Ausstieg rechts - Sybille Baecker - E-Book

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Sybille Baecker

4,9

Beschreibung

In einer Esslinger Wohnung offenbart sich Kommissar Brander und seiner Kollegin Peppi ein grausiges Bild: Im Badezimmer liegt ein totes Mädchen. Ihre Leiche ist halb verwest, die Wohnung verwüstet, die Wände sind mit Hakenkreuzen und Zahlen beschmiert. Vom Wohnungsmieter, Marcel Schweikhard, fehlt jede Spur. Es stellt sich heraus: Er gehört zur rechten Szene und ist für die Polizei kein Unbekannter. Seine braunen Kameraden distanzieren sich jedoch von ihm. Ein verzwickter Fall für Andreas Brander und sein Team und eine extreme Herausforderung für Peppi, die griechische Wurzeln hat und sich daher mit Anfeindungen der Neonazis konfrontiert sieht. Aber auch Brander hat mit seiner Glatze keinen leichten Stand – Vorurteile gibt es auf allen Seiten! Die Ermittlungen führen die Kommissare schließlich zu einem türkischen Paar, das ein paar Monate zuvor von einer Gruppe brutaler Schläger überfallen wurde. Die junge Frau, so scheint es, verbirgt etwas vor den Beamten. Bald ist der Fall so verzwickt, dass die Kommissare fürchten, noch nach einem weiteren Opfer suchen zu müssen …

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SYBILLE BAECKER

Ausstieg rechts

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Sybille Baecker wurde 1970 im Emsland geboren, studierte Betriebswirtschaft in Münster und Neu-Ulm und war mehrere Jahre als Pressereferentin eines Sportfachverbandes in Stuttgart tätig. Heute lebt und arbeitet sie als Schriftstellerin in Ammerbuch. Durch ihre Krimiserie mit dem Tübinger Kommissar und Whiskyfreund Andreas Brander wurde sie zur Fachfrau für »Whisky & Crime« – sodass auch ihre Lesungen immer wieder von Whiskyverkostungen begleitet werden.www.sybille-baecker.de

FÜR FRANK

1. Auflage 2017

© 2017 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © erwo1 – iStockphoto.

Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

Druck: CPI books, Leck.

Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1784-4

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1785-1

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-2057-8

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www.silberburg.de

Inhalt

1 Donnerstag

2 Freitag

3 Samstag

4 Sonntag

5 Montag

6 Dienstag

7 Mittwoch

8 Donnerstag

9 Freitag

10 Samstag

11 Sonntag

12 Montag

13 Dienstag

14 Mittwoch

15 Donnerstag

16 Freitag

17 Montag

Epilog

DANKE!

Es ist einfacher, jemanden zu hassen,den man nicht kennt.

1

Donnerstag

»Kazmaier mein Name, Doktor Vitus Kazmaier. Ich möchte ein Verbrechen anzeigen.« Kriminalhauptkommissar Andreas Brander saß an seinem Schreibtisch in der Polizeidirektion Esslingen, Kriminalinspektion 1, erste Etage, Fenster zum Hof. Er hatte sich dem Mann, der an der kurzen Seite seines Tisches auf dem Besucherstuhl saß, zugewandt. Die Hände lagen locker in Branders Schoß, die blauen Augen musterten sein Gegenüber aufmerksam. Er schätzte den Mann auf Anfang oder Mitte fünfzig. Kazmaier war knapp einen Meter achtzig groß, hager, der graue Anzug glänzte an Ellenbogen und Knien. Das schüttere Haar war, passend zum Anzug, grau und dünn, die Haut blass, vereinzelte Bartstoppeln zeugten von einer nachlässigen Rasur. Eine dezente, aber doch unangenehme Schweißnote ging von ihm aus. Wäre das Fenster nicht bereits geöffnet gewesen, hätte es Branders Kollegin Peppi innerhalb der ersten dreißig Sekunden nach Erscheinen des Mannes aufgerissen.

Peppi saß auf der anderen Seite des kleinen Büros, verschanzt hinter Tastatur und Monitor, und bemühte sich, flach zu atmen. Sie hatte eine empfindliche Nase. Ihre dunklen Locken hatte sie im Nacken zusammengebunden, aber einige widerspenstige Strähnen hatten sich wieder befreit.

Kazmaier sah vom Kommissar zu Peppi, dann zur geöffneten Bürotür in seinem Rücken und wieder zu Brander. Die hellgrauen Augen wollten nicht stillstehen. Dennoch, an diesem Mann war alles so unscheinbar, wie es unscheinbarer nicht sein konnte, ging es Brander durch den Kopf. Ein Mensch, den man nicht wahrnahm, abgesehen von seinem Schweißgeruch. Der war vermutlich dem Wetter geschuldet. Es war bald Mitte Oktober und heiß wie im Hochsommer, tagsüber stiegen die Temperaturen fast bis an die Dreißig-Grad-Marke. Der Anzug des Mannes war viel zu warm. Brander selbst trug an diesem Tag ein beiges T-Shirt mit einem nicht lesbaren hellen Schriftzug und Jeans.

»Könnten Sie die Tür bitte schließen?«, bat der Unscheinbare. Die Stimme des Mannes war ein eiliges Stakkato, leise und gehetzt. »Zu viele Menschen hier … Das lenkt ab. Konzentration. Konzentration ist wichtig.«

Brander, der näher zur Tür saß, stand auf und schloss sie. Dann kehrte er an seinen Platz zurück. »Was für ein Verbrechen möchten Sie denn zur Anzeige bringen?«

Kazmaier ließ sich einen Atemzug Zeit, bevor er eilig erklärte: »Es geht um ein Kapitalverbrechen. So nennen Sie das doch, nicht wahr? Kapitalverbrechen. Schwere Straftaten. Capitalis. Latein. Das Haupt betreffend. Eine Straftat, die einen Menschen den Kopf kosten kann. Früher … heute nicht mehr. Nicht mehr in Deutschland. In anderen Ländern schon. In Deutschland nur im übertragenen Sinne …«

Brander hob bremsend die Hand. »Herr Kazmaier. Was für ein Verbrechen möchten Sie melden?«

»Das sagte ich doch: ein Kapitalverbrechen.«

Brander lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Zu warm. Er löste sie wieder. Auf seiner Stirn bildeten sich ein paar Falten. »Sie sind also Zeuge der Tötung eines Menschen geworden?«

Vitus Kazmaiers Augen wurden rund. Der Blick hob sich schräg zur Decke und verharrte dort in unerwarteter Ruhe.

