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Restaurantbetreiber Dietmar Krahlert kommt den furchtbaren Verbrechen eines polnischen Schlachthofs auf die Spur. Die Polizei ist nicht in der Lage, ihn vor seinen Feinden zu schützen. Um seine Tochter Andrea aus der Schusslinie zu bringen, täuscht er seinen Tod vor, doch die Verbrecher spüren ihn auf ... Elf Jahre nach seinem Tod bittet Nadine Kretschmer ihren Freund Gerd Bach um Hilfe. Wer ist der geheimnisvolle Klabautermann, der im Restaurant ihrer Freundin sein Unwesen treibt? Wer will Andreas Lebenswerk zunichtemachen? Schaffen Gerd und Emma es, das Restaurant vor der Zerstörung zu bewahren? Und was hat all das mit den Sabotagen von Karola Stallers Arbeit in einem Seniorenheim zu tun? Noch weiß niemand, wie alles zusammenhängt, bis sich erschreckende Verbindungen auftun …
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Seitenzahl: 607
Veröffentlichungsjahr: 2023
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2023 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99131-958-0
ISBN e-book: 978-3-99131-959-7
Lektorat: Mag. Eva Reisinger
Umschlagfotos:Maxim Stukonozhenko, Thomas Stockhausen,Schulzhattingen, Boris Breytman, José Lledó | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Bildquellennachweis:
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Bild 3: © Tomas Marek, John Wollwerth, Bobhilscher, Hans Wismeijer;p.r.mosler, Bildmontage erstellt von p.r. mosler
Bilder 4-5, 8 und 10: © p.r. mosler,
Bild 6: © Zniehf | Dreamstime.com,
Bild 7: © José Lledó | Dreamstime.com,
Bild 9: © Jurie Maree | Dreamstime.com,
Bild 11: © Christos Georghiou | Dreamstime.com
Widmung
In Erinnerung an Dietmar, einen Freund, der mit Witz und Humor die Welt erhellte.
Wahrheit und Vertrauen gehen miteinander einher!
1 Prolog
August 1983
Milan Wachowiak schaut lächelnd zu, wie die Kinder über die weiten Felder toben. Das weitläufige Grundstück, das aus einer großen Villa, vielen Feldern, Wiesen und Wäldern mit Landwirtschaft und Viehzucht besteht, gehört seinem ältesten Bruder Fryderyk. Der polnische Betrieb läuft hervorragend, sodass sich die Familie seines Bruders problemlos einen guten Lebensstandard leisten kann.
Bei ihm selbst sieht das gänzlich anders aus. Noch vor einer Woche hat Milan daran gezweifelt, seinen Zwillingen überhaupt ein Geburtstagsfest bereiten zu können. Sein Geschäft, eine ehemals gut angesehene Metzgerei, steht vor dem Bankrott. Die Schulden beginnen bereits, ihn aufzufressen. Wie er das seiner Frau und den Kindern erklären soll, davon hat er keine Ahnung.
Fryderyk, der neben ihn tritt, erkennt den Kummer, der dem Jüngeren nur zu deutlich anzusehen ist, weshalb er ihm beruhigend einen Arm um die Schultern legt.
„Danke für die Einladung. Ich hätte den beiden das nicht bieten können“, gesteht Milan seinem Bruder.
„Dafür ist Familie doch da“, versichert Fryderyk lächelnd, ehe er seinen Bruder ernst auffordert: „Milan, wir beide sollten uns unterhalten. Findest du nicht auch?“
„Du weißt also, wie es um mich steht?“
„Natürlich. Du bist mein Bruder. Ich werde immer auf dich aufpassen. Und auf deine Familie.“
„Dafür bin ich dir auch sehr dankbar“, stimmt Milan ihm zu. „Was du hier für Emilia und Zofia auf die Beine gestellt hast, ist großartig. Sie hatten schon lange keinen so unbeschwerten Tag mehr. Aber eine Geburtstagsfeier für zwei Zwölfjährige auszurichten ist etwas anderes, als eine Existenz zu retten.“
„Du hast Recht, dein Geschäft kann ich nicht retten. Dafür ist es bereits zu spät, aber ich habe etwas anderes für dich.“
Neugierig schaut Milan ihn an. „Was willst du mir anbieten? Soll ich auf deinem Hof arbeiten? Das kann ich nicht. Ich bin Metzger, etwas anderes habe ich nie gelernt.“
„Ja, das ist mir bewusst. Und genau deshalb brauche ich dich.“ Fryderyk weiß, dass er seinen Bruder an der Angel hat, da Milan es sich gar nicht leisten kann, sein Angebot abzulehnen. „Lass uns für eine Weile in mein Büro gehen.“
Gemeinsam begeben sie sich in das sechzehn Quadratmeter große Büro in der Villa des Familienoberhauptes. Auf Fryderyks Wink hin schließt sich ihnen auch Ksawery, der mittlere der drei Brüder, an. Ohne Umschweife beginnt der älteste Bruder Milan seine Idee zu erklären: „Ich mache dir einen Vorschlag. Ich übernehme deine Schulden. Es ist zwar einiges zusammengekommen, aber das schaffe ich. Du kannst es mir dann irgendwann zurückzahlen, wenn du willst.“ Er weiß, wie stolz sein Bruder sein kann.
„Das wäre großartig. Wo ist der Haken?“
„Es gibt keinen“, behauptet Ksawery. „Jedenfalls nicht aus unserer Sicht.“
„Er hat Recht“, stimmt Fryderyk zu. „Du sollst für mich arbeiten. Als Leiter meines neuen Schlachthofs. Ich brauche dort jemanden, auf den ich mich zu hundert Prozent verlassen kann.“
„Du hast einen eigenen Schlachthof aufgebaut?“
„Ja und nein. Ich habe die Genehmigungen eingeholt, mehrere Kostenvoranschläge und der Baubeginn steht auch schon fest.“
„Aber wieso?“
„Letztes Jahr wurden die Kontrolleure, die für unseren Hof zuständig waren, ausgetauscht. Die neuen Kontrolleure verboten mir, meine Rinder zu verkaufen. Die Tiere waren angeblich krank. Eine Behandlung mit Antibiotika durfte ich auch nicht durchführen.“
„Du musstest die Tiere töten? Was dann? Wurden sie verbrannt?“ Milan kann es nicht fassen. „Wie bist du mit diesem Verlust klargekommen?“
„Es ging. Sie schickten einen Transportdienst, der das Vieh zu einem Schlachthof beförderte, der die Genehmigung zur Entsorgung verseuchter Tiere hat. Sie forderten mich auf, den Transport zu unterstützen. Ich habe mich an die Auflagen gehalten.“
„Ich nicht!“, bekräftigt Ksawery. „Das Ganze war mir suspekt. Deshalb habe ich nachgeforscht.“
„Ksawery hat den Kontrolleuren auf die Finger gesehen, ohne sich zu erkennen zu geben. Er hat ihre Arbeit begutachtet und ist der Spur der Rinder gefolgt“, ergänzt Fryderyk.
„Ich fand heraus, dass die Kontrolleure das Vieh einem Schlachthof zuführen, der sie dafür bezahlt. Dort haben sie das Fleisch dann ganz normal verarbeitet. Im Anschluss wird es zu Billigpreisen weiterverkauft. Sie haben uns gelinkt und wir konnten nichts dagegen machen.“
„Wie bist du dahintergekommen?“, will Milan wissen.
„Ich habe mich als Käufer ausgegeben. Sie gaben mir bereitwillig Auskunft über ihre Billigpreise.“
„Das ist aber noch nicht alles“, ergänzt Fryderyk. „Es gibt natürlich auch Rinder oder Schweine, die tatsächlich krank sind. Das Fleisch dieser Tiere muss verbrannt werden.“
„Aber das tun sie nicht“, trumpft Ksawery auf. „Klar, ein Teil wird verbrannt. Den Rest drehen sie durch und mischen es unter das Fleisch der gesunden Tiere.“
„Das muss den Kontrolleuren doch auffallen.“
„Ja, richtig. Die halten dann die Hand auf. Trotzdem fällt für alle genug vom Kuchen ab.“
„Jetzt haben wir die Lizenz, unser angeblich krankes Vieh selbst zu entsorgen“, versichert der älteste Bruder. „Wir müssen nur die Vorschriften einhalten. Dazu gehört, dass ich einen ausgebildeten Metzger und Schlachter beschäftige, der alles überwacht. Da kommst du ins Spiel.“
„Du willst also, dass ich für dich arbeite?“
„Nein. Ich möchte, dass du als Teilhaber mit einsteigst.“
„Das ist ein einträgliches Geschäft“, lockt Ksawery ihn. „Wir könnten es genauso machen, wie der andere Schlachthof, indem wir die Entsorgung der ausgemusterten Ware übernehmen.“
„Was ist mit eurem Kontrolleur? Der wird euch doch genau unter die Lupe nehmen.“
„Um den Kontrolleur mache ich mir keine Sorgen. Der wird lediglich die Hand aufhalten. Das regeln wir.“
„Das Fleisch, das wir dann verarbeiten. Was geschieht damit? Wird es verbrannt?“
‚Jetzt wird sich zeigen, ob Milan zur Familie hält‘, denkt Fryderyk. Er schaut seinem Bruder fest in die Augen. „Offiziell, ja. Aber wir werden es verarbeiten, verpacken, sauber etikettieren und verkaufen. So machen es die anderen auch.“
„Der Schlachthof, den ich mir angesehen habe, macht im Jahr einen Umsatz von drei Millionen Euro mit dem Fleisch, das er nach Deutschland verkauft“, berichtet Ksawery ihm.
„Drei Millionen?“, staunt Milan.
