Mordsangst - Sybille Baecker - E-Book

Mordsangst E-Book

Sybille Baecker

4,5

Beschreibung

Kfz-Meister Felix Stolze wird abends schwer verletzt in seiner Autowerkstatt in einem Dorf bei Tübingen aufgefunden. Erst als die Ehefrau des Mannes benachrichtigt wird, stellt sich heraus, dass der fünfjährige Sohn Niko beim Vater war. Doch von ihm fehlt jede Spur. Hat der Junge versucht, Hilfe zu holen und sich dabei verirrt? Als Kommissar Andreas Brander, der inzwischen mit Kollegin Peppi bei der Kripo Esslingen arbeitet, vom Verschwinden des Kindes an seinem Wohnort erfährt, eilt er den Tübinger Kollegen zu Hilfe. Polizei, Feuerwehr und das halbe Dorf suchen Tag und Nacht, doch Niko bleibt verschwunden. Trotz Sorge um das Leben des Kindes zeigen sich weder Nikos Mutter noch Stolzes Kompagnon kooperativ. Was haben die beiden zu verbergen? Was ist tatsächlich in der Werkstatt geschehen? Der Fund eines Kinderschuhs bei einem Steinbruch lässt das Schlimmste befürchten. Bleibt Brander und seinen Kollegen genug Zeit, das Kind zu retten, oder ist es bereits zu spät?

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Sybille BaeckerMordsangst

Sybille Baecker

Mordsangst

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Sybille Baecker wurde 1970 im Emsland geboren, studierte BWL in Münster und Neu-Ulm und war mehrere Jahre als Pressereferentin eines Sportfachverbandes in Stuttgart tätig. Heute lebt und arbeitet sie als Schriftstellerin in Ammerbuch. Durch ihre Krimiserie mit dem Tübinger Kommissar und Whiskyfreund Andreas Brander wurde sie zur Fachfrau für »Whisky & Crime« – sodass auch ihre Lesungen immer wieder von Whiskyverkostungen begleitet werden.www.sybille-baecker.de

Für Frank

1. Auflage 2016

© 2016 by Silberburg-Verlag GmbH, Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen. Coverfoto: © Henk Badenhorst – Fotolia.com.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1716-5 E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1717-2 Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1458-4

Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Über die Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Branders Spirituosen

Danke!

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Er war nicht der Hellste, so viel stand fest. Aber er hatte ein Herz. Es klopfte stetig in seiner Brust, ganz ruhig, wenn er schlief; schnell und hart, wenn er aufgeregt war. Meistens schlug es jedoch, ohne dass er es wahrnahm. Es verrichtete seinen Dienst, pumpte stetig Blut durch seine Adern. Und durch sein Gehirn. Aber auch wenn er nicht der Hellste war, dumm war er nicht. Gedanken strömten unablässig durch seinen Kopf.

Jetzt hämmerte sein Herz heftig und aufgeregt. In seinem Kopf war ein Rauschen und machte das Denken anstrengend.

Würde man ihm glauben, dass das, was geschehen war, nicht seine Absicht gewesen war? Es war passiert. Und jetzt gab es kein Zurück mehr.

Man würde ihn bestrafen – Herz hin oder her.

1

Die Glatze glänzte. Kriminalhauptkommissar Andreas Brander legte das Handtuch zur Seite und betrachtete sich im Spiegel. Obwohl er sich diesen kahlen Schädel bereits Ende Januar rasiert hatte, war der Anblick noch immer ungewohnt. Wenigstens hatte die Frühlingssonne inzwischen ein wenig Farbe auf die helle Haut gebracht. Bis August musste er noch durchhalten. Das waren noch sechzehn Wochen.

»Mach niemals einen unüberlegten Spruch in Gegenwart eines Teenagers«, empfahl er seinem Spiegelbild. Seine Pflegetochter Nathalie hatte ihn festgenagelt und seine Frau Cecilia hatte sich mit ihr verbündet. Bei der Erinnerung hob sich ein Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. Auf seiner Wange bildeten sich zwei tiefe Furchen, die fast vom Kinn bis zu den Augenwinkeln reichten. In seiner Jugend waren das Grübchen gewesen.

Nathalie hatte ihn im letzten Sommer aufgezogen, als er sich über sein stetig lichter werdendes Haar beklagte.

»Rasier dir doch ’ne Glatze, dann siehste’s nicht mehr«, hatte sie herzlos vorgeschlagen. Die Sechzehnjährige hatte sich vor wenigen Jahren selbst einmal die Haare abrasiert. Mittlerweile zierte ihren Kopf wieder eine dunkle Strubbelmähne. Aus dem wütenden, widerspenstigen Mädchen war in den anderthalb Jahren, die sie inzwischen bei Branders lebte, ein temperamentvoller Teenager geworden. Und Brander hatte ihren Ehrgeiz unterschätzt, als er damals erwiderte: »Das mach ich, wenn du einen Zweierschnitt im Zeugnis hast.«

Nathalie hatte die neunte Klasse der Realschule wiederholt und ein Halbjahreszeugnis mit einem Durchschnitt von zwei Komma null erhalten. Breit grinsend hatte sie ihm ihr Zeugnis samt Haarschneider auf den Tisch gelegt.

»Aus der Nummer kommst du jetzt nicht mehr raus«, war Cecilias spöttischer Kommentar gewesen. Der erhoffte Beistand blieb aus.

»Aber nicht nur für zwei Wochen, dass das klar ist«, hatte Nathalie gefordert. »Mindestens bis zu meinem siebzehnten Geburtstag.«

Der war im August.

Aber es war den Einsatz wert gewesen. Wenn es weiter so gut lief, bestand die Hoffnung, dass sie die Realschule doch noch mit einem ordentlichen Schulabschluss beenden würde.

Ein Klingeln an der Haustür drang zu ihm herauf. Er sah auf die Uhr. Kurz nach sechs. Karsten und Manuel hatten sich erst für neunzehn Uhr zum Abendessen angemeldet. Er hörte Cecilia zur Tür gehen, kurz darauf drang Peppis Stimme in den Flur. Brander runzelte verwundert die Stirn. Was machte seine Kollegin hier? Heute war der letzte Tag seines zweiwöchigen Urlaubs – eine Auszeit, die er bitter nötig gehabt hatte. Er hatte sich ausgebrannt gefühlt, müde, unzufrieden. Anfang des Jahres war die Polizeireform umgesetzt worden und statt morgens aufs Fahrrad zu steigen und durch das Ammertal zur Polizeidirektion nach Tübingen zu radeln, saß er nun täglich stundenlang im Auto auf dem Weg zur Kriminalpolizeidirektion nach Esslingen. Egal, ob er über die B27 oder die Autobahn fuhr – irgendwo war immer ein Stau. Er hasste die Autofahrerei. Durch die mangelnde Bewegung hatte er schon drei Kilo zugenommen. Aber es war nicht nur der Blick auf die Waage, der ihn frustrierte, auch der sportliche Ausgleich fehlte ihm. Und da es im Winter zeitig dunkel wurde, war auch das Joggen durch den Schönbuch kein erholsamer Spaß. Einziger Lichtblick war, dass er weiterhin eng mit seiner griechischen Kollegin Persephone Pachatourides zusammenarbeitete. Und die stand soeben unten im Hausflur. Sie waren zwar auch privat befreundet, aber unangemeldete Besuche gab es dennoch selten.

Er schlüpfte in Jeans und T-Shirt und stieg die Treppe hinunter. Die beiden Frauen sahen ihm entgegen. Cecilia hob ratlos die Schultern, als er zu ihr sah. Anscheinend hatte seine Kollegin noch nicht den Grund ihres Besuches verraten.

»Hallo Peppi, was machst du hier?«, fragte er.

Er musterte verwundert ihr grimmiges Gesicht. Die dunklen Augen verhießen nichts Gutes. Sie war ein Jahr älter als er, aber nur vereinzelt ließ sich ein graues Haar in ihrer dunklen Lockenpracht erahnen. Sie hatte den burgunderroten Mantel nicht abgelegt, am Halsausschnitt lugte ein heller Pulli hervor. Ihre Mimik war angespannt, als hielte sie sich nur mühsam unter Kontrolle.

»Kann ich dich bitte kurz unter vier Augen sprechen?«

»Klar, wir können ins Wohn…«

»Draußen.« Peppi deutete ein knappes Nicken in Cecilias Richtung an und stapfte hinaus.

Brander nahm seine Jacke vom Haken und folgte ihr. Die Luft zog ihm unangenehm über den Kopf. Es war April, und obwohl die Temperaturen tagsüber schon an die Zwanzig-Grad-Marke kratzten, kühlte es abends doch schnell ab. Peppi blieb bei ihrem Wagen stehen.

»Hat Nathalie was angestellt?«, fragte Brander vorsichtig.

