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Gerd Bach, der sich durch den Teenager Henry mit eigenen Kindheitserinnerungen konfrontiert sieht, steht vor einem Rätsel! Während er und seine Freundin Emma versuchen, Henry zu helfen, werden im Düsseldorfer Umfeld vermehrt Kleintiere und Welpen gestohlen. Eine Spur zu den Dieben gibt es nicht. Als auch Henry spurlos verschwindet, zweifelt der Projektleiter der Staller Werke an seinen Fähigkeiten. Erst ein zufälliges Zusammentreffen bringt sie auf die richtige Fährte. Langsam lichten sich die dunklen Machenschaften für Gerd – für ihn, Emma und ihre Freunde beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, bevor brisante Unterlagen in falsche Hände geraten, denn die Gefahr, in der nicht nur sie, sondern die ganze Bevölkerung schwebt, hätte niemand für möglich gehalten …
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Seitenzahl: 523
Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhalt
Impressum 2
Einleitung 3
1 Prolog 4
2 12
3 28
4 40
5 53
6 70
7 83
8 102
9 117
10 136
11 150
12 164
13 183
14 199
15 220
16 239
17 250
18 264
19 277
20 291
21 305
22 325
23 338
24 Epilog 352
Vorschau auf den nächsten Band … 365
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
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© 2022 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99131-506-3
ISBN e-book: 978-3-99131-507-0
Lektorat: Mag. Eva Reisinger
Umschlagfoto: Joana Santos, Edvin Barcic, Dmitry Kobzev, Andrei Vasilev, José Lledó | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
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Einleitung
Tiere hören unser Herz, wenn es flüstert,
manche Menschen nicht einmal, wenn es schreit.
Einem Tier ist egal, wer du bist.
Schenkst du ihm dein Herz, schenkt es dir seins.
1 Prolog
25. September 2006
Die Schule ist schon eine Weile lang aus, doch Henry zieht es absolut nicht nach Hause. Ihre Mutter ist noch bis heute Abend an ihren verschiedenen Arbeitsstellen unterwegs. Die gelernte Steuerfachgehilfin bessert mit den zahlreichen Hilfen bei Steuererklärungen für Privatpersonen so oft es geht die Haushaltskasse auf. Und ihr Vater? ‚Der ist schon extrem!‘, beurteilt Henry sein Verhalten. Vor drei Jahren, Henriette wechselte gerade von der Grundschule auf dasLuisen-Gymnasium in Düsseldorfs Stadtmitte, kam er eines Tages früher nach Hause. Der zu diesem Zeitpunkt vierzig Jahre alte Zerspanungsmechaniker hatte von einem Tag auf den anderen seine Arbeit verloren, da die Firma, in der er arbeitete, schließen musste. Eine Weile bemühte er sich noch darum, eine andere Arbeitsstelle zu finden, doch mit der Zeit steigerte sich die Mutlosigkeit, er gab sich auf. Schließlich war es viel einfacher, seinen Unmut in Alkohol zu ertränken. Mittlerweile hat er sich mit diesem Leben arrangiert, genießt die Bequemlichkeit, sein Dasein auf dem heimischen Sofa zu verbringen, während sich die Frau darum kümmern kann, wenigstens den notwendigen Bedarf an Geld nach Hause zu bringen. ‚Im Haushalt mitzuhelfen ist unter seiner Würde, Einkaufen und Kochen sind Frauenarbeit‘, erklärte er Frau und Tochter, bevor er begann, die Tage an sich vorbei ziehen zu lassen.
Gefrustet wandert der Teenager um den Spee’schen Graben bis zum Spielplatz. Seit langem ist die Bank am Rande des Spielfelds ihr Lieblingsplatz. Von der Schule aus sind es gerade einmal zehn Minuten zu dem Gewässer in der Düsseldorfer Carlstadt. Oft hängt sie nach der Schule stundenlang hier herum. Selbst ihre Hausaufgaben macht sie auf dieser Bank.
Henriette musste schwer darum kämpfen, dass sie zusammen mit ihrer besten Freundin Melissa Braun auf das angesagte Gymnasium wechseln durfte. Paul Grossmann hatte für seine Tochter die nahegelegene Gesamtschule ins Auge gefasst, da eine Schullaufbahn dort seiner Meinung nach um etliches preiswerter sein würde. Doch Henry setzte sich durch! Sie hatte mehr als nur gute Schulnoten, das Gymnasium wurde von der Lehrerin empfohlen, zudem beabsichtigten viele ihrer Klassenkameraden ebenfalls auf diese Schule zu gehen. Sie bettelte so lange, bis ihr Vater letztendlich mit einem Lächeln einwilligte. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Welt noch in Ordnung.
Heute, drei Jahre nach dem Wechsel auf die höhere Schule, hat sich alles verändert. Ihr Vater wurde zu einem arbeitslosen Säufer, ihre Mutter zu einer verzweifelten, leidgeprüften Frau, die aufgegeben hat, und ihre Klassenkameraden haben sich von ihr abgewendet. Selbst Melissa hat sich von ihr zurückgezogen, denn durch den Umgang mit der mittellosen Freundin könnte sie den Anschluss an ihre Clique verlieren. Henry nimmt ihr das nicht übel, sie versteht die Freundin sogar, doch es tut weh!
Von alldem unberührt sind ihre herausragenden Schulnoten. Henry liebt es, zu lernen, ist wissbegierig und allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Besonders an Fächern wie Biologie, Chemie und Geschichte ist sie interessiert. Auch Politik ist ihr wichtig, obwohl sie sich nie in diese Richtung orientieren würde, aber man sollte immer wissen, welche Entscheidungen gerade wieder getroffen werden, denn das betrifft die gesamte Menschheit.
Auf der Bank lehnt sie sich mit ausgestreckten Beinen bequem hinten an. Das Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegenhaltend, genießt sie einfach nur die Stille. Zuhause wird sie so schnell noch nicht erwartet, da sie regulär erst nach der achten Stunde, also um vierzehn Uhr fünfundzwanzig Schulschluss hat. Doch heute fielen die letzten beiden Stunden aus, wodurch sie bereits vor der Mittagspause gehen durften.
Noch ist es angenehm warm, so dass man ohne Jacke herumlaufen kann, die wenigen Regentropfen, die hin und wieder fallen, sind eher eine Wohltat. Sollte sich das Wetter irgendwann verschlechtern, besucht sie wie schon so oft das Stadtmuseum Spee’sches Palais. Die Angestellten, die dort ihre Arbeit verrichten, kennen sie mittlerweile und sind ihr wohlgesonnen, da sich das wissbegierige Mädchen an die Vorschriften, ruhig und unauffällig verhält. Sie hat sogar einmal eine kostenfreie Führung durch das ganze Museum bekommen, als Dankeschön, weil sie einem der Männer beim Aufwischen geholfen hat, nachdem einem kleinen Jungen schlecht geworden war. Sie kennt sich in dem Gebäude besser aus als jeder andere, auch darf sie bei Regenwetter dort ihre Hausaufgaben machen.
Karl Brennecke, einer der Wärter in dem Museum, kümmert sich rührend um den Teenager, seit Henry ihm auf seine drängende Frage hin beichtete, warum sie nicht nach Hause gehen wollte. Nachdem er erfuhr, wie die vorherrschenden Familienverhältnisse sind, begann er, das Mädchen bei den schulischen Anforderungen sowie den alltäglichen Belangen zu unterstützen. Auch versorgt er sie regelmäßig mit der neuesten Tageszeitung, die sie sich immer gern bei ihm abholt, nachdem er sie gelesen hat. Jedes Mal liegt eine Kleinigkeit für sie dabei, angefangen bei einem Haargummi bis hin zu einem Pausenbrot.
Schon oft hat Henriette sich vorgestellt, dass Karl Brennecke ihr Vater wäre und nicht Paul Grossmann, denn dann könnte sie immer bei ihm im Museum sein. Er würde bestimmt nicht so herumbrüllen wie es ihr Vater ständig macht, wenn ihm etwas nicht passt. Sie müsste dann auch sicher nicht mehr in diesen alten verdreckten Klamotten herumlaufen. Aus der Jeans ist sie schon längst herausgewachsen, ihre Turnschuhe sind an mehreren Stellen mit Isolierband geklebt und das graue verwaschene Kapuzensweatshirt endet knapp unter dem Bauchnabel. Es ist keine zwei Stunden her, da haben sich ihre Klassenkameraden über ihre Bekleidung lustig gemacht. Klar, das ist sie mittlerweile gewohnt, doch es versetzt ihr immer wieder einen Stich.
Urplötzlich setzt sich Henry kerzengerade auf. Sie weiß nicht, was ihre Gedankengänge unterbrochen hat, aber sie hat definitiv irgendein Geräusch gehört. Sie schaut sich nach allen Seiten um, lässt ihre Augen aufmerksam über den zur Mittagszeit menschenleeren Spielplatz gleiten, über den See, der von der Düssel sein Wasser bekommt, über Bäume und Buschwerk. Nichts!
Doch dann hört sie es erneut.
‚Ich habe mich nicht verhört‘, versichert sie sich.
‚Da, da war es wieder! Es klingt wie ein ganz feines Piepen. Ein Vogel vielleicht‘, überlegt sie aufstehend. Langsam wandert sie die Fläche um die Bank herum ab.
„Es kommt vom Wasser“, stellt sie nach ein paar Schritten fest. Stückweise nähert sie sich der Uferböschung, darauf bedacht, nicht den steilen Rand hinunterzurutschen.
Neben ihr wächst ein dicker Baum halb in den See hinein. In den Ästen der Trauerweide, die bis in das Wasser hineinragen, hat sich ein alter brauner Lappen verfangen, ansonsten ist auf dem ganzen See nichts zu sehen.