„Eine für jeden pro Jahr“, bestätigt sein Bruder lächelnd. „Wie ist es? Bist du dabei?“
„Ich glaube nicht“, beginnt Milan langsam, „dass ich ein vernünftiges Argument finde, das dagegenspricht.“
Aufatmend nimmt Frederik den jüngsten Bruder in die Arme, während Ksawery ihm begeistert auf die Schulter klopft. Fröhlich widmen sie sich wieder der Geburtstagfeier.
Zwei Jahre brauchen die Brüder, um ihr Geschäft auszudehnen. Mittlerweile haben sie die gutgehende Einnahmequelle erweitert auf alles, was ihnen die Kontrolleure an Fleisch zukommen lassen. Da sie ihren Geschäftspartnern gegenüber äußerst großzügig auftreten, haben sie die Konkurrenten fast gänzlich aus ihrem Gewerbe gedrängt.
Milan sorgt in seinem Schlachthof für die Verarbeitung der angelieferten Ware. In den letzten Jahren hat er sich an einen gewissen Lebensstandard gewöhnt, den er nicht mehr aufgeben will, daher ist ihm die Qualität der Lebensmittel, die sie verkaufen, gänzlich egal.
Die Kontrolleure, mit denen sie zusammenarbeiten, sorgen für die vorgeschriebenen Gütesiegel und die Verbindungen seines Bruders reichen bis nach Deutschland, was ihnen zu einträchtigen Geschäften verhilft.
Niemand stellt seine Arbeit in Frage. Niemand wirft ihnen dunkle Machenschaften vor. Von ihm aus kann es ruhig so weitergehen.
2
April 1980
Dietmar Krahlert hat den Kragen seiner Jacke hochgeklappt. Die leichte Mütze sorgt für den nötigen Schutz gegen den Wind. Die Hände in den Hosentaschen, steht der Zweiunddreißigjährige auf der umlaufenden Balustrade des Leuchtturms in einer Höhe von circa neunzig Metern.
Hier oben fühlt er sich wohl. Sein Blick wandert über das weite Meer, dessen gewaltige Kraft er spüren kann, genauso wie die Macht, die von ihm ausgeht. Wenn er hier oben steht, fällt alle Last von ihm ab.
Das fest gemauerte Gebäude wurde in vorindustrieller Zeit errichtet. Die Gesamthöhe des Turms beträgt einhundertneun Meter. Bis zur Balustrade hat es seinen typischen Anstrich behalten. Es steht auf einem fest in den Boden einbetonierten Sockel in Schwarz, darüber immer gleichbreite Streifen abwechselnd in Rot und Weiß, bis der letzte rote Streifen an die Balustrade stößt. Dorthin gelangt man durch eine innen liegende Wendeltreppe, die an der Außenwand entlangführt. Hier trifft man auf die Befeuerung. Die recht einfache Konstruktion des Lichtfeuers besteht aus mehreren Sammellinsen, denFresnel-Linsen, die als Ring um eine sehr kleine Lichtquelle rotieren. Die Lichtfeueroptik besteht aus zwanzig ringförmigen Sektoren, die drehbar gelagert sind. Über die Zeit, die der Lichtstrahl für eine Umdrehung benötigt, wird die Kennzeichnung des Turms im Leuchtfeuerverzeichnis und in Seekarten eingetragen. Auch die Reichweite, die bei diesem Turm sechzehn Seemeilen beträgt, ist auf den Karten der Seefahrer angegeben. Oberhalb der Konstruktion für die Befeuerung findet sich nur noch ein Dach, in dem Antrieb und Lagerung verborgen sind.
Moderne digitale Navigationshilfen schmälern die Verwendung von Leuchttürmen enorm, aber noch heute bieten sie eine unverzichtbare Absicherung für den nahenden Schiffsverkehr.
Mittlerweile ist das Lichtsignal abgeschaltet und der Turm mit seinen leerstehenden Wohnräumen für den ehemals erforderlichen Bediensteten mit seiner Familie ging in Privatbesitz über. Heute gehört der küstennahe Leuchtturm Dietmars Onkel Philip Krahlert. Vom Turm aus sind es gut zwanzig Minuten Fußweg bis zum bestgeführten Restaurant in Horumersiel, nördlich von Wilhelmshaven, welches ebenfalls seinem Onkel gehört und in dem er als Chefkoch seiner Arbeit nachgeht.
Dietmar macht sich auf den Weg nach unten. In einer Stunde muss er an seinem Arbeitsplatz sein. Er ist zufrieden, mit dem was er macht, auch mit seinem Onkel versteht er sich gut. Aber ihm schwebt etwas anderes vor. Da ist dieser Traum! Ein Traum, der immer wiederkehrt. Der Traum vom eigenen Restaurant. Da er mit seiner Frau mietfrei bei seinem Onkel wohnt, hat er genug angespart, um zu verwirklichen, wonach er sich sehnt.
Verena unterstützt ihn in allem, was er macht. Sie war es auch, die das Haus in Essen fand, das zusätzlich zum Restaurant auch eine einhundertzweiundvierzig Quadratmeter große Fünf-Zimmer-Wohnung im Stockwerk darüber aufzuweisen hatte. Durch den Konkurs des Vorbesitzers kauften die beiden das Gebäude aus einer Zwangsversteigerung heraus, sodass ihnen noch genügend Geld bleibt, um gründlich zu renovieren. In zwei Wochen ist es so weit, dann werden sie nach Essen umsiedeln. Verena stammt von dort. Auch ihre Eltern leben noch in Essen. Sie haben dem Paar angeboten, bis zum Abschluss der Renovierungsarbeiten bei ihnen zu wohnen, was es für sie bedeutend leichter macht. Außerdem weiß Dietmar seine Frau dann in guter Obhut, während er seiner Arbeit nachgeht.
Als er das Gebäude verlässt, kommt ihm seine Frau entgegen. Die langen dunkelbraunen Haare, die er so liebt, wehen im Wind. Er kann erkennen, dass es ihr schwerfällt, den steinigen Anstieg bis zum Leuchtturm zu überwinden, deshalb beeilt er sich, ihr entgegenzugehen.
Verena bleibt stehen, als sie ihn erblickt. Während sie darauf wartet, dass er sie erreicht, betrachtet sie ihn in aller Ruhe. Seine strahlenden blauen Augen mit dem braunen Kern waren das Erste, was ihr an ihm aufgefallen war. Bei einer Größe von1,81Meter überragt der blonde Mann sie um gute fünf Zentimeter. ‚Genau die richtige Größe‘, findet sie. Die breiten Schultern und die schmalen Hüften lassen ihn wirklich gut aussehen, auch die von der täglichen Arbeit belasteten muskulösen Arme sind echte Hingucker. Dass er sich durch tägliches Schwimmen fit hält, schadet seiner Figur kein bisschen.
„Was machst du hier?“, erkundigt er sich liebevoll. „Du solltest nicht solche Wege auf dich nehmen.“
„Ich habe dich vermisst“, gesteht Verena ihm lächelnd. „Aber ich weiß ja, wo ich dich finde.“ Für einen Moment schaut sie an dem Turm hinauf. „Er wird dir fehlen, nicht wahr?“
Auch Dietmar blickt zurück, wobei er ihr einen Arm um die Schultern legt. „Ja, wahrscheinlich, aber dafür habe ich ja dich“, versichert er ihr. „Und bald ist da noch jemand, der unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen wird.“ Sanft streicht er über die Wölbung ihres Bauches. Noch vier Monate, dann sind sie zu dritt. Er kann es kaum noch erwarten. „Glaubst du nicht, wir hätten noch warten sollen? Der Umzug nach Essen dürfte bestimmt ziemlich anstrengend für dich werden.“
„Nein, gar nicht. Ich lasse einfach dich alles machen. Ist doch perfekt“, neckt sie ihren Mann, bevor sie ihn zu einem liebevollen Kuss an sich zieht.
Die zwei Wochen vergehen wie im Flug. Der letzte Tag in Horumersiel bricht für das Ehepaar an. In ein paar Stunden kommen die Umzugshelfer, um die letzten Kartons in die bereitstehenden Fahrzeuge zu laden, bevor sie aufbrechen. Dietmar wird mit seiner Frau zur gleichen Zeit losfahren, doch seinFord Granada Turniermit2,8-Liter-V6-Motorund150 PSLeistung wird die Strecke wesentlich einfacher überwinden als die Lastwagen des Umzugsunternehmens. Er schätzt, dass sie trotz der eingeplanten Toilettenpausen seiner Frau nicht mehr als vier Stunden bis Essen brauchen werden, so dass sie vor ihnen dort ankommen werden.
„Die Zeit des Abschieds ist gekommen“, stellt Philip Krahlert fest. „Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt für euch beide.“
Plötzlich hat Dietmar einen dicken Kloß im Hals. Panik bricht in ihm aus. ‚Ob das wirklich alles richtig ist? Was, wenn es schief geht?‘ Der ängstliche Blick, den er seiner Frau zuwirft, lässt diese seine Hand mit einem festen Druck ergreifen, wobei sie ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkt.
„Kriegst du im letzten Moment etwa Muffensausen?“, fragt der Onkel ihn lachend. „Das kannst du vergessen. Jetzt ist es zu spät, um einen Rückzieher zu machen.“ Er erkennt die Panik des Neffen. „Komm her“, fordert er, ihn in seine Arme ziehend. „Du tust das Richtige“, versichert er fest. „Wenn es nicht funktioniert, könnt ihr jederzeit wiederkommen“, verspricht er Dietmar, dann zieht er Verena vorsichtig an sich. „Und du pass schön auf deinen Mann und den Nachwuchs auf.“ Er öffnet die Beifahrertür desFords Granada Turnierund hilft der schwangeren Frau beim Einsteigen. Seinem Neffen reicht er zum Abschied die Hand. „Ach, da ist dann noch etwas“, bemerkt er ernst. Aus der Innentasche seiner Jacke zieht er einen großen Umschlag hervor, den er Dietmar in die Hand drückt. „Das ist für dich.“
„Was ist das?“, erkundigt sich Dietmar argwöhnisch. „Ich will kein Geld von dir!“
„Kriegst du auch nicht.“ Philip weiß, wie stolz Dietmar darauf ist, es aus eigenem Antrieb zu schaffen. „Du weißt, dass ich euch am liebsten hierbehalten würde. Ohne euch wird mir etwas fehlen.“ Er zeigt auf den Umschlag. „Das da ist nur ein Grund dafür, dass du hin und wieder einmal hierherkommst. Mach den Umschlag auf, wenn ihr in Essen seid. Alles Gute!“ Ein letztes Mal nimmt er Dietmar in den Arm. „Ich passe für dich auf den Leuchtturm auf“, verspricht er zum Abschluss.