Brander sah ratlos zu Peppi. Was für einen schrägen Vogel hatten die Kollegen von der Wache ihnen da ins Büro gebracht? Als er sich wieder dem Besucher zuwandte, sah er die hellgrauen Augen auf sich gerichtet.

»Der Mensch muss also tot sein?«

»Wenn wir von einem Kapitalverbrechen sprechen, impliziert es das, ja«, schwafelte Brander. Aus den Augenwinkeln sah er Peppis Mundwinkel zucken.

Kazmaier blickte erneut konzentriert zur Decke, dann wieder zu Brander. »Ich muss gehen.«

»Sie wollten ein Kapitalverbrechen melden.«

»Ja … nein … ich bin mir nicht mehr sicher … muss darüber nachdenken.«

Brander beugte sich ein Stück näher zu seinem Gast. »Herr Kazmaier, worum geht es denn?«

»Nein.« Der Unscheinbare schüttelte energisch den Kopf. »Ich muss nachdenken.«

»Wenn Sie Zeuge eines Verbrechens wurden, egal ob Kapitalverbrechen oder ein anderes Vergehen, dann sollten Sie uns das sagen«, versuchte Brander, die Zweifel des Mannes zu zerstreuen. Anscheinend hatte er ja etwas gesehen, was ihm keine Ruhe ließ.

»Ich muss erst noch einmal nachdenken. Ich möchte nicht durch Ungenauigkeit Verwirrung stiften.«

Was tun? War Kazmaier einer dieser Leute, die überall Verdächtiges ahnten und die Polizei mit unsinnigen Aussagen davon abhielt, dort zu sein, wo sie gebraucht wurde? War er einer, der Ufos am Himmel entdeckte und mit Menschen sprach, die niemand anders sah außer er selbst? Oder hatte er tatsächlich etwas beobachtet? Noch wusste Brander zu wenig, um zu entscheiden, wen er vor sich hatte.

»Um was für ein Verbrechen handelt es sich? Was haben Sie beobachtet? Ist ein Mensch in Not? Braucht jemand Hilfe?«

Kazmaier sah ihn erstaunt an. »Das müssen Sie doch eher wissen als ich.«

»Wir sind nicht allwissend.« Brander lehnte sich wieder zurück. »Anscheinend haben Sie etwas beobachtet. Bitte verraten Sie uns, was. Wenn ein Mensch in Gefahr ist, sollten Sie uns das sagen.«

»Ich sagte doch bereits, ich muss nachdenken. Ich bin mir nicht sicher.«

»Worin sind Sie sich nicht sicher?«

»Ob es ein Kapitalverbrechen war, das ich gesehen habe.«

»Lassen Sie das doch uns entscheiden. Dafür sind wir da. Erzählen Sie uns einfach, was sie gesehen haben.«

»Es geht nicht. Es sind doch noch zu viele offene Parameter. Ich muss nachdenken.«

»Herr …«

»Rufen Sie mir bitte ein Taxi? Es ist zu hell … zu hell …« Kazmaier sprang auf.

Brander sah erneut zu Peppi. Die kratzte sich mit dem Zeigefinger über die Schläfe. Ihr Blick verriet, was sie dachte.

»Ich begleite Sie nach unten«, erklärte Brander und stand ebenfalls auf. »Peppi, lässt du Herrn Kazmaier bitte ein Taxi rufen?«

»Was war denn das jetzt für ’ne Nummer?«, fragte Peppi, als Brander wieder ins Büro zurückkehrte.

»Herr Kazmaier hat mir auf dem Weg nach unten noch die Bedeutung und Herkunft des Wortes Taxi erläutert. Herleitung von Taxameter. Griechisch. Gebührenmesser. Taxieren. Der Preis ist festgelegt. Verstehen Sie?«, ahmte er den Telegrammstil des Mannes nach. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und ließ grübelnd einen Kugelschreiber durch die Finger kreisen. Warum war dieser Mann zu ihnen gekommen? War dieser Unscheinbare einfach nur ein seltsamer Kauz? Jemand, dem ein zu hoher IQ den Verstand geraubt hatte? Oder hatte er tatsächlich etwas beobachtet?

»Haben wir irgendetwas über diesen Kazmaier?«, fragte Brander seine Kollegin und startete dann selbst eine Personenabfrage. Vitus Kazmaier. Nichts.

»Wenn du mich fragst: Dem bekommt die Hitzewelle nicht.« Peppi blies sich eine Strähne aus der Stirn.

Brander wollte den Besuch dennoch nicht auf sich beruhen lassen. »Gab es in den letzten Tagen irgendeinen Vorfall, für den wir Zeugen suchen? Einen Unfall? Eine Schlägerei?«

Sie durchforsteten die aktuellen Meldungen. Peppi war schneller mit ihrer Zusammenfassung: »Beim Dick gab’s letzten Samstag auf dem Parkplatz eine Prügelei zwischen ein paar Betrunkenen, keine ernsthaften Verletzungen. Dann habe ich noch zwei Fälle von häuslichen Streitigkeiten gestern und Montagnacht … ein schwerer Verkehrsunfall auf den Fildern am Dienstag … Ladendiebstahl können wir ausschließen, oder?«

»Hmm.« Brander rieb sich über das unrasierte Kinn. Cecilia würde sich am Abend beschweren, wenn er ihr einen Begrüßungskuss gab. Nach zwei rasurfreien Tagen waren die kurzen Stoppeln hart und borstig.

»Oh, hier, kam ganz frisch rein, Meldung vom Revier: Leichenfund in Esslingen, Maienwalterstraße. Todesursache ungeklärt. Kriminalpolizei angefordert.« Peppi sah breit grinsend auf. »Das sind wir. Mutmaßlich ein Kapitalverbrechen: Capitalus, das Haupt betreffend.« Sie zog die Handkante in einer schnellen Bewegung am Hals vorbei.

Exakt diesen Moment nutzte Käpten Huc – Inspektionsleiter Kriminaloberrat Hans Ulrich Clewer – zum Eintritt ins Büro der Kommissare. »Capita-lis, nicht Capitalus, Frau Pachatourides. Capitis damnare – zum Tode verurteilen. Wen möchten Sie einen Kopf kürzer machen?«

Peppi räusperte sich. »Och, da gibt’s einige. Möchten Sie eine Liste?«

»Bei Gelegenheit gern.« Für eine Millisekunde huschte ein Lächeln über das wettergegerbte Gesicht des Achtundfünfzigjährigen. Clewer war leidenschaftlicher Bergsteiger, drahtig, gewissenhaft und zielorientiert. Er wandte sich an Brander. »In einer Wohnung in der Maienwalterstraße gab es einen Leichenfund. Opfer weiblich, Todesursache unbekannt. Es ist nicht sicher, ob es sich um ein Tötungsdelikt handelt. Die Kriminaltechniker sind bereits vor Ort. Fahren Sie bitte hin und machen Sie sich ein Bild vom Geschehen. Ein Marcel Schweikhard ist Mieter der Wohnung. Er wurde bisher nicht von den Kollegen vor Ort angetroffen.«

Brander sah verstohlen auf die Uhr an seinem Monitor. Kurz nach drei. Nix war’s mit pünktlich Feierabend.