‚Wahrscheinlich sitzt der Vogel in dem Baum‘, vermutet Henry.
Sie will schon wieder zurückgehen, als sie noch einen Blick auf den Lappen wirft, der von den Ästen des Baumes gehalten plötzlich heftig im Wasser hin und her wackelt. Auch das leise Fiepen hört sie wieder. Schlagartig begreift sie, was hier vor sich geht.
„So eine Schweinerei!“, flucht sie wütend.
Ohne weiter darüber nachzudenken, steigt sie über den modrigen Boden, der den See säumt, in das Wasser. Schritt für Schritt arbeitet sie sich zu dem zappelnden Gebilde vor, was sich schwieriger darstellt, als sie dachte. Obwohl sie kaum drei Meter vom Ufer entfernt ist, reicht ihr das Wasser bereits bis zur Brust. Zudem ist sie auf ihrem Weg schon zweimal in dem matschigen Untergrund ausgerutscht, sodass sie sich, komplett untergetaucht, nur durch das Abstützen ihrer Hände im Schlamm wieder aufrichten konnte. Verbissen kämpft sie sich vorwärts, bis sie den Baum erreicht. Ihren Körper ausbalancierend löst sie die Henkel des braunen Leinensacks aus den Ästen, um sich im Anschluss mit ihrer Last auf den Rückweg zur Bank zu machen. Ihr Sweatshirt, die Jeans und ihre Schuhe triefen, Hände und Kleidung sind schlammbedeckt. Aus den schulterlangen rehbraunen Haaren läuft ihr das Wasser über das Gesicht. Rasch beginnt sie ihr Sweatshirt vor dem Bauch auszuwringen, doch als sie merkt, wie wenig Erfolg sie damit hat, gibt sie dieses Vorhaben wieder auf. Nur ihre Haare schiebt sie nach hinten unter die nasse Kapuze, damit sie ihr nicht in die Augen fallen.
Mit dem verschlammten Ärmel wischt sie sich das Wasser aus dem Gesicht, dann starrt sie unschlüssig auf den Sack, der jetzt neben ihr auf der Bank liegt. Beherzt greift sie nach der kräftigen Kordel, die den Sack verschließt. Als sie den dicken Knoten endlich aufbekommt, fällt der Sack fast von allein auf.
„Ja, wer bist du denn?“, staunt sie verblüfft, als die kleine zerzauste Katze ihren Kopf herausstreckt. Vorsichtig nimmt sie das zitternde und wimmernde Fellknäuel auf den Arm. „Hab keine Angst, ich tue dir bestimmt nicht weh“, verspricht sie.
Als ob das Kätzchen sie verstanden hätte, schmiegt es sich ganz eng an Henry und schenkt ihr einen vertrauensvollen Blick, während es von dem Mädchen liebevoll gestreichelt wird.
Die Dreizehnjährige hat keine Ahnung, was sie jetzt machen soll. Mit nach Hause nehmen kann sie die Katze nicht. Ihr Vater würde ausrasten! Sie hier allein lassen geht auch nicht, da würde die Kleine nicht überleben. ‚Sie ist auch noch viel zu klein für festes Futter‘, schätzt Henry. ‚Sie braucht Milch!‘
Lange muss sie nicht überlegen, bis ihr Entschluss feststeht. Sie hat kein Geld, ihren Vater braucht sie gar nicht zu fragen, also muss sie sich die Milch anderweitig besorgen. Sie hat noch nie geklaut, im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden, die so etwas als Mutprobe bezeichnen. Das würde sie nie mitmachen, doch hier liegt die Sachlage anders, denn ohne die Milch wird die kleine Katze sterben. Sie wird mit allen Mitteln dafür sorgen, dass so etwas nicht geschieht! Keine fünfhundert Meter von ihrer Wohnung auf der Kapellstraße gibt es einen EDEKA-Markt, doch der ist so klein und übersichtlich, da würde sie sofort erwischt. Außerdem kennt man sie dort.
„Nein, ich muss mir etwas anderes ausdenken“, flüstert sie halblaut. Wahrscheinlich wird sie in jedem Laden entdeckt, da sie keine Erfahrung darin hat, wie man so etwas richtig macht. ‚Aber es gibt eine andere Möglichkeit‘, fällt ihr ein.
Ein Stück entfernt befindet sich ein großer Supermarkt mit einem noch größeren Parkplatz vor der Tür. Dahin gehen immer ihre Klassenkameraden mit den Neulingen, die ihre Mutprobe absolvieren müssen. Das ist Henrys Meinung nach genau der richtige Ort für ihr Vorhaben. Sie muss nur genau aufpassen, welche Leute Milch einkaufen, dann kann sie auf dem Parkplatz danach greifen und anschließend schnell verschwinden. Da Henry diese Idee gut findet, macht sie sich umgehend auf den Weg dorthin. Dafür schiebt sie die Katze in die Bauchtasche ihres Sweatshirts, wo sich das Tier friedlich zusammenrollt, die Wärme des Mädchens genießend.
Nach zwanzig Minuten Fußweg steht Henry auf dem Parkplatz. Ihr Glück hält an! Ein älteres Ehepaar schiebt seinen Einkaufswagen vor sich her bis zum Kofferraum des geparkten Opel Astra 1,8 l Caravan. Das Paar diskutiert lautstark über die Essensplanung, weshalb es kaum auf seine Umgebung achtet. In dem Einkaufswagen steht vorne ein ganzer Karton mit H-Milch. ‚Das wird ein Kinderspiel, eine der Packungen aus dem Karton zu ziehen‘, freut sich Henry.
Sie schlendert auf das Ehepaar mit dem Einkaufswagen zu, während sie sich vorsichtig umschaut. Ein gutes Stück entfernt laden ein Mann und eine Frau ihre Getränke in den Kofferraum ein, mehrere Personen sind mit ihren Einkäufen oder den Einkaufswagen beschäftigt. Niemand kümmert sich um die anderen. ‚Perfekt!‘
Den Streifenwagen, der langsam von der anderen Seite her über den Parkplatz rollt, sieht sie nicht.
Im Gegensatz dazu fällt Henry den Polizisten sofort ins Auge.
„Siehst du den Jungen da drüben?“, fragt der Fahrer seinen Kollegen.
Die beiden Polizeimeister Joschka Mahler und Linus Schwabe sind sich darin einig, dass mit dieser Person etwas nicht stimmt. Nicht nur, dass die Kleidung des Teenagers komplett nass ist, erkennt man vor lauter Dreck kaum sein Gesicht. Es gibt nicht einen sauberen Fleck an seiner Gestalt und die Kapuze auf seinem Kopf wirkt wie ein matschiger Klumpen.
„Den sollten wir uns einmal näher ansehen“, stimmt Linus zu.
Noch ehe sie reagieren können, stürzt sich Henry auf den Einkaufswagen. Sie zieht die erste Milchpackung, die sie zu fassen bekommt, aus dem Karton, kann ihr Vorhaben aber nicht beenden.
Obwohl der alte Mann mit Sicherheit nicht mehr richtig fit ist, wirbelt er schnell genug herum, um Henry am Handgelenk zu packen. „Halt! Hiergeblieben!“, brüllt er auf. „Hilfe“, schreit er laut, sich nach allen Seiten umschauend. „Hilfe! Diebe!“
Auch die Augen von Henry wandern über den Parkplatz. Sie erblickt den Streifenwagen, der am Rand hält und aus dem jetzt zwei Polizisten springen, um ihnen entgegenzulaufen. Zudem stürzen aus dem näheren Umkreis mehrere Passanten herbei, um dem alten Mann beizustehen.
Panisch reißt sich Henry von der Hand des Mannes los. ‚Ich wusste, dass das schief geht‘, macht sie sich klar. ‚Ich muss hier weg!‘ Sie stürmt davon, die Polizisten hinter sich.
„Er wollte meine Milch stehlen“, ruft der alte Mann den Uniformierten zu, während diese mit gezogenen Pistolen an ihm vorbeistürmen, dem Dieb hinterher.
‚Was soll ich nur machen?‘, überlegt Henry verängstigt. Sie wirbelt um die nächste Ecke parkender Fahrzeuge, wirft einen Blick zurück, der ihr zeigt, dass ihre Verfolger noch nicht in Sichtweite sind. Schnell lässt sie sich zu Boden fallen, um unter das nächste Auto zu rutschen. Dabei achtet sie sorgsam darauf, mit dem Rücken am Boden zu bleiben, damit das Kätzchen unversehrt bleibt, zudem durch ihre Hände sicher gestützt ist.
Überrascht sehen sich die beiden Polizisten an, als sie nur Sekunden nach ihrer Zielperson das erste Auto, einen Mercedes Sprinter umrunden, in der Ansicht, Henry unmittelbar gegenüberzustehen. Doch der Gang ist leer.
„Wo ist der Kerl hin?“, staunt Linus.
„Er kann nur unter einem der Fahrzeuge liegen“, begreift Joschka. „Wir teilen uns auf. Du gehst rechtsherum, ich gehe hier weiter. Am Ende treffen wir uns. Sieh unter jeden Wagen! Wenn du ihn findest, ruf mich.“
„Klar!“
Während sich die beiden Streifenpolizisten aufteilen, um Henry in die Enge zu treiben, versucht das Mädchen, ihre Panik abzuschütteln. ‚Was soll ich nur machen?‘, überlegt sie umschauend. Liegen bleiben kann sie hier nicht, sondern muss dringend weg von den Männern, die ihr bedächtig nahekommen. So schnell es geht rutscht sie von einem Auto zum nächsten, bis sie unter einem Wagen stoppt, neben dem zwei Paar Füße zu sehen sind.