Dietmar nickt ihm zu, dann sitzt auch er in seinem Wagen. Sein Blick wandert zum Rückspiegel. Sich selbst Mut machend atmet er noch einmal tief durch, bevor er den Motor startet.
Mit gemischten Gefühlen schaut Phillip dem davonfahrenden Gefährt hinterher, während seine Gedanken in der Zeit zurückwandern zu dem Zeitpunkt, als Dietmars Eltern vor dreizehn Jahren bei einem schweren Verkehrsunfall zu Tode kamen. Philip nahm den damals neunzehnjährigen Dietmar bei sich auf. Der kaum erwachsene Mann fand seinen Platz in Phillips Leben, seinem Restaurant und seinem Herzen. In dem Jungen lebte sein Bruder weiter. Jede Bewegung, jeder Blick, ja selbst der trotzige Widerstand erinnerten ihn an seinen ein Jahr älteren Bruder.
Versonnen schaut Philip seinem Neffen hinterher, obwohl der Wagen längst nicht mehr zu sehen ist. ‚Ob ich ihn je wiedersehe?‘, geht es im durch den Kopf. Verena hat sich hier nie richtig wohlgefühlt, das weiß er, aber das hier ist Dietmars Heimat. ‚Vielleicht verhilft es ihm ja hin und wieder zu einem Urlaub, wenn er liest, dass der Leuchtturm jetzt ihm gehört‘, hofft er.
Die Renovierungsarbeiten ziehen sich hin. Statt der von der Handwerkerfirma versprochenen zwei Monate warten sie nun schon über vier Monate auf die Fertigstellung des Restaurants. Die zusätzlichen Kosten sind in enorme Höhen geklettert, so dass an eine Instandsetzung der Wohnung vorerst gar nicht zu denken ist. Noch immer lebt Dietmar mit seiner Familie bei Verenas Eltern, doch das macht ihm nichts aus. Ganz im Gegenteil versteht er sich mit seinem Schwiegervater sehr gut. Der achtundfünfzigjährige Friedhelm Ultrich nutzt jede freie Minute, um Dietmar in dem Lokal zur Hand zu gehen.
„Tu mir den Gefallen und mach etwas langsamer“, bittet Dietmar ihn, als er wieder einmal mit Pinsel und Farbrolle auf eine Leiter klettert. „Du sollst dich hier auf keinen Fall überanstrengen. Deine Frau würde mich umbringen.“
„Sie weiß, dass sie mich nicht anbinden kann“, lächelt der Frührentner. „Ich gehöre noch lange nicht zum alten Eisen. Hier habe ich eine Aufgabe, die mir Spaß macht. Obendrein kann ich euch damit helfen.“
Dietmar ist froh über seine Hilfe. Zudem weiß er Verena und die kleine Andrea bei seiner Schwiegermutter in guten Händen. Er strahlt auf bei dem Gedanken an seine Tochter. Sie hat sich Zeit genommen, ließ auf sich warten. Statt wie geplant Mitte des Monats zu erscheinen, ließ sie sich mit der Geburt Zeit bis zum neunundzwanzigsten August. Dietmar war froh, dass sie den Eröffnungstermin des Restaurants vom ersten September auf den ersten Dezember verschoben hatten. So konnte er sich um Frau und Tochter kümmern, als sie ihn brauchten.
Dann kommt der große Tag!
Dietmar hat sich in den letzten zwei Wochen die Füße wund gelaufen, um Werbung für sein Geschäft zu machen. Die lokalen Zeitungen berichten seit einer Woche über die Neueröffnung des Restaurants. Jede Menge Freunde und die ganze Familie helfen am ersten Tag, indem sie ihn im Restaurant unterstützen. Dadurch, dass sie sich während des Essens um die Gäste kümmern, sorgen sie für einen reibungslosen Ablauf der Bewirtung, sodass am heutigen Tag der Chef selbst die Gäste an der Tür willkommen heißen kann.
Die Eröffnungsfeier ist ein voller Erfolg. Dietmar weiß, dass sein Essen großartig ist, was er an den zufriedenen Gesichtern der Gäste ablesen kann. Zudem setzen die Angestellten seine Anordnungen genauso wie die Wünsche der Kunden perfekt um. Es könnte nicht besser laufen. Am laufenden Band hagelt es Reservierungen. Es dauert nicht lange, dann sind die beiden Nebenräume für private Feiern bis ins neue Jahr hinein ausgebucht.
In den nächsten fünf Jahren schafft Dietmar sich mit seinem Restaurant einen sehr guten Ruf. Um das zu erreichen, arbeitet er an sieben Tagen in der Woche von morgens bis in die späte Nacht hinein. Zudem kümmert er sich um den Ausbau und die Renovierung der Wohnung. Zwei Jahre nach der Eröffnung können sie endlich in ihr eigenes Heim einziehen.
Verena hat mit ihrer Tochter und dem privaten Haushalt alle Hände voll zu tun, trotzdem geht sie Dietmar zur Hand, wann immer sie Zeit dafür findet. Allerdings fällt es ihr von Tag zu Tag schwerer, sich dafür zu begeistern. Ihrer Vorstellung nach sollte das Restaurant in kürzester Zeit so viel Umsatz abwerfen, dass sie mit ihrem Mann problemlos davon leben kann, ohne selbst tätig zu werden. Immer öfter stellt sie ihn zur Rede. Es interessiert sie nicht, dass er müde und abgespannt nach Hause kommt, sondern beginnt oftmals einen Streit.
Ihre Forderungen sind nun einmal nicht umsetzbar, weiß Dietmar, doch das kann er seiner Frau nicht begreiflich machen. Die mittlerweile Vierunddreißigjährige wünscht sich von ihrem Leben etwas anderes.
„Ich kann dir deine Wünsche nicht erfüllen“, beendet Dietmar traurig zum wiederholten Mal einen Streit. „Du verlangst einfach zu viel.“
„Ich werde nicht ewig für dich putzen und deine Angestellte spielen. Das solltest du bedenken“, droht Verena ihm wütend, bevor sie den Raum verlässt. Unendlich traurig schaut er ihr nach. Alles hatte so wundervoll angefangen.
Auch die Zusprüche von Verenas Eltern helfen nicht. Die frustrierte Ehefrau kümmert sich auch nicht darum, ob ihre Tochter eine der Streitigkeiten zwischen den Eheleuten mitbekommt, sie fühlt sich im Recht.
Andrea wächst auf mit der liebevollen Fürsorge eines wundervollen Vaters, der ihr jeden Wunsch von den Augen abliest. Dass ihre Mutter einmal genauso war, daran kann sie sich kaum noch erinnern. Mit ihren fünf Jahren weiß sie nur, dass ihre Mutter immer wieder herumschreit, über die anstehenden Arbeiten meckert und absolut keine Toleranzgrenze hat. Der kleinste Fleck auf ihrer Kleidung bringt die Frau zum Aufbrausen.
Andrea ist bemüht, ihrer Mutter keinen zusätzlichen Kummer zu machen. Doch nie kann sie es ihr recht machen. Dass Andrea mit ihren weichen blonden Haaren und den blaubraunen Augen ihrem Vater einfach nur zu ähnlich sieht, kann das Kind nicht wissen. Aber Verena erträgt es nicht, zu sehen, wie sehr ihr Kind nach dem Vater schlägt. Das allein reicht häufig aus, um ihre Stimmung umschlagen zu lassen.
Oftmals zieht sich Andrea abends beim Einschlafen die Decke über den Kopf. Sie hält sich die Ohren zu, damit sie nicht mitanhören muss, wie sich ihre Eltern im Nachbarzimmer streiten. Wenn ihr dann vor Kummer die Tränen über das Gesicht laufen, ist sie froh, dass ihr Vater zu ihr kommt. Wenn er sie liebevoll in die Arme nimmt, um sie in den Schlaf zu wiegen, ist es gleich nur noch halb so schlimm.
„Ich werde immer für dich da sein“, verspricht Dietmar ihr.
3
Mai 1986
„Papa, du hast es mir versprochen“, mault die fünfjährige Andrea. „Ich kann das. Bitte! Nur einmal. Biiitte!“
Dietmar muss bei dem Anblick seiner Tochter, die mit bettelnd auf ihn gerichteten Augen vor ihm steht, lachen. Das Mädchen weiß ganz genau, wie sie ihren Vater um den kleinen Finger wickeln kann.
„Also schön“, gibt er sich geschlagen. „Aber nur, wenn es nicht zu voll ist. Und ich suche den Gast aus! Klar?“
„Ja.“ Vor Freude hüpft Andrea auf und ab, wobei sie strahlend in die Hände klatscht. „Wann? Wie lange muss ich warten?“
„Eine Weile. Ich sage dir, wann du anfangen darfst. Einverstanden?“
„Hmm“, nickt sie bestätigend, während sie sich für einen Moment liebevoll von ihm in die Arme nehmen lässt, bevor sie ihren Vater energisch fortschiebt. „Ich bin in der Küche. Da muss ich nach dem Rechten sehen“, behauptet die Fünfjährige im Brustton der Überzeugung.
Dietmar verkneift sich das Lachen, als seine Tochter hoch erhobenen Hauptes davonstolziert.
