten belustigt auf. »Was sagt man dazu?«, wiederholte sie Connys Worte.

»Ja, was sagt man dazu?«, wiederholte nun auch Sarah und tat ebenso überrascht. »Mädels, ihr könnt es noch zehn Mal wiederholen. Ich weiß trotzdem nicht, was es mit diesen Rosen auf sich hat.«

»Von David sind sie jedenfalls nicht«, stellte Conny fest, was allen im Raum und vermutlich längst der ganzen Redaktion klar war.

»Nein, von David sind sie nicht«, bestätigte Sarah dennoch.

Natürlich wurde im Wiener Boten darüber geredet. Über jede Kollegin, die einen riesengroßen Blumenstrauß via Botendienst bekommen hätte, wäre getratscht worden. Dass dieser ausgerechnet in Sarahs Büro gelandet war, machte die Sache jedoch doppelt spannend. Immerhin war sie mehr als eine Kollegin. Sie war die Lebensgefährtin des Herausgebers des Wiener Boten, und David Gruber war auch in den Augen der Kolleginnenschaft ein erfolgreicher und vor allem attraktiver Mann. Doch David hätte Sarah einen solch üppigen Strauß wohl eher in trauter Zweisamkeit überreicht als durch einen Fahrradkurier in Radlerhose und vor Publikum. Insofern sprach viel dafür, dass Sarah einen heimlichen Verehrer hatte.

»Sagt, habt ihr nichts Besseres zu tun? Solltest du dich nicht längst der Romy widmen? Ist doch bald die Preisverleihung. Es gibt sicher jede Menge Promis in der Stadt, die etwas dazu sagen wollen. Wer ist denn dieses Jahr nominiert?« Sie versuchte, vom Thema wegzukommen, und wusste, dass Conny sich die Verleihung des Film- und Fernsehpreises nicht entgehen ließ, auch wenn dies von einer Mitbewerber-Zeitschrift organisiert wurde. Conny war Gast in der Wiener Hofburg, wo die Auszeichnung alljährlich über die Bühne ging. Konkurrenz hin oder her. Der Wiener Bote berichtete auf Connys Seite über die Gewinner. Inzwischen hatte man dort auch das Sisi Museum zur Gänze wiederhergestellt, das nach einem Handgranatenattentat erhebliche Schäden aufgewiesen hatte.

»Und dich, Gabi«, wandte Sarah sich an ihre Freundin, »wird David gewiss schon vermissen. Also, war schön, euch gesehen zu haben, und jetzt ciao. Baba!«

Gabi und Conny warfen sich einen raschen Blick zu, kicherten, stießen sich praktisch synchron vom Türrahmen ab und kamen näher.

»Es ist so ruhig, dass ich sogar schon überlegt habe, meinen Schreibtisch aufzuräumen«, sagte Conny, was sich so anhörte, als ginge es um eine unmöglich zu bewältigende Aufgabe.

Sarah seufzte erneut, diesmal theatralisch.

»Das müssen ja mindestens hundert sein«, stellte Gabi fest.

»99«, entgegnete Sarah.

»Warum 99?«, fragte Conny. Sarah sah ihr an, dass sie das Thema nur hypothetisch interessierte. Während sie sich auf den Besucherstuhl fallen ließ, deutete sie Gabi mit einer Handbewegung, auf dem zweiten Stuhl Platz zu nehmen. Die folgte der Aufforderung, und Sarah verstand: Das hier würde eine längere Unterredung werden.

»Weil man Blumen immer in einer ungeraden Stückzahl verschenkt. Eine gerade Zahl ist ein schlechtes Omen.«

»Blödsinn«, meinte Conny. »Das Universum wird schon keine schwarzen Wolken schicken, falls in dem Kübel genau hundert Blumen stecken. Macht optisch gesehen auch keinen Unterschied.«

»Oh doch«, widersprach Sarah. »Eine ungerade Zahl lässt sich einfach besser arrangieren. Eine Blume schaut in einer Vase besser aus als zwei. Und drei machen sich besser als zwei.«

»Na, wenn du meinst. Doch das solltest du nicht uns erzählen, sondern deinem Lover.«

»Es gibt keinen Lover.«

»Einen Verehrer?«

»Keinen Verehrer.«

»Erzähl’s ihm trotzdem.«

»Es gibt k…«

»Entschuldige mal. Da lässt dir ein Kerl zig Rosen zukommen, und du behauptest, er würde dich nicht verehren? Das klingt ja so, als wollte Meg Ryan in ›Schlaflos in Seattle‹ Tom Hanks nur die Aussicht vom Dach des Empire State Buildings zeigen!«

Sarah hob abwehrend die Hände. »Okay, okay. Ich hab’s begriffen.«

»Wie auch immer«, mischte sich nun Gabi wieder in das Gespräch ein. »Der Strauß ist der absolute Wahnsinn. Da hat jemand richtig viel Geld ausgegeben. Vorausgesetzt, es handelt sich nicht um einen Rosenzüchter.«

»Warum?«

»Na, den hätt die Blumenpracht doch viel weniger gekostet.«

»Ein Rosenzüchter«, wiederholte Conny, als käme ihr soeben die Erleuchtung, wer hinter dem Geschenk stecken könnte.

»Komm her, Sissi«, forderte Sarah den Mops auf, der freudig auf sie zuwackelte. »Hör gar nicht auf die beiden.« Sie kraulte dem Hund die Ohren. »Denen ist fad im Schädel, deswegen haben’s so depperte Ideen. Wir beide sind die einzig G’scheiten im Raum, und wir wissen, dass das ein Schmarrn ist, den die da von sich geben, gell?«

Der Hund wedelte.