Zahlreiche Dienstfahrzeuge parkten vor dem nicht mehr ganz so taufrischen, mehrstöckigen Haus. Der einst weiße Putz war von Abgasen ergraut und rissig. Ein Leichenwagen wartete am Straßenrand auf seinen Einsatz. Auf dem Fußweg und dem Hof hatten sich zahlreiche Schaulustige eingefunden. Brander entdeckte zwei Pressefotografen – BILD und die Regionalzeitung, vermutete er –, die darauf warteten, ein Foto vom aus dem Haus getragenen Sarg schießen zu können. Männer in weißen Schutzanzügen hatten sie vermutlich schon zur Genüge im Kasten. An der Haustür standen zwei Beamte, die dazu verdonnert worden waren, nur Hausbewohnern und Menschen mit Dienstausweis Zutritt zu gewähren.

»Die Wohnung ist ganz oben rechts, direkt unterm Dach«, erfuhren Brander und Peppi von einem der Uniformierten.

Einen Fahrstuhl gab es nicht, und die Luft schien von Etage zu Etage stickiger zu werden. Als sie das Dachgeschoss erreichten, raubte der Gestank ihnen den Atem. Faulig, vergoren, verwest. Peppi wischte sich murrend mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Ein rot-weißes Absperrband verwehrte den Zutritt zum Ort des Geschehens. Zudem war ein Beamter als Wachposten aufgestellt worden. Die Wohnungstür war verschlossen. Ein zweiter Mann stand in einer Ecke und gehörte definitiv nicht zur Truppe. Er war klein, und Brander kam der Vergleich mit einer Kegelrobbe in den Sinn. Ein kleiner Kopf saß halslos auf einem mächtigen Körper, der von den breiten Schultern abwärts weit ausladend und zu den Beinen wieder schmaler wurde. Die kurzen, dicken Oberschenkel mündeten in schmale Knie, darunter stramme Waden. Die konnte Brander sehen, da der Mann eine halblange, schlammfarbene Cargohose trug, die mittels Hosenträgern davon abgehalten wurde, der Schwerkraft zu folgen. Es gab keine Taille, an der ein Bund hätte Halt finden können.

Brander wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Wohnung zu. Er stellte sich dem Beamten vor und rief, statt zu klopfen, laut »Freddy!« durch die verschlossene Tür.

Er musste sich einen Moment lang gedulden, bis der Kriminaltechniker Manfred Tropper, gekleidet in einen weißen Unisex-Overall, erschien. Overalls waren diesen – oder war es schon im letzten? – Sommer in der Frauenmode in, hatte er von Peppi erfahren, die sich jedoch weigerte, so ein Kleidungsstück zu tragen. Ihrer Meinung nach gab es nichts Unpraktischeres als einen Overall, worin Brander ihr Recht gab.

Manfred Tropper war vor wenigen Monaten von der Tübinger Dienststelle nach Esslingen abkommandiert worden. Der hagere Mann war Mitte fünfzig, geschieden und wohnte unter der Woche zur Untermiete bei einem Esslinger Kollegen. Das ersparte ihm die tägliche Fahrerei von Tübingen nach Esslingen.

»Kann ich reinkommen?«

Tropper musterte ihn missbilligend. »Zieh dir erst mal was Hübsches an.«

»Muss das sein?«

»Ja.«

»Lohnt es sich?«

»Ich hab keine Zeit für Diskussionen. Entweder so, oder du geduldest dich, bis wir hier fertig sind.«

Missmutig sah Brander den Kriminaltechniker an. Schweißtropfen hingen Tropper in den Augenbrauen. Sie hatten sicherlich die Fenster nicht geöffnet, um die Spurenlage nicht zu verändern. Eine Dachgeschosswohnung bei sommerlichen Temperaturen mit einer – dem Geruch nach – Leiche in fortgeschrittenem Verwesungsstadium. Es gab schönere Seiten an seinem Job.

»Bin gleich wieder da.« Seufzend wandte sich Brander ab. Peppi lehnte an der Wand gegenüber, die Arme verschränkt, und lächelte gequält. »Reicht doch, wenn du gehst, oder?«

»Nix da, Kollegin. Zwei Augen sehen mehr als vier. Du kommst mit.«

»Vier sehen mehr als zwei.«

»Was?«

»Vergiss es.«

Nachdem sie sich dem Dresscode unterworfen hatten, gewährte Tropper ihnen Zutritt zur Wohnung. Von der Tür gelangten sie direkt in einen Raum, der Wohn- und Schlafzimmer in einem war. Ein schmaler Pfad war notdürftig markiert worden. An einer Wandseite führte eine türlose Öffnung in eine maximal zwei Quadratmeter große Mini-Küche. Daneben gab es einen weiteren Raum, dessen Tür halb geöffnet war – das Badezimmer. Doch allein der erste Raum forderte die gesamte Aufmerksamkeit der Kommissare. Vor ihnen lag ein Bild der Verwüstung: Die Wände waren mit Farbe beschmiert, Kissen aufgeschlitzt, Zeitungen zerrissen, Geschirr zerschmettert, der Fernseher zertrümmert, ein Sessel umgestürzt. Und über allem lag ein entsetzlicher Gestank. Die Leiche … aber da war noch etwas anderes.

»Urin«, erklärte Tropper. »Jemand hat auf das Sofa gepinkelt. Die Tote liegt im Bad. Eine Frau … oder eher noch ein Mädchen, vermutlich zwischen fünfzehn und maximal zwanzig Jahren alt. Sie liegt da nicht erst seit heute.«

»Dachte ich mir schon.« Brander versuchte, seine Atmung auf ein Minimum zu reduzieren. Der Schweiß war ihm bereits aus allen Poren getreten und verursachte ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Er war versucht, die Kapuze in den Nacken zu schieben. Er hatte eine Glatze und würde sicher keine verdächtigen Haare zurücklassen. Aber Tropper würde ihn dennoch lynchen. Also ließ er die Kapuze, wo sie war.