Den ganzen Sonntag über ist das Restaurant bis auf den letzten Platz besetzt. Mehrfach musste Dietmar seine Tochter vertrösten. Ihr größter Wunsch ist es, als Servicebedienung in seinem Lokal zu arbeiten. Hauptsächlich liegt das allerdings an der bildhübschen jungen Angestellten, die es Andrea angetan hat. Sabrina Engels arbeitet jetzt seit drei Jahren bei ihm. Die siebenundzwanzigjährige Blondine wird es nicht leid, die ständigen Fragen der Kleinen zu beantworten. Sie stand Andrea lächelnd zur Seite, als diese ihrem Vater die Bitte vortrug, einmal einen Gast bedienen zu dürfen.
Im Augenblick sitzt Andrea schmollend an der Anmeldung, wo sie darauf wartet, endlich loslegen zu dürfen. Ob ihr Vater sie vergessen hat? ‚Nein, das würde er nie‘, versichert sich das Mädchen. ‚Er hat bestimmt einfach nur zu viel zu tun.‘
Als sich ein paar der Gäste erheben, um der Garderobe zuzustreben, wird endlich ein Tisch frei. Sabrina, die ihnen ihre Bekleidungsstücke anreicht, begleitet die Gäste freundlich verabschiedend bis zum Ausgang.
‚Jetzt oder nie‘, denkt Andrea. Sie greift nach ihrer hübschen Sommerjacke, in die sie mit beiden Armen gleichzeitig hineinschlüpft. Für die Gäste muss man immer gut aussehen, weiß sie. Prüfend betrachtet sie die Servicemanagerin, deren lange blonde Haare ordentlich hochgesteckt sind. Die schwarze Hose, der passende Blazer und die weiße Bluse lassen die1,70Meter große Frau schlanker wirken, als sie ohnehin schon ist. Mit den hohen Pumps wirkt sie obendrein äußerst elegant.
Andrea hievt sich von ihrem Stuhl, als ein älteres Paar den Eingangsbereich betritt. Allerdings begrüßt Sabrina die Gäste bereits, noch bevor sie loslaufen kann. Die Servicemanagerin greift nach zwei der Speisekarten, die jederzeit auf der Theke bereitliegen. Anschließend begleitet sie die Gäste zu ihren Plätzen, wo sie abwartet, bis sich die beiden zufrieden umschauend niedergelassen haben. Zuvorkommend reicht sie dem Paar die Karten, wobei sie sich mit ihnen über die heutigen Angebote unterhält.
Schmollend plumpst Andrea zurück auf ihren Sitzplatz. ‚Ob ich heute überhaupt noch mitmachen darf?‘, fragt sie sich frustriert.
Im gleichen Augenblick öffnet sich die Tür ein weiteres Mal. Gleich ein ganzer Schwall an Personen scheint da vor dem Restaurant zu stehen.
Andrea schaut sich nach ihrem Vater um. ‚Papa ist bestimmt noch in der Küche‘, schätzt sie, wobei ihre Augen fragend umherschauen. Ihre Mutter hat sich bisher nicht im Restaurant blicken lassen. Bleibt nur Sabrina, doch die ist immer noch beschäftigt.
Entschlossen baut sich Andrea vor den ersten eintretenden Männern auf. „Guten Abend, meine Herren“, begrüßt sie die Gäste altklug. „Es tut mir sehr leid, aber im Moment sind alle unsere Tische besetzt.“
Fryderyk hat eine Schwäche für wohlerzogene Kinder. Dieses Mädchen scheint genau zu wissen, wie man sich Gästen gegenüber zu verhalten hat. ‚Ob die Eltern des Kindes mitbekommen, was die Kleine hier macht?‘, fragt er sich amüsiert.
„Das ist aber sehr schade“, bemerkt er freundlich lächelnd, wobei er sich ein wenig zu dem Mädchen herunterbeugt. „Ich habe schon so viel von diesem Restaurant gehört, dass ich es unbedingt einmal ausprobieren wollte.“ Er zeigt auf den Mann neben sich. „Mein Bruder Milan hat heute Geburtstag. Dafür haben wir die ganze Familie eingeladen. Kannst du uns da gar nicht helfen, junge Dame?“
So angesprochen zu werden, lässt Andrea aufstrahlen. Fieberhaft überlegt sie, was ihr Vater machen würde. „Wie viele Personen sind Sie denn?“
„Lass mich einmal nachrechnen. Wir sind zwölf Personen.“ ‚Die Kleine ist allerliebst‘, denkt Fryderyk entzückt.
Andrea kaut auf ihrer Lippe. Was soll sie denn jetzt machen? ‚Der Mann hat heute Geburtstag. Ich wäre auch sehr traurig, wenn ich meinen Geburtstag nicht feiern könnte‘, geht es ihr durch den Kopf. Dann fällt ihr ein, was ihr Vater in solchen Situationen macht. „Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen unseren kleinen Ver…, Ver…“, sie bekommt das Wort nicht hin. ‚So ein Mist!‘ Für die gerade einmal Fünfjährige ist das Wort ‚Veranstaltungsraum‘ nicht leicht zu behalten, aber sie weiß sich zu helfen. „Unseren Raum für die Feiern“, fällt ihr ein. „Den kann ich für Sie aufmachen.“
„Das wäre wunderbar“, freut sich Fryderyk. „Aber bekommst du dann keinen Ärger mit dem Chef hier?“
Andrea schüttelt heftig den Kopf. „Nein, mein Papa sagt immer ‚der Gast ist König‘. Daran halten sich alle. Bitte kommen Sie mit.“ Im Vorbeigehen schnappt sie sich den ganzen Stapel an Speisekarten, der auf dem Tisch ausliegt.
Fryderyk überlegt, ihr den schweren Packen abzunehmen, aber dann lässt er es. Diese junge Dame würde es als ziemlich ungebührlich empfinden, einen Gast die Speisekarten tragen zu lassen.
Andrea schafft es, ohne die Karten fallen zu lassen, die Tür zum Veranstaltungsraum aufzuschieben. Sie legt die Speisekarten auf einem Beistelltisch ab, bevor sie einladend mit der Hand auf die sauber eingedeckten Tische hinweist. „Bitte, nehmen Sie Platz.“
Sabrina, die auf die Aktivitäten der Fünfjährigen aufmerksam geworden ist, bemüht sich, die Betreuung ihrer Gäste schnellstens zu organisieren, um zu Andrea zu gelangen. Erschrocken reißt sie ihre blauen Augen auf, als sie Andrea zwischen den vielen Leuten entdeckt. ‚Du meine Güte‘, denkt sie. ‚Hoffentlich geht das nicht schief.‘ „Andrea, was machst du denn hier?“, fragt sie leise.
„Ich mache meine Arbeit“, erklärt Andrea demonstrativ, während sie weiter die Speisekarten verteilt. „Bitte, wählen Sie in Ruhe aus.“
Entsetzt schaut Sabrina die Gäste an, von denen ihr Fryderyk beruhigend zulächelt.
„Das macht Ihre junge Kollegin übrigens ganz hervorragend“, versichert er der Servicemanagerin, während er Andrea verschwörerisch zuzwinkert. „Ich bin begeistert von der Freundlichkeit, mit der man hier empfangen wird.“ Ernst wendet er sich der Angestellten zu. „Ich hoffe, das geht in Ordnung, dass wir uns hier niedergelassen haben. Die junge Dame war so nett, uns diesen Raum anzubieten.“
„Ich sehe da keine Probleme“, bestätigt Sabrina ihm, dann winkt sie Andrea mit sich hinaus. „Dein Vater zieht dir die Ohren lang“, verspricht sie der Kleinen belustigt, doch das Mädchen lächelt sie nur glücklich an.
Sofort organisiert die Servicemanagerin das Personal, das die Bedienung der Gruppe übernehmen wird.
Im Laufe des Abends erscheint auch Dietmar bei den Gästen, um sich nach deren Wohlbefinden zu erkundigen. Von Sabrina weiß er bereits, was sich zugetragen hat. Obwohl er dafür sorgen muss, dass die unbeaufsichtigte Handlung seiner Tochter nicht zur Gewohnheit wird, ist er ein kleines Stück weit stolz auf sie.
„Ich bin begeistert“, teilt Fryderyk ihm mit. „Nicht nur von dem Essen, auch von dem Service. Vor allem von Ihrer Empfangsdame. Ich würde mich gerne bei ihr für den freundlichen Empfang bedanken. Ist die junge Dame Ihre Tochter?“
„Allerdings“, nickt Dietmar. „Doch über ihre Eigenmächtigkeit werde ich mich wohl mit ihr unterhalten müssen.“ An seinem Lächeln erkennen alle, dass er das nicht ganz so ernst meint. „Im Augenblick ist es ihr größter Wunsch, eine Servicemanagerin zu werden. Ich bin gespannt, womit sie mich im nächsten Jahr überrascht.“
Fryderyks Familie stimmt fröhlich in dessen Lachen, dem sich auch Dietmar anschließt, ein.
Als sie sich zwei Stunden später von Dietmar verabschieden, reicht Fryderyk ihm seine Visitenkarte. „Ich bin Fryderyk Wachowiak, Unternehmer. Mit eigener Viehzucht, Schlachterei und Metzgerei. Unser Geburtstagskind hier ist mein Bruder Milan. Als ausgebildeter Metzger leitet er unseren Schlachtbetrieb. Mein Bruder Ksawery kümmert sich um die Vermarktung und den Transport. So bleibt alles in einer Hand. Ein Familienbetrieb eben. Dadurch können wir bedeutend preiswerter verkaufen als jeder Großhändler. Wenn Sie Interesse haben, rufen Sie mich doch einfach in den nächsten Tagen einmal an.“
„Das mache ich gern“, freut sich Dietmar. „Vielen Dank.“
„Wieso bist du so aufgebracht?“, erkundigt sich Dietmar bei seiner Frau. Er versteht nicht, warum sie ihm eine solche Szene macht.