In dem Moment schien Conny etwas einzufallen. »99 Rosen, na klar! Du hast doch mal einen Artikel über die Bedeutung von Rosen geschrieben, war da nicht was mit 99?«

Sarah hörte auf, Sissi zu kraulen.

»Du liest meine Artikel?«

»Das Thema hatten wir schon mal«, entgegnete Conny. »Ja. Wenn mir extrem fad ist.«

Die Hündin trollte sich unter den Schreibtisch. Sarah sah demonstrativ auf ihren Bildschirm. Sie dachte gar nicht daran zu antworten, weil das nur Öl ins Feuer gegossen hätte. Stattdessen überflog sie die ersten beiden Sätze des Artikels, an dem sie geschrieben hatte, bevor die beiden unangemeldet aufgetaucht waren. Darin ging es um Hochzeitsbräuche. Wo sie herkamen, welche Bedeutung sie hatten. Der Wiener Bote plante eine Sonderbeilage zum Thema Heiraten. Sarah sollte über Traditionen und Riten schreiben.

»Ihr seht aber schon, dass ich arbeite, oder?«

»Jetzt sag schon!«, drängte nun auch Gabi auf eine Antwort.

»Was soll ich denn sagen?«, fragte Sarah unschuldig.

»Tu nicht so, als hättest du meine Frage nicht gehört«, brummte Conny.

Sarah lehnte sich im Stuhl zurück. »Also gut. 99 rote Rosen gelten …« Sie machte eine Kunstpause, weil sie die Reaktion der beiden vorausahnte, »als lebenslanges Liebesversprechen.«

»Ha!«, triumphierte Conny. »Von wegen 99 Rosen lassen sich in einer Vase besser arrangieren! Da fällt mir ein, hat nicht Aphrodite ihren Ehemann Ares mit Adonis betrogen? Der dann seinen Nebenbuhler tötete?«

»Wie kommst du denn jetzt auf Aphrodite?«

»David Gruber und sein Nebenbuhler. Die Geschichte hatten wir auch schon mal«, spielte Conny auf eine angebliche Affäre zwischen Polizeiinspektor Stein und ihrer ermordeten Kollegin Hilde Jahn an, die zu dem Zeitpunkt mit dem Herausgeber des Wiener Boten liiert gewesen war.

»Was war jetzt mit Aphrodite und den Rosen?«, drängte Gabi.

»Auf dem Weg zum Sterbebett ihres Geliebten stieg Aphrodite in die Dornen von Rosen. Ihr Blut färbte daraufhin die weißen Rosen rot. Deshalb steht die weiße Rose für die Reinheit der Liebe und die rote für Begierde und Leidenschaft«, erläuterte Sarah. »Ich verstehe allerdings noch immer nicht, was das mit mir zu tun haben soll.«

Conny grinste breit. »Jetzt rück endlich mit dem Namen raus! Komm Sarah … Uns kannst du’s doch sagen. Bleibt ein Geheimnis.«

Sarah musste laut lachen. »Sicher, Conny. Bei dir bleibt alles ein Geheimnis. Zumindest so lange, bis du’s jemandem erzählst …«

»Wer?«, hakte Conny unbeirrt nach.

»Ich weiß es nicht. Ehrlich.«

»War denn keine Karte dabei?«, fragte Gabi.

»Doch.«

»Jetzt lass dir halt nicht alles aus der Nase ziehen!«, rief Conny ungeduldig aus. Sie wedelte mit ihren Fingern durch die Luft, was so viel bedeutete wie: Gib mir die Karte.

Sarah schob eine kleine Grußkarte über den Tisch. Auf der Vorderseite war das Schloss Schönbrunn abgebildet. »Da steht nichts Aufschlussreiches drauf.«

Conny klappte die Karte auf. »In großer Verbundenheit. Ihr größter Fan. Jacob«, las sie vor. »Jacob mit c, wie vornehm!« Sie behielt die Karte in der Hand und sah wieder auf.

»Das nennst du nicht aufschlussreich?« Ihr Blick wanderte zuerst zu den Rosen und dann zu Gabi. »Gabi, ich glaub, da hat sich tatsächlich ein Fan der Hokuspokus-Seite in unsere Sarah verliebt!«

Sarahs wöchentliche Kolumne zum Thema Aberglaube in der Wochenendbeilage des Wiener Boten wurde intern nach wie vor als Hokuspokus-Seite bezeichnet. Sarah störte das nicht. Sie war daran gewöhnt, genauso wie von Fans ihrer Artikel kleine Aufmerksamkeiten per Post geschickt zu bekommen. Doch bisher hatten solche Geschenke immer zum Thema gepasst. Rote Rosen hatte ihr noch niemand geschickt. Sarah vermutete, dass der Absender die Bedeutung der Blumen kannte. Da sie jedoch nicht wusste, wer dahintersteckte, hatte sie beschlossen, den Strauß zu ignorieren.

»Kennst du einen Jacob?«

»Um Himmels willen, Conny, was du immer gleich denkst! Nein, ich kenne keinen Jacob, und nein, ich habe keine Affäre. Ist das eigentlich genetisch oder beruflich bedingt, dass du hinter allem ein amouröses Geheimnis witterst?«

»Eigenartig«, sinnierte die Gesellschaftsreporterin, Sarahs Frage ignorierend. »Ich kenne gleich drei, die so heißen. Und du, Gabi?«

»Zwei.«

»Okay.« Sarah hob die Hände. »Gebt mir je einen ab, dann kenne ich auch zwei Jacobs, und wir sind alle glücklich.«

»Sag, war da nicht kürzlich dieser Kerl im Panorama?«, fragte Gabi.