»Todesursache?«, fragte er stattdessen.

Tropper hob beide Hände. »Bin ich Maggie?«

»Habt ihr die Rechtsmedizin informiert?«

»Heut ist da nichts mehr zu machen. Maggie versucht’s morgen. Ich hab ihr versprochen, dass du dabei bist.« Tropper grinste boshaft.

»Danke.«

»Keine Ursache.«

»Wissen wir schon, wer die Frau ist?«

»Ich weiß es nicht. Du?«

Brander verdrehte die Augen. »Handtasche? Handy? Papiere?«

»Ein Smartphone, Akku leer, lag auf dem Wohnzimmertisch. Wir wissen nicht, ob es ihres ist. Keine Handtasche, keine Papiere.«

»Können wir mal einen Blick auf die Tote werfen?«

Tropper deutete mit einladender Geste auf das Badezimmer. »Und nicht vom Pfad abkommen.«

Brander ging die paar Schritte und blieb an der Türschwelle stehen. Es war eng in dem Badezimmer. Waschbecken links, WC rechts, die Badewanne unter der Dachschräge vor ihm. Das kleine Dachfenster war geschlossen. Die Luft verursachte mit jedem Atemzug mehr Übelkeit. Das Mädchen lag auf dem Boden, seitlich, den Körper zusammengekrümmt. Sie war bekleidet: knielanger Rock, der leicht verdreht und teilweise hochgerutscht war, T-Shirt, darüber eine leichte Sweatjacke, deren Ärmel zu den Ellenbogen hochgeschoben waren, Leinenschuhe. An den unbekleideten Stellen zeichnete sich das Venennetz deutlich unter der fast durchsichtig scheinenden Haut ab. Maden und Schmeißfliegen hatten die Leiche in Beschlag genommen. Der Duschvorhang war herabgerissen und lag zusammengerafft in der Ecke.

»Sieht nicht nach einem natürlichen Tod aus, oder?« Brander versuchte, das Bild in sich aufzunehmen, ohne es zu nah an sich heranzulassen. Es gab keine offensichtlichen Stich- oder Schussverletzungen, keine Blutlache. Es lag wohl an dem Chaos um sie herum, dass es nicht nach einem natürlichen Tod aussah.

»Könnte ein Schwächeanfall gewesen sein, oder ein Herzinfarkt«, erwiderte Tropper.

»Bisschen jung für einen Herzinfarkt.«

»Drogen, herzkrank, Leistungssportlerin …«

Brander bedachte den Kollegen mit einem skeptischen Seitenblick und wandte sich ab. Diesen Gestank würde er in den nächsten Tagen nicht aus der Nase bekommen. Egal, was Tropper der Rechtsmedizinerin gesagt hatte, er würde jemand anderes zur Obduktion schicken. »Wie lange ist sie schon tot?«

»Minimum drei Tage«, schätzte Tropper. »Vermutlich länger.«

»Und wie …?«

Der Kriminaltechniker hob abwehrend die Hände. »Ich kann’s dir nicht sagen. Wir haben ja kaum mit der Leichenschau begonnen.«

»Freddy, du bist doch ein erfahrener Kripomann. Was sagt dir deine Intuition?«

»Sie hat Verletzungen, aber ob die durch Fremdeinwirkung entstanden sind oder ob sie sich die bei einem Sturz zugezogen hat, weiß ich nicht. Einige Verletzungen scheinen schon älteren Datums zu sein. Im Moment können wir nichts ausschließen – erstickt, erwürgt, erschlagen oder doch ein Herzinfarkt. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Einigen wir uns auf Herzinfarkt.«

»Okay, sagst du es Maggie, oder ich?«

»Du. Natürlicher Tod – ich bin raus aus der Nummer.« Brander grinste halbherzig. Der Anblick des toten Mädchens hatte ihn unangenehm berührt, hatte ihn an jemanden erinnert, den er gut kannte, sehr gut kannte. Er zog mit dem Arm einen Kreis durch den Raum. »Um die Randale hier können sich andere kümmern.«

»Sie spielt Geige«, kam es aus einer Ecke des Wohnraums. Peppi hatte sich über einen Kasten gebeugt und deutete auf das Instrument, dessen Hals gebrochen war.

»Muss nicht ihre Geige sein. Käpten Huc sagte, Wohnungsmieter ist ein Marcel Schweikhard«, erinnerte Brander die Kollegin. Er warf einen genaueren Blick auf die Schmierereien an den Wänden. Jemand hatte mit schwarzer Farbe Symbole und Zahlen kreuz und quer über Tapete, Bilder und Möbel gesprüht. Moderne Kunst sah anders aus.

Auf einem Regalbrett standen ein paar Bücher, auf dem Boden davor lag ein herabgestürztes Exemplar. Eine Heß-Biografie.

»Interessante Lektüre«, murmelt Brander. Er wandte sich wieder Tropper zu. »Gibt es Einbruchspuren?«

»Nichts Offensichtliches. Es gibt ein paar Kratzer an der Tür, aber die sehen schon älter aus.«

»Wer hat die Tote gefunden?«

»Soweit ich weiß, zwei Kollegen vom Revier. Der Hausmeister hatte sie gerufen wegen des Gestanks.«

»Sind die noch da?«

»Sag mal, steht auf meiner Stirn Auskunft? Keine Ahnung. Wie wäre es, wenn du jetzt mal aufhörst, unseren Leichenfundort zu kontaminieren, und mit deiner Arbeit beginnst? Draußen, vor der Tür.«

»Nichts lieber als das.« Brander grinste den Kollegen an, dieses Mal etwas lockerer. »Ich erwarte deinen Bericht.«

»Du mich auch.« Tropper hatte sich bereits wieder seiner Arbeit zugewandt.

Die Kegelrobbe stand noch immer im Treppenhaus und beobachtete mit Argusaugen das Geschehen – obwohl eigentlich nichts geschah. Brander entschied, dass dies der Hausmeister sein musste, und ging auf ihn zu.