„Warum?“, wiederholt sie wütend. „Nicht nur, dass deine Frau tagein, tagaus in deinem Lokal schuften muss, hältst du jetzt sogar schon deine fünfjährige Tochter dazu an.“
„Erstens habe ich sie nicht dazu angehalten, wie du sagst, sondern sie hat das von sich aus gewollt, zweitens hat sie das ohne meine Kenntnis gemacht.“
„Aber du hast es erst so weit kommen lassen“, wirft Verena ihm vor.
„Da war doch überhaupt nichts dabei. Für Andrea war das Ganze ein riesengroßes supertolles Spiel. Außerdem hat sie das klasse gemacht“, fügt er stolz hinzu.
„Du bist darüber auch noch erfreut“, stellt sie erbost fest.
„Wenn es dir so gegen den Strich geht, erklär mir doch bitte, wieso du nicht da warst. Du hast dich den ganzen Abend nicht blicken lassen, ohne ein Wort zu sagen. Dadurch war eine Stelle nicht besetzt.“
„Gibst du jetzt etwa mir die Schuld?“
„Ich gebe niemandem für irgendetwas die Schuld. Ich sage nur, dass keiner da war, der auf Andrea hätte achten können. Jeder von uns hat seinen Platz. Wir müssen uns aufeinander verlassen können.“
„Du machst es dir ziemlich einfach. Findest du nicht?“
„Verena, bitte“, fordert er versöhnlich. „Mach nicht so ein Drama daraus. Andrea hat ihren Willen bekommen. Damit ist das Ganze für sie wahrscheinlich schon längst wieder erledigt.“
„Das denkst auch nur du. Sie will genauso sein wie ihr Papa. Ist dir das noch nicht aufgefallen?“
„Was ist denn daran so schlimm?“ Dietmar streckt die Arme aus, um sie an sich zu ziehen. „Ich werde dafür sorgen, dass das nicht mehr passiert. Ist das für dich in Ordnung?“ Er möchte diesen Streit gern beenden. Wenn er ihr dafür entgegenkommen muss, ist er dazu bereit.
Verena schiebt ihn heftig zurück. Sie weiß genau, was sie will, aber wenn er sie jetzt in die Arme nimmt, wird sie wieder nachgeben. ‚Warum nur sieht er immer noch so gut aus?‘ Heftig schiebt sie ihn zurück. „Mach, was du willst, es interessiert mich nicht mehr. In Zukunft kannst du walten, wie es dir beliebt, aber auf mich wirst du dabei verzichten müssen.“
„Was willst du mir damit sagen?“, fragt Dietmar irritiert. ‚Was hat sie nur?‘
„Du willst wissen, warum ich nicht unten war? Ich werde es dir sagen! Ich hatte etwas anderes zu tun. Ich habe gepackt. Alles! In einer Stunde lasse ich mich hier abholen, dann bin ich weg.“ Als er den Mund zu einer Frage öffnet, faucht sie ihn heftig an. „Versuch gar nicht erst, mich umzustimmen. Ich werde gehen, ich werde dir auch nicht sagen, wohin. Es ist vorbei! Ich habe endgültig genug!“
„Du willst mich also verlassen“, begreift Dietmar. „Das habe ich verstanden. Aber was ist mit Andrea? Was hast du mit ihr vor?“
„Wieso ich? Nichts habe ich mit ihr vor. Ich kann sie nicht gebrauchen“, antwortet Verena kalt. „Schließlich will ich neu anfangen, da kann ich nicht mit einem Kleinkind aufkreuzen. Sie ist sowieso mehr auf ihren Vater fixiert. Also lass mich damit in Ruhe.“
Dietmar starrt sie entsetzt an. ‚Ist das wirklich meine Frau? Wann hat sie sich so verändert? Kann sie wirklich einfach so auf ihr Kind verzichten? Welche Mutter kann denn das?‘ „Verena, das ist nicht dein Ernst“, erwidert er vollkommen perplex.
„Oh, doch! Und jetzt lass mich in Ruhe!“ Sie dreht sich auf dem Absatz um, schnappt sich ihre Handtasche, die sie umhängt, während die andere Hand bereits nach dem Koffer greift. Ohne sich noch einmal umzuschauen, beginnt sie, ihre Sachen nach unten zu tragen.
Fassungslos starrt Dietmar ihr hinterher.
„Geht Mama weg? Ist das meine Schuld?“
Dietmar fährt erschrocken herum.
Andrea steht mitten im Raum mit riesengroßen schreckgeweiteten Augen. Er fragt sich, wie lange seine Tochter wohl schon dort steht. ‚Was hat sie gehört?‘
„Sie hat gesagt, sie will mich nicht“, wiederholt das Mädchen, dem dicke Tränen über die Wangen laufen. „Sie hat das schon oft gesagt.“ Die Frage fällt ihr schwer, aber sie muss es wissen. „Willst du mich auch nicht?“
„Nein, mein Schatz“, Dietmar kniet vor ihr nieder. „Niemand wird uns zwei je auseinanderbringen. Ehrenwort! Ich bleibe immer bei dir, versprochen! Komm einmal her“, er nimmt sie in die Arme, wiegt sich mit ihr hin und her, bis die Tränen versiegen. Dann hebt er sie hoch, um sie ins Bett zu bringen. In seinem Arm schläft sie ein, während er nachdenklich an die Decke starrt.
Was hat er falsch gemacht? Hat er etwas falsch gemacht? Dieses Restaurant hier in Essen war doch ihr Wunsch. Er war in Horumersiel zuhause. Für Verena hat er seine Heimat aufgegeben. Er wollte es ihr doch recht machen, ihre Wünsche berücksichtigen. Er liebt sie eben. Sie haben gut verdient, hatten ein sorgenfreies Leben. ‚Was will sie denn noch? Ob sie zurückkommen wird? Wohl kaum.‘ Jetzt muss er sich um alles kümmern. Dann fällt ihm auf, dass es da gar nicht so viel gibt, was er bisher nicht gemacht hat. War das schon immer so? Er hat keine Ahnung, doch eins weiß er gewiss, Andrea braucht ihn jetzt. Er wird sein Versprechen halten, solange er lebt, schwört er sich.
Vater und Tochter bemühen sich, trotz ihres Kummers, den Alltag zu bewältigen. Mittlerweile sind über vier Monate vergangen, in denen sie nichts von Verena gehört haben. Selbst zu Andreas sechstem Geburtstag gibt es keine Nachricht von ihr, keine Karte, keine Gratulation, kein Anruf.
Trotzdem genießt Andrea die Geburtstagsfeier. Es ist sogar der schönste Geburtstag, den sie je hatte. Obwohl sie unter dem Verlust der Mutter leidet, weiß sie, dass die Feier mit ihr nie so schön geworden wäre. Verena hat alles bemängelt, was ihr Vater je für sie gemacht hat. Nie war ihre Mutter zufrieden. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ihre Mutter hat sich entschieden. Für sie selbst beginnt ein neuer Lebensabschnitt, auf den sie sich jetzt vorbereiten muss. Mit der Hand streicht sie über den neuen Schulranzen, den ihr Onkel Philip geschenkt hat. Daneben liegt das hübsche Kleid, das sie beim letzten Einkaufsbummel mit ihrer Großmutter bewundert hat. Auch die passenden Schuhe, Strümpfe und sogar eine Jacke gehören dazu. Außerdem hat Oma neue Ohrringe für sie gekauft. Richtig hübsche, keine einfachen Stecker, sondern kleine silberne Tropfen. Jeder Ohrring hat drei Stück, die an feinen Ketten in verschiedenen Längen baumeln. Damit sieht sie bestimmt umwerfend aus! ‚Noch neun Tage‘, rechnet sie sich aus. ‚Dann gehe ich in die Schule. Bald bin ich erwachsen!‘
Als der große Tag beginnt, steht sie in ihrem hübschen neuen Kleid auf dem Schulhof, die bunte Schultüte im Arm, die sie von Oma und Opa bekommen hat. Sie freut sich darauf, sie auszupacken. Darin ist bestimmt alles Mögliche an Schulbedarf, aber auch Süßigkeiten. Das hat ihnen Nadines Bruder erzählt. Sie ist gespannt, ob das stimmt.
Hier an der Schule kennt sie sich aus, der Kindergarten ist gleich um die Ecke. Der Weg bis nach Hause ist auch nicht so weit. Ihr Vater hat ihr versprochen, dass sie allein gehen darf, nun ja, nicht ganz allein. Ihre beiden Freundinnen aus dem Nachbarhaus gehen mit ihr. Sie freut sich schon darauf, mit Nadine und Stefanie in einer Bank zu sitzen. ‚Hoffentlich geht das. Was, wenn sie nur zwei Plätze in einer Bank haben, so wie bei Nadines großem Bruder?‘ Joachim ist sechs Jahre älter, schon richtig erwachsen und geht bereits auf die höhere Schule. Obwohl Jo den Mädchen sagt, dass sie ihn nerven, ist er nett zu ihnen. ‚Irgendwie passt er immer auf uns auf‘, erkennt Andrea.
Philip Krahlert hat es sich nicht nehmen lassen, zur Einschulung seiner Großnichte neben Dietmar zu stehen. Sie haben beschlossen, diesen Tag gemeinsam zu feiern.
Nachdem die Erstklässler aufgerufen wurden, stolzieren sie hinter ihrer Lehrerin in den Klassenraum, während die Eltern draußen warten.