„Ich bringe den Einkaufswagen weg“, hört sie die Frau sagen. „Sorge du bitte dafür, dass im Kofferraum nichts umkippen kann.“
„Wo soll denn da etwas umkippen? Bei dem, was du alles eingekauft hast, kann da nichts mehr umkippen“, entgegnet der Mann vergnügt. Die Füße verschwinden aus ihrem Blickfeld.
‚Jetzt oder nie!‘, denkt Henry. Sie kriecht unter dem Fahrzeug hervor, nur um entsetzt auf die beiden Gesetzeshüter zu starren, die sich jeder von einer Seite ihrem Standpunkt nähern.
Durch die geöffnete Kofferraumklappe kann sie der Mann an dem Wagen nicht sehen, auch die uniformierten Polizisten haben sie noch nicht entdeckt. Sie befindet sich auf der Fahrerseite neben dem Auto, dessen hintere Tür weit offensteht. Henry reagiert spontan, denn viele Möglichkeiten hat sie nicht. Sie klettert in den Wagen und kauert sich im Fußraum hinter dem Fahrersitz so gut es geht zusammen. ‚Was mache ich, wenn sie mich finden?‘, grübelt sie voller Panik. ‚Vater bringt mich um!‘
2
Gerd Bach, der Projektleiter eines Teams hochqualifizierter Mitarbeiter der Staller Industrie Werke, kämpft mit den Berichten zu dem letzten Einsatz, den sie gerade erfolgreich abgeschlossen haben. Der Siebenundzwanzigjährige sorgt mit seinen Leuten nicht nur für die Entwicklung und Installation aller Sicherheitssysteme und Alarmanlagen, die als Sonderprojekte von Kunden erwünscht werden, sondern ist gleichzeitig die rechte Hand des Konzernchefs Peter Staller. Bereits in der sechsten Klasse freundete er sich mit Andreas Staller, dem Sohn des Unternehmers, an. Gemeinsam bauten die beiden diese Freundschaft zu etwas Einzigartigem aus. Die ganze Familie Staller nahm Gerd bei sich auf, sie boten ihm ein Zuhause und ihre Freundschaft, waren für ihn da, wenn er sie brauchte, und standen ihm jederzeit zur Seite. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Schlanke 1,86 Meter groß, mit dichten braunen Haaren und honigfarbenen glänzenden Augen ist er für die Damenwelt eine Augenweide. Die Andeutung feiner Lachfalten um seine Augen sowie das charmante Lächeln, gepaart mit seinem Humor, verleihen ihm eine warme Ausstrahlung.
Nach dem Studium holte der Konzernchef Gerd mit einem einmaligen Angebot in seine Firma, während Andreas es vorzog, sein abgeschlossenes Geologie-Studium mit einer Stelle als Doktorand an der Aachener Universität zu vervollständigen. Doch ihrer Freundschaft und ihren gemeinsamen Aktivitäten steht dies nicht im Weg. Obwohl er mittlerweile mit Emma zusammenlebt und Andreas in der Hoteldirektorin Linda Kettler die passende Partnerin für sich gefunden hat, schaffen es die beiden Männer, sich regelmäßig zu treffen.
Bei dem Gedanken an seine Freundin lächelt er. Die ehemalige Geheimagentin gab ihren aufregenden Beruf nur seinetwegen auf, wechselte nach Düsseldorf zum Landeskriminalamt, wo sie mit ihrem Rang als Hauptkommissarin die Stellvertretung für ihren Vorgesetzten Mark Sievers übernahm.
Gerd begegnete Emma Wolf erstmals vor wenigen Monaten, als sie von ihrem Boss den Auftrag erhielt, eine Diebesbande zu unterlaufen, die großangelegte Gemäldediebstähle in Museen beging, indem sie die Alarmanlagen austricksten, was der Firma von Peter Staller enorm zusetzte. Auch wenn Gerd sie für eine der Diebinnen hielt, die den Unternehmer in den Ruin trieben, verliebten sie sich gleich zu Anbeginn ineinander. Erst nachdem sich Emma und ihr Bruder Stefan den Freunden anschlossen, um Andreas’ Vater aus den Händen brutaler Nazis zu befreien, erfuhr Gerd, wer sie wirklich ist.
Das Klingeln seines Telefons unterbricht seine Gedankengänge. „Na, kann es sein, dass du mich vermisst?“, erkundigt sich Gerd, nachdem er den Anruf angenommen hat. Da er momentan allein in seinem Büro ist, kann er sich die Zeit für ein Telefonat mit seiner Freundin nehmen, aber auch wenn es anders wäre, könnte ihn niemand so schnell davon abhalten. Er hört Emmas vergnügtes Lachen, bevor sie ihm antwortet.
„Das tue ich bereits, wenn ich mich von dir verabschiede“, gesteht sie ihm. „Aber deswegen rufe ich nicht an, oder nicht nur.“
„Was gibt es denn?“
„So wie du heute Morgen Anna mit zur Firma genommen hast, hat Stefan mich zum Präsidium mitgenommen. Für mich heißt das allerdings, nachher mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren. Dazu habe ich ehrlich gesagt keine Lust. Deswegen habe ich mir eine hervorragende Alternative überlegt.“
„Kann es sein, dass deine Überlegung meine Wenigkeit in den Plan mit einbezieht?“
Noch einmal lacht Emma ungeniert auf. „Oh ja, du hast die Hauptrolle bekommen. Was hältst du davon? Du machst heute etwas früher Feierabend, dann kannst du mich pünktlich abholen. Von hier aus fahren wir dann zusammen einkaufen. Die Geburtstagsfeier, die wir am Samstag für Anna ausgerichtet haben, hat ein riesiges Loch in unsere Getränkevorräte gefressen. Der Kühlschrank weist ebenfalls eine gähnende Leere auf.“
„Da hast du unwiderruflich Recht.“ Auch er erinnert sich an die Feier, die eigentlich schon vor zwei Wochen stattfinden sollte. Aber wenn man mit Mitarbeitern der Polizeibehörden liiert ist, gibt es so etwas wie eine geregelte Planung nur in den seltensten Fällen.
Anna Zerlinski ist viel mehr als einfach nur eine Freundin, sondern hat gemeinsam mit Gerd in der Firma Staller angefangen. Nicht nur, dass die achtundzwanzigjährige Blondine ihm als seine Sekretärin tatkräftig unter die Arme greift, hat sie ihm und Andreas schon mehr als einmal geholfen, schwierige Situationen heil zu überstehen. Seit sie ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben zu nehmen ausschlaggebend an der Befreiung des Konzernchefs aus den Händen der Nazis beteiligt war, ist sie mit Emmas Bruder Stefan liiert.
Der neunundzwanzigjährige rotblonde Hauptkommissar wechselte ihr zuliebe von Berlin nach Düsseldorf, wo er als Truppenführer einer Einheit von Elite-Polizisten seinen Dienst verrichtet. Dass sich seine Schwester kurz nach ihm für die gleiche Stadt und ein Leben an Gerds Seite entschied, machte den Wechsel für die Geschwister leichter.
Beide, Emma und Stefan, waren vor zwei Wochen bei einem gemeinsamen Einsatz der Düsseldorfer und Duisburger Polizeibehörden im Kampf gegen brutale Mädchenhändler unabkömmlich, so dass Anna ihren Geburtstag ausfallen ließ. Gerd ist bewusst, dass dies auch ihm jederzeit passieren kann. Umso mehr verstand er, wie Anna sich gefühlt haben musste.
Gemeinsam mit Emma beschloss er, spontan am Samstag Freunde und Verwandte zu einer Überraschungsparty einzuladen. Annas strahlende Augen bewiesen ihnen, dass die Party ein voller Erfolg war. Die sonntäglichen Aufräumarbeiten gingen sie zu viert an, um im Anschluss das restliche Wochenende gemeinsam zu verbringen. Die daraus resultierenden Fahrgemeinschaften am Montagmorgen sind ausschlaggebend für Emmas Anruf.
„Siehst du!“, freut sich Emma über Gerds Zustimmung. „Das meine ich auch. Übrigens, damit du es gleich weißt, deine Rolle besteht aus Chauffeur, Einkäufer, Geldgeber und Schleppdienst. Klar soweit?“
Jetzt muss auch Gerd lachen. „Was machst du dann in der Zeit?“
„Ist doch ganz einfach, ich bestimme, was, wann, wo und wie!“
„Natürlich!“
„Dann holst du mich also ab?“, bettelt Emma. „Bitteee.“
„Wann hast du denn Schluss?“
„Um vierzehn Uhr.“
„Sagtest du nicht gerade etwas von ‚ein bisschen früher Schluss machen‘?“, verhört Gerd sie, wobei er die Betonung auf die Worte ‚ein bisschen‘ legt.
„Ja, genau“, stimmt sie möglichst ernst zu, doch Gerd kann das unterdrückte Lachen heraushören. „Dafür bekommst du in mir Hilfe bei der Einkaufsberatung.“
„Wie könnte ich da ‚Nein‘ sagen?“, lacht Gerd. „Bis gleich!“
Pünktlich fährt er mit seinem Wagen auf den Parkplatz vor dem Düsseldorfer Polizeipräsidium. Emma kommt ihm bereits mit festen Schritten entgegen, sodass er sie ausgiebig betrachten kann. Noch immer erstaunt es ihn, dass sich die bildhübsche Frau für ein Leben mit ihm entschieden hat. Sechsundzwanzig Jahre alt, schlanke 1,79 Meter groß, mit strahlend grünbraunen Augen in einem atemberaubenden Gesicht. Die wilde Mähne langer Haare besteht aus einer Mischung von Burgunderrot, dunklem Mahagoni bis hin zu einem kräftigen Rotton. Jeder, der diese Frau betrachtet, denkt mit Sicherheit sofort an ein Modell aus einem Herrenmagazin oder an eine Filmschauspielerin. Niemand würde glauben, dass sie zu den besten Kriminalbeamten zählt, die es im weiten Umkreis gibt.