Er hatte so gehofft, dass das Mädchen sich endlich gefangen hatte, dass ihre Alkoholeskapaden, ihre Prügeleien und Diebstähle der Vergangenheit angehörten. Aber nach Peppis Blick zu urteilen war etwas vorgefallen, dessen Klärung keinen Aufschub duldete. Sonst hätte sie nicht an einem Freitagabend bei ihm vor der Tür gestanden.

»Wie lange arbeiten wir schon zusammen?« Ihre Stimme hatte einen unheilvollen, drohenden Unterton.

Die Frage überraschte ihn. »Acht, neun Jahre …«

Peppi nickte mit bitterer Miene. »Acht Jahre und vier Monate.«

Acht Jahre bei der Kriminalinspektion eins in Tübingen, seit der Polizeireform in Esslingen. Brander wartete auf eine Erklärung für diese Frage. Aber Peppi schwieg. Ihr Kiefer arbeitete wütend.

Ihr Schweigen irritierte Brander. Normalerweise war sie jemand, der lautstark mit der Tür ins Haus polterte und sich schimpfend Luft verschaffte. Ein kurzes, reinigendes Gewitter, und das Problem war geklärt. Was war geschehen? Er verstand ihre Frage nicht. Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger unwohl über das Kinn. Der Aprilhimmel hing blassblau über dem Schönbuch, der sich im Osten des Dorfes erhob. Hätte er eine Mütze auf dem Kopf gehabt, hätte er noch eine ganze Weile stumm hier stehen können. Aber die Stille zwischen ihnen war nicht angenehm.

Peppi presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf zur Seite. Er meinte, einen feuchten Schimmer in ihren Augen zu sehen.

»Ist etwas passiert?«, durchbrach er nun doch ihr Schweigen.

Sie bewegte leicht den Kopf hin und her, aber es war kein »Nein«. Es war eher ein verständnisloses Kopfschütteln.

»Hast du mir nichts zu sagen?«, fragte sie mit gepresster Stimme.

»Ehrlich gesagt, ich steh gerade ein bisschen auf dem Schlauch …«

»Mehr als acht Jahre!«, fuhr sie ihn an. »Wir sind ein Team, ja?«

»Ähm … ja …«

»Und dann hast du nicht einmal jetzt den Anstand, es mir zu sagen?« Sie schüttelte erneut den Kopf. Die Zornestränen standen ihr inzwischen deutlich in den Augen.

»Peppi… Was denn?« Er hob ratlos die Hände. So aufgelöst hatte er sie selten gesehen.

»Gruß von Herrn Möhrle. Er hat mich gefragt, ob ich mich nicht auch beim LKA bewerben wollte.«

Noch ehe er reagieren konnte, wandte sie sich ab, stieg ins Auto und schlug die Tür zu.

Brander sah den Rücklichtern ihres PT Cruisers hinterher. »Scheiße.«

Er blieb vor dem Haus stehen, starrte stumpf die Sackgasse entlang bis zum Herdweg, in dem der Wagen seiner Kollegin verschwunden war.

Ekkehard Möhrle. Sein ehemaliger Kollege aus Stuttgarter Zeiten, der mittlerweile beim Landeskriminalamt im Dezernat für Organisierte und Rauschgift-Kriminalität arbeitete. Seit Monaten lag er ihm in den Ohren, dass er ihn gern in seinem Team hätte. Die Bewerbung hatte Brander Anfang der Woche abgeschickt, noch immer unsicher, ob es tatsächlich das war, was er wollte. Er wusste nur, dass er irgendetwas tun musste, um diese innere Unzufriedenheit loszuwerden. Einen Moment lang hatte es sich sogar gut angefühlt. Er verfluchte Möhrle innerlich. Wieso erzählte er Peppi von seiner Bewerbung? Er hatte mit ihr reden, sie vorbereiten wollen.

Jetzt war es zu spät.

* * *

Aus der Ferne sah er die blinkenden Lichter. Sein Herz klopfte hart, wie ein Presslufthammer schlug es im Akkord gegen seinen Brustkorb. Er konnte es schmerzhaft spüren. Bummbummbumm. Sein Atem war unruhig, als wäre er gerannt. Dabei saß er nur da und starrte auf die Lichter. So viele Lichter. Sie kreisten umher, einmal waren sie links, dann rechts. Das Licht zog über die Mauern, die Büsche, die Felder. Hektisch im kalten Blau durchbrach es die Dunkelheit. Er konnte nichts hören, war viel zu weit weg. Ihm wurde schwindelig. Ein bisschen, wie in einem Rausch. Aber es war kein angenehmes Stonedsein. Es war eher diese Karussellfahrt im Kopf, kurz bevor man kotzen musste. Er wandte sich ab, versuchte, sein Gehirn zum Denken zu bewegen. Denk nach. Denk nach! Aber außer diesen zwei Worten war da nur beängstigende Leere unter seiner Schädeldecke. Verflucht, er konnte nicht zurück.

2

Karsten Beckmann tupfte sich mit der Serviette über die Mundwinkel. »Ein Gedicht, Amore.« Er strahlte Cecilia an und Brander sah seine Frau verlegen lächeln, als Karsten ihr auch noch eine Kusshand zuwarf. Manuel verdrehte nachsichtig die Augen.

»Ceci, das Essen war vorzüglich. Kein Wunder, dass Andi immer so auf sein Gewicht achten muss!« Beckmann konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen.

»Mein Gewicht ist genau richtig. Und jetzt hör auf, mit meiner Frau zu flirten«, beschwerte sich Brander. Er war froh, dass Karsten und Manuel gekommen waren und ihn auf andere Gedanken brachten. Noch immer saß ihm das schlechte Gefühl von Peppis Besuch im Nacken. Ceci hatte ein köstliches Drei-Gänge-Menü auf den Tisch gezaubert, aber sein Lob würde nach Karstens Schmeicheleien nur untergehen. Er würde es ihr später sagen, wenn sie zu zweit waren. Jetzt begnügte er sich damit, seine Hand auf ihre zu legen. Er spürte die zarte Haut unter seinen rauen Fingern. Sie trug einen weich fließenden, langen Rock, dazu ein legeres Shirt. Beides umschmeichelte sanft ihre frauliche Figur. Die dunkelbraun getönten Haare waren knapp schulterlang und die Spitzen verspielt nach außen geföhnt. Sie war dezent geschminkt. Eine dünne Halskette mit einem kleinen Stein als Anhänger zierte ihr Dekolleté. Sechzehn Jahre waren sie mittlerweile verheiratet. Was hatte er für ein Glück, ging es ihm verliebt durch den Kopf.

»Süß, oder?«, hörte er Karsten amüsiert flüstern.

»Wenn du mich nach so vielen Jahren auch noch so anschaust, werde ich der glücklichste Mann der Welt sein.« Manuel begann, das Geschirr zusammenzuräumen.

Brander fühlte sich ertappt, drückte Cecilias Hand und drängte seine romantischen Gefühle zurück.

Karsten warf einen Blick auf die Uhr. »Wann kommt die Jugend nach Hause?«

»Kurz nach elf, wenn die Ammertalbahn pünktlich ist.«

»Dann haben wir noch ein knappes halbes Stündchen. Ihr entschuldigt uns?« Karsten schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

Brander folgte ihm in den Flur, nahm Jacke und Mütze von der Garderobe und schlüpfte in die Schuhe. Während er Sitzkissen auf die Bank neben dem Eingang zu seiner Doppelhaushälfte legte, ging Karsten zu seinem Wagen. Wenig später kehrte er mit zwei Gläsern und einer Flasche Whisky zurück.

»Den hab ich schon eine Weile im Regal stehen, aber noch nicht probiert. Ein Highland Malt.«

Brander nahm die Flasche entgegen. »anCnoc« stand auf dem Etikett, ein Whisky aus der Knockdhu Destillerie, destilliert im Jahr 2000, abgefüllt im September 2014.

»Es gab nur sechshundert Flaschen auf dem deutschen Markt und eine davon hältst du gerade in der Hand. Lass sie nicht fallen.« Beckmann setzte sich neben ihn und streckte ihm erwartungsvoll die Gläser entgegen.

Brander löste die Banderole und zog den Korken ab. Seine Nase erhaschte einen ersten Hauch des Aromas. Er versuchte, die Düfte zu identifizieren, Süße, vielleicht etwas Schokolade, aber auch eine leichte Würzigkeit. Und da war noch mehr. Brander seufzte zufrieden, obwohl er noch keinen Schluck getrunken hatte. Seit einer Eskalation mit Nathalie gab es im Hause Brander keinen Alkohol mehr. Mittlerweile war es schon Tradition geworden, dass Karsten einen guten Tropfen mitbrachte, den sie zu zweit irgendwann im Laufe des Abends vor der Tür genossen. Aber immer nur ein oder zwei Gläser, damit Nathalie sich nicht zwei betrunkenen Männern gegenübersah.