Ein Stück abseits des bunten Treibens steht eine Frau mit kurzen dunklen Haaren, deren Gesicht zum Teil hinter einer großen Sonnenbrille verborgen ist. Trotz des warmen Wetters trägt sie lange Kleidung. Die aufgeplatzte Wange und das blaue Auge, das ihr derzeitiger Freund ihr vor kurzem verpasst hat, sind kaum zu sehen. Ihre Augen hängen ununterbrochen an Andrea. ‚Die Kleine strahlt ihren Vater regelrecht an. Sie sieht glücklich aus‘, urteilt sie. Ihr Blick wandert zu Dietmar hinüber. Der gutaussehende Mann von achtunddreißig Jahren lässt ihr Herz einen Augenblick schneller schlagen. ‚Nein, das ist vorbei!‘ Verena wirft noch einen Blick auf ihre glückliche Tochter, dann verschwindet sie wieder. ‚Es ist gut, wenn mich hier niemand sieht!‘
Doch so unbemerkt, wie sie glaubt, war sie nicht. Philip schaut ihr noch eine Weile hinterher. ‚Sie sah nicht so aus, als ob es ihr gut gehen würde. Soll ich Dietmar sagen, dass sie da war? Nein, heute behalte ich das für mich‘, trifft er seine Entscheidung. Zuerst will er sich weitere Informationen einholen. Dafür kennt er genau den richtigen Mann. Er ist gespannt, was das bringt.
Derweil hat Andrea ganz andere Probleme. Entsetzt starren die drei Mädchen auf die Zweierbänke in dem Klassenraum.
„Vielleicht können wir uns zu dritt an einen Tisch setzen“, überlegt Nadine.
Andreas Augen wandern durch den Raum, bis sie an einem Mädchen hängen bleiben, das allein in der ersten Reihe am Fenster sitzt. ‚Sie sieht eigentlich ganz nett aus‘, urteilt sie. „Ich glaube nicht, dass das geht. Kommt mit“, fordert sie die Freundinnen auf, während sie sich dem Tisch nähert. „Hallo, darf ich mich zu dir setzen?“
Die Augen des Mädchens leuchten auf. „Ja, das wäre toll.“
Andrea rutscht auf den freien Stuhl. „Ich bin Andrea“, teilt sie der Fremden mit. Sie zeigt auf ihre Freundinnen, die in die leere Bank hinter ihnen rutschen. „Das ist Nadine und das Stefanie.“
„Schön, euch kennen zu lernen. Ich bin Diana, aber alle sagen Dina zu mir. Dabei ist das nur ein Buchstabe weniger.“ Sie lacht fröhlich auf.
Andrea gefällt das lustige Mädchen. In Kürze ist das Quartett ein eingeschworenes Team, das selbst die Oberstufe gemeinsam meistert.
Von ihrer Mutter sieht und hört sie in den nächsten zehn Jahren nichts mehr.
Philip Krahlert hat die Frau, die während der Einschulung traurig in einer Ecke stand, jedoch nicht vergessen. Er beauftragt einen Freund, der als privater Ermittler in einer großen Kanzlei arbeitet, ihm alle Informationen zu besorgen, die zu finden sind.
Drei Wochen später erscheint Philip mit einer dicken Akte bei seinem Neffen. „Ich muss mit dir reden“, erklärt er Dietmar. Anschließend berichtet er ihm, was er an Andreas Einschulungstag beobachten konnte. Er verheimlicht Dietmar auch nicht die Schritte, die er daraufhin unternommen hat.
Erstaunt hört Dietmar ihm zu. „Was hast du herausgefunden?“
„Verena ist in Essen geblieben“, beginnt Philip, die Ergebnisse der Recherche preiszugeben. „Sie ist damals zu einer Schulfreundin gezogen, wo sie allerdings nur kurz blieb. Anscheinend hatte sie sich an einen betuchten Geschäftsmann herangemacht, der für sie angeblich seine Frau verlassen wollte. Er organisierte ihr eine Wohnung in Essen-Altendorf, also nicht gerade im besten Viertel. Schon nach kurzer Zeit hatte er allerdings die Nase von ihr voll. Es ist nicht klar, wie sie direkt an den nächsten Typen gelangt ist, aber mein Freund vermutet, dass dieser Geschäftsmann sie verkauft hat. Ihr neuerFreundschickt sie regelmäßig anschaffen. Er scheint nicht gerade zimperlich mit ihr umzugehen. Es liegen mehrere Anzeigen der Nachbarn wegen Ruhestörung vor. Der Typ ist bei der Polizei kein Unbekannter, ein kleiner Zuhälter, der sich schon den einen oder anderen Aufenthalt im Gefängnis wegen Diebstahl oder Körperverletzung eingehandelt hat.“
„Und bei dem Mistkerl hängt Verena fest?“
„Sieht so aus.“ Philip schaut ihn ernst an. „Was willst du jetzt machen?“
„Wieso glaubst du, dass ich da eingreifen würde?“, erkundigt sich Dietmar verdutzt.
„Weil sie dir nicht egal ist, weil du ein großes Herz hast, weil sie die Mutter deiner Tochter ist … willst du noch mehr Gründe hören?“ Philip lächelt seinem Neffen zu. „Ich kenne dich doch.“
„Du hast Recht“, gibt Dietmar mit einem nachdenklichen Blick auf die Unterlagen zu. „Aber ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Ich werde sie auf keinen Fall hierherholen. Sie hat in unserem Leben nichts mehr zu suchen. Den Schmerz, den sie mir und auch Andrea zugefügt hat, den möchte ich weder verstärken noch wiederholen.“
‚Gut so!‘ Philip atmet erleichtert auf. „Darf ich dir einen Vorschlag machen?“
„Sicher.“
„Lass mich das erledigen. Ich werde zu ihr fahren. Sie bekommt von mir genügend Geld, um in einer anderen Stadt neu anzufangen. Mein Freund hat mir geholfen, ihr eine Wohnung in Wuppertal zu suchen. Auch einen Arbeitsplatz gibt es da für sie. Ich werde ihr anbieten, das für sie zu organisieren, im Gegenzug unterzeichnet sie eine Scheidungsurkunde und den Verzicht auf das Sorgerecht. So könnt ihr beide aus eurem Leben das machen, was euch vorschwebt. Was sagst du?“
„Du hast Verena nie richtig gemocht“, äußert Dietmar nachdenklich. „Wieso hilfst du ihr jetzt?“
„Ich helfe nicht ihr, sondern dir. Vor allem aber Andrea“, behauptet Philip. „Dietmar, ich lebe nicht ewig. Noch in diesem Jahr werde ich sechzig. Was ist mit dir? Du wirst dich um sie kümmern, solange du lebst, das weiß ich! Aber was passiert mit ihr, wenn dir etwas zustößt? Denk einmal darüber nach. Du bist mit Verena verheiratet. Als deine Ehefrau erbt sie alles. Andrea erhält höchstens einen Pflichtteil. Den darf Verena als ihre Mutter dann auch noch verwalten. Wahrscheinlich macht sie deinen Laden ganz schnell zu Geld. Was wird aus Andrea, wenn sie damit verschwindet?“
Entsetzt starrt er seinen Onkel an. ‚Traut er Verena wirklich eine solche Schlechtigkeit zu?‘ Er muss daran denken, wie kalt sie über ihre Tochter gesprochen hat, als sie auszog. ‚Philip hat Recht‘, begreift er. „Wahrscheinlich stimmt das, was du sagst“, bestätigt er seinem Onkel. „Was soll ich denn jetzt machen?“
„Mein Freund hat mir da weitergeholfen“, erklärt Philip, ein Dokument aus den Unterlagen hervorkramend. „Das ist ein Scheidungsantrag. Den füllen wir aus. Verena soll ihn unterschreiben. Dann ist er spätestens in einem Jahr gültig. Die anderen beiden Dokumente sind die Verzichtserklärungen auf Sorgerecht und Unterhalt. Ich kümmere mich um Verenas Unterschrift auf den Papieren. Außerdem wirst du ein Testament machen. Gib deine Tochter als Alleinerbin an und überlege, wer ihr so lange helfen könnte, bis sie alt genug ist, um allein klarzukommen. Das solltest du mit den passenden Leuten klären. Alle diese Punkte vermerkst du in deinem Testament, das du anschließend von einem Notar beglaubigen lässt.“
„Du hast dich ja wirklich informiert“, staunt Dietmar. „Ich bin einverstanden, so machen wir das!“, bekräftigt er entschlossen. Um die Zukunft seiner Tochter abzusichern, würde er jeden Schritt gehen.
Schon am darauffolgenden Wochenende steht Philip mit seinem Freund vor Verenas Wohnung. Durch ihre Nachforschungen wissen sie, dass sich ihr Lebensgefährte seit dem gestrigen Tag in Untersuchungshaft befindet. Für Philips Vorhaben genau richtig.
„Du?“, staunt Verena, als sie die Männer vor der Tür erblickt.
„Ja, ich“, betont Philip kalt. „Können wir hereinkommen?“
„Sicher.“ Den Eingang freigebend weist sie mit der Hand einladend auf den großen Wohnraum.
Es überrascht Philip, dass die Wohnung absolut sauber und aufgeräumt aussieht. Die Einrichtung aus gut aufeinander abgestimmten Möbelstücken wirkt gemütlich.
„Was willst du?“ Verenas Stimme klingt eher neugierig als abweisend.
„Ich will dir ein Angebot machen.“ Die beiden Männer konfrontieren Verena mit ihrem Wissen. Philip unterbreitet ihr zudem, was er von ihr verlangt.
Peinlich berührt hört sie sich an, was der Onkel ihres Mannes ihr für ihr Entgegenkommen anbietet. ‚Wie hat er nur so viel über mich in Erfahrung bringen können?‘ Sie ist nicht stolz auf das, was geschehen ist. Von ihrem zukünftigen Leben hatte sie andere Vorstellungen. Aber anscheinend gerät sie dafür immer an die falschen Männer. Sie erkennt die Chance, die Philip ihr bietet. Noch einmal von vorne anfangen, irgendwo, wo sie keiner kennt. ‚Das ist gar nicht so verkehrt.‘ Sie begreift auch, dass es dann keine Rückkehr mehr gibt. Dietmar und auch ihre Tochter gehören dann endgültig nicht mehr zu ihrem Leben. ‚Dieser Wunsch würde sich sowieso nicht mehr erfüllen. Das habe ich mir selbst kaputt gemacht‘, gesteht sich Verena traurig ein. „Ich bin einverstanden“, erklärt sie fest.