Emma lässt sich auf den Beifahrersitz plumpsen. „Super, dass du mich abholst“, freut sie sich.
„Das ließ sich bei deiner Planung irgendwie nicht vermeiden“, stichelt Gerd gutgelaunt. „Wo willst du denn hin?“
„Hier.“ Die Beamtin zieht den Werbeprospekt eines Einkaufszentrums aus der Tasche. „Die haben genau die richtigen Produkte im Angebot und der Laden ist gleich um die Ecke.“
Eine Stunde später verlassen sie mit einem vollgeladenen Einkaufswagen das Geschäft, um alles in Gerds Audi Q7 unterzubringen.
„Gut, dass wir nicht deinen Wagen genommen haben“, witzelt Gerd in Gedanken an Emmas Coupé der Mercedes Benz CL-Klasse. „Dann müssten wir jetzt eine Anhängerkupplung installieren.“
„Mein Auto ist ein Luxusschlitten“, erklärt Emma ihm ernst. „Damit macht man keinen Großeinkauf, sondern genießt die Fahrten. Dein Audi ist das Arbeitstier, das dafür herhalten muss.“
„Dann lass uns das ‚Arbeitstier‘ einmal vollladen“, stimmt Gerd fröhlich lachend zu. Gemeinsam stapeln sie ihren Einkauf im Kofferraum des SUV auf, selbst auf den Rücksitzen landen diverse Pakete und Tüten.
„Ich bringe den Einkaufswagen weg“, bietet sich Emma an. „Sorge du bitte dafür, dass im Kofferraum nichts umkippen kann.“
„Wo soll denn da etwas umkippen? Bei dem, was du alles eingekauft hast, kann da nichts mehr umkippen“, behauptet Gerd vergnügt, schaut sich aber auf ihre Bitte hin alles einmal kritisch an, ehe er die Heckklappe durch Betätigung des Schalters schließt.
Während hinter ihm die geschlossene Klappe in der Vorrichtung einrastet, erblickt Gerd die beiden Gesetzeshüter, die von zwei Seiten auf ihn zukommen, ihre Waffen schussbereit in den Händen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigt er sich freundlich.
„Vielleicht“, antwortet Joschka Mahler. „Wir suchen einen jungen Mann oder Teenager, der sich auf diesem Parkplatz versteckt hält. Etwa 1,60 Meter groß, blaue Jeans, Turnschuhe und graues Sweatshirt mit Kapuze. Alles nass und ziemlich verdreckt.“
„Tut mir leid, so jemanden habe ich nicht gesehen. Was hat er denn verbrochen?“
„Er ist ein Dieb.“
Emma erscheint an seiner Seite. „Hast du etwas ausgefressen, von dem ich nichts weiß?“, erkundigt sie sich beim Anblick der beiden Polizisten, die ihre Pistolen vorerst mit dem Lauf nach unten senken. Das überaus gute Erscheinungsbild der jungen Frau lenkt sie einen Moment lang ab.
„Sie suchen einen Teenager, der etwas gestohlen hat“, gibt Gerd die erhaltene Auskunft weiter. „Er hat sich wohl hier irgendwo versteckt.“
„Einen Teenager?“, staunt Emma mit einem Blick auf die schussbereiten Pistolen der Uniformierten. „Was hat er gestohlen?“
„Milch.“
„Wie bitte?“ Die Beamtin glaubt sich zu verhören. Anhand der Abzeichen erkennt sie den Rang ihrer Kollegen aus dem Bereitschaftsdienst. Sie erblickt die Schriftzüge, die ihr die Familiennamen der beiden Uniformierten preisgeben. ‚Auch wenn die beiden Polizeimeister noch recht jung sind, dürfen Sie sich solche Fehler nicht erlauben‘, urteilt sie. „Und dafür laufen Sie mit Ihren Waffen im Anschlag hinter ihm her?“
„Das verstehen Sie nicht“, behauptet jetzt auch Linus Schwabe, läuft aber gleichzeitig rot an. „Das gehört zu unseren Pflichten.“
„Also ist dieser Junge bewaffnet?“, verhört Emma die beiden scharf. „Haben Sie das genau gesehen?“
„Nein, das ist auch nicht nötig.“
„Und was machen Sie, wenn Sie den Jungen finden? Nehmen Sie ihn dann unter Beschuss?“, braust Emma auf.
„Halten Sie sich da besser heraus“, verlangt Joschka Mahler. „Sie sollten unsere Arbeit nicht behindern, sonst könnten Sie genauso viel Ärger bekommen wie dieser Dieb.“
‚Auweia‘, denkt Gerd. ‚Emma auf diese Weise zu drohen kann ins Auge gehen.‘ Er bemüht sich darum, das mitleidige Grinsen schnellstens zu unterdrücken.
Die Augen der Hauptkommissarin blitzen wütend auf. „Wollen Sie mir drohen? Sie benehmen sich wie zwei wildgewordene Stiere, die nicht in der Lage sind, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten! Statt diesen Jungen aufzufordern, sich zu ergeben, damit niemandem etwas passiert, richten Sie Ihre entsicherten Waffen auf ihn. Da würde ich auch schnellstens abhauen!“
„Das dient lediglich der Eigensicherung“, verteidigt sich Joschka Mahler.
„Ach wirklich? Dabei schießen Sie aber reichlich über das Ziel hinaus“, faucht Emma.
Am liebsten würde er dieser arroganten Frau Handschellen anlegen, um ihr zu zeigen, wer hier das Sagen hat, doch dafür ist keine Zeit. „Wir wissen, was wir zu tun haben!“, beteuert der Polizeimeister abschließend.
„Das sehe ich anders!“, widerspricht Emma heftig. Die Hauptkommissarin hält den beiden Draufgängern ihren eigenen Ausweis unter die Nase. „Hauptkommissarin Wolf! Ich will Ihre Dienstausweise sehen! Sofort!“
Statt einer heftigen Entgegnung starren die beiden Uniformierten auf den Ausweis der hochrangigen Kollegin.
‚Das gibt es doch gar nicht!‘, staunt Joschka Mahler. ‚Sie ist höchstens ein paar Jahre älter als ich, wie kann sie da einen solchen Rang bekleiden?‘, grübelt der Polizist perplex. ‚Allerdings scheint der Ausweis echt zu sein.‘
„Wollen Sie ihn überprüfen?“, erkundigt sich Emma mit einem spöttischen Blick. „Nur zu! Sie scheinen ja reichlich Zeit zu haben.“
Bedeutend kleinlauter reichen die beiden Streifenpolizisten der Beamtin ihre Ausweise.
„Stift!“, fordert sie mit ausgestreckter Hand von Linus Schwabe, der gar nicht auf die Idee kommt, ihr das Verlangte vorzuenthalten. Mangels Papier benutzt sie ihren Kassenbon, um sich die beiden Dienstnummern und Namen aufzuschreiben, die sie gerade von den Ausweisen abliest.
„Gehen Sie davon aus, dass ich morgen Früh eine Meldung an Ihren Vorgesetzten machen werde“, verspricht sie den zwei Polizisten. „Anscheinend brauchen Sie beide dringend eine Auffrischung darüber, wie man sich bei einem solchen Einsatz zu verhalten hat. Jetzt gehen Sie mir besser aus den Augen! Kümmern Sie sich um die Bestohlenen und nehmen Sie die Anzeige auf!“
Während die Uniformierten sich schnellstens aus ihrer Reichweite entfernen, wirbelt Emma auf dem Absatz herum. Schon beim Einsteigen in Gerds Audi öffnet sie das Handschuhfach, in dem sie einen Notizblock findet, auf den sie die erhaltenen Daten überträgt, ehe sie diesen einsteckt.
Währenddessen trotten die zurechtgewiesenen Polizeimeister in Richtung des alten Ehepaares davon.
„So eine Ziege“, urteilt Joschka Mahler. „Wieso musste die sich unbedingt einmischen? Das sollten wir nicht auf uns sitzen lassen.“
„Was willst du denn machen?“, hält Linus Schwabe dagegen. „Leg dich besser nicht mit ihr an. Du hast doch ihren Ausweis gesehen, die ist vom LKA, da hast du keine Chance!“
„Doch, wir müssen uns nur genau überlegen, wie wir unseren Bericht verfassen. Die lernt mich noch kennen!“, murrt er sauer.
Gerd schaut den jungen Männern nachdenklich hinterher, dann wendet auch er sich seinem Fahrzeug zu. Die hintere Tür auf der Fahrerseite steht immer noch offen. Im Vorbeigehen will er die Tür schließen, hält aber mitten in der Bewegung inne. Er blickt in zwei ängstlich aufgerissene bettelnde Augen in einem vollkommen verdreckten Gesicht. Die Lippen des blinden Passagiers formen sich zu einem kaum vernehmbaren „Bitte.“
Gerds Erinnerung wandert schlagartig zurück zu der Zeit, als das Jugendheim sein Zuhause war. Gemeinsam mit Andreas übersprang er damals die sechste Klasse, wodurch sie die jüngsten Schüler der siebten waren, aber mit den besten Noten. Das rief die Neider unter ihren Klassenkameraden hervor, gegen die sich Andreas und er gemeinsam zur Wehr setzten. Alle gaben ihm die Schuld an den Geschehnissen, bis Peter Staller erschien, ihm zuhörte und ihn verstand. Das Verhalten des Unternehmers änderte Gerds ganzes Leben. ‚Milch‘, denkt er. ‚Warum stiehlt jemand Milch? Bestimmt nicht, weil er sich daran bereichern will. Irgendjemand sollte diesem Jungen vielleicht einmal zuhören!‘ Beruhigend nickt er dem Teenager zu, ehe er die Tür schließt. Hinter dem Steuer Platz nehmend überdenkt er seine gerade getroffene Entscheidung noch einmal, nur um zu dem gleichen Ergebnis zu kommen. ‚Die Polizei kann dem Jungen nicht helfen, aber wir vielleicht‘, urteilt er.