»Der, den du angeblich gar nicht kanntest«, erinnerte sich nun auch Conny.

»Genau. Der hübsche Banker«, sagte Gabi mit Betonung auf Banker. »Wie hieß der noch mal?«

In der vergangenen Woche waren sie zusammen im Panorama gewesen. Sarahs Bruder Chris arbeitete dort als Barkeeper, um sein Medizinstudium zu finanzieren. David war an jenem Abend nicht dabei gewesen. Dieser Banker hatte mit Sarah geflirtet und ihr einen Drink spendiert, weil er gedacht hatte, sie sei ohne Begleitung im Lokal. Sarah hatte die Situation jedoch gleich klargestellt, und sie, Gabi und Conny hatten daraufhin einen recht lustigen Abend mit ihm verbracht.

»Sein Name war nicht Jacob«, sagte Sarah nachdrücklich.

»Vielleicht ist Jacob sein Pseudonym«, grinste Conny.

Sarah kniff die Augen zusammen. »Conny!«

»Wer auch immer dahintersteckt, ich hoffe nur, er belässt es beim Blumenschicken. Was, wenn er mehr will?« Die Ernsthaftigkeit, mit der Conny das sagte, erschreckte Sarah fast.

»Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht.«

»Conny hat recht«, unterstützte nun auch Gabi diese Befürchtung. »Manche Fans überschreiten die Grenze, weißt du.«

»Mädels! Bitte«, flehte Sarah. »Ich bin doch kein Star, den man stalkt. Ich habe lediglich einen Blumenstrauß geschickt bekommen. Also macht jetzt keine Staatsaffäre daraus.«

»Blühen Rosen eigentlich nicht erst im Sommer?«, gab Gabi zu bedenken. »Wo hat der denn um diese Jahreszeit so viele her?«

»Stimmt! Daran hab ich noch gar nicht gedacht«, grübelte Conny jetzt ebenfalls.

Nicht auch noch diese Diskussion!

»Die kommen sicher aus einem Glashaus in Holland oder Bolivien«, schlug Sarah genervt vor. »Hey!« Sie zeigte auf den Bildschirm. »Ich muss jetzt wirklich wieder was tun.«

Die beiden erhoben sich gemächlich.

»Du sagst aber, wenn er sich meldet oder noch einen Strauß schickt. Versprichst du’s?«, meinte Gabi.

»Aber natürlich.« Ihr Tonfall verriet, dass sie das auf gar keinen Fall tun würde. »Wenn noch ein Strauß kommen sollte, bin ich sicher, dass die ganze Redaktion es innerhalb von Minuten weiß.«

Nachdem Gabi und Conny ihr Büro endlich verlassen hatten, versuchte Sarah, sich wieder auf ihren Artikel zu konzentrieren. Während sie über die Tradition des Brautjungfernbrauches schrieb, darüber, dass diese den Blick der Geister, die der Braut Böses wollen, auf sich zu lenken versuchen, wanderten ihre Gedanken wieder zu den Rosen.

Was, wenn es doch eine gerade Anzahl war?

Sarah beschlich ein ungutes Gefühl.

Na super, jetzt hatten ihre beiden Kolleginnen es tatsächlich geschafft, sie zu verunsichern. Nervös stand sie auf, ging um den Schreibtisch herum, kniete nieder und begann zu zählen.

Wenig später wusste sie, dass 108 Rosen in dem Eimer standen.

3

WIDERSPRÜCHE

Eine junge Frau, vermutlich die Sekretärin, stellte eine Kanne Kaffee und zwei Tassen auf den Tisch.

»Danke.« Martin Stein nickte der Frau zu und entließ sie damit aus dem Raum. Dann zog er den Stuhl von seinem Schreibtisch weg und deutete Valentina, darauf Platz zu nehmen.

Sie waren von Schönbrunn aus direkt ins Präsidium gefahren, nachdem klar geworden war, dass Valentina die Tote gekannt hatte. Und weil immer mehr Leute von der Presse gekommen waren, was den Chefinspektor offensichtlich genervt hatte.

Valentina ließ sich auf den freien Stuhl fallen.

»So, Frau Macek. Sie wissen also, wer Daniela Meier ist«, begann Stein und fasste die Fakten noch einmal zusammen, während er sich auf dem Stuhl gegenüber vom Schreibtisch niederließ. Valentina sah auf die große Wanduhr. Es war inzwischen zehn. In zwei Stunden hatten Ruth Neuberg und sie einen Termin.

»Ich muss spätestens um halb zwölf im Büro sein«, sagte sie. »Ein Paar kommt zur Erstberatung. Schaffe ich das? Ich muss vorher nämlich noch nach Hause.«

»Warum haben Sie uns nicht gleich gesagt, dass Sie die Tote kannten?«

»Ich habe sie nicht erkannt. Sie kam mir nur irgendwie bekannt vor. Das ist ein Unterschied. Persönlich kannte ich sie ja auch gar nicht, nur von Fotos. Wenn ich den Termin nicht schaffe, muss ich meine Teilhaberin anrufen. Die Agentur gehört uns beiden. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.«

»Warum haben Sie nicht gleich erkannt, dass es sich bei der Toten um Daniela Meier handelt?«, stellte der Ermittler wieder dieselbe Frage, nur etwas anders formuliert.

Er schenkte ihnen beiden Kaffee ein und reichte Valentina eine Tasse.