„Gut.“ Philip verkneift sich eine bissige Antwort, als er die aufkeimenden Tränen in ihren Augen bemerkt. Anscheinend fällt es ihr doch nicht so leicht, wie es sich anhörte.
Alles Weitere ist schnell erledigt. Philip überlässt es seinem Freund, für den Umzug nach Wuppertal zu sorgen.
4
September 1995
Schon vor dem Erhalt seiner Genehmigungen zum Betreiben eines Restaurants standen die Behörden bei ihm Schlange. Das änderte sich auch nach der Eröffnung nicht. Dietmar hatte unter anderem zu kämpfen mit Veterinäramt, Gesundheitsamt und Gewerbeaufsichtsamt. Vorschriften der Bauaufsicht galt es einzuhalten, genauso wie Hygienevorschriften, Kühlung, Reinigung und Desinfektion nach geregeltem Ordnungsplan, Personalschulung, ja, sogar die Schädlingsbekämpfung. Allem voran steht die Einhaltung der vorgeschriebenen Lebensmittelgesetze. Alles muss ordentlich dokumentiert und nachverfolgbar sein. Jährlich erscheint ein Kontrolleur, um sich von dem ordnungsgemäßen Betreiben des Restaurants ein Bild zu machen. Nicht weniger wichtig sind den Behörden die Einhaltung von Mindestlohn und Arbeitszeiten. Auch hier hat sich Dietmar nichts vorzuwerfen. Sein Restaurant ist ihm wichtig. Er hält nichts von verbrecherischen Machenschaften, um in die eigene Tasche zu wirtschaften. Ihm ist ein guter Ruf als Gastronom viel wichtiger.
Die mit der Überwachung beauftragten Lebensmittelkontrolleure sind befugt, gegen Empfangsbescheinigung Proben zu fordern. Entnommen durch dafür geschultes Personal werden diese Proben anschließend zur Analyse und Begutachtung in dafür autorisierte Labore geschickt. Sie haben auch das Recht, sich durch die zuständigen Polizeibehörden Unterstützung anzufordern sowie die kontrollierten Betriebe gründlich zu durchsuchen. Allerdings muss dafür zumindest ein ausreichender Verdacht vorliegen.
Dietmar hat damit keine Probleme. Er macht sich auch keine Sorgen wegen der immer wiederkehrenden unangemeldeten Kontrollen. Er ist bereit, diesen Leuten zu jeder Zeit seine Türen zu öffnen. Auch nimmt er die ausgesprochenen Empfehlungen oder Ratschläge der Kontrolleure ernst.
Die Kontrolle durch den Zoll und die mitwirkenden Behörden findet unangemeldet statt, das kennt er schon. Hierbei handelt es sich um die turnusmäßige Kontrolle, die nicht aufgrund eines Verdachtsmomentes oder gar einer Anzeige stattfindet. In der Regel erscheinen die zivilen Beamten zu zweit oder maximal zu dritt. Zunächst treten sie als normale Gäste auf, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Nach einiger Zeit geben sie sich dann als Kontrolleure zu erkennen.
So ist es auch dieses Mal wieder. Dietmar lächelt, als er die drei Männer erblickt, die sich gerade von seiner Servicemanagerin zu ihrem Tisch begleiten lassen. Die Beamten vom Zoll und der Lebensmittelüberwachungsbehörde in Essen waren schon öfter hier. Normalerweise wechseln diese Einrichtungen ihre Mitarbeiter aus, um ein vorzeitiges Erkennen zu vermeiden, aber allem Anschein nach haben sie in diesem Restaurant dafür keinen Grund gesehen. Freundlich begrüßt er die Männer. Dann stellt er sein Team um, damit er sich ausgiebig Zeit für die Führung, die Kontrollen und die Fragen der Beamten nehmen kann. Die Betriebsprüfung bezieht sich diesmal hauptsächlich auf die Einhaltung der Gesetze zum Arbeitsrecht. Doch auch die Wareneingangskontrolle und die Verarbeitung der Lebensmittel werden hinterfragt. Die Kontrolleure sind zufrieden mit dem, was Dietmar vorzuweisen hat. Sie überprüfen dieses Restaurant seit sechs Jahren. In Dietmar finden sie einen Betreiber vor, der kooperativ und offen mit ihnen zusammenarbeitet. Das vereinfacht ihnen ihre Arbeit enorm.
Plötzlich stutzt einer der Beamten. Martin Nordmann ist mit den Listen der Lieferanten beschäftigt. Eine erste Sichtung zeigt ihm keine Beanstandungen auf. Doch dann stolpert er über einen Namen, der sich seit langem in seiner Erinnerung festgesetzt hat.
„Sie kaufen Ihr Fleisch vom Schlachthof Wachowiak in Polen?“, verhört er Dietmar neugierig.
„Ja. Fryderyk Wachowiak kommt jedes Mal zum Essen hierher, wenn er geschäftlich in dieser Stadt zu tun hat. Vor circa neun Jahren war er zum ersten Mal in meinem Restaurant. Er feierte mit seiner Familie den Geburtstag seines Bruders. Im Anschluss bot er mir seine Dienste an. Ich bestelle mein Fleisch regelmäßig bei ihm. Bisher hatte ich keinen Grund zu Beanstandungen. Es kommt frisch hier an, weist die vorgeschriebenen Prüfungen und Dokumentationen aus. Die Lieferung funktioniert einwandfrei. Obendrein ist der Preis äußerst fair. Wieso fragen Sie danach? Ist das ein Problem?“
„Ich bin mir nicht sicher“, erklärt der Beamte offen. Durch sein Entgegenkommen hat Dietmar sich die Ehrlichkeit der Männer verdient. „Wir haben den Schlachthof schon seit einiger Zeit im Auge. Sicher, die haben da eine hervorragende Rinderzucht. Das Fleisch ist nicht zu beanstanden. Zudem wird es schnell verarbeitet und landet zeitnah in den Kühlhäusern. Lange Lagerzeiten konnten nie festgestellt werden. Das Fleisch gelangt unverzüglich zum Verbraucher.“
„Wo liegt dann das Problem?“, erkundigt sich Dietmar.
„Der Betrieb hat eine Lizenz zur Entsorgung ausgemusterter oder schadhafter Ware, wie zum Beispiel kranker Tiere. Sie werden aus der ganzen Umgebung bei ihm angeliefert, dort im Schlachthof separat vorbehandelt, also zerkleinert, um anschließend verbrannt zu werden. Allerdings glauben meine Vorgesetzten wohl, dass nicht die gesamte schadhafte Ware in Flammen aufgeht. Sie vermuten, dass Fryderyk Wachowiak und seine Brüder einen großen Teil für sich abzweigen, der dann ordnungsgemäß etikettiert an die Verbraucher verkauft wird. Sie machen damit einen Millionenumsatz auf Kosten der Gesundheit ihrer Endverbraucher.“
Entsetzt starrt Dietmar den Mann an. „Wieso unterbinden Sie das dann nicht? Das ist doch ein Verbrechen. Daran können Menschen sterben!“, empört er sich.
„Wem sagen Sie das“, bestätigt der Kontrolleur. „Doch bisher konnten wir ihm nichts nachweisen.“ Er mustert seinen Gesprächspartner kritisch. „Haben Sie noch Fleisch vom Schlachthof hier? Ich würde gern ein paar Proben entnehmen.“ Gespannt wartet Martin Nordmann auf die Antwort.
„Tun Sie sich keinen Zwang an“, versichert Dietmar ihm. „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass meine Ware minderwertig oder verseucht ist, immerhin speist Herr Wachowiak selbst regelmäßig bei mir, aber wenn Sie mit Ihrer Vermutung richtig liegen, zeigt mir das, welches Fleisch ich schnellstens entsorgen sollte.“
Zufrieden machen sich die Kontrolleure ans Werk. Knapp zwei Stunden später ist die angeforderte Unterstützung vor Ort. Systematisch gehen sie die Lieferungen vom Schlachthof Wachowiak durch. Sie entnehmen Proben, die geteilt werden. Die eine Hälfte werden sie zur Überprüfung mitnehmen, die andere Hälfte bleibt bei Dietmar. Damit er die Möglichkeit hat, eine eigene Untersuchung durch ein externes Labor als Vergleich durchführen zu lassen.
Zum Abschied reicht der Zöllner Dietmar die Hand. „Sie waren wirklich sehr entgegenkommend, das haben wir nicht oft. Ich möchte Ihnen einen Rat geben. Wenn Sie sich einen Lieferanten aussuchen, machen Sie bei den ersten Lieferungen eine Qualitätskontrolle vor Ort. Dazu sind Sie als Abnehmer durchaus berechtigt. Lassen Sie sich Zeugnisse und Zertifikate vorlegen. Sehen Sie sich auch den Verarbeitungsprozess an.“
„Das ist eine gute Idee, das mache ich. Vielen Dank.“
Martin Nordmann reicht Dietmar seine Visitenkarte. „Sollte Ihnen doch einmal etwas auffallen, rufen Sie mich ruhig an.“
Es dauert nicht einmal eine Woche, bis Dietmar die Ergebnisse erhält. Auch wenn er sämtliches Fleisch des Schlachthofs sofort entsorgt hatte, ist er froh zu hören, dass es keine Beanstandungen gab. Alle Laboruntersuchungen erwiesen sich als negativ. Er hatte absolut einwandfreies Fleisch. In Gedanken leistet Dietmar den Betreibern des Schlachthofes Abbitte, um im Anschluss unverzüglich eine neue Lieferung zu bestellen.
„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mir Ihren Betrieb einmal anschaue?“, erkundigt er sich spontan während des Telefonats bei Fryderyk Wachowiak.