Sein Kumpel grinste über Branders genießerisches Schnuppern. »Ich hab gewusst, dass er dir gefallen wird.«

Brander goss die bronzefarbene Flüssigkeit in die Gläser, verschloss die Flasche wieder und stellte sie neben die Bank auf den Boden.

»Was ist los, Andi?«, fragte Beckmann, nachdem Brander sich zurückgelehnt hatte.

»Wieso?«

»Du wirkst bedrückt. Du hattest zwei Wochen Urlaub, du solltest entspannt und erholt sein.«

Brander brummte unbestimmt und prostete Beckmann zu. Sie kannten sich mittlerweile gut vier Jahre, ihre erste Begegnung war allerdings beruflich gewesen. Karsten Beckmann hatte von Anfang an ein Gespür für Branders Stimmungen gehabt, eine Feinfühligkeit, die ihn nicht nur als Kommissar, sondern auch persönlich verunsichert hatte.

Sie tranken einen Schluck. Brander ließ den Whisky einen Moment im Mund verweilen und spürte dem Geschmack nach, als er sanft die Kehle hinunterglitt. Er meinte, eine ganz leichte Torfnote zu schmecken.

»Hat was Schokoladiges, oder?«, überlegte Beckmann, während er das Glas vor seinen Augen zwischen den Fingern drehte.

Irgendetwas raschelte in den Sträuchern, eine Fledermaus flatterte lautlos an ihnen vorbei. Die kühle Nachtluft kroch in ihre Kleidung, während der Whisky von innen wärmte.

»Da ist aber auch was Frisches … Zitrone? … Orange?« Brander war sich nicht sicher. Er hob den Blick zum dunklen Himmel. Kein Mond, keine Sterne. Es war bewölkt. Vielleicht würde es in der Nacht noch regnen. Aprilwetter. Er mochte diese ruhigen Momente mit Karsten. Sie konnten nebeneinandersitzen, über Gott und die Welt reden oder einfach nur schweigend genießen.

»Und?« Karsten hatte anscheinend nicht vor, stumm in den Nachthimmel zu schauen.

»Und was?«

»Was ist los? Trouble mit Nathalie? Mit Ceci? Im Job?«

»Du nervst. Ich hab’s mir mit Peppi verscherzt.« Er berichtete von ihrem Besuch.

»Du hättest mit ihr beizeiten reden sollen«, wiederholte Beckmann, was Ceci Brander vor wenigen Stunden bereits gesagt hatte.

»Ach was?« Brander trank erneut einen Schluck. Er schmeckte eine dezente Zitrusnote heraus, zumindest bildete er es sich ein. »Verrate mir lieber, wie ich das wieder geradebiegen kann.«

»Du kennst sie besser als ich. Allerdings …« Beckmann zögerte. »Wenn ein Mensch, den Peppi mag, sie sehr verletzt hat, kann sie ziemlich nachtragend sein… selbst wenn es unbeabsichtigt war.«

Brander wurde hellhörig. Er wusste, dass Peppi nicht gut auf Karsten Beckmann zu sprechen war, aber er hatte bisher nicht herausfinden können, warum. »Eigentlich ist sie nicht nachtragend.«

»Rede mit ihr, was anderes kann ich dir auch nicht raten.« Karsten nippte an seinem Glas und deutete auf den Weg. »Schau an, wer da kommt.«

Nathalie schlenderte den Weg entlang. Sie war groß und kräftig, kein kleines, zartes Mädchen. Seit einem Jahr ging sie regelmäßig zu Karsten Beckmann ins Dojang und lernte Taekwondo. Der Sport tat ihr gut. Brander hatte befürchtet, dass es sie noch aggressiver machen könnte, aber Karsten brachte ihr bei, mit Hilfe des Kampfsports ihre Gefühle zu kontrollieren. Im Training am Boxsack fand sie zudem ein Ventil, um die Wut, die in ihr steckte, rauszulassen. Seit Weihnachten hing ein großes, rotes Exemplar in Branders Keller. Neben Nathalie ging ein junger Mann, wenig größer, schlaksig, schwarz gekleidet – Julian, Branders Neffe. Der Neunzehnjährige war Ostern zu Besuch gekommen und würde am Sonntag wieder zurück zu seinen Eltern nach Düsseldorf fahren.

Ein Strahlen breitete sich auf Nathalies Gesicht aus, als sie Karsten entdeckte und ihr Schritt wurde etwas flotter. Tadelnd schüttelte sie den Kopf, als sie vor ihm stehen blieb. »Ey, Trainer, was is ’n das für ’n Scheiß? Alkohol ist voll ungesund und verlangsamt die Reflexe.«

»Um ’ne Göre wie dich auf die Matte zu schicken, reicht es allemal.«

Sie setzte spielerisch zu einem Tritt an. Beckmann parierte, packte ihr Bein und zog sie auf seinen Schoß, damit sie nicht zu Boden fiel.

»Leg dich nicht mit deinem Meister an.«

»Eines Tages krieg ich dich«, prophezeite die Sechzehnjährige selbstbewusst. Sie schmiegte sich an Karstens Schulter.

Brander registrierte es mit gemischten Gefühlen. Einerseits freute er sich, dass sie so viel Vertrauen zu Karsten gefasst hatte, andererseits befürchtete er, dass eine jugendliche Schwärmerei dahintersteckte. Karsten war humorvoll, galant, hatte einen durchtrainierten Körper, dazu ein markantes, männliches Gesicht und einen Blick, der die Frauen – und Mädchen – magisch anzuziehen schien.

Julian blieb vor der Dreiergruppe stehen und mimte den erwachsenen Mann, der so ein Geplänkel für Kinderkram hielt.

»Was is ’n eigentlich in Entringen los? Waren voll viele Bullen unterwegs.« Nathalie sah fragend zu Brander.

»Ein Viehauftrieb mitten in der Nacht?«, flachste Beckmann.

Nathalie verdrehte die Augen.

»Wie bist du eigentlich angezogen? Der Rock ist viel zu kurz.«

»Dass du danach guckst. Ich dachte, du bist schwul.«

»Aber nicht blind. So würde ich dir nicht erlauben, aus dem Haus zu gehen! Gut, dass du einen Aufpasser dabeihattest.«

Julian hob die Mundwinkel zu einem minimalen Lächeln.

Beckmann schubste das Mädchen von seinem Schoß. »Geh rein, damit du dich nicht erkältest, und lass uns hier mal in Ruhe Männergespräche führen.«

Nathalie zeigte streng mit dem Finger auf die Flasche. »Ey, aber nur noch ein Glas, damit das klar ist.«

»Jawohl, und jetzt zisch ab.« Brander deutete mit dem Kopf zur Tür, die sich im selben Moment öffnete.

Cecilia hielt ihm das Telefon entgegen. »Hendrik, er sagt, es wäre dringend.«

Hendrik Marquardt war zu Branders Tübinger Zeiten einer seiner engsten Kollegen gewesen. Der Achtunddreißigjährige war nach der Reform beim Kriminalkommissariat Tübingen geblieben, da seine Lebensgefährtin Anne Dobler, ebenfalls eine Kriminalpolizistin, und seine zwei kleinen Kinder hier lebten. Anne Dobler befand sich seit der Geburt des zweiten Kindes vor einem halben Jahr in Elternzeit.

Brander nahm den Apparat entgegen.

»Hallo Andi, ich bin gerade in Entringen, Autowerkstatt Stolze & Lütz, Ortsausgang Richtung Herrenberg«, begann Hendrik im eiligen Stakkato.

Branders Gehirn schaltete umgehend in den Dienstmodus. »Ja, kenn ich.«

»Wir haben ein vermisstes Kind. Der fünfjährige Niko Stolze. Vermutlich seit ein paar Stunden abgängig.«

Ein paar Stunden? Hatten die Eltern nichts gemerkt?

»Du kennst die Gegend, du kennst die Leute hier. Kannst du kommen?«

»Bin unterwegs.«

Deswegen hatte Nathalie die vielen Polizisten gesehen.

»Was ist los?«, fragte Cecilia.

»Der kleine Niko von den Stolzes ist anscheinend ausgebüxt. Hendrik ist vor Ort. Ich fahr hin.«

»Können wir helfen?«, bot Karsten an.

Brander zögerte. »Ich will mir erst einen Überblick verschaffen. Vielleicht könnt ihr noch ein wenig bleiben, falls wir mehr Leute für die Suche brauchen.« Er wollte seinen Freunden den Abend nicht verderben. Vielleicht war es nur ein falscher Alarm.

* * *

Da er schon einen Whisky getrunken hatte, nahm Brander sein Fahrrad. Er bog von der B28 in das kleine Gewerbegebiet ab. Penny und Tankstelle hatten längst geschlossen, auch im Jugendclub war alles dunkel. Entringen war die älteste und mit knapp dreitausendsiebenhundert Einwohnern die größte der sechs Ammerbucher Gemeinden. Sie lag nur wenige Kilometer von Tübingen entfernt. Der Ort war überschaubar: Metzger, Bäcker, Hofladen, Apotheke, Supermarkt, ein kleiner Bahnhof – alles war selbst zu Fuß innerhalb weniger Minuten zu erreichen.