»Hören Sie mir nicht zu? Ich muss dringend in der Agentur anrufen!«

Der Chefinspektor stellte seine Tasse ab und lehnte sich zurück. »Dann rufen Sie an!« Es klang unbeteiligt, doch seine zusammengekniffenen Augen signalisierten Konzentration und behielten sie scharf im Visier.

»Schaff ich’s bis halb zwölf?«

»Wenn Sie mir alles erzählen, was ich wissen muss, wahrscheinlich schon.«

Valentina gab Ruth Bescheid, dass sie später ins Büro kommen würde, es aber zu dem Erstgespräch vermutlich noch schaffen würde. Während sie telefonierte, sah Stein sie unverwandt an. Ihr Herz raste. Dabei hatte sie doch gar nichts verbrochen! Warum fühlte sie sich dann, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt? Sie musste das Gespräch mit Ruth kurzhalten und sie auf später vertrösten, um ihre vielen Fragen dann in Ruhe beantworten zu können. Nachdem sie auf den roten Knopf ihres Handys gedrückt hatte, beugte sich Martin Stein wieder vor.

»Und?«

»Daniela Meier war unsere Kundin. Also …« Sie räusperte sich, griff nach ihrer Tasse und drehte sie in der Hand. »Also nicht wirklich. Irgendwie halt.«

»Irgendwie?«

»Also, nicht wirklich«, wiederholte Valentina und trank einen Schluck Kaffee.

»Irgendwie? Nicht wirklich? Wie jetzt?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

Martin Stein verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Bitte erzählen Sie! Im Gegensatz zu Ihnen habe ich nämlich Zeit.«

Valentina seufzte leise.

»Ruth arbeitete vor sechs Jahren noch als freie Eventmanagerin für Unternehmen«, begann sie, »und ich als Grafikerin bei einer Werbeagentur.«

»Seit wann kennen Sie und Frau Neuberg einander?«

»Seit sieben oder acht Jahren. So genau kann ich’s nicht sagen.«

»Wo haben Sie sich kennengelernt?«

»Ist das wichtig?«

»Im Moment ist alles wichtig.«

»Das Produkt eines Werbekunden wurde präsentiert. Ruth wurde damals für die Organisation des Events engagiert, und ich hatte das Layout für die Verpackung entworfen. Ruth und ich haben uns von Anfang an gut verstanden und auch gut zusammengearbeitet. Daraus hat sich dann eine Freundschaft entwickelt.«

Valentina begann nervös auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Sie fühlte sich in Steins Gegenwart nicht wohl.

»Irgendwann hat Ruth mich darum gebeten, die Gestaltung der Hochzeitseinladungen für eine gute Freundin von ihr zu übernehmen. Nicht offiziell, sondern privat. Was ich dann auch gemacht habe. Ich wusste nicht, für wen diese Einladungen waren, weil Ruth immer nur von einer guten Freundin sprach, der sie bei den Vorbereitungen unter die Arme greifen wollte. Es gab ein Thema für die Hochzeit, das ich natürlich kannte und zu dem die Einladungen passen sollten.«

»Und was war das Thema?«

Valentina schluckte.

»Schneewittchen.«

Martin Stein machte sich eine Notiz. »Und Sie haben sich nicht danach erkundigt, wie diese gute Freundin Ihrer Freundin hieß?«

»Doch, natürlich. Ruth wollte es mir jedoch nicht verraten. Sie sagte nur, die Freundin sei prominent und wolle nicht, dass ich es wisse, weil das meine Kreativität beeinflussen könnte. Dabei haben wir’s dann belassen, und so wichtig war es mir auch wieder nicht.«

Dass die Meier eine ziemlich schwierige Kundin war, verschwieg Valentina an dieser Stelle. Sie hatte an jedem ihrer Entwürfe damals etwas auszusetzen gehabt. Alles wusste sie besser. Nicht nur bei den Einladungen und Tischkarten, sondern auch bei der Torte, der Location … eigentlich bei allem, wie Valentina später erfuhr.

»Wann haben Sie erfahren, dass es sich um Daniela Meier handelte, für die Sie Ihre Entwürfe anfertigten?«

»Viel später. Eigentlich erst kurz nachdem sie dann verschwunden war.«

»Wie kann das sein? Stand denn kein Name auf den Einladungen?«

»Meine Entwürfe haben ihr nicht gefallen«, gab Valentina zu. »Ruth rückte irgendwann damit heraus, dass ihre Freundin die Einladungen doch lieber selbst gestalten wollte. Und damit war die Geschichte für mich erledigt.«

»Hat Sie das nicht geärgert?«

»Doch, natürlich hat es mich geärgert. Aber als Ruth mir das Honorar in die Hand drückte …« Sie unterbrach sich und sah den Ermittler erschrocken an.

»Keine Angst. Ich bin nicht vom Finanzamt«, schlussfolgerte er richtig. »Erzählen Sie einfach weiter.«

»Das war’s auch schon.«

Valentina starrte an die Wand hinter Stein und blieb an einem Fleck auf dem weißen Putz hängen.

»Ein paar Wochen bevor sie verschwand, brachte Ruth ihr Hochzeitskleider zur Anprobe mit.« Valentina riss sich vom Anblick des Flecks an der Wand los und sah den ihr gegenübersitzenden und aufmerksam zuhörenden Ermittler wieder an. »Sie hatte offenbar vorher noch keine Zeit gehabt, eines auszuwählen.«

»Wissen Sie noch, wie viele Kleider für diese Anprobe zur Verfügung standen?«

Valentina dachte kurz nach. »Nein. Das müssen Sie Ruth Neuberg fragen.«

Der Ermittler schrieb sich wieder etwas auf.