„Kannst du dir vorstellen, warum jemand Milch stiehlt?“, erkundigt sich Gerd bei seiner Freundin, während er den Wagen vom Parkplatz herunterlenkt.
„Keine Ahnung! Vielleicht weil er Durst hatte?“
„Und dafür muss er dann ins Gefängnis?“
„Wohl kaum. Wenn es wirklich noch ein Teenager ist, also ein Minderjähriger, kann das glimpflich ausgehen. Es kommt natürlich darauf an, warum er das gemacht hat. Jedenfalls war dieses cowboyhafte Verhalten meiner Kollegen vollkommen fehl am Platz.“
„Das denke ich auch.“
Vor dem Haus in Düsseldorf-Stockum hält Gerd in der für seinen Wagen reservierten Parkbucht an. Die einhundertvierzig Quadratmeter große Fünf-Zimmer-Wohnung, die er gemeinsam mit Emma bewohnt, liegt im obersten Stockwerk. Insgesamt gibt es drei Parteien, von denen zwei im Erdgeschoss genau gegenüber liegen. Da die einhundertzwanzig Quadratmeter großen Wohnungen über zwei Etagen angeordnet sind, gibt es im ersten Stock keine Türen zum Treppenhaus. Erst in der zweiten Etage findet man den Zugang zu der Wohnung des jungen Paares.
„Ich kümmere mich gleich um das Ausladen“, versichert er Emma. „Doch vorher müssen wir noch etwas anderes erledigen.“
„Was denn?“
„Das hier!“ Gerd öffnet die hintere Wagentür, so dass auch Emma erkennt, wer da auf dem Boden des Fahrzeugs hockt.
„Du hast gewusst, dass der Junge hier drinnen war?“, verhört sie Gerd erstaunt.
„Ja.“
„Du hast es nicht für nötig gehalten, den Polizisten das mitzuteilen?“ Langsam wird sie sauer. „Weißt du, in was für eine Situation du mich damit bringst? Ist dir klar, dass ich das umgehend melden müsste? Was hast du dir dabei gedacht?“
„Milch!“, antwortet Gerd nur.
Emma wirft einen Blick auf das angstvolle Gesicht, von dem man außer den panisch aufgerissenen Augen so gut wie nichts erkennen kann. Irgendetwas rührt sich in ihr, als sie das Flehen, die Angst und die Unsicherheit des Kindes wahrnimmt. „Meinetwegen!“, gibt sie nach, wendet sich ab, öffnet den Hauseingang und bleibt auffordernd stehen. „Nun kommt schon!“
„Du hast es gehört“, lächelt Gerd. „Komm mit. Ich verspreche, dass dir nichts passieren wird.“
„Das versprach man den Juden auch, als man sie zum Duschen schickte“, erwidert Henry vorlaut, klettert aber aus dem Fahrzeug heraus.
Erstaunt mustert Gerd den Teenager. ‚Ungebildet ist er jedenfalls nicht.‘ „Na, komm schon“, lächelt er. „Wir sollten Emma nicht verärgern, wo sie sich gerade einverstanden erklärt hat, uns zu helfen.“
„So, wie du aussiehst, lasse ich dich nicht in unser Wohnzimmer“, bestimmt Emma und zieht Henry mit sich in die Küche, wo sie auf einen der Holzstühle weist. „Setz dich da hin!“
„Danke!“, flüstert Henry. „Wieso helfen Sie mir?“
„Das ist noch gar nicht heraus!“, widerspricht Emma. „Wenn du wirklich gestohlen hast, ohne mir einen Grund dafür zu nennen, findest du dich ganz schnell auf der nächsten Polizeiwache ein. Das garantiere ich dir! Also, was für Gründe gibt es dafür, jemand anderen zu bestehlen?“, verhört sie Henry heftig.
„Ich …, ich …“, stottert der Teenager eingeschüchtert. „Ich wollte das ja auch gar nicht, aber ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen“, platzt es aus ihr heraus. „Es war ja auch gar nicht für mich.“
„Sondern?“
Henry steht auf, beugt sich über ihr Sweatshirt, lässt ihre Hände in der Bauchtasche verschwinden und holt das kleine Fellknäuel hervor, das sich zitternd in ihre Hände kuschelt. Vorsichtig setzt sie sich auf den Stuhl, die Katze auf ihrem Schoss. „Ich wollte nicht, dass sie verhungert“, erklärt Henry. „Ich habe sie am Spee’schen Graben aus der Düssel gezogen. Jemand hatte sie in einen Sack gesteckt, ihn zugeknotet und in den See geworfen. Ich musste ihr doch helfen.“
Die beiden sehen so erbärmlich aus, dass sich Gerd und Emma nicht gegen das Mitleid wehren können, das sich in ihre Herzen schleicht. Sie tauschen nur einen kurzen Blick, um zu erkennen, dass es dem anderen genauso geht.
„Dann sollten wir vielleicht einmal sehen, ob wir etwas Milch für den kleinen Kerl finden können“, lächelt Gerd.
„Sie darf aber nicht zu kalt sein“, behauptet Henry. „Es ist auch besser, wenn sie mit Wasser verdünnt wird. So hat sie weniger Schwierigkeiten, die Milch zu verdauen. Es ist übrigens eine sie.“
Gerd lächelt vor sich hin, während er das Gewünschte in der Mikrowelle aufwärmt. Er reicht die Schale an Henry weiter.
Obwohl die Katze Hunger haben muss, beginnt sie nicht zu schlecken, als sie den Teller unter die Nase gehalten bekommt. Sie fängt lediglich erbärmlich an zu fiepen.
„Sie haben nicht zufällig eine Babyflasche da?“, fragt Henry.
„Damit können wir leider nicht dienen“, entgegnet Emma gereizt. Sie hat keine Ahnung, warum sie bei dem Gedanken an eine Babyflasche Panik in sich aufkommen spürt.
„Haben Sie vielleicht einen Handschuh? So ein Teil, das man einmal anzieht und dann wegwirft?“
„Ja, solche Dinger haben wir.“
Gerd kann sich schon denken, was der Junge vorhat und hält dem Teenager bereits eine Schere entgegen.
Henry macht nur einen kleinen Schnitt in den Mittelfinger des Handschuhs, drückt diesen aber erst einmal fest zu, bis die Milch eingefüllt ist. Als sie dem Kätzchen den Finger an die Schnute hält, beginnt das Tier erst zaghaft, dann fester zu saugen. Die Augen des Teenagers strahlen zufrieden auf. „Langsam, sonst verschluckst du dich noch!“, empfiehlt sie der Katze sanft.
„Wie heißt du eigentlich?“, erkundigt sich Emma mittendrin.
„Henry.“
„Also, Henry, was sollen wir deiner Meinung nach jetzt machen? Immerhin wirst du von der Polizei gesucht.“
„Gesucht? Ich werde gesucht?“ Erschrocken starrt sie Emma an.
„Sicher. Es gibt eine Anzeige wegen Diebstahls. Das ist ein Verbrechen und wird sehr ernst genommen. Alle Polizeistreifen werden angehalten, nach dir Ausschau zu halten. Deine Beschreibung haben sie ja. Solange du dich nicht freiwillig dort meldest, werden sie dich suchen.“
„Das hat doch noch ein bisschen Zeit“, widerspricht Gerd, der mit einem Pappkarton und einer Wolldecke in die Küche kommt. „Genau richtig“, bemerkt er lächelnd beim Anblick der Katze, die sich, genüsslich die Augen schließend, von dem Teenager den Bauch massieren lässt. Kaum liegt sie auf der Decke, rollt sie sich friedlich zusammen. Übergangslos schläft sie ein.
„Sie ist höchstens vier Wochen alt“, erklärt Henry. „Sie kann noch nicht allein fressen. Außerdem ist sie unterernährt. Sie sollte alle zwei Stunden mit ein paar Löffeln Milch gefüttert werden. Anschließend muss man ihr den Bauch massieren, damit die Darmfunktion angeregt wird. Das macht normalerweise die Katzenmutter, indem sie den Bauch mit ihrer Zunge ableckt. Sie wird nicht viel ausscheiden, solange sie noch so geschwächt ist. Wenn Sie Traubenzucker vorrätig haben, wäre das nicht schlecht. Er muss ihr in Wasser aufgelöst auf die Zunge geträufelt werden. Nur ein paar Tropfen. Aber das hilft.“
„Woher weißt du das?“
„Ich interessiere mich halt dafür. Und ich lese viel?“
„Das kann nie schaden“, stimmt Gerd zu. Sein Blick wandert von der schlafenden Katze zu Henry. „Ich würde sagen, Emma kann auf sie aufpassen, während wir beide dir erst einmal ein heißes Bad einlassen. Einverstanden?“
Bis jetzt fand Henry es ganz witzig, dass man sie für einen Jungen hielt, doch nun muss sie wohl Farbe bekennen. „Geht das vielleicht auch andersherum?“, erkundigt sie sich verlegen.
„Was meinst du?“
„Na ja, kann vielleicht Ihre Freundin mit mir ins Bad gehen und Sie passen hier auf?“
„Wie bitte?“, staunt Emma. ‚Kaum haben wir dem Knirps geholfen, fängt er schon an, mich anzubaggern‘, denkt sie kopfschüttelnd.
Ehe Emma oder Gerd etwas darauf erwidern können, zieht Henry die Kapuze von ihren schulterlangen Haaren. Auf die verblüfften Gesichter des Paares hin erklärt der Teenager mit einem schelmischen Lächeln: „Henry ist die Kurzform von Henriette.“
„Wir sollten dringend den Dreck abwaschen“, kommentiert Emma den Anblick. „Komm, sorgen wir dafür, dass man dich wieder erkennen kann.“
Dankbar folgt Henry der jungen Frau.