Mit dem Fahrrad war Brander ruckzuck vor Ort. In dem Gewerbegebiet im Nordwesten des Dorfes hatten sich kleine und mittelständische Unternehmen angesiedelt. Am Ende der Straße befand sich die Kfz-Werkstatt »Stolze & Lütz«, es war nicht die einzige im Ort.

Hendrik Marquardt stand neben seinem Dienstwagen und beendete eilig ein Gespräch, als er Brander auf den Hof kommen sah. Sämtliche Lampen und Strahler waren eingeschaltet und beleuchteten Werkstatt und Vorplatz. Alle zur Verfügung stehenden Beamten waren herangezogen worden und ausgeschwärmt, um das Gelände abzusuchen. Der Lichtkegel des Blaulichts kreiste über die Umgebung, zeichnete mal hier, mal dort kühle Umrisse der Gebäude und Sträucher um sie herum. Trotz des Aufgebots entdeckte er keine Schaulustigen. Vermutlich halfen diejenigen, die hinzugekommen waren, bei der Suche nach dem Kind.

»Gib mir eine kurze Zusammenfassung«, bat Brander, ohne sich mit Begrüßungsfloskeln aufzuhalten. Sie hatten sich seit Januar nicht mehr gesehen. Der sportlich durchtrainierte Kollege wirkte schmaler, als Brander ihn in Erinnerung hatte.

Hendrik strich sich nervös durch die dunklen Haare. »Kurz nach einundzwanzig Uhr ging ein Notruf ein. Ein Herr Markus Höschele hatte Felix Stolze verletzt aufgefunden. Stolze ist einer der Inhaber der Werkstatt. Er ist anscheinend in die Fahrzeuggrube gestürzt und hat sich dabei schwere Verletzungen zugezogen. Notarzt und Sanis konnten den Mann bergen. Er ist nicht ansprechbar und wurde in die Klinik nach Tübingen gebracht. Die hinzugerufenen Kollegen haben seine Frau informiert. Sie ist auch gerade im Krankenhaus. Sie hat heute ihr zweites Kind bekommen. Ihr erstes Kind, der fünfjährige Niko, war nicht bei ihr in der Klinik. Die Kollegen haben umgehend eine Suchaktion eingeleitet, das war gegen zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Cory und ich waren noch in der Dienststelle und sind sofort rausgefahren, um zu übernehmen.«

Das erklärte, warum man nicht den Kriminaldauerdienst geholt hatte. Hendrik und Cory waren sicherlich schneller vor Ort als der KDD aus Nürtingen.

»Im Gebäude und in der Werkstatt haben wir den Jungen nicht gefunden. Wir haben herausgefunden, dass es ein Kindermädchen gibt, Selesta Fink, wohnt in der Gretchenstraße. Sie hat ausgesagt, dass Stolzes Partner Martin Lütz den Jungen gegen achtzehn Uhr bei ihr abgeholt hat, um ihn zum Vater zu bringen. Also hierher, Stolzes haben eine Wohnung über der Werkstatt.« Hendrik deutete auf das Gebäude hinter seinem Rücken.

»Wurde das Kind danach noch einmal gesehen?«

»Eine Nachbarin sagte aus, dass sie Niko gegen halb acht auf dem Hof der Werkstatt hat spielen sehen.«

»Was ist mit diesem Lütz? Hast du mit dem gesprochen?«

»Geht nur die Mailbox ran, am Handy ebenso wie an seinem Festnetzanschluss. Wir haben eine Nachricht hinterlassen.«

Branders Augen wanderten über den Hof. Stolze & Lütz war eine freie Werkstatt. An einer Seite standen mehrere Autos verschiedener Fabrikate. In einer Ecke waren alte Autoreifen gestapelt. Direkt vor ihm befand sich eine große Halle. Eines der drei Werkstatttore war geöffnet. Links an der Halle gab es einen Anbau, in dessen unteren Bereich anscheinend ein Büro war, darüber vermutete Brander die Wohnung. Das gesamte Gelände war von einem hohen Maschendrahtzaun eingefasst. Ein großes Metallschiebetor, durch das Brander gekommen war, stand offen.

Brander rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Was hast du bisher unternommen?«

»Ich habe sämtliche verfügbaren Kräfte für die Suche angefordert, Rettungsdienste, Taxi- und Busunternehmen informiert …«

»Die Bahn?«

»Die Bahn?«, fragte Hendrik verwirrt.

»Hier gibt es eine Regionalbahn, naldo Verkehrsverbund, die fahren halbstündlich zwischen Tübingen und Herrenberg. Die Gleise sind nicht weit entfernt.« Brander streckte den Arm in die Richtung. Es waren vermutlich keine dreihundert Meter bis zu den Schienen. »Wir müssen die Zugführer informieren, falls der Junge an den Schienen entlangläuft.«

»naldo … Lass mich das kurz weitergeben.« Hendrik griff zum Funkgerät und gab den Auftrag an die Zentrale.

»Ist jemand bei der Mutter in der Klinik?«

»Ich habe Cory hingeschickt. Aber ich habe noch nichts von ihr gehört.«

Corinna Tritschler. Das war beruhigend. Brander wusste, dass die Kollegin eine Zusatzausbildung zur Betreuungsbeamtin absolviert hatte. Sie war geschult darin, Menschen in einem Ausnahmezustand Beistand zu leisten – und dies war für die frisch entbundene Mutter ganz sicher eine schreckliche Nacht.

»Verwandte, Bekannte, Freunde? Könnte der Junge dort sein?«

»Die Kollegen sind dabei, Familienangehörige abzutelefonieren. Sie fangen gerade erst an. Wir müssen uns die Daten zusammensuchen …«

Eine Windbö strich um ihre Köpfe. Hendrik hob besorgt den Blick zum nächtlichen Himmel. »Haben die Regen angesagt?«

»Sieht zumindest danach aus …«

Brander sah sich weiter um. Die Werkstatt lag zurückgesetzt rechts des Geländes der Firma Maisch, die sich mit Hochleistungsflüssigkeitschromatographie beschäftigte, was Brander in einem kleinen Ort wie Entringen für recht ungewöhnlich hielt. Auf der anderen Seite des Kfz-Meisterbetriebs grenzte das Grundstück der Firma Thurner Garten- und Forsttechnik mit Verkaufsraum und Werkstatt. Schräg gegenüber war die Schreinerei Arnold mit Privathaus und großer Halle. Etwas weiter entfernt die Zimmerei Karl und die Rückseite der Tankstelle.

Grübelnd sah Brander zum Ortsrand. Wie weit konnte ein fünfjähriger Junge laufen? Und wohin würde er laufen, wenn er allein und verängstigt war? Sicher nicht ins Dunkle, auf die Felder oder in den Wald, sondern irgendwohin, wo Licht brannte. »Könnte der Junge bei einem Nachbarn sein?«

»Das hätte man uns wohl gesagt, oder?«

Da hatte Hendrik allerdings recht. Der Rohrbach fiel Brander siedend heiß ein. »Habt ihr am Bach nachgesehen?«

»Welchen meinst du, den, der hier direkt hinter den Firmen entlangfließt?«

»Ja.«

Es war nur ein schmales Bächlein und im Moment ohne starke Strömung, aber es waren schon Kinder in Pfützen ertrunken.

»Zwei Teams haben ein ganzes Stück abgesucht. Aber sie haben bisher nichts gefunden.«

Hendrik hatte alle notwendigen Sofortmaßnahmen eingeleitet. Was konnten sie noch tun?

Branders Blick wanderte erneut über die Umgebung. »Wir brauchen mehr Leute. Und mehr Licht.«

»THW?«

»Ja, und Feuerwehr. Die haben ihre Gerätschaft gleich da vorn, Bei der Schießmauer.«

»Bei der Schießmauer?«

»So heißt die Straße.«

Hendrik forderte die Unterstützung über die Zentrale an. »Ich habe alle unsere verfügbaren Einheiten herbeordert, aber das wird nicht reichen. Der Kleine kann theoretisch überall sein. Wir wissen nicht, wie lange er schon umherirrt. Mindestens drei Stunden, vermutlich aber mehr.«

Brander überlegte, wie sie die Suche am effektivsten ausweiten konnten. In der Ferne läuteten die Glocken der Michaelskirche. Mitternacht. »Schick einen Streifenwagen durch die Straßen mit Lautsprecherdurchsage. Die Anwohner müssen wissen, dass wir nach Niko Stolze suchen, vielleicht ist er irgendwo untergekommen. Falls jemand den Jungen heute Abend gesehen hat, soll er sich umgehend hier melden. Kannst du ein oder zwei Streifenwagen abstellen? Die sollen auf den Durchgangsstraßen den Verkehr stoppen und die Fahrer aufmerksam machen. Nicht, dass der Junge überfahren wird, falls er irgendwo über eine Straße läuft.«

»Okay.«

»Es gibt einen Polizeiposten hier am Ort, der ist aber nur tagsüber besetzt. Die Zentrale soll die Kollegen informieren. Vielleicht können die uns unterstützen. Hast du einen Ortsplan?«

»Nein, noch nicht.«

»Die Feuerwehr hat sicherlich Übersichtspläne …«

Hendrik deutete auf das Innere seines Einsatzwagens. »Ich hab Google Earth.« Auf dem Beifahrersitz lag ein Notepad.