»Ihr hat keines davon gefallen.«

Stein sah auf. »Wie bitte?«

»Die Kleider. Keines der Kleider, die Ruth mitgebracht hatte, gefiel ihr. Also hat Ruth sie wieder zurückgebracht und stattdessen andere geholt. Wenn ich mich richtig erinnere, ging das zwei oder drei Tage so weiter, bis endlich das passende dabei war. Die Irene musste es dann aber noch enger machen.«

»Handelte es sich um dasselbe Kleid, das die Tote heute Morgen anhatte?«, fragte Stein.

»Ich glaube schon, aber genau kann ich’s nicht sagen. Ich habe das Kleid ja nie gesehen. Es wurde aus Irenes Brautsalon gestohlen. Irene Bucher«, erläuterte Valentina. »Ihr Brautsalon ist im dritten Bezirk, und sie weiß bestimmt, ob es sich um besagtes Brautkleid handelt. Jedenfalls wurde es gestohlen, nachdem Daniela Meier verschwunden war.«

Wieder notierte Stein sich etwas.

Valentina schwieg einen Moment.

»Ruth hat die Kleider nach der Anprobe immer sofort zu Irene zurückgebracht«, sagte sie, »weil Felix, der Bräutigam, das Kleid vor ihrer Hochzeit nicht sehen durfte. Das bringt nämlich Unglück.«

»Das hab ich auch schon mal gehört«, brummte der Ermittler.

»Den Rest kennen Sie bestimmt. Daniela Meier war damals plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Sie wurde gesucht, aber nie gefunden.«

»Bis heute«, merkte Stein an.

»Bis heute«, wiederholte Valentina tonlos.

»Und das alles geschah vor fünf Jahren?«

»Ja, wie ich schon sagte. Die Einladungen habe ich natürlich schon lange vorher entworfen.«

Stein warf einen Blick auf seine Notizen. »Etwa ein Jahr davor. Ist das korrekt?«

Valentina nickte. »Ja. Etwa.«

»Sie sagten vorhin, diese Anprobe hätte ein paar Wochen früher stattgefunden. Geht das etwas genauer? Vier, fünf oder sechs Wochen früher?«

»Das weiß ich leider beim besten Willen nicht mehr. Fragen Sie Ruth. Vielleicht hat sie den Terminkalender von damals noch. Ist das denn wirklich so wichtig?«

»Im Moment ist alles wichtig.«

»Das sagten Sie schon«, murmelte Valentina.

»Und nach Frau Meiers Verschwinden gründeten Sie und Frau …« Er sah kurz auf seinen Block, »… Neuberg die Agentur?«

»Ja.«

»Unmittelbar danach?«

»Nein. Ungefähr ein halbes Jahr später. Wir bekamen plötzlich Anfragen …« Sie sah Martin Stein an, als müsste sie sich dafür entschuldigen. »Ich habe dann noch eine Weile in der Werbeagentur gearbeitet. Aber irgendwann wurde mir das mit zwei Jobs zu viel, und ich habe den alten gekündigt.«

»Und Sie wollen mir jetzt allen Ernstes erzählen, dass Sie heute Morgen Ihre eigene Kundin nicht erkannt haben?«, hakte der Ermittler noch einmal nach.

»Ich hab’s Ihnen doch schon erklärt. Ich wusste damals doch nicht, für wen ich arbeite. Ich habe Daniela Meier persönlich nie zu Gesicht bekommen. Ruth hat mir erst viel später Fotos von ihr gezeigt.«

Auch bei Felix hatte Valentina Fotos gesehen. Daniela und Felix in Florenz beim romantischen Dinner. Am Lido in Venedig. Daniela im Bikini auf dem Liegestuhl. Begehrliche Blicke in die Kamera. Daniela als Model auf dem Laufsteg für eine Hautcreme werbend. Ihr aufdringliches Lächeln, wofür sie nur wenige Muskeln nutzte, weswegen die vorgebliche Herzlichkeit ihre Augen nicht erreichte. Doch hatten all diese Momentaufnahmen nichts mit dem armseligen Häuflein Mensch zu tun, das dort ganz starr und mit eingefallenen Wangen gelegen hatte.

»Ruth hatte das alles organisiert. Sie wäre damals auch Danielas Brautjungfer geworden.« Jetzt kamen Valentina die Tränen. »Dass Daniela tot ist, wird Ruth … Ich hoffe nur, dass es ihr nicht den Boden unter den Füßen wegzieht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ruth brauchte damals lange, um wieder einigermaßen zu funktionieren, nachdem sie … Und jetzt das.« Valentina verstummte.

»Das alles erklärt noch immer nicht, warum Sie Daniela Meier nicht erkannt haben.«

Stein zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und reichte Valentina ein Taschentuch.

Sie tupfte die Tränen ab und putzte sich die Nase. Das Taschentuch behielt sie in den Händen und zerknüllte es, während sie weitersprach. »Ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Ich kannte Daniela Meier nicht.«

In der Hoffnung, damit das Gespräch endlich beenden zu können, machte sie eine Pause. Doch der Blick des Ermittlers forderte sie auf weiterzusprechen.

»Die Idee, eine Hochzeitsplaner-Agentur zu gründen, kam Ruth und mir später.«

Wie oft sollte sie das noch erklären?