»Facilitymanager«, wurde er umgehend korrigiert. »Ja, das bin ich, Ottmar Beyer. Ich habe ja gleich gewusst, dass da was nicht stimmt. Der Gestank … das war ja fürchterlich. Da konnte ich ja gar nicht anders. Ich habe gleich Ihre Kollegen angerufen. Den Herrn Schweikhard, das ist der Mieter, so heißt der, Marcel Schweikhard. Also, den Herrn Schweikhard, den habe ich schon ein paar Tage nimmer gesehen. Da macht man sich ja schon irgendwann so seine Gedanken, vor allem mit dem Gestank. Würde ja jeder andere auch machen, sich Gedanken machen, meine ich. Oder nicht? Und die Nachbarn waren auch schon ganz narret. Schlimm genug, die Affenhitze – jetzt, im Oktober, aber dazu der Gestank. Der zieht durchs ganze Treppenhaus. Als würde man auf einer Müllkippe leben. Aber, ich kann da ja nicht einfach reingehen. Weiß man ja nicht, was da los ist, nicht wahr? Da hab ich gedacht, ich ruf mal lieber die Herren, also die Damen und Herren von der Polizei. Ich hab ja auch meine Vorschriften.«

Brander ertappte sich dabei, dass er dem Redeschwall des Facilitymanagers nur mit halbem Ohr zuhörte. Die Luft war zu stickig, um sich konzentrieren zu können. Er rieb sich über die Stirn. T-Shirt und Jeans klebten an seinem Körper. »Lebt Herr Schweikhard mit einer Freundin zusammen?«

»Nicht, dass ich wüsste. Da geht immer mal wieder wer ein und aus. Meistens allerdings irgendwelche Kerle. So Jungsche halt. Grüßen immer freundlich …«

»Herr Schweikhard lebt allein?«

»Ja«, erwiderte Beyer zögernd, kleine Schweißperlen glitzerten auf seiner Oberlippe. »Seine Schwester kommt manchmal an den Wochenenden. Die hab ich aber auch schon länger nimmer gesehen.« Er rieb verstohlen mit den Handflächen über die breite Hüfte. »Ist das denn der Herr Schweikhard, da in der Wohnung?«

»Wissen Sie, wie die Schwester heißt?«

Beyer schob grübelnd die Unterlippe vor. »Demi oder Denise oder irgendwie so was. Ich hab mit denen nicht viel zum Schaffen gehabt.«

»Und wie alt ist Demi oder Denise?«

Beyer zuckte die Achseln. »’n junges Ding.«

Ein junges Ding. Das Bild der Toten schob sich wieder vor Branders Auge. »Gab es andere weibliche Besucher?«

»Ha ja, schon … Letzte Woche, da war eine da, die hat ihn gesucht. So eine Dunkelhaarige. Ein hübsches Mädle, hab ich noch gedacht, was hat die mit einem wie dem Schweikhard zu schaffen. Der ist ja …«

»Hat dieses Mädle einen Namen?« Das Geschwätz der Facility-Kegelrobbe ging Brander auf die Nerven.

»Ja, aber den weiß ich nicht. Die hat mich gefragt, wann der Herr Schweikhard nach Haus käme. Ich hab draußen gekehrt, da kam sie. Aber da frag ich ja nicht gleich nach der ihrem Namen. Die wollte ja zum Herrn Schweikhard und nicht zu mir, ne.«

»Kennen Sie Namen von irgendwelchen Freundinnen von Herrn Schweikhard?«

»Na, so viele waren das nicht. Aber, wissen Sie, ich glaube, der wollte auch keinen Kontakt. Der wohnt hier, grüßt schon mal, aber schwätzen tut der nicht mit einem. Na ja, hilfsbereit isser, das muss man schon sagen. Der hält mal die Tür auf, oder der Frau Gastl, die wohnt im dritten, direkt unter ihm, die ist schon bald achtzig, da tut er mal die Einkäufe rauftragen. Das macht der schon, da isser …«

»Sie haben Markus Schweik…«

»Marcel«, korrigierte Peppi.

»Danke, ja. Sie haben Marcel Schweikhard in den letzten Tagen nicht gesehen?«

»Ja, nee, also, nee …«

»Wann zuletzt?«

Die Kegelrobbe stieß die Luft aus den Lungen, ließ die Lippen dabei vibrieren. Die kleinen Schweißperlen stoben davon. Brander zuckte unwillkürlich mit dem Kopf zurück.

»Das weiß ich nimmer. Letzte Woche vielleicht.«

»Wissen Sie, wo wir Herrn Schweikhard finden könnten? Wo er arbeitet?«

»Nee, ich sag doch, der schwätzt mit niemandem.«

»Haben Sie irgendwelche Kontaktdaten, wo Sie ihn erreichen können? Eine Handynummer?« Brander deutete mit dem Kopf zur Wohnungstür. »Falls mal irgendwas ist …«

»Da müsste ich mal unten nachgucken. Ich hab da einen Ordner mit so Sachen. Irgendwo ist bestimmt ’ne Nummer hinterlegt.«

»Das heißt, Sie haben nicht versucht, ihn telefonisch zu erreichen?«

Kurz mischte sich Unsicherheit in Beyers Blick. »Hätte ich das tun sollen?«

»Na ja, bei dem Gestank wäre es sicherlich einen Versuch wert gewesen.«

Der Mann senkte den Blick. Die Aufdeckung seines Versäumnisses war ihm sichtlich unangenehm.

»Sie haben also nicht versucht, Herrn Schweikhard in den letzten Tagen zu erreichen?«

Beyer murmelte ein undeutliches »Nein«.

»Ist Ihnen sonst irgendjemand aufgefallen, der in den letzten Tagen in der Wohnung war?«

»Nein, ich bin ja nicht der Pförtner, der jeden überwacht, der hier kommt und geht.« Der Hausmeister hob die Augenlider, versuchte, seine Facilitymanager-Ehre wieder herzustellen. »Ich kümmer mich darum, dass alles in Ordnung und sauber ist. Ich mach die Kehrwoche, ich räum den Schnee und kümmer mich um den Müll. Aber was die Leut machen, das geht mich nichts an.«

Aber du beobachtest doch trotzdem ganz genau, wer hier ein- und ausgeht, dachte Brander bei sich und schalt sich sogleich für seine Vorurteile. Nicht jeder Facilitymanager saß mit Kissen unterm Ellenbogen am Küchenfenster, hörte SWR4 und führte eine Strichliste über die Gäste des Hauses. Nach viel Bewegung sah Herr Beyer allerdings nicht aus.

»Gibt es sonst etwas, was Ihnen in den letzten Tagen aufgefallen ist?«

Der Mann schürzte wieder die Lippen. Ein Schnauzbart würde ihm gut zu Gesicht stehen, kam Brander in den Sinn, er würde den Kegelrobben-Eindruck positiv verstärken.