»Ich geb dir trotzdem einen kleinen Überblick.« Brander drehte sich zur Straße, sodass die Werkstatt in seinem Rücken lag. »Hier vorn hast du einige Gewerbebetriebe, wenige Wohnhäuser, die Firmengelände sollten wir vorrangig absuchen. Habt ihr die Firmeninhaber schon informiert?«

»Wir sind dabei, wohnen ja nicht alle hier.«

»Okay, die sollen alle ihre Außenbeleuchtung einschalten, damit wir mehr Licht haben. Das Kind könnte allerdings auch über die Schienen gelaufen sein. Auf der anderen Seite der Gleise sind Ackerland und ein paar Höfe, ein Reitstall, die Biogasanlage, ein Segelflugplatz, also große Flächen, kein Licht.« Brander zeigte nach Osten, ließ den Arm dann nach rechts gleiten. »Da hinten rüber, direkt an den Gleisen, ist ein Recyclingunternehmen, ein Stück weiter westlich beginnt der Hartwald.« Brander wandte sich um zur Werkstatt. Es wäre auch möglich, dass der Junge auf die andere Seite der Bundesstraße gelangt war, über die Landwirtschaftswege nach Breitenholz, zum Schönbuch oder durch den Ort, zum Freibad … Das Gebiet war unüberschaubar. Sie brauchten dringend mehr Helfer. »Ich ruf Ceci an, sie kennt eine Menge Leute vom Sportverein, sicher werden uns da einige bei der Suche helfen.« Brander überlegte. Er brauchte Menschen, die ein großes Netzwerk hatten, sodass Telefonketten initiiert und Suchmannschaften zusammengestellt werden konnten. Chorleiter, Vereinsvorsitzende… »Haben wir eine Beschreibung von dem Jungen?«

»Zirka einen Meter zehn groß, schlank, kurze, struppige Haare, wie Pumuckl, nur blond.« Hendrik zog ein Foto aus seiner Jacke und gab es Brander.

Ein kleiner Junge grinste verschmitzt in die Kamera. Er stand im Sand, trug Matschhosen, Gummistiefel und eine Regenjacke und hielt eine Schaufel in der Hand. Es sah aus, als wäre das Foto irgendwo an einem Strand aufgenommen worden – vielleicht Nord- oder Ostsee, vielleicht aber auch am Bodensee.

»Das Kindermädchen sagt, er hätte eine blaue Hose, einen weiß-blau geringelten Strickpulli und eine braune Cordjacke mit Flicken an den Ellenbogen getragen, als sie ihn an Martin Lütz übergeben hat.«

Brander gab ihm das Foto zurück. »Kannst du veranlassen, dass sie hierherkommt? Ich würde gern mit ihr sprechen.«

»Wenn ich sie sehe … Sie hilft bei der Suche.«

»Du sagtest, der Vater hätte in der Werkstatt in der Fahrzeuggrube gelegen?«

»Ja.«

»Hast du die Kriminaltechnik informiert?«

Hendrik verzog bedauernd das Gesicht. »Nein, noch nicht. Wir haben uns voll und ganz auf die Suche konzentriert.«

Auch wenn die Suche nach dem Kind Vorrang hatte, durften sie den Unfall in der Werkstatt nicht außer Acht lassen. Immerhin lag ein Mann schwerverletzt im Krankenhaus. Die Kriminaltechniker sollten sich die Spurenlage auf jeden Fall einmal anschauen.

»Ich lass die Werkstatt absperren und informier Freddy. Kümmere du dich um die Einteilung der Suchmannschaften. Ich werde ein paar Leute aus dem Ort anrufen. Ich denke, da sollten in Kürze einige herkommen, um zu helfen.« Er war sicher, dass sich zahlreiche Mitbürger an der Suche beteiligen würden.

»Danke.« Die Aussicht auf weitere Helfer entspannte Hendrik ein wenig.

»Wie hieß der Mann nochmal, der den Stolze gefunden hat?«

»Markus Höschele.«

»Ist der noch da?«

»Nein, die Kollegen haben ihn nach Hause geschickt. Wir haben aber seine Kontaktdaten. Er wohnt in Tübingen.«

»Warum war er hier?«

»Er wollte Felix Stolze zur Geburt gratulieren. Er kam von der Arbeit und hat einen kurzen Stopp hier gemacht.«

»Hat der was von dem kleinen Jungen gesagt?«

»Nein. Wir haben aber auch nicht gefragt. Dass das Kind abgängig ist, fiel erst auf, nachdem wir mit Stolzes Frau gesprochen hatten.«

Brander zog sein Handy hervor, wählte Cecilias Nummer und schritt auf die Werkstatt zu. Karsten und Manuel und auch Julian und Nathalie boten sofort an, sich an der Suchaktion zu beteiligen. Cecilia würde eine Telefonkette in Gang setzen. Die ersten Regentropfen fielen vom Himmel. Brander unterdrückte die aufsteigende Unruhe. Mehr als drei Stunden war das Kind verschwunden. Wo, um alles in der Welt, war der Kleine hingelaufen?

Die Werkstatt war taghell erleuchtet. Nahe dem offenen Tor befand sich die erste Stolperfalle – die Vertiefung des Bremsenprüfstandes. Ein unachtsamer Tritt und man klemmte mit dem Fuß zwischen Prüf- und Tastrolle und geriet ins Straucheln. Wenige Meter entfernt war die Fahrzeuggrube. Vorschriftsmäßig mit Metallleisten in gelb-schwarzen Signalfarben umrandet, jedoch nicht abgedeckt. Eine steile Treppe führte in den knapp anderthalb Meter tiefen Schacht. Brander trat näher heran, entdeckte dunkle Flecken auf dem Boden. Vielleicht Öl und Benzin, vermutlich auch Blut. Ein kalter Schauer kroch ihm über den Nacken, während er in die Grube sah. Die feuchtkalte Luft war durchbrochen von Gerüchen nach Treibstoff, Metall und Gummi. Der Wind blies durch das offene Tor. Er schüttelte sich fröstelnd und hob den Blick wieder. Rechts neben der Grube befanden sich zwei Hebebühnen, am Ende eine Reifenmontiermaschine. Messgeräte auf Rollwagen standen an der langen Rückwand. Eine Tür mit einem Schild verriet, dass es dahinter zum Lager ging und nur Befugten der Zutritt erlaubt war. Zu seiner Linken befand sich eine langgezogene Werkbank, daneben waren zwei weitere Türen. Eine stand offen und führte – wie Brander vermutet hatte – in ein Büro. Die andere Tür zierte ein Toilettenschild.

Brander zog Schutzhandschuhe an, umrundete die Grube und ging zu der Tür, die in den Lagerraum führte. Er drückte die Klinke. Es war nicht verschlossen und er trat ein. Ersatzteile stapelten sich in den Regalen bis unter die Decke. Er ließ den Blick sorgfältig über die Bretter gleiten. In einem Regal lagen kistenweise Scheibenwischer, in einem anderen zahllose verschiedene Glühbirnen, daneben einige Scheinwerfer, Kisten mit Seiten- und Rückspiegeln. Dann gab es kleinere Behälter, mit diversen Schrauben, Schläuchen und anderem Kleinzeug gefüllt. Ersatzteile für alle möglichen Fabrikate. An der linken Wand war ein Reifenlager. Hatte sich der Kleine irgendwo zwischen diesem ganzen Material versteckt? Aber dann hätten die Kollegen ihn längst entdeckt. Sie hatten sicherlich alles sorgfältig abgesucht.

Er beendete seinen Rundgang, verließ den Lagerraum und öffnete die verschlossene Tür neben dem Büro. Sie führte in einen schmalen Flur und von dort zu einer Toilette und in einen Umkleideraum mit mehreren Spinden sowie einem Waschraum. Ein Potpourri aus Schmieröl, kaltem Schweiß und Lavendelduftstein hing in der Luft. Brander rümpfte die Nase und kehrte in die Werkstatt zurück. Grübelnd blieb er an der Tür stehen. Ein Mann stürzt in die Fahrzeuggrube. Ein Kind verschwindet. Instinktiv stellten sich seine Nackenhaare auf. Was war hier geschehen? Er ließ den Blick durch die Halle gleiten. Auf der gegenüberliegenden kurzen Seite entdeckte er Scherben auf dem Boden. Er stutzte, ging dort hin und beugte sich hinunter, um sie genauer zu betrachten. Leichter Alkoholgeruch stieg ihm in die Nase. Der Korken lag einen knappen Meter entfernt, die Glasscherben waren noch feucht. Es war eine Sektflasche gewesen. Er wandte den Kopf und sah zu der Grube.