»Daniela Meier war Ruths Freundin, nicht meine. Ich weiß nur, dass sie ein Jahr vor der geplanten Heirat Miss Austria geworden war. Und dass dies der eigentliche Beginn ihrer Modelkarriere war. Davor hat sie nur kleinere Sachen gemacht. Doch dann quoll ihr Terminkalender über. Sie war zu einem vielgebuchten Model geworden. Deshalb übernahm Ruth praktisch die gesamte Organisation der Hochzeit. Immerhin war sie die erste Brautjungfer.«

»Es gab mehrere Brautjungfern?«

Valentina knetete das Taschentuch in ihren Händen. »Wenn ich mich richtig erinnere, waren es vier. Ruth hat das irgendwann mal nebenbei erwähnt. Aber wenn Sie mehr wissen wollen, fragen Sie sie doch am besten selbst.«

Gott, wie lange sollte diese Befragung denn noch dauern?

»Das werden wir auch tun, Frau Macek. Aber obwohl Daniela Meier ehemalige Miss Austria und ein vielgebuchtes Model war, haben Sie heute Morgen ihr Gesicht nicht erkannt?«

Schon wieder! Valentina unterdrückte den Impuls, genervt die Augen zu verdrehen. Die sich wiederholenden Fragen klangen immer mehr wie das Echo eines bestimmten Vorwurfs: Du weißt mehr, als du zugibst …

»Fotos von ihr als Model in Zeitschriften und Modemagazinen, später in allen Tageszeitungen und im Fernsehen, als nach ihr gesucht wurde – und Sie wollen Sie allen Ernstes nicht erkannt haben?«

Valentinas Körper straffte sich. Drehten sie sich hier im Kreis? Sie musste höllisch aufpassen, um sich nicht in einen Wirbel hineinzureden.

Sie holte tief Luft und antwortete: »Klar kannte ich sie aus den Medien. Ich habe Ihnen auch erzählt, dass sie mir heute Morgen irgendwie bekannt vorkam, nur bin ich einfach nicht draufgekommen, dass sie es war, Daniela Meier. Ich war nur total geschockt, eine Leiche zu finden, und wäre niemals auf die Idee gekommen, dass ich die auch noch kenne!«

Valentina sah dem Chefinspektor an, dass er ihr kein Wort abnahm, sondern vielmehr der Überzeugung zu sein schien, sie habe etwas mit dem Tod der Frau zu tun. Sie fühlte sich wie in einer der verhassten Mathematikstunden ihrer Schulzeit, töricht und ausgeliefert.

»Frau Macek«, begann er aufs Neue, »können Sie sich einen Reim darauf machen, warum Frau Meier nach fünf Jahren in der Versenkung ausgerechnet jetzt als Leiche wieder auftaucht?«

Valentina zuckte leicht mit den Achseln und ließ den Kopf sinken. Jetzt war es also so weit. Jetzt musste sie Farbe bekennen. Jetzt würde dieser Polizist sie erst recht verdächtigen. »Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Felix Beermann wieder heiraten will.« Endlich sprach sie aus, was ihr schon die ganze Zeit auf der Seele lag. »Felix Beermann wird wieder heiraten.«

»Wann?«, fragte Stein und sah sie aufmerksam an.

»In zwei Wochen, in Schönbrunn.«

»Und wen?«

Valentina war sicher, dass er die Antwort bereits kannte.

»Mich.«

4

LEBENSZEICHEN

Rumpelstilzchen lebt mitten im Wald und sitzt im Rollstuhl«, murmelte er, und ein raues Lachen entfuhr seiner Kehle. Vogelgezwitscher drang an sein Ohr. Er brauchte Ruhe, absolute Ruhe. Deshalb schloss er das Fenster.

Auf dem Tisch stand immer noch die dunkelbraune Schuhschachtel. Der Größe nach mussten einmal Damenstiefel darin verpackt gewesen sein. Jetzt war sie randvoll mit Briefen, denen er sich endlich gebührend widmen wollte, mochte es dauern so lange er brauchte. Es waren sicher Hunderte an der Zahl. Ein Brief pro Tag in Gefangenschaft. Bei fünf Jahren in Gefangenschaft machte das … Er schüttelte den Kopf, wie um den Gedanken zu vertreiben. Er wollte das gar nicht erst ausrechnen, denn es würde ihn nur deprimieren. Außerdem war es nicht mehr wichtig. Er hatte resigniert. Nach fünf Jahren der Hoffnung hatte er am Ende doch resignieren müssen.

Sein Mund fühlte sich trocken an. Er entkorkte eine Flasche Wein, nahm ein Glas und schenkte sich ein.

Dann begann er zu lesen.

Lieber Felix,

am ersten Tag habe ich nur dagesessen und habe mich gefragt, warum das passiert ist. Warum mir? Ich habe doch niemandem etwas getan! Das ist nicht gerecht.

Heute habe ich mich hier ein wenig umgesehen und in einer Schublade stapelweise Briefpapier gefunden. Natürlich mit Schneewittchen-Motiven drauf. Völlig idiotisch, aber ich werde offenbar in einem Haus für kleine Mädchen gefangen gehalten. Ich vermute, die Entführer wollen, dass ich dir Briefe schreibe. Wozu sonst das viele Papier? Sie wollen, dass du Lebenszeichen von mir erhältst, damit du das Lösegeld zahlst. So wird es sein. Deshalb werde ich dir jetzt jeden Tag einen Brief schreiben, bis man mich befreit. Bis wir uns wiedersehen.

Hier in meinem Gefängnis gibt es einen Fernseher. Heute wurde in den Nachrichten gesagt, die Polizei suche nach mir. Es ist schon komisch, wenn man im Fernsehen sieht, wie über einen selbst berichtet wird. Lauter Fotos von mir wurden eingeblendet, und natürlich kamen auch Bilder aus der Miss-Austria-Show.