»Am Wochenende musses wohl mal laut gewesen sein. Das hat mir die Frau Habring gesagt, beschwert hat sie sich. Ich war ja nicht da. Ich war zwei Tage bei meiner Schwester, oben, auf der Ostalb. So oft sehe ich meine Schwester da nicht. Sonntagabend stand die Frau Habring dann gleich vor meiner Tür. So ein Krach, hat sie sich beschwert, sie hätt nicht schlafen können. Kein Auge hätt sie zugetan. Ich bin dann rauf und wollt dem Herrn Schweikhard Bescheid geben. Der wohnt ja nicht allein hier im Haus, da muss man Rücksicht nehmen. Aber der war nicht da … Er hat jedenfalls nicht aufgemacht.«

»Die Frau Habring wohnt wo?«

Beyer deutete auf die Tür gegenüber von Schweikhards Wohnung. »Die ist aber nicht da. Ich sag Ihnen, die würd ’nen Herzinfarkt kriegen, bei dem, was hier heute los ist!«

»Wo ist Frau Habring?«

»In Kur. Am Dienstag isse los. Die kommt in drei oder vier Wochen wieder.«

»Und wann hat sie den Lärm gehört?«

Beyer hob die Schultern, sodass der Kopf in Ermangelung eines Halses dazwischen versank. »Freitag- oder Samstagnacht muss das gewesen sein. Wie gesagt, ich war bei meiner Schwester. Bin Freitagnachmittag weg und Sonntagabend zurück.«

Das vergangene Wochenende. Dem Zustand der Toten nach könnte das auch gut der Tatzeitpunkt gewesen sein. Brander warf einen Blick hinunter ins Treppenhaus »Wie viele Parteien wohnen in diesem Haus?«

»Wohnungen sind’s elf. Drei in jeder Etage und zwei unterm Dach.«

Brander sah erneut die Stufen hinunter. Sie würden nicht umhinkommen, sämtliche Mieter zu befragen. »Wenn Sie mir dann noch die Kontaktdaten von Herrn Schweikhard geben könnten?«

Sie waren in Beyers Erdgeschosswohnung hinuntergegangen. Es lag tatsächlich ein Kissen auf der Küchenfensterbank, Blick auf den Fußweg, der vom Hof zur Haustür führte, stellte Brander fest. Beyer gab ihm Schweikhards Handynummer. Branders Anruf wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet.

Er verließ mit Peppi die Hausmeister-Suite. Während Peppi mit zwei Polizeibeamten sprach, forderte Brander telefonisch die Kollegen Fabio Esposito und Peter Sänger an.

»Andi, no … bitte«, protestierte Fabio. »Ich habe meiner Großen versprochen, sie vom Ballett abzuholen.«

»Kann sie nicht allein …«

»Sie ist sieben! Eine kleine Bambina! Was denkst du!«

»Dann sag Peter, er soll sich einen Kollegen suchen und herkommen.«

»Nun ja …«, druckste Fabio herum. »Peter ist gerade eben zur Tür raus.«

»Eine rauchen?«

»Ähm … no.«

»Wollt ihr mich ver…?« Sein Fluch wurde von einem lauten »Herr Kommissar!« unterbrochen. Brander hob den Blick, sah den Hausmeister aus dem geöffneten Fenster schräg über ihm winken. Er deutete mit den Arm über den Fußweg Richtung Hof. »Da isser doch!«

Ist wer?, lag Brander auf der Zunge. Er sah zur Seite, entdeckte einen jungen Mann, der im Hof stand. Im selben Moment trafen sich ihre Blicke. Der Mann stürmte davon.

Marcel Schweikhard.

»Peppi!« Brander drückte das Gespräch weg und rannte hinterher. Peppi spurtete ebenfalls los. Sie rannten den Weg zum Hof hinunter. Während Peppi rechts über den Platz zur Straße lief, hechtete Brander durch eine Hecke. Er landete auf einem Fußweg. Rechts eine Unterführung, links ging es durch die Siedlung. Keine Spur von Schweikhard. Eilig scannte Brander die Umgebung. Der Erdboden hatte den Mann verschluckt. Er hatte Heimvorteil. Peppi kam von der Straße zu ihm, zwei Beamte im Gefolge.

»Und?«

»Geht ihr zwei rechts. Sie kommen mit mir.« Brander trabte den von Büschen und Hecken gesäumten Weg hinauf. Dahinter verbargen sich Wohnhäuser, parallel verlief auf der anderen Seite die Straße. Bei einem Spielplatz blieben sie stehen. Zwecklos, zu viert weiterzusuchen. Es gab zu viele Möglichkeiten. Branders Handy klingelte. Fabio.

»Du warst plötzlich weg.«

»Gib Käpten Huc Bescheid. Wir brauchen eine Fahndung nach Marcel Schweikhard, wohnhaft Maienwalterstraße. Da auch zuletzt gesehen.«

»Beschreibung?«

»Anfang, Mitte zwanzig, zwischen eins achtzig und eins neunzig groß, kurzgeschorene Haare. Mehr hab ich nicht.« Trug er Jeansjacke? T-Shirt? Hoodie? Brander hätte es nicht sagen können. Der Anblick war zu kurz, zu unerwartet gewesen. Wohin war der junge Mann so schnell verschwunden?

Sie saßen um einen kleinen Nierentisch herum, in kleinen bunten Sesseln im Büro des Kriminaloberrats. Hans Ulrich Clewer hatte Mineralwasser in Gläser gefüllt. Ein Ventilator – wie die Sitzgarnitur aus privaten Beständen – sorgte, wenn nicht für kalte Luft, doch zumindest für etwas Zirkulation.

»Die Staatsanwaltschaft habe ich informiert. Die Fahndung nach Marcel Schweikhard läuft. Wo setzen wir an?« Clewer lehnte sich zurück. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, die braungebrannten, sehnigen Bergsteigerarme ruhten auf den Sessellehnen, die Augen wanderten aufmerksam zwischen Brander und Peppi hin und her.

Brander zupfte an seinem verschwitzten T-Shirt. Ein Duftgemisch aus eigenem Schweiß, gepaart mit dem fauligen Geruch aus Schweikhards Wohnung, hing ihm in der Nase. Das Bild des toten Mädchens ging ihm nicht aus dem Kopf. Und noch immer war er sich nicht im Klaren, wie er zu Hans Ulrich Clewer stand. Er schätzte die Geradlinigkeit und Verlässlichkeit des Inspektionsleiters. Clewer stand für seine Leute ein, und auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren, schätzte er Branders Arbeit. Aber Clewer wollte auch stets informiert sein, über alles – und das zeitnah.

»Die Tote konnte noch nicht identifiziert werden«, begann Brander.