»Was machst du da?« Hendrik war in die Halle gekommen. Seine Jacke glänzte nass, der Regen war stärker geworden und trommelte auf das Dach.

Brander erhob sich aus der Hocke. »Hast du gesehen, wie Stolze in der Grube lag?«

»Nein, als wir kamen, war er schon auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»Einer der Kollegen, die als Erste vor Ort waren?«

Hendrik schüttelte gereizt den Kopf. »Andi, wir suchen nach einem Kind! Was willst du denn jetzt …«

»Ich versuche herauszufinden, was hier geschehen ist. Vielleicht bringt uns das zu dem Jungen.«

»Ich hol den Kollegen.« Noch immer verständnislos den Kopf schüttelnd verließ Hendrik die Werkstatt wieder.

Der Mann in Uniform hieß Tobias Richter, Anfang dreißig, sportlich-schlank, kurze, aschblonde Haare, wache Augen. Brander meinte, sein Gesicht zu kennen.

»Hatten wir schon mal miteinander zu tun?«, fragte er.

Richter nickte. »Vor einigen Jahren, der tote Jogger am Hartwald.«

Brander erinnerte sich mit Unbehagen. Er hatte damals eine Stichverletzung an der Schulter davongetragen. »Sie waren heute Abend als Erster vor Ort?«

»Nicht ganz, mein Kollege und ich trafen kurz nach RTW und Notarzt ein.«

»Haben Sie gesehen, wie der Verletzte in der Grube lag?«

»Ja, wir haben bei der Bergung geholfen. Wir haben auch Fotos gemacht.«

Das konnte hilfreich sein. »Die brauchen unsere Techniker.«

»Soll ich die Kamera holen?«

Brander schüttelte den Kopf. »Später. Beschreiben Sie mir, wie der Mann hier gelegen hat.«

»Der Kopf lag in die Richtung, das Gesicht seitlich nach unten, er war rechts gegen die Wand geschlagen.« Richter zeigte in die Mitte der Grube. »Er hat geblutet. Die Füße lagen zum Tor, halb auf den unteren Stufen. Der linke Arm war verdreht, vermutlich gebrochen. Der Notarzt sprach auch von einer Schädelverletzung. Was kein Wunder wäre, wenn er mit dem Kopf auf den harten Boden geknallt ist.«

Brander versuchte, das Bild vor seinem inneren Auge zu rekonstruieren. »Das heißt, er ist vermutlich von dieser Seite gekommen.« Er deutete auf die Werkbank.

»Das kann ich nicht sagen.«

Brander sah zur anderen Seite der Halle. Die Scherben lagen noch nicht lange dort, der Sekt war nicht verdunstet. »Irgendwelche Hinweise auf einen möglichen Kampf?«

Richter zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Was für ein Kampf?«

»Das weiß ich nicht. Ich frage mich nur, wie und warum der Mann in die Grube gestürzt ist.«

»Unachtsamkeit«, schlug der junge Beamte vor.

Gut möglich. Auch wenn die gelb-schwarzen Leisten warnen sollten, waren sie doch gleichzeitig eine Stolperfalle, wenn man nicht darauf achtete, wohin man trat. »Was ist mit dem Kind? Gab es irgendeine Spur? Eine Mütze, ein Spielzeug, irgendwas?«

»Nein, nichts.«

»Das Tor … stand das offen?«

»Welches meinen Sie?«

»Draußen, die Zufahrt.«

»Es stand offen, als wir kamen, aber ich weiß nicht, ob der Rettungsdienst es geöffnet hat oder ob es die ganze Zeit schon offen war.«

»Und das Tor zur Werkstatt?«

Richter hob bedauernd die Schultern. »Wie gesagt, der Rettungsdienst war vor uns da. Kann sein, dass die alles aufgemacht haben …«

Zumindest hatte er nun eine ungefähre Vorstellung von dem Bild, das sich den Beamten beim Eintreffen geboten hatte. Er musste mit dem Mann sprechen, der den Verletzten gefunden hatte.

»Können Sie Absperrband besorgen?«, bat Brander. Bei der Anzahl der Leute, die hier in den letzten Stunden herumgelaufen waren, waren mögliche Spuren höchstwahrscheinlich bereits vernichtet. Aber vielleicht fanden die Kriminaltechniker ja doch noch etwas, das ihnen weiterhalf. »Und wir sollten das Tor schließen.«

»Ich kümmere mich darum.«

»Danke.« Brander ging in das Büro der Autowerkstatt. Zwei Schreibtische standen aneinander, auf beiden waren Computermonitore und Telefone. Die Schreibtischunterlagen waren vollgeschrieben mit Notizen, Telefonnummern, Namen, Autokennzeichen, dazwischen wildes, undefinierbares Gekritzel. Ein paar Kulis lagen auf dem Tisch. Ein Aktenordner. Eine benutzte Kaffeetasse. Der Bürobereich war durch eine schmale Theke vom Kundenbereich getrennt. Darunter befanden sich Regale mit Aktenordnern – Materiallisten verschiedener Fabrikate, erkannte Brander. Ein weiterer großer Schrank stand verschlossen an einer Wand, daneben war eine Tür. Ein ganz gewöhnliches Werkstattbüro.

Vom Kundenbereich führte eine dritte Tür direkt in den Hof. Der Schlüssel steckte und Brander ging hin und schloss sie auf. Dann nahm er ein leeres Blatt aus dem Drucker und stellte sich an die Theke. Er skizzierte die Werkstatt in groben Zügen. Felix Stolze stürzt in die Grube. Wie? Warum? Hatte das Kind ihn gefunden? Wie reagiert es? Rennt es los, um Hilfe zu holen? Wo würde es hinlaufen? Er versuchte, sich in den Schrecken eines Fünfjährigen hineinzuversetzen, aber es gelang ihm nicht.

»Andi, Frau Fink ist da.«

Brander fuhr herum. Er hatte Hendrik nicht kommen hören. Der Kollege betrat mit einer jungen Frau an seiner Seite den Raum. Sie war Ende zwanzig, hatte dunkelbraunes, langes, glattes Haar und blasse Haut. Im Kontrast dazu hatte sie einen knallig roten Lippenstift aufgelegt. Sie reichte den Kommissaren kaum bis zum Kinn. Ihre Jacke stand offen, darunter trug sie eine bis zum Hals zugeknöpfte bunte Strickjacke. Die Hände hatte sie in den Taschen vergraben. Unsicher wanderten ihre hellen Augen zwischen den Beamten hin und her. Sie fühlte sich anscheinend nicht besonders wohl in der Gesellschaft. Brander brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, dass Frau Fink Nikos Kindermädchen war.

»Schön, dass Sie da sind.« Er faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Jackentasche, dann wandte er sich an Hendrik. »Ich hab die Bürotür aufgeschlossen, es soll niemand mehr durch die Werkstatt gehen. Die Techniker sind unterwegs. Jemand muss im Krankenhaus schauen, ob Herr Stolze inzwischen ansprechbar ist. Und ich brauche die Nummer von Herrn Höschele. Habt ihr schon Unterstützung für die Suche bekommen?«

»Es trudeln nach und nach immer mehr Leute ein, die helfen wollen. Die Feuerwehr ist dabei, zusätzliche Scheinwerfer aufzustellen. Ich versuche, die Mannschaften zu koordinieren. Ich muss wieder raus …«

Branders Blick fiel auf die nasse Kleidung des Kollegen. »Vielleicht könnte auch irgendjemand Kaffee oder Tee für die Suchmannschaften organisieren.«

»Klar, ich hab ja auch sonst nichts zu tun«, erwiderte Hendrik gestresst.

Brander hob abwehrend die Hand. »Ich werde Ceci bitten, sich um die Verpflegung zu kümmern. Du solltest versuchen, einen Hundeführer ranzukriegen.«

»Ich habe Hundestaffel und Heli angefordert, aber das dauert. Es ist Freitagnacht …« Hendrik wandte sich ab.

»Nicht durch die Werkstatt!«

»Ist doch eh schon alles kontaminiert«, knurrte der Kollege und stapfte durch die Kundentür hinaus in den Regen.

Brander sah zu Selesta Fink. Ein laufender Meter fünfzig, schätzte er. Sie hatte sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt.

»Setzen Sie sich.« Er deutete auf einen der Schreibtischstühle.

Sie schüttelte den Kopf.

Auch gut, blieben sie beide eben stehen. Brander lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen. »Sie wissen, worum es geht?«

»Wir suchen Niko.« Sie hatte eine sanfte, dunkle Stimme mit einem kehligen Akzent.