Aber das hast du wahrscheinlich auch alles gesehen, oder?

Ich habe keine Ahnung, ob die Polizei »an der richtigen Stelle« sucht. Das hat die Redakteurin den Pressesprecher der Polizei gefragt: »Sind Sie sicher, an der richtigen Stelle zu suchen?«

Die Frau Meier sei wie vom Erdboden verschluckt, hat er geantwortet, und man beginne naheliegenderweise dort zu suchen, wo sie zuletzt gesehen worden sei, und zwar im Palais Pallavicini am Josefsplatz in der Wiener Innenstadt, wo sie auf einer Party gewesen sei …

Wenn die Redakteurin wüsste, wie recht der Polizeisprecher hat: Ich bin tatsächlich vom Erdboden verschluckt worden. Mein Versteck liegt unterm Bodenniveau, kann sein, dass es ein Keller ist. Es gibt jedenfalls drei vergitterte Fenster, und wenn ich durchschaue, sehe ich ein winziges Stück Himmel. Ansonsten sieht man nur auf eine endlos graue Mauer. Vielleicht ist es eine Art Luftschacht, denn darüber befindet sich offenbar noch ein Schutzgitter.

Dich habe ich auch im Fernsehen gesehen, Felix. Nach dem Interview mit dir musste ich fürchterlich weinen. Du würdest jede Summe zahlen, sagtest du, wenn du mich nur zurückbekommst.

Du wolltest ja nicht, dass ich zu der Party ins Palais Pallavicini gehe, sondern dass ich bei dir bleibe. Diese Szene-Events seien dir zuwider und abgesehen davon meiner auch gar nicht würdig. Ich würde ohnehin bald in andere Kreise einheiraten. »Wenn wir erst einmal verheiratet sind …« Das hast du noch gesagt, bevor du wütend aus dem Zimmer gerauscht bist.

Wir haben uns dann nicht mehr gesehen, bevor ich weggegangen bin. Wie leid mir das jetzt tut! Auf der Party habe ich mit Irene darüber gesprochen, und dass dies meine letzte Party sein würde. Dass ich mich an ein zurückgezogenes Leben mit dir schon noch gewöhnen würde. Weil du es dir so wünschst. Frag Irene, wenn du mir das nicht glauben solltest.

Meine Entführer – oder ist es doch nur einer? – behandeln mich jedenfalls nicht schlecht. Einmal die Woche schieben sie Lebensmittel durch die Türöffnung, manchmal auch etwas zu lesen, Zeitungen oder Zeitschriften.

Ich werde diesen Brief morgen durch die Öffnung schieben und hoffe inständig, dass du ihn auch tatsächlich bekommst. Dass sie ihn an dich weiterleiten.

Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.

Ich habe Angst, Felix.

Ich liebe dich,

Daniela

Er faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück ins Kuvert. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, trank einen großen Schluck Wein und ließ ihre Worte auf sich wirken.

Irgendwann stand er auf und räumte die Briefumschläge wieder in die Schuhschachtel.

Nach und nach leerte er die Flasche Wein, und auf einmal wusste er, wie er diese Briefe zu Geld machen konnte.

Eine weitere Flasche Wein und zwei Tassen Kaffee später stand sein Plan fest.

5

TOD EINES MODELS

In Zeitungsredaktionen waren Kaffeeautomaten lebensnotwendig, da sie zugleich als Kommunikationszentrum, Informationsdrehscheibe und Spender beispiellos schlechten Kaffees zum Einsatz kamen.

Beim Wiener Boten stand der Automat neuerdings nicht mehr auf dem Gang, sondern in der Küche, was die Kaffeepausen bequemer gestaltete. Denn an dem großen Tisch war immer Platz, und egal zu welcher Uhrzeit man hier hereinkam, saßen sicher zwei, drei andere gerade gemütlich plaudernd beim Kaffee. Oft waren solch spontane Zusammentreffen anregend, amüsant und jedenfalls herzerfrischend. Wer allerdings eher seine Ruhe außerhalb seiner vier Bürowände suchte, drohte mit der Situation unter Umständen überfordert zu sein.

Sarah, die sich seit einigen Tagen etwas grippal fühlte und deshalb mit Aspirin aufrecht zu halten versuchte, ging in die Küche, um sich für ihre Brausetablette ein Glas Wasser zu holen. Es standen ihr zwar in ihrem Büro auch Teetassen zur Verfügung, doch um der Wahrheit die Ehre zu geben, war sie vor allem neugierig darauf, ob der üppige Strauß Rosen des ihr unbekannten Absenders auch den Rest der Belegschaft mit Gesprächsstoff versorgte.

Sie machte sich schon auf breit grinsende Gesichter und ironische Bemerkungen gefasst, doch die Küche präsentierte sich ausnahmsweise fast menschenleer. Nur Patricia Franz stand neben dem Kaffeeautomaten. Sie hielt einen Plastikbecher in der einen Hand und tippte mit dem Daumen der anderen auf ihrem Smartphone herum. Die Ärmel ihrer Strickjacke waren so weit nach vorne gezogen, dass nur die Fingerspitzen herausschauten. Ihre rotblonden Locken verdeckten ihr Gesicht, und es schien Sarah fast so, als wollte ihre junge Kollegin sich unsichtbar machen.

»Und? Was tut sich so bei euch in der Chronik?«, fragte Sarah.

Patricia Franz hob irritiert den Kopf.