»Wann ist die Obduktion angesetzt?«, unterbrach Clewer.

»Morgen früh. Neun Uhr in Tübingen. Manfred Tropper und ich werden zugegen sein.«

Peppi warf Brander einen irritierten Blick zu. »Zugegen sein« – so drückte er sich doch sonst nicht aus!

»Zwei Kollegen machen eine erste Anwohnerbefragung«, fuhr Brander fort. »Am vergangenen Wochenende muss es laut Aussage des Hausmeisters …«

»Facilitymanagers«, korrigierte Peppi.

»… relativ laut in Schweikhards Wohnung gewesen sein. Da die Frau bereits mehrere Tage tot ist, könnte in dem Zeitraum vielleicht der Tatzeitpunkt liegen.«

»Irgendwelche Hinweise, wer die Tote sein könnte?«

»Nichts Konkretes. Laut Hausmeister …«

»Facilitymanager«, verbesserte Peppi erneut.

Brander warf seiner unschuldig lächelnden Kollegin einen genervten Blick zu. »Laut Facilitymanager kommt Schweikhards Schwester hin und wieder zu Besuch. Letzte Woche wollte wohl auch eine andere junge Frau zu ihm. Er konnte uns aber keine Namen nennen.«

»Also ein Familien- oder Beziehungsdrama?«

Brander hob die Schultern. »Nicht auszuschließen.«

Clewer stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und tippte die Fingerspitzen aneinander. »Was wissen wir über Schweikhard? Warum rennt er davon?«

»Da können wir im Moment nur spekulieren.« Brander hätte lieber in seinem Büro gesessen und versucht, mit einer Skizze Ordnung in seine Gedanken zu bringen, anstatt dem Inspektionsleiter Rede und Antwort zu stehen.

»Er spielt Geige«, berichtete Peppi. »Vermutlich.«

Es klopfte, kurz darauf erschien Fabio Esposito in Clewers Büro. Der junge Italiener hielt ein Blatt in die Runde. »Ich habe ein wenig recherchiert. Schweikhard ist kein Unbekannter.«

»Immer her mit den guten Neuigkeiten. Setzen Sie sich. Wasser?« Ohne eine Antwort abzuwarten, füllte Clewer ein Glas.

»Danke, also …« Fabio lupfte die Hose an den Knien und setzte sich. »Marcel Schweikhard, dreiundzwanzig Jahre, ledig, vorbestraft. Ist schon ein paar Jahre her: Er wurde mit fünfzehn zu zehn Monaten Jugendstrafe verurteilt, zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Versuchter Totschlag.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Peppi.

»Si, er hat einen Schulkameraden zusammengeschlagen. Details später, ich bin noch nicht dazu gekommen, alles zu lesen.«

»Und jetzt also eine Leiche in seiner Wohnung. Kein Wunder, dass der Fersengeld gegeben hat«, befand Peppi.

»Das muss kein Schuldeingeständnis sein«, warnte Brander vor einem Schnellschuss. »Warum taucht er ausgerechnet heute bei seiner Wohnung auf, wenn er doch anscheinend in den letzten Tagen nicht dort gewesen ist? Hast du noch mehr Infos?«

»Er kommt gebürtig aus Esslingen. Mit sechzehn Umzug nach Dußlingen.«

»Das ist doch bei Tübingen, oder?«, fragte Clewer.

»Ja, ein paar Kilometer südlich. Schweikhards Eltern sind da immer noch wohnhaft gemeldet.«

»In der Tübinger Region kennen Sie beide sich ja bestens aus. Herr Brander, Frau Pachatourides, fahren Sie bitte heute noch bei Familie Schweikhard vorbei. Vielleicht sucht der Sohnemann ja Schutz im Schoße der Familie. Sitzung der Ermittlungsgruppe morgen Mittag, wenn Sie von der Obduktion zurück sind.« Die letzten Worte waren direkt an Brander gerichtet. Er würde wohl nicht umhinkommen, tatsächlich den nächsten Vormittag in Margarete Sailers heiligen Untersuchungsräumen zu verbringen.

»Wovon gehen wir aus?«, grübelte Brander, während er den Wagen über die B27 lenkte. Da er in dieser Woche den Fahrdienst in ihrer Zweierfahrgemeinschaft hatte, übte Peppi sich in Geduld und Toleranz gegenüber Branders – wie sie es nannte – defensivem Fahrstil.

»Wie Käpten Huc gesagt hat, Beziehungstat«, schlug Peppi vor. »Du hast die Wohnung gesehen, da hat ein Kampf stattgefunden.«

»Findest du?«

»Na, aufgeräumt war es jedenfalls nicht.«

»Ich weiß nicht, ich finde, es sah eher nach mutwilliger Zerstörung aus.«

»Das eine schließt das andere nicht aus.«

»Stimmt auch wieder.«

Der stärkste abendliche Berufsverkehr war bereits vorüber, aber am Ortseingang Tübingen gab es dennoch einen Rückstau, und sie krochen im Schritttempo über die Bundesstraße Richtung Hechingen. Wenige Kilometer später kam die Ausfahrt nach Dußlingen.

»Ach, guck an, hier ist morgen Abend eine Krimilesung in der Mediothek, und dazu gibt’s noch Musik«, stellte Peppi fest. »Sollen wir da mal hin und denen ein bisschen aus unserem Polizistenalltag erzählen?«

»Das will doch keiner hören. Dienstbesprechungen, Akten wälzen, tausend Mal dieselben Fragen stellen, und am Ende kommt der Täter mit ’ner Bewährungsstrafe davon. Die wollen Action oder zumindest was Skurriles, Unterhaltsames.«

»Apropos. Was ist mit unserem Kazmaier? Könnte der ein Zeuge sein? Der sagte doch, er hätte ein Kapitalverbrechen beobachtet.«

»Er ist aber kein Nachbar von Schweikhard«, wusste Brander. »Wohnt in ’ner ganz anderen Ecke von Esslingen.«

»Vielleicht war er bei Frau … wie hieß die Nachbarin? Häberle? Nee, warte … Ha-Dings … Habring zu Besuch?«

»Lad ihn doch morgen ein und befrag ihn.«

»Während du gemütlich mit Maggie beim zweiten Frühstück sitzt?«

»Sehr witzig.« Brander bog in eine Seitenstraße und parkte am Straßenrand vor einer hohen weißen Mauer. Er wandte sich zu seiner Kollegin um. »Sag mal, was muss ich tun, damit du für mich zur Obduktion gehst?«

Peppi sah ihn verschmitzt grinsend an. »Sterben.«

»Danke.« Brander wollte aussteigen, hielt aber noch einmal inne. »Warte mal. Wie hast du … das heißt … Du würdest allen Ernstes dabei sein, wenn man mich obduziert?«

Peppi schenkte ihm ein Lächeln, das alles bedeuten konnte, und stieg aus.