»Ja.« Er sah in das blasse Gesicht mit den grauen Augen. »Sie sind keine Deutsche, oder?«

»Ist wichtig?«

»Nein.« Brander lächelte entschuldigend. »Ich war nur neugierig.«

Sie musterte ihn argwöhnisch, als frage sie sich, wie weit sie dem Mann vor sich vertrauen konnte. Brander ließ ihr die Zeit.

»Ich bin Russin«, erklärte sie schließlich.

Brander nahm es mit einem Kopfnicken zur Kenntnis, froh darum, dass sie anscheinend beschlossen hatte, ihm zu vertrauen. »Sie sind Nikos Kindermädchen?«

»Ja.«

»Schon lange?«

»Seit der Geburt. Lisa… Frau Stolze arbeitet im Büro. Sie braucht jemand, der mal auf Niko aufpasst.«

»Gibt es Lieblingsplätze, einen Ort, wohin Niko gelaufen sein könnte?«

»Das habe ich dem anderen schon gesagt.« Sie deutete mit dem Kinn unbestimmt nach draußen. »Aber die sagen, er ist da nicht.«

»Von welchem Ort sprechen wir?«

»Wie?«

»Was haben Sie meinem Kollegen gesagt, wo Niko sein könnte?«

»Der Platz, wo Kiesel und Schotter sind. Dahinten, in der Zeppelinstraße. Das gefällt ihm. Er will da immer klettern, wenn wir vorbeigehen. Aber er darf nicht. Das ist gefährlich.«

Das Firmengelände des Bauunternehmens Kamer. Das war sicherlich faszinierend für viele kleine Jungen. Wenn Niko von der Werkstatt zu seinem Kindermädchen laufen wollte, hätte er dort vorbeikommen können, es sei denn, er wäre an der Bundesstraße entlanggelaufen. Aber konnte ein fünfjähriges Kind sich so einen Weg merken? Und würde es sich von den Kiesschütten ablenken lassen, wenn er doch voller Sorge um seinen Vater war? Brander hatte keine Erfahrung mit kleinen Kindern.

»Herr Lütz hat den Jungen heute Abend bei Ihnen abgeholt. Um wie viel Uhr war das?«

»So kurz nach sechs.«

»Hat Herr Lütz Niko öfter bei Ihnen abgeholt?«

»Manchmal. Meistens kommt Lisa oder ich bringe ihn.«

»Wie lange war Niko bei Ihnen?«

Selesta Fink hob die Schultern. »Gestern Morgen sieben Uhr ruft Felix an und bittet, Niko zu holen. Felix fährt mit Lisa ins Krankenhaus. Heute Nachmittag bekommt sie das Baby. Felix ruft an und sagt, dass Martin kommt und Niko holt. So ich kann zum Sport gehen.«

»Was machen Sie für Sport?«

Brander wusste, dass die Volleyballer freitagabends in der Sporthalle waren, Cecilia spielte hin und wieder mit. Aber sie hatte noch nie von einer Selesta Fink erzählt.

»Ist wichtig? Oder Sie sind wieder neugierig?«

Brander schmunzelte. »Neugierig.«

»Gymnastik. In der Kelter.«

»Herr Lütz kam also zu Ihnen und holte den Jungen ab. Hat er gesagt, wohin er Niko bringt?«

»Ja, er …« Ihr Blick ging an die Wand hinter Brander. Kleine Fältchen bildeten sich auf ihrer glatten Stirn, während sie versuchte, sich zu erinnern. Sie schürzte die roten Lippen. »Er sagt zu Niko, dass sie nach Hause fahren, zu seinem Papa.«

»Nach Hause … meinte er damit die Werkstatt oder seine Wohnung, also das Haus von Herrn Lütz?«

»Nach Hause … seine Wohnung.« Sie wedelte mit den Händen durch den Raum.

»Okay.« Brander machte sich gedanklich eine Notiz, dass er mit Hendrik noch einmal über Stolzes Kompagnon reden musste. Warum war der Mann nicht erreichbar? »Ist Herr Lütz zuverlässig?«

»Wie? Zuverlässig?« Selesta Fink sah ihn fragend an. Die helle Iris war von einem dunklen Kranz umrandet und ließ die Augen noch kräftiger leuchten. Sie hatte ein rundes, offenes und sehr aufmerksames Gesicht. Brander gefiel es, dass sie sofort nachfragte, wenn sie etwas nicht verstand. Er fand diese kleine Frau sympathisch.

»Könnte es sein, dass er Niko bei Ihnen abgeholt hat, ihn hierher in die Wohnung gebracht und dann allein gelassen hat? Vielleicht in der Annahme, dass Herr Stolze jeden Augenblick nach Hause kommt.«

»Nein!« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Das macht er nicht. Er liebt Niko. Er setzt ihn immer auf Schoß und fährt mit ihm so Auto.« Sie presste erschreckt die Lippen zusammen. »Nur auf dem Hof, müssen Sie wissen.« Sie senkte die Augenlider. »Niko ist ganz verrückt mit Autos …«

»Nachdem Herr Lütz Niko abgeholt hat, haben Sie den Jungen nicht mehr gesehen?«

»Nein.« Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten und ihre Augen wurden traurig. Sie sah zum Fenster. »Wenn ich wüsste…«

»Gibt es noch irgendeinen anderen Ort, an dem wir nach ihm suchen könnten? Hat er irgendwo einen Freund oder jemanden, den er besonders gern hat?«

»Er kommt zu mir.«

»Gibt es hier im Ort Verwandte, bei denen er sein könnte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Felix … also Eltern von Herrn Stolze, sind beide gestorben.«

»Und die Eltern von Lisa Stolze?«

Frau Fink hob die Schultern. »Die wohnen nicht hier.«

»Und wo Lisa Stolzes Eltern wohnen, wissen Sie nicht?«

»Weiß ich nicht. Nein.«

»Andi?«, drang Cecilias Stimme durch die Werkstatthalle.

»Im Büro«, rief Brander.

Er stand auf und ging zur Kundentür, um seine Frau hereinzulassen. Tobias Richter hatte die Werkstatt inzwischen abgesperrt. Wasser tropfte von Cecilias Jacke. Der Regen war noch stärker geworden. Brander fluchte innerlich. Dunkelheit, Regen, Kälte. Sie mussten das Kind unbedingt schnell finden.

»Es sieht so aus, als ob die Suche andauert. Könntest du heiße Getränke für die Suchmannschaften organisieren?«

»Hm … ja … ich denke schon …«

»Ich kann helfen«, bot Selesta Fink an. »Die Kirche kann helfen. Ich kenne viele Frauen. Wir haben große Kannen.« Sie zeigte mit den Händen die Größe.

Brander lächelte die junge Frau dankbar an. »Das wäre prima. Ceci, könnt ihr zwei …?«

Cecilia nickte. »Kommen Sie, Frau …«

»Selesta Fink. Kann ich gehen, Herr Polizist?«

Brander stutzte, dann rieb er sich verlegen über den Nacken. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt, oder? Entschuldigen Sie, Andreas Brander. Ja, Sie können gehen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was uns helfen könnte, melden Sie sich bitte bei mir.« Er suchte einen Zettel auf dem Schreibtisch und notierte ihr seine Handynummer.

Brander trat vor die Werkstatt. Der Dachüberhang schützte ihn ein wenig vor der Nässe. Mittlerweile wimmelte es überall von Menschen, die nach Niko suchten. Die Firmen in der Umgebung hatten ihre Beleuchtungen eingeschaltet. In ihrem Schein zog der Regen mit feinen Fäden eine lose Verbindung zwischen Himmel und Erde. Taschenlampen flackerten über den Asphalt, in dunkle Ecken und in der Ferne auf den Landwirtschaftswegen. Nikos Name wurde gerufen. Mal lauter, mal leiser. Brander spürte das Fieber, das in der Luft lag, die ungeduldige Hoffnung, das Kind bald zu finden, irgendwo in der Dunkelheit, es auf den Arm zu nehmen und seiner Mutter zu bringen. Er sah die strahlenden, unschuldigen Augen des Kleinen, die Erleichterung darüber, ein Abenteuer unbeschadet überstanden zu haben.

Aber was war, wenn sie den Jungen nicht fanden?

Die Feuerwehr hatte auf einer Freifläche neben der Werkstatt zusätzliche Strahler aufgestellt und zwei Pavillons aufgebaut. Unter einem entdeckte er Hendrik im Gespräch mit einigen Helfern. Zwischen sich hielten sie eine Karte und teilten die Suchtrupps in verschiedene Abschnitte ein. Die Luft war kalt, vermutlich zwei, drei Grad, mehr nicht. Brander zog den Kragen seiner Jacke enger um den Nacken. Er nahm sein Handy, suchte die Nummer von Corinna Tritschler heraus, in der Hoffnung, dass sie ihr privates Mobiltelefon bei sich hatte. Ihre neue dienstliche Nummer hatte er nicht parat. Nach dem dritten Klingeln meldete sie sich mit leiser Stimme.