„Aber nein, ganz und gar nicht. Lassen Sie mich wissen, wann Sie kommen wollen. Ich würde mich freuen, Sie als Gast begrüßen zu dürfen.“
„In Ordnung, dann melde ich mich, wenn ich die Reisedaten habe. Vielen Dank.“ Dietmar hat keine Ahnung, warum er dem Schlachthofbetreiber nicht gesagt hat, weshalb er diesen Besuch tätigen möchte, aber irgendwie wird er das Gefühl nicht los, dass er seine Beweggründe besser für sich behalten sollte.
Fryderyk schaut nach dem Gespräch versonnen auf sein Telefon. Wieso will der Mann plötzlich seinen Hof besichtigen? Neun Jahre lang hatte der Mann kein Interesse daran. Könnte es sein, dass er spioniert? Vielleicht sogar für die deutschen Behörden? ‚Wir müssen äußerst vorsichtig sein‘, nimmt er sich vor.
Dietmar entschließt sich, den Ruhetag für seine Reise zu nutzen. Früh am Montag macht er sich in seinem in die Jahre gekommenenFord Granada Turnierauf den Weg. Onkel Philip redet schon seit Jahren auf ihn ein, dass er sich einen jüngeren Wagen zulegen soll, doch sein Herz hängt an diesem Gefährt. Der neunzehn Jahre alte Wagen hat ihn noch nicht ein einziges Mal im Stich gelassen. Sicher, er braucht fast genauso viel Öl wie Treibstoff, was nicht gerade wenig ist, aber er wird auch diese Reise überstehen.
Es liegen jetzt etwa sieben Stunden Fahrtzeit vor ihm, was immer noch die beste Möglichkeit ist, sein Ziel zu erreichen, sich umzusehen und am gleichen Tag zurückzukehren. Fryderyk Wachowiak hat ihm zudem versichert, dass alle drei Brüder über die Mittagszeit für seine Fragen zur Verfügung stehen. Mehr kann er wohl kaum verlangen.
Müde und abgespannt kommt er mittags auf dem polnischen Gut in der Nähe der Stadt Wolsztyn an. Sie ist die etwa fünfundsiebzig Kilometer südwestlich von Posen gelegeneKreisstadt des Landkreises Wolsztyn in der Woiwodschaft Großpolen.
Überaus freundlich empfangen ihn der mittlerweile zweiundfünfzigjährige Hausherr und seine Familie. Das kräftige Mahl, das sie zum Mittag gemeinsam einnehmen, belebt seine müden Geister neu. Keiner der drei Männer weicht seinen gezielten Fragen über den Schlachthof, die Verarbeitungsprozesse oder die Lieferkette aus. Sie beginnen mit einer Führung durch den Betrieb.
„Wie kommt es, dass Sie sich nach so langer Zeit der Zusammenarbeit entschlossen haben, uns einen Besuch abzustatten?“, erkundigt sich der Familienvorstand lauernd bei Dietmar.
Der Blick, den der Mann ihm bei der Frage zuwirft, lässt Dietmars Nackenhaare kribbeln. Irgendwie hat er das Gefühl, in Gefahr zu sein. „Meine Tochter ist langsam alt genug, dass ich sie einen Tag lang allein lassen kann. Das war bis vor kurzem noch nicht so. Daher habe ich alle unnötigen Fahrten aufgeschoben. Aber ich war einfach neugierig auf Ihren Betrieb. Immerhin hat mir das Fleisch, das ich hier beziehe, zu einem sehr guten Ruf verholfen. Deshalb kann ich mich gar nicht genug dafür bedanken, dass Sie mir damals Ihre Karte gegeben haben.“
Zufrieden nickt Fryderyk. ‚Hier gibt es keine Probleme‘, glaubt er zu erkennen. „Das haben Sie Ihrer überaus geschäftsfähigen Tochter zu verdanken“, beteuert er lächelnd. „Was wollte sie eigentlich als Nächstes werden?“
„Das glauben Sie mir sowieso nicht.“ Dietmars Augen blitzen vergnügt auf. „Zirkusdirektor mit eigener Raubtiershow.“
Als Antwort auf seine Aussage ertönt das schallende Gelächter der drei Brüder.
Die Wachowiaks sehen sich alarmiert an, als ein alter Jeep auf das Grundstück fährt, um vor dem Eingang zum Schlachthof anzuhalten.
„Kommen Sie“, fordert Milan Dietmar auf. „Ich zeige Ihnen die Metzgerei und den Schlachtbetrieb.“
„Gern.“
„Uns müssen Sie leider eine Weile entschuldigen“, bittet ihn der älteste Bruder. „Die Geschäfte rufen.“
„Kein Problem, denke ich.“
„Nein, bestimmt nicht“, versichert Milan. „Ich mache das schon. Die Zertifikate habe ich auch bereits herausgesucht.“
Dietmar folgt ihm in das große flache Gebäude, in dem sich der erste Raum als Verkaufsraum entpuppt. Hier wird den Händlern der Umgebung die Ware fachgerecht zerlegt für einen sofortigen Verkauf angeboten.
Nachdem er sich die Papiere angesehen hat, hängen sie ihre Jacken an Haken im Vorraum der nächsten Halle auf. In durchsichtigen Plastikmänteln geht es weiter zum Schlachthof. Die Sauberkeit, die hier herrscht, sowie die eingespielte Routine des Tagesablaufs beeindrucken den Restaurantbetreiber enorm. Dietmar ist sicher, dass die Lebensmittelkontrolleure der deutschen Behörden garantiert einem Irrtum erlegen sind. Er kann sich absolut nicht vorstellen, dass in diesem Betrieb irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht.
Die drei Stunden, die Dietmar für die Besichtigung eingeplant hatte, sind wie im Flug vergangen. Milan begleitet seinen Gast nach beendeter Führung zu dessen Fahrzeug. „Ein interessantes Gefährt“, bemerkt er lächelnd.
„Ja“, stimmt Dietmar zu. „Er ist alt, aber ich würde ihn für nichts auf der Welt hergeben. Wir haben schon viel gemeinsam durchgestanden.“
„Das verstehe ich.“ Milan reicht ihm die Hand. „Kommen Sie gut nach Hause.“
„Danke.“ Während er zügig losfährt, sieht er im Rückspiegel den Mann hinter sich stehen. Die Hände in den Hosentaschen, schaut Milan ihm noch eine Weile nach, dann wendet er sich um. Kurz darauf ist er aus Dietmars Sichtfeld verschwunden.
Irgendwie hat er das Gefühl, dass er etwas Entscheidendes vergessen hat. Da ihm dazu aber nichts weiter einfällt, zuckt er nur die Schultern. In Gedanken rechnet er sich aus, wie lange er für die Rückfahrt benötigt. Die Grenzkontrolle wird sicher auch ein paar Minuten andauern. ‚Die Grenzkontrolle‘, denkt er erschrocken. ‚Das ist es! Meine Jacke‘, begreift er schlagartig. Seine Jacke hängt immer noch in der großen Halle am Kleiderhaken, mitsamt seiner Geldbörse und seinen Ausweisen. ‚So komme ich nicht über die Grenze. Das heißt wohl erst einmal ‚Umkehren‘!‘
Dietmar hat den Hof noch nicht verlassen, als er schwungvoll wendet, um sich seine Jacke zu besorgen. Mit seinem Wagen fährt er direkt neben die Halle, um den Weg so kurz wie möglich zu halten.
„Hallo!“, ruft er beim Betreten und noch einmal: „Hallo?“ Doch niemand antwortet ihm.
Dietmar geht zügig durch, bis er in dem Umkleideraum steht, in dem seine Jacke noch genauso an dem Haken hängt, wie er sie aufgehangen hatte. „Gott sei Dank“, stößt er erleichtert aus. Er schnappt sich seine dunkelblaue Jacke, in die er rasch mit den Armen hineinschlüpft, dabei vernimmt er plötzlich laute Stimmen, die aus dem Nachbarraum bis zu ihm hereindringen.
Da er sich Ärger ersparen möchte, entscheidet er, sich besser bemerkbar zu machen, bevor die Männer sauer auf ihn werden. Dafür macht er einen Schritt auf die Pendeltüren aus blassgrauemPVC1zu, durch die er vorhin mit dem jüngsten der Brüder gegangen ist.
Wie angewurzelt bleibt Dietmar vor dem Sichtfenster in den Türen stehen, seinen Blick auf den am Boden liegenden Mann mit der blutigen Kopfwunde und den starr aufgerissenen Augen gerichtet, während er dem Gespräch lauscht.
„Seid ihr jetzt vollkommen übergeschnappt?“, faucht Milan gerade seine Brüder an. „Ihr könnt ihn doch nicht einfach umbringen.“
„Es ging nicht anders“, entgegnet Fryderyk. „Er wusste bereits zu viel. Krakowiak hat ihn auf unsere Spur gehetzt. Außerdem ist er genau in dem Moment in die Halle geplatzt, als unsere Männer das Fleisch verpackten. Als er die gefälschten Etiketten gesehen hat, war ihm sofort klar, um was für eine Ware es sich handelt.“
„Wir können es uns nicht leisten, von einem der Kontrolleure angeschwärzt zu werden“, beteuert auch Ksawery. „Krakowiak gab alle Informationen über uns an Jaroschinski weiter. Daraufhin wollte dieser uns die Behörden auf den Hals hetzen. Und er war nicht bereit, ein Bestechungsgeld anzunehmen. Wir hatten keine andere Wahl.“
„Und was jetzt? Wie wollt ihr das vertuschen?“, fragt Milan aufgebracht.
„Was glaubst du wohl, was das hier ist?“ Die Arme von sich streckend dreht sich Fryderyk einmal um seine eigene Achse. „Wofür ist wohl ein Schlachtbetrieb gut, wenn nicht dafür?“
„Ich soll den Mann zerlegen?“ Entsetzt reißt Milan die Augen auf.