Während sie es genießt, in dem heißen Wasser zu liegen, ohne dass sie zur Eile angetrieben wird, wie es bei ihr zuhause gängig ist, überlegen Gerd und Emma beim Ausladen ihrer Einkäufe, wie sie dem Mädchen helfen können.
„Ich hätte da eine Idee“, äußert Gerd nachdenklich. „Allerdings weiß ich nicht, wie weit wir damit kommen.“ Er erklärt Emma, was er sich vorstellt.
„Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert“, stimmt die Beamtin zu.
„Dann sollten wir beim Essen mit ihr darüber reden. Es ist noch nicht zu spät, um anschließend zur Polizei zu gehen.“
„Einverstanden. Aber erst einmal plündere ich meinen Kleiderschrank.“
Gerd schaut ihr lächelnd hinterher, bevor er sich in die Küche begibt, wo er mit der Zubereitung eines frühen Abendessens beginnt.
Emma klopft an, steckt den Kopf durch den Türspalt und überzeugt sich davon, dass sie nicht ungelegen kommt, ehe sie das Bad vollständig betritt. „Na, hast du die Zementschicht abgekratzt?“
Auf die lustige Frage lacht das Mädchen fröhlich auf. „Ich glaube, es ist alles sauber.“
Sie lässt sich von Emma aus der Wanne helfen und in ein dickes Handtuch wickeln. „Ich habe hier ein altes Longshirt von mir. Mit dem Gürtel kannst du es bestimmt als Kleid tragen. Versuch es einfach einmal. Dazu die 7/8-Leggins. Sie müsste von der Länge her passen, ohne dass du sie umkrempeln musst.“
Henrys Augen strahlen begeistert auf. „Danke.“
„Wahrscheinlich hängst du an deinen Sachen, aber ich glaube nicht, dass du die wieder sauber bekommst. Deine Schuhe sind sicher hin.“
„Hmm“, nickt Henry bedrückt. Sie mag gar nicht darüber nachdenken, was ihr Vater sagen wird, wenn er erfährt, dass sie neue Schuhe braucht. ‚Das gibt reichlich Ärger.‘
„Ich habe gesehen, dass du Schuhgröße neununddreißig hast, genau wie ich.“
„Ja. Meine Mutter sagt immer, ich lebe auf großem Fuß.“
„Das kann sich noch ändern. Auf jeden Fall habe ich die gleiche Größe und noch ein paar Laufschuhe übrig, die ich nicht brauche. Willst du die vielleicht einmal anprobieren?“
„Im Ernst?“, staunt das Mädchen. „Die sind für mich?“
„Wenn sie passen.“
„Wahnsinn! Wieso tun Sie das? Ich habe Ihnen bisher doch nur Ärger gemacht.“
„Vielleicht schaffen wir es ja zusammen, diesen Ärger zu bereinigen. Was meinst du?“
„Geht das denn?“
„Ich mache dir einen Vorschlag, zieh dich an, dann sprechen wir beim Essen darüber.“
„Beim Essen?“
„Also, Gerd und ich haben Hunger. Wenn du nichts willst, setzt du dich einfach dazu. Du kannst aber gern mitessen.“
„Ja, ich habe auch Hunger“, strahlt Henry.
„Dann wäre das geklärt. Wir warten in der Küche auf dich.“
„Verblüffend“, behauptet Gerd lächelnd, als er die Verwandlung kurz darauf in Augenschein nimmt. „Aus dem Dreckspatz ist ja ein bildhübsches Mädchen geworden.“
Verlegen windet sich Henry. ‚So etwas hat außer Karl Brennecke noch niemand zu mir gesagt‘, erinnert sie sich. „Kann ich vor dem Essen bitte noch die Katze füttern? Geht das?“
„Natürlich.“ Emma streckt die Hand nach dem Karton aus, der neben ihr auf einem Stuhl steht. Obwohl die kleine Katze noch nicht gänzlich wach ist, faucht sie einmal kurz, wobei sie ihre Krallen ausfährt, mit denen sie Emma quer über den Handrücken kratzt. „Au!“, schnauzt Emma. „Was soll denn das?“
„Katzen sind wählerisch“, belehrt Gerd sie mit übermütig blitzenden Augen. „Die mögen noch lange nicht jeden.“ Er beugt sich über Emma hinweg, um nach dem Tier zu greifen. Auch er wird mit einem wilden Fauchen gewarnt, bevor die kleine Katze mit einem festen Biss ihre kleinen Milchzähne in seinen Zeigefinger schlägt. „Autsch!“, stöhnt auch Gerd auf.
„Anscheinend bist du ebenfalls unter ihrer Würde“, stichelt nun Emma.
„Darf ich?“ Henry tritt neben die beiden. Langsam streckt sie der Katze ihre Hand mit der Handfläche nach oben entgegen. „Na, komm, du kennst mich doch. Komm her“, lockt sie das Tier. „Du hast doch bestimmt Hunger.“
Das Kätzchen schnuppert einmal an ihrer Hand, um rasch darauf zu klettern, sodass Henry sie an sich ziehen kann. Sofort kuschelt sich das Tier bei ihr an. Lächelnd beobachten Gerd und Emma, wie fürsorglich das Mädchen mit dem Tier umgeht.
„Muss ich wirklich zur Polizei gehen?“, erkundigt sich Henry während des Essens. „Mein Vater rastet aus, wenn er das mitbekommt.“
Gerd blickt fragend zu Emma. Sie haben bereits geklärt, wie es weitergehen könnte, aber er überlässt Emma die Entscheidung.
„Wir werden dich nicht dazu zwingen“, erklärt die Hauptkommissarin. „Aber wir können dir einen Vorschlag machen, bei dem es für dich einfacher wird. Natürlich nur, wenn du bereit bist, deinen Fehler einzugestehen.“
Der Teenager nickt bedrückt. „Das werde ich wohl müssen. Alles andere ist falsch. Schließlich hat mich keiner zu diesen Handlungen gezwungen. Das war meine eigene Entscheidung und die war falsch.“
„Schön, dass du das so siehst. Deine Einsicht wird sicher helfen. Pass auf, wir beide fahren zum nächsten Polizeirevier, du wirst deine Aussage machen, erklären, worum es dir ging, und dich entschuldigen. Ich bleibe an deiner Seite, versprochen. Man wird mich bestimmt danach fragen, was ich mit der Geschichte zu tun habe. Ich werde nicht lügen, für niemanden! Ich werde ihnen sagen, dass du uns um Hilfe gebeten hast, weil die beiden Uniformierten mit gezogenen Pistolen hinter dir hergelaufen sind, womit sie dir ziemliche Angst eingejagt haben. So kriegen die beiden dann gleich noch ihr Fett ab. Vielleicht geben die uns ja die Adresse von dem Ehepaar, das du bestehlen wolltest. Wir könnten hinfahren, du erklärst ihnen alles und entschuldigst dich. Ob das ausreicht, kann ich dir nicht sagen, aber es ist ein Anfang. Was sagst du dazu?“
Henry denkt über den Vorschlag lange nach. „Ich habe Angst, doch ich glaube, das ist der richtige Weg. Wird mein Vater davon erfahren?“, erkundigt sie sich ängstlich.
„Ja, das wird sich nicht vermeiden lassen. Aber vielleicht können wir ja einmal mit ihm reden“, bietet Gerd an.
„Das würden Sie tun? Warum?“
Gerd tippt ihr lächelnd mit dem Finger auf die Nasenspitze. „Weil du mich an jemanden erinnerst.“
„An wen?“
Sie erhält keine Antwort.
Emma ist schon klar, an wen das Mädchen Gerd erinnert, ihr ist auch klar, dass er sich zukünftig um sie kümmern wird, wenn Henry es zulässt. „Dann lass uns fahren. Auf dem Weg zur Wache besorgen wir dir auch rasch ein paar saubere Anziehsachen.“
3
Dadurch, dass Emma sie begleitet, bleiben die diensthabenden Polizisten in der zuständigen Dienststelle äußerst friedlich. Das ordentliche Erscheinungsbild des höflichen Mädchens, das in nagelneuer Jeans, Turnschuhen und weißer Bluse vor ihnen steht, trägt noch einmal mehr dazu bei. Sie hören sich Henrys Bericht bis zum Ende an, ohne sie zu unterbrechen, auch ihre Entschuldigung wird zur Kenntnis genommen.
Der zuständige Polizeioberkommissar Edgar Lautenschläger verrichtet in der Düsseldorfer Dienststelle seit einunddreißig Jahren seinen Dienst. Dem Neunundvierzigjährigen sind schon viele Verbrecher untergekommen, Kleinkriminelle, Rauschgifthändler, Schmuggler, auch Mörder, aber dass diese junge Dame eine professionelle Diebin sein soll, so wie es im Bericht der beiden Polizeimeister steht, kann er nicht glauben. Er hat selbst zwei Töchter, die ihm im Laufe ihres Heranwachsens zu so manch einem grauen Haar verholfen haben, weshalb er diesem Mädchen liebend gern helfen würde.
„So leid es mir tut, ich muss mich an die Vorschriften halten“, beteuert er fest. „Der Bericht, den die beiden zuständigen Kollegen der Anzeige hinzugefügt haben, hat sich gewaschen. Darin heißt es, dass … Moment.“ Er liest nach kurzem Suchen die Begründung, um die es ihm geht, von seinem Bildschirm ab: „Ja, hier, … äußerst raffinierte Vorgehensweise. Es ist klar zu erkennen, dass auf weitreichende Erfahrungen zurückgegriffen wurde. Trotz der Unterstützung durch eine Kollegin konnte der Täter unerkannt entkommen.“ Edgar Lautenschläger schaut die Kollegin grinsend an.