»Ich bin’s, Andi. Hendrik hat mich informiert.«

»Oh, gut.« Sie klang erfreut, seine Stimme zu hören. Sie hatten zu Tübinger Zeiten einige Male zusammengearbeitet und Brander schätzte ihre geradlinige Art. »Warte einen Moment«, wisperte sie in den Apparat.

Brander hörte, wie sie ein paar Schritte ging, eine Tür öffnete und wieder schloss. »Habt ihr den Jungen?«

»Leider nicht. Wie sieht’s im Krankenhaus aus?«

»Lisa Stolze ist völlig aufgelöst. Die Ärzte wollten ihr etwas zur Beruhigung geben. Aber sie hat jegliche Mittel abgelehnt, dabei ist sie von der Geburt noch total geschwächt. Sie will nach Hause und nach ihrem Kind suchen. Und sie will zu ihrem Mann. Sie ist verzweifelt.«

Das war nur verständlich.

»Weißt du was von Felix Stolze?«

»Er wurde in die BG gebracht.« Damit meinte sie die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik auf dem Schnarrenberg. »Er ist noch im OP. So schnell werden wir nicht mit ihm sprechen können. Er hat eine Schädelfraktur mit Blutungen. Die Ärztin, mit der ich gesprochen habe, prophezeite, dass es unter Umständen Tage dauern kann, bis er ansprechbar sein wird. Und ob er sich an etwas erinnert, was unmittelbar vor seinem Unfall geschehen ist, ist ungewiss.«

»Kannst du noch im Krankenhaus bleiben, oder sollen wir eine Ablösung schicken?«

»Ich bleib hier. Ihr braucht da draußen jeden verfügbaren Kollegen. Aber wenn wir Frau Stolze nicht ans Bett fixieren, sehe ich wenig Chancen, dass wir noch lange in der Klinik sind.«

»Melde dich, wenn irgendetwas ist.«

»Melde du dich lieber, und sag mir, dass ihr das Kind gefunden habt.«

Brander wartete, bis Hendrik sein Gespräch mit zwei Feuerwehrleuten beendet hatte, und berichtete ihm von dem Gespräch mit Corinna Tritschler. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den vermissten Jungen. »Hendrik, du hast gesagt, ihr habt versucht, den Lütz anzurufen. War auch jemand bei ihm zu Hause?«

»Ja. Er hat eine Wohnung oben in Hagelloch. Er lebt allein. Es war niemand zu Hause.«

»Wurden die Nachbarn befragt?«

»Was? Wieso das denn?«, fragte Hendrik gereizt, sein Blick huschte unruhig über die Umgebung. »Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können. Es regnet, es ist kalt. Wir müssen das Kind so schnell wie möglich finden! Ich kann hier niemanden abziehen.«

Der Wagen der Kriminaltechniker rollte auf den Hof. Einer der Kollegen, die ausstiegen, war Manfred Tropper, wie Brander erfreut feststellte.

Er wandte sich wieder Hendrik zu: »Es könnte doch sein, dass Niko immer noch bei Lütz ist. Das sollten wir überprüfen.«

»Ich …« Hendrik biss die Zähne zusammen.

Diese Option hatte er anscheinend nicht in Erwägung gezogen, nachdem sie den Mann nicht erreicht hatten.

»Schick nochmal eine Streife hin.«

* * *

»Du machst mir Spaß. Hier sind zig Menschen achtlos herumgelaufen, haben Spuren verwischt und verschleppt. Und jetzt soll ich dir mal geschwind anhand von ein paar Fotos und einer zerschlagenen Sektflasche verraten, was hier geschehen ist?« Der hagere Kriminaltechniker zog seine ohnehin zerfurchte Stirn in Falten und zupfte am Ärmel seines zerknitterten weißen Schutzanzuges. »Soll ich dir auch noch die Lottozahlen für morgen vorhersagen?«

»Irgendwas stimmt hier nicht, Freddy.« Anders konnte Brander seine Bitte nicht begründen.

»Können wir dieses ›irgendwas‹ vielleicht ein bisschen konkreter formulieren?«, bat Tropper dennoch.

»Es ist … so ein Gefühl.« Brander seufzte ratlos. Vom ersten Augenblick an, als er die Werkstatt betreten hatte, hatte sich ein unangenehmes Kribbeln in seinem Nacken festgesetzt. Es mochte an der feuchtkalten Luft liegen. Aber vielleicht meldete sich auch sein sechster Sinn. Das konnte er nicht ignorieren. Er hatte schon so viele Tatorte gesehen.

»Dann fasse dein Gefühl bitte in Worte. Du bist kein Schwabe, du müsstest das können«, verlangte Tropper.

Brander war Westfale, war aber mit fünfzehn Jahren mit seiner Familie in den Süden der Republik verpflanzt worden. Während sein Bruder zum Studium wieder zurückgegangen war und mittlerweile in Düsseldorf lebte, war er im Ländle geblieben. Dennoch würde er wohl für alle Ewigkeit ein »Rei’gschmeckter« bleiben. Er stellte sich mit verschränkten Armen ans Werkstatttor, sah in die Halle und suchte nach der richtigen Beschreibung für sein Unwohlsein.

»Felix Stolze kommt aus dem Krankenhaus«, begann er zögernd. »Er ist vermutlich überglücklich über die Geburt seines zweiten Kindes …«

»Überglücklich und total erschöpft«, unterbrach Tropper ihn. »Wenn ich es richtig mitbekommen habe, war er seit Donnerstag früh auf den Beinen. Mehr als sechsunddreißig Stunden.«

»Wie auch immer … Er kommt nach Hause, Lütz gratuliert ihm, übergibt ihm seinen Jungen. Irgendwann verlässt Lütz die Werkstatt …« Branders Blick glitt durch die Halle. »Warum liegen dort Scherben einer Sektflasche?«

Tropper war seinem Blick gefolgt und zuckte die Achseln. »Vielleicht ist ihm die Flasche aus der Hand gerutscht.«

»Dahinten?«, fragte Brander skeptisch.

»Es muss nicht Stolze gewesen sein. Vielleicht war es auch sein Kompagnon. Nennen wir es Ungeschick. Soll ich dir sagen, was ich denke?« Der Kriminaltechniker reckte sich. »Folgendermaßen: Stolze ist völlig k. o., als er aus der Klinik kommt. Er hat Sekt mitgebracht, aber die Flasche geht – warum auch immer – zu Bruch.«

»Wie kommst du drauf, dass er den Sekt mitgebracht hat?«

»Bei den Scherben liegt der Korken, also war die Flasche vermutlich noch verschlossen. Und ich sehe keine Gläser … Er geht mit der Flasche in die Werkstatt, und bevor er Gläser holen kann, geht sie kaputt.«

»Gut kombiniert, Sherlock.« Brander hatte bisher auch keine Sektgläser gesehen, weder in der Werkstatt noch im Büro.

»Sie beschließen also, am nächsten Tag anzustoßen. Lütz fährt nach Hause oder sonst wohin. Stolze bringt das Kind ins Bett, geht nochmal in die Werkstatt, um die Scherben zusammenzufegen oder was weiß ich. Er ist müde, unaufmerksam, mit den Gedanken bei seiner Frau, passt nicht auf, wo er hinläuft.« Tropper deutete auf die Umrandung der Grube. »Stolpert. Bumm.«

Brander bewegte abwägend den Kopf.

»Vielleicht ist ihm auch einfach nur schwindelig geworden. Ein Schwächeanfall, Kreislaufversagen nach den anstrengenden Tagen im Krankenhaus.«

»Und was ist mit dem Jungen? Der liegt nicht im Bett«, erinnerte Brander den Kollegen an das dringlichste Problem.

»Niko hat seinen Papa zwei Tage nicht gesehen. Also schläft er nicht, er will mit Papa kuscheln. Papa ist aber nicht in der Wohnung. Der Kleine tappt runter in die Werkstatt und findet seinen Vater dort reglos in der Grube. Er erschrickt ganz fürchterlich, läuft los, um Hilfe zu holen. Er ist ein kleiner Junge, verwirrt, verängstigt, und ehe er sich versieht, hat er sich verlaufen.«

»Wäre es nicht logisch, dass er einfach zum nächsten Nachbarn rüberläuft?«

»Vermutlich schon, aber Kinder handeln nicht unbedingt rational. Vielleicht war drüben gerade niemand oder er hatte eine bestimmte Person im Kopf, zu der er wollte. Vielleicht hat jemand den Jungen allein herumlaufen sehen und mitgenommen.«

»Wenn irgendwo ein kleiner Junge aufgegriffen worden wäre, wären wir ja wohl die Ersten, die das erfahren.«