»Ah, hallo Sarah!«

Rasch steckte sie ihr Handy in die Tasche, als fühlte sie sich bei etwas Verbotenem ertappt. Dann verzog sich ihr Mund jedoch zu einem verschwörerischen Lächeln.

»Ich hab gehört, du hast einen Mega-Blumenstrauß bekommen und weißt nicht, von wem?« Ihre grünen Augen funkelten, und ihr Lächeln wurde breiter.

Also doch!

»Na, da schau her, hat sich das also doch schon rumgesprochen. Was erzählt man sich denn so?«

»Dass du einen Verehrer hast.«

»Gibt’s keine wichtigeren Themen, über die man sich unterhalten kann? Katastrophen, Gräueltaten, Morde …«

»Doch, schon. Stell dir vor, in Schönbrunn wurde eine tote Frau gefunden. Die hatte ihr Hochzeitskleid noch an. Oder nein, so, sie hatte das Kleid an, das sie bei ihrer Hochzeit getragen hätte.«

»Was? Wirklich?«, fragte Sarah überrascht.

»Ich komm’ gerade von dort«, fügte Patricia hinzu. »Die Szene war irgendwie grotesk, hat mich an Schneewittchen in dem Sarg aus Glas erinnert, die Zwerge um sie herum, bis der Prinz herbeigeritten kommt, der …«

»Alles klar, ich kenne das Märchen, Patricia«, unterbrach Sarah sie etwas ungeduldig.

»Mir hat jemand genau dasselbe am Telefon erzählt«, hörten sie eine vertraute Stimme. Sarah drehte sich um. Conny kam soeben mit Sissi im Schlepptau zur Tür herein. Die Gesellschaftsreporterin hielt den leeren Wassernapf ihres Hundes in der Hand. »Auf die Schlagzeilen der nächsten Tage bin ich gespannt«, meinte sie.

»Weiß man denn schon, wer die Tote ist?«, fragte Sarah.

»Sie heißt Daniela Meier, und sie ist …«, begann Patricia eifrig.

»Sie WAR die Freundin von Felix Beermann«, unterbrach Conny die junge Redakteurin. Ihrem Gesichtsausdruck nach kannte sie bereits sämtliche Details. Gut möglich, dass sie schon im Bilde über alles war, noch bevor die Meldung überhaupt in der Chronik-Redaktion eingetroffen war. Derartige Informationswettbewerbe zu gewinnen – die in Wahrheit gar keine Wettbewerbe waren, weil nur Conny daran teilnahm – stand auf der imaginären Karriereliste der Society-Löwin an zweiter oder dritter Stelle. Ganz oben jedenfalls stand, heimliche Affären aufzudecken, heute dicht gefolgt davon herauszubekommen, wer Sarah die Rosen geschickt hatte.

»Reden wir von DEM Felix Beermann?«, fragte Sarah, stolz darauf, sich endlich einmal den Namen eines Prominenten gemerkt zu haben, noch dazu von einem, mit dessen Branche sie rein gar nichts verband.

Felix Beermann war der Spross einer angesehenen Hotelier-Dynastie. Sein Großvater hatte Mitte der 1950er-Jahre das erste Beermann-Hotel nahe dem Stadtpark eröffnet. Felix’ Vater war bereits als junger Bursch in das Unternehmen eingestiegen. Inzwischen gehörten dem Clan Fünfsternehotels auf der ganzen Welt. Felix Beermann galt als erfolgreicher und skandalfreier Workaholic und war überdies einigermaßen medienscheu. Man traf ihn somit äußerst selten auf dem offiziellen Parkett an. Weder öffentliche Auftritte noch Szenepartys waren seine Sache. Umso mehr machten seine Verbindung mit dem Model Daniela Meier und ihre bevorstehende Hochzeit Schlagzeilen. Statt jedoch für Statements oder gar Interviews zur Verfügung zu stehen, überließ er dieses Terrain seiner Verlobten, die ob ihrer sympathischen Ausstrahlung und natürlichen Schönheit der Liebling der Gazetten war. Dass Felix Beermann aktuell kurz vor der Trauung mit seiner neuen Partnerin stand, blieb natürlich ebenfalls nicht lange ein Geheimnis. Doch schenkte man dem bevorstehenden Ereignis deutlich weniger Aufmerksamkeit als dem Paar Beermann/Meier.

Das würde sich allerdings ab sofort ändern.

Conny zog ihre exakt gezupften Augenbrauen anerkennend in die Höhe und ließ ein lautes dunkles Lachen vernehmen.

»Korrekt, Sarah, wir reden von DEM Felix Beermann. Die Meier war ein Jahr vor der geplanten Vermählung Miss Austria geworden und als Model auf dem Weg nach ganz oben. Sie war schon für Topunternehmen auf dem Laufsteg gewesen und hatte Shootings für internationale Kosmetik- und Haarproduktfirmen. Und dann war sie von heute auf morgen einfach nicht mehr da. Zwei Wochen vor ihrem Hochzeitstermin. Das ist fünf Jahre her. Zuerst wurde gemunkelt, sie hätte sich einfach davongemacht, vermutlich mit einem anderen Kerl. Irgendwann stand dann der Beermann im Verdacht, sie um die Ecke gebracht zu haben. Kannst dir vorstellen, was das für hohe Wellen geschlagen hat. Seine Neider hätten es sicher genossen, ihn im freien Fall die Karriereleiter nach unten sausen zu sehen.«

»Welche Neider?«, fragte Sarah.

Conny zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Aber der Mann ist erfolgreich, und wer Erfolg hat, hat Neider.«

»Und warum sollte er seine Verlobte umgebracht haben?«