„Das war ja klar“, stöhnt Emma. „Sie versuchen ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Aber mit der Retourkutsche kommen sie nicht weit.“
„Wahrscheinlich nicht, doch solange die Anzeige nicht zurückgezogen wird, kann ich nichts machen. Selbst dann wird sich die Staatsanwaltschaft damit befassen. Immerhin geht es hier um Diebstahl. Sie wissen doch, wie das läuft“, wendet er sich an Emma.
„Ja, sicher. Aber wenn Sie uns die Anschrift der Geschädigten geben, könnten wir einmal mit ihnen reden. Henry wird sich bei den beiden entschuldigen.“
Einen Moment lässt sich der Oberkommissar die Worte durch den Kopf gehen. ‚Immerhin ist hier eine hochrangige Kollegin involviert. Die wird schon aufpassen, dass da nichts schief geht.‘ „Einverstanden. Wenn Sie versprechen, dass Sie mitgehen und aufpassen, bin ich bereit, Ihnen die Adresse auszuhändigen.“
Eine halbe Stunde später stehen sie in Düsseldorf-Vennhausen auf der Cardaunstraße vor der Haustür von Hansjörg und Bianca Rosendahl. Der neunundsiebzigjährige Rentner lässt die beiden ohne Widerstand eintreten, nachdem sich Emma bei ihm ausgewiesen und sich für die späte Störung entschuldigt hat.
„Kommen Sie wegen meiner Anzeige?“, erkundigt er sich bei der Beamtin. „Haben Sie den Dieb gefunden?“
„Nein, nicht wirklich, aber der Dieb, oder vielmehr die Diebin hat sich selbst gestellt.“
„Tatsächlich?“, staunt der alte Mann. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, äußert er in Richtung seiner Frau.
„Was passiert denn jetzt mit ihm, ihr oder …?“ Die Rentnerin weiß nicht genau, wie sie ihre Frage formulieren soll. „Sie sagten Diebin. War das eine Frau? So verdreckt?“
„Ein Mädchen. Ja“, bestätigt Emma ihr. „Ich habe sie mitgebracht. Diese junge Dame hier ist Henriette Grossmann. Warum sie Sie bestehlen wollte, soll sie Ihnen selbst erklären. Würden Sie ihr dazu die Gelegenheit geben?“
Ehe der mürrisch dreinblickende Hausherr einen Ton sagen kann, ergreift Bianca Rosendahl die Hände des Teenagers und zieht sie ins Wohnzimmer. „Aber natürlich. Ich bin viel zu neugierig, als dass ich mir eine solche Geschichte entgehen lassen würde“, versichert die gelernte Schneiderin mit einem fröhlichen Augenzwinkern.
Halbwegs erleichtert beginnt Henry erst stockend, dann immer fließender, die Vorkommnisse des heutigen Tages zu schildern.
Keine der Frauen bemerkt, wie sich die Miene des alten Herrn verfinstert, als er hört, was Henry da aus dem See gefischt hat. Er erfährt von ihren Gewissensbissen, ihren heimischen Verhältnissen und dem verzweifelten Verlangen, der Katze zu helfen. Ein Blick zu seiner Frau reicht aus, um zu wissen, was sie zu tun haben. „Henriette, so heißt du doch, oder?“, fragt er, spricht auf ihr Nicken hin aber rasch weiter: „Also, Henriette, wir werden die Anzeige zurückziehen, es ist ja auch nicht wirklich zu einem Diebstahl gekommen. Ich finde es gut, wie du dich für ein wehrloses Tier eingesetzt hast, auch wenn Diebstahl natürlich keine Lösung ist.“
„Ja, ich weiß. Es tut mir leid. Ich war einfach so verzweifelt, ich konnte an nichts anderes denken, als an das Kätzchen, das ohne Milch nicht hätte überleben können. Dass Sie mir helfen, ist wirklich klasse. Vielen Dank.“
„Was hast du denn mit der Katze gemacht? Wo ist sie jetzt?“, erkundigt sich die Rentnerin neugierig.
„Im Augenblick ist sie bei Herrn Bach, dem Freund von Frau Wolf“, erklärt Henry mit einem Wink auf die Beamtin. „Ich weiß noch nicht, wie es weitergeht. Mit nach Hause nehmen kann ich sie nicht. Meine Mutter verdient viel zu wenig, als dass ich sie behalten dürfte. Mein Vater würde sofort einen Tobsuchtsanfall bekommen.“
„Ich verstehe“, nickt Hansjörg Rosendahl. „Mit Futter allein ist es noch lange nicht getan. Sie braucht eine ärztliche Untersuchung, die üblichen Impfungen und einiges mehr. Wahrscheinlich muss sie auch noch entwurmt werden. Alles zusammen kostet eine ganze Menge.“
„Ich weiß“, stimmt das Mädchen ihm traurig zu.
„Hast du ihr schon einen Namen gegeben?“, fragt Bianca Rosendahl sanft.
„Nicht wirklich. Ich wusste ja nicht, ob ich sie behalten darf. Aber ich wüsste schon, wie ich sie nennen würde.“
„Wie denn?“
„Artemis, nach der griechischen Jagdgöttin. Sie zählt zu den zwölf großen olympischen Göttern, ist eine der wichtigsten Gottheiten in der griechischen Mythologie und eine Tochter des Zeus. In der römischen Mythologie erhielt sie den Namen Diana. Symbolisch steht sie unter anderem für Stärke, Kampfgeist und Mut. Diese Eigenschaften hat das Kätzchen doch heute bewiesen, als es mit aller Macht gegen sein Ertrinken angekämpft hat.“
Nachdem sie ihren Vortrag beendet hat, ist es mucksmäuschenstill im Raum, da sich die Erwachsenen verblüfft ansehen. ‚Alle Achtung‘, denkt Emma, als sie die begeisterten Augen des Rentners wahrnimmt, der erfreut aufstrahlt.
‚Diese Kind hat es verdient, dass man ihm hilft‘, urteilt Hansjörg Rosendahl, der sich nun direkt an den Teenager wendet: „Was hältst du davon, wenn du deine Katze fürs Erste mir überlässt? Im Gegenzug biete ich dir einen Job an.“
Henry macht große Augen. „Einen Job? Sie meinen so richtig mit Geld verdienen und so?“
„Ja, mit und so!“, lacht der alte Herr auf. „Du musst wissen, dass ich vor meiner Pensionierung viele Jahre als Referent im Tierschutzverein tätig war. Jetzt arbeiten meine Frau und ich ehrenamtlich im Tierheim in Düsseldorf-Vennhausen. Dort gibt es momentan eine festangestellte Mitarbeiterin, die ein Baby erwartet. Wir suchen schon seit einer Weile jemanden, der ihr einen Teil ihrer Arbeiten abnimmt.“
„Das würde ich wirklich gern machen, aber ich wohne in Düsseldorf-Pempelfort, auf der Kapellstraße. Zu Fuß brauche ich bestimmt drei Stunden bis nach Vennhausen. Die Schule geht auch fast immer bis halb drei Uhr, einmal sogar länger.“
„Tja, dann musst du halt so viel verdienen, dass die Monatsfahrkarte davon finanziert werden kann“, verkündet der Rentner lächelnd. „Übrigens ist es kein Problem, die Arbeiten am Samstag oder über das Wochenende verteilt zu erledigen, dann brauchst du dich nach der Schule nicht abzuhetzen. Also, wenn du Lust hast, bring deine Katze morgen bis Mittag zum Tierheim, dort bekommt sie die richtige Hilfe und Zuwendung, du schaust dir die Einrichtung an und überlegst dir mein Angebot. Aber auch, wenn du nicht zusagst, kannst du deine Katze jederzeit besuchen kommen. Was sagst du?“
Henry springt mit einem Jubelschrei auf, stürzt auf den alten Mann zu und schlingt strahlend ihre Arme um ihn.
Die Augen des Rentners treffen auf Emmas zufriedenes Lächeln. „Also, das nenne ich einmal eine enthusiastische Zustimmung“, kommentiert er fröhlich.
Lachend beginnen sie mit der Planung der nächsten Schritte.
„Es wird garantiert zu einer Anhörung kommen“, vermutet Emma in Bezug auf die Strafanzeige wegen Diebstahls. „Aber wenn Henry die Sachlage schildert, sich entschuldigt, Sie ihr obendrein zur Seite stehen, schließen die ihre Akte sicher schnell.“
„Das machen wir gern“, versichert das Ehepaar.
Auf der Rückfahrt spricht Henry kein einziges Wort, sondern grübelt still vor sich hin.
„Welchem Anlass verdanken wir es, dass du solche Trübsal bläst?“, versucht Emma sie aufzumuntern, was ihr aber nicht gelingt.
„Ich weiß nicht, wie ich das Ganze meinen Eltern erklären soll. Mein Vater wird ziemlich ausrasten. Er hört mir sowieso nie zu, sondern brüllt immer gleich los, wenn ihm etwas nicht passt.“
„War das schon immer so?“
„Nein, das hat erst vor drei Jahren angefangen, als er arbeitslos wurde und keine neue Stelle fand. Mit der Zeit hat er einfach aufgehört, sich zu kümmern. Verstehen Sie das?“
„Ja. Das passiert häufiger als du vielleicht denkst. Viele Menschen greifen dann aus Frust zu Alkohol oder anderen Drogen. Dadurch werden sie dann aggressiv.“
Henry nickt heftig mit dem Kopf. „Genauso ist es bei uns auch. Früher war er anders, hat mit mir gespielt und gelacht. Sein Lachen vermisse ich am meisten, es war ansteckend, man konnte nie traurig sein, wenn er lachte. Er reißt mir bestimmt den Kopf ab, weil ich so spät komme.“
„Ich werde nachher mit ihm reden. Sehen wir doch einmal, ob er mir zuhört. In Ordnung?“
„Ja“, versichert das Mädchen erleichtert. „Danke.“
„Schon gut. Jetzt holen wir Gerd ab. Bevor wir dich nach Hause bringen fütterst du noch einmal die Katze. Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen. Ich habe mehrfach versucht, auf der Rufnummer, die du mir genannt hast, jemanden zu erreichen, aber das Gespräch wurde nie angenommen.“
„Das ist typisch für meinen Vater. Er will nicht gestört werden. Mutter ist arbeiten, also geht er einfach nicht dran, wenn es klingelt.“ Henry kaut nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Frau Wolf? Morgen soll ich zum Tierheim kommen, aber die haben bestimmt nur vormittags auf. Ich habe keine Ahnung, wie ich das machen soll. In der Schule will ich nicht einfach schwänzen. Die Katze muss ich auch mitnehmen. Wo soll die bis dahin bleiben?“
Emma hört die Verzweiflung in der Stimme der Dreizehnjährigen. „Ich mache dir einen Vorschlag. Wir behalten die Katze bei uns. Gerd kann sie morgen mitsamt Karton mit zur Arbeit nehmen. Vielleicht schreiben dir deine Eltern eine Entschuldigung, ansonsten kann ich auch mit deinen Lehrern sprechen. Was hältst du davon?“
„Das würden Sie tun? Für mich?“, staunt Henry und beginnt ganz allmählich zu strahlen. „Super!“ Sie kaut auf ihrer Unterlippe, dann schaut sie Emma beschämt an. „Eigentlich sollte ich mich nicht darüber freuen, dass ich beim Stehlen erwischt wurde, aber ansonsten hätte ich Sie beide doch nie kennengelernt.“
Emma lacht fröhlich auf. „Lass das bitte nicht zu einer Gewohnheit werden.“
Es ist schon nach dreiundzwanzig Uhr, als Henry die Tür zu der fünfundsiebzig Quadratmeter großen Drei-Zimmer-Wohnung auf der Kapellstraße in Düsseldorf-Pempelfort aufschließt.
Die mehrfachen Versuche der Hauptkommissarin, Henrys Eltern telefonisch zu erreichen, blieben den gesamten Nachmittag und Abend lang erfolglos, auch gab es keine Möglichkeit, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen.
In Begleitung des jungen Paares betritt Henry den Hausflur. Viel weiter kommt sie aber nicht, da ihr Vater bereits auf sie zustürzt.
„Kannst du mir einmal verraten, wo du um diese Uhrzeit herkommst?“, schnauzt er seine Tochter heftig an. „Nicht nur, dass du dich herumtreibst, hältst du es anscheinend auch nicht für nötig, deine Arbeiten zu erledigen. Deine Mutter musste alles allein machen. Findest du das so richtig?“ Noch ehe Henry eine Antwort geben kann, brüllt er los. „Was hast du dir dabei gedacht? Hast du überhaupt gedacht? Hier wird um sieben Uhr gegessen. Glaub nicht, dass wir deinetwegen eine Ausnahme machen.“ Erst jetzt bemerkt er die jungen Leute, die hinter Henry zur Tür hereinkommen. Drohend baut er sich vor dem Mädchen auf. „Was soll das? Wieso bringst du fremde Leute hierher? Ich dachte eigentlich, ich hätte dich Besseres gelehrt!“
Ohne sich durch die drohende Haltung des Familienvaters einschüchtern zu lassen, tritt Gerd schützend vor die Dreizehnjährige. „Wie soll Sie Ihnen antworten, wenn Sie sie nicht zu Wort kommen lassen?“
„Was geht Sie das an?“, faucht Paul Grossmann. „Ich will hier keine Fremden, verschwinden Sie. Sonst rufe ich die Polizei!“
„Es steht Ihnen selbstverständlich frei, dies zu machen“, erklärt Emma ihm ruhig. „Aber vielleicht kann ich Ihnen den Anruf ersparen.“ Die Beamtin hält ihm ihren Ausweis vor das Gesicht. „Ich bin Hauptkommissarin Wolf vom Landeskriminalamt Düsseldorf. Wir haben Ihre Tochter nach Hause gebracht, weil ich mich mit Ihnen über sie unterhalten möchte. Würden Sie mir dafür ein paar Minuten Ihrer Zeit opfern?“
Wütend wendet sich der Mann seiner Tochter zu. „Wieso bringst du mir die Polizei ins Haus? Was hast du angestellt? Was?“, brüllt er so laut, dass das Mädchen sichtlich erschrocken zusammenzuckt, während sich ihr Vater wieder an Emma wendet. „Wenn meine Tochter etwas ausgefressen hat, buchten Sie sie ein, dann lernt sie wenigstens daraus. Ich habe dazu nichts weiter zu sagen!“ Auf dem Absatz macht er kehrt, stürmt ins Wohnzimmer, wo er auf das Sofa plumpst und sich die angefangene Bierflasche vom Tisch schnappt.
„Ist ja ein netter Zeitgenosse“, flüstert Gerd seiner Freundin zu.
Emma antwortet nicht, ihr Blick wandert zu Henrys Mutter, die eingeschüchtert im Türrahmen stehen geblieben ist. „Frau Grossmann, ich würde mich gern mit Ihrem Mann allein unterhalten. Besteht die Möglichkeit, dass Sie, Henry und mein Begleiter sich so lange in einen anderen Raum zurückziehen?“
„Wir können in die Küche gehen“, bietet die verängstigte Frau an. „Aber Sie werden nichts erreichen. Er wird Ihnen nicht zuhören.“
„Überlassen Sie das mir.“
Emma wartet ab, bis die drei die Küchentür hinter sich geschlossen haben. Sie atmet noch einmal tief durch, dann begibt sich zu dem Hausherrn. „Interessiert es Sie wirklich so wenig, was mit Ihrer Tochter passiert?“, erkundigt sie sich in einem ruhigen Ton. Ganz bewusst bleibt sie stehen, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Sie wird sich erst dann setzen, wenn er ihr einen Platz anbietet.
„Was soll ich denn Ihrer Meinung nach machen? Sie anbinden? Oder sie an die Hand nehmen und zur Schule begleiten?“, braust Paul Grossmann sauer auf. „Das geht schon lange nicht mehr. Ich kann es ihr nur immer wieder vorkauen. Aber hören tut sie trotzdem nicht!“
„Weil Sie ihr etwas anderes vorleben. Sie zeigen ihr jeden Tag aufs Neue, wie wenig das Leben wert ist. Wollen Sie ihr das wirklich so vermitteln?“
Der Familienvater zuckt nur die Schultern. Ihm ist es egal, was diese Polizistin von ihm denkt. Schließlich ist sie nicht hier, um an seiner Situation etwas zu ändern. „Ich kann tun und lassen, was ich will!“, schnauzt er Emma an. „Ich bin schließlich mein eigener Herr! Außerdem bin ich niemandem Rechenschaft schuldig. Wie ich mein Kind erziehe, müssen Sie schon mir überlassen.“
‚Ihn darauf hinzuweisen, dass es auch dafür Gesetze gibt, wird nicht viel bringen‘, überlegt Emma. ‚Im Gegenteil wird es ihn nur umso wütender machen.‘ Da sie aber seine Zustimmung braucht, verzichtet sie auf eine scharfe Zurechtweisung. „Sie haben Recht“, stimmt Emma ihm deshalb ruhig zu. „Außerdem zeugt Ihr Verhalten vorhin davon, dass Sie sich um Ihre Tochter sorgen.“
Obwohl er sie heftig angeschnauzt hat, bleibt sie ruhig, das verfehlt seine Wirkung nicht. „Das tue ich tatsächlich!“, behauptet er fest. „Ob Sie es nun glauben oder nicht!“
„Henry hat mir erzählt, wie sehr sie Ihr ansteckendes Lachen vermisst.“
Überrascht hebt Paul Grossmann den Kopf, um die Beamtin ungläubig anzuschauen. Er hätte mit allem gerechnet, Vorwürfen, Drohungen, Zurechtweisungen, eventuell sogar mit einer Anzeige wegen wer weiß was, aber nicht mit dieser Aussage. „Daran erinnert sie sich? Sie hat Ihnen das gesagt? Wieso?“
„Weil sie ihren Vater liebt. Henry ist ein erstaunliches Mädchen“, beteuert Emma. „Sorgen Sie dafür, dass Sie ihre Zuneigung nicht verlieren.“
„Wenn Sie meine Tochter so toll finden, wieso sind Sie dann hier?“
„Das würde ich Ihnen gern mitteilen, aber es ist eine längere Geschichte.“
Einen Augenblick ist er still, dann greift er nach der Fernbedienung, mit der er den Fernseher ausschaltet. Mit der freien Hand weist er auf den gegenüberstehenden Sessel. „Meinetwegen!“
Emma atmet auf, das erste Eis ist gebrochen. Nach und nach schildert sie dem Mann, der still zuhört, wie tapfer sich seine Tochter verhalten hat, welche Fehlentscheidung sie im Anschluss traf und dass sie bereit war, für ihre Fehler einzustehen. „Ich denke nicht, dass allzu viel passieren wird. Zudem hat sie für die Zukunft eine Aufgabe, die sie ausfüllen könnte. Lassen Sie ihr die Möglichkeit, diese Arbeit zu übernehmen, wenigstens zweimal die Woche, oder noch besser am Wochenende. Geben Sie Ihr Einverständnis dazu“, bittet Emma. „Das könnte Ihnen Ihre Tochter ein gutes Stück näherbringen.“
„Von mir aus“, gibt Paul Grossmann nach. „Gegen eine geregelte Arbeit habe ich gar nichts. Sie soll mir nur sagen, wann sie wo ist.“