Familie Schweikhard hatte ihr Haus hinter einer hohen Mauer verschanzt. Eine Doppelgarage grenzte daran, eine schmiedeeiserne Tür gewährte nur willkommenen Gästen Zutritt zum Grundstück. Der Bau war noch nicht alt, fünf bis zehn Jahre, tippte Brander. Modern, geradlinig, nüchtern. Auch der kleine Vorgarten, den man durch die Gitterstäbe sah, schien geometrisch akkurat angelegt. Grüner Rasen, drumherum ein paar grüne Büsche. Blumen suchte man vergebens.

Ihr Klingeln wurde mit einem Kameralämpchen und von einer männlichen Stimme beantwortet. »Ja, bitte?«

»Kripo Esslingen. Kommissar Brander und Kommissarin Pachatourides, wir möchten mit Familie Schweikhard sprechen«, erklärte Brander durch die Gegensprechanlage.

Ohne weitere Fragen ertönte ein Summen, und die Tür sprang auf. Ein mit großen grauen Platten gepflasterter Weg führte zur Haustür, an der sie erwartet wurden: ein Mann, eine Frau, beide wenig älter als die Kommissare, vielleicht Anfang, Mitte fünfzig. Konservativ gekleidet. Er in Anzughose, kurzärmligem Hemd und mit gepflegtem Kurzhaarschnitt. Sie trug einen knielangen Rock und eine schlichte weiße Businessbluse. Bemerkenswert war ihre Dürre. Eine eckige, kantige Frau mit kurzen, graublonden Haaren.

»Hermann Schweikhard«, stellte sich der Herr des Hauses vor. »Meine Frau, Annegret. Worum geht es, bitte?«

Es war den beiden anzumerken, dass dies nicht der erste Kontakt zur Polizei war. Sie bemühten sich, den Beamten mit neutraler Sachlichkeit zu begegnen, waren dabei aber wachsam und auf Distanz bedacht.

»Sie sind die Eltern von Marcel Schweikhard?«

»Ja, er wohnt aber nicht mehr hier.« Eine nüchterne Information, die nicht erkennen ließ, welches Verhältnis Vater Schweikhard zu seinem Sohn hatte.

»Das wissen wir. Wir hätten dennoch ein paar Fragen. Könnten wir vielleicht einen Moment reinkommen?«

Durch einen hellen Flur gelangten sie in ein steriles Wohnzimmer. An den Wänden standen Schränke mit glatten Flächen, an denen Türgriffe fehlten. Mitten im Raum umrahmte eine graue Sitzgarnitur einen flachen Glastisch, auf dem eine große Schale mit einem Potpourri getrockneter Blumen den einzig matten Farbklecks im Raum bildete. Hermann Schweikhard setzte sich auf ein Sofa, während seine Frau vor einem Sideboard stehen blieb und Dinge gerade rückte, die bereits millimetergenau ausgerichtet waren.

»Worum geht es?«, fragte Schweikhard.

Es war still in dem Haus. Viel zu still, fand Brander. Er saß dem Mann gegenüber und suchte nach den richtigen Worten. Wo sollten sie ansetzen? Nach dem Chaos in Marcel Schweikhards Wohnung passte diese nüchterne Welt nicht in das Bild, das sich Brander von der Familie des Mannes gemacht hatte.

»Wir sind auf der Suche nach Ihrem Sohn.«

»Er ist nicht hier. Er wohnt in Esslingen.« Schweikhard sah von Peppi zu Brander. »Sie hätten anrufen und fragen können. Warum kommen Sie hierher?«

»Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?«

»Das … Das ist schon eine Weile her.«

Der Begriff war dehnbar – eine Woche, ein Monat, ein Jahr? »Was bedeutet eine Weile?«

Hermann Schweikhard sah zu seiner Frau, die ihnen den Rücken zugewandt hatte, als ginge sie dieser Besuch nichts an. Er seufzte unentschlossen. »An Weihnachten vielleicht. Annegret, war es nicht so? War er nicht Weihnachten zuletzt hier?«

»Zwölfter Januar.« Sie wandte sich um, ihr Gesicht war verschlossen, die Augen hart. »Er war am zwölften Januar hier, um Denise abzuholen.«

Zwölfter Januar, das waren fast zehn Monate.

»Denise?«, fragte Brander.

»Unsere Tochter.«

»Warum können Sie sich so genau an das Datum erinnern?«

»Es war Denises achtzehnter Geburtstag.«

»Und Denise lebt seitdem bei ihrem Bruder?«

»Nein!« Annegret Schweikhard schüttelte energisch den Kopf. »Sie lebt bei uns. Sie geht noch zur Schule.«

»Ist sie zu Hause?«

»Was wollen Sie denn jetzt von Denise?«, fuhr sie Brander an. Zorn im Blick. Und Angst.

»Das heißt, Ihre Tochter ist nicht zu Hause?«, fragte Peppi.

Die Frau sah flüchtig zu ihrem Mann, eine Antwort gab keiner von beiden.

»Wo ist Ihre Tochter?«

Auch darauf gab es keine Antwort.

Peppi sah zu Brander. Was sollten sie von diesem Schweigen halten? Er ahnte, was in Peppis Kopf vor sich ging.

»Wann haben Sie Denise zuletzt gesehen?«, hakte sie nach.

Schweigen.

Das Schweigen in diesem gänzlich geräuschlosen Haus war erdrückend. Peppi nickte Brander zu. Mach du weiter. Sag du ihnen, worum es geht.

»Wir suchen Ihren Sohn«, erklärte Brander erneut. Er drängte sämtliche Emotionen zurück. Es war eine simple, sachliche Auskunft. Noch war ihr Verdacht nur eine vage Vermutung. Noch stand nicht fest, was tatsächlich in Esslingen geschehen war. »In seiner Wohnung wurde heute die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie konnte noch nicht identifiziert werden.«

Noch während er die Worte aussprach, wich sämtliche Farbe aus Annegret Schweikhards Gesicht. Sie wandte sich ab, stakste wortlos aus dem Zimmer, den Rücken aufrecht, den Blick geradeaus, mechanische Bewegungen, wie ein Roboter.

»Frau Schweikhard?«

Sie ging weiter, hatte kaum den Raum verlassen, da stürzte sie auf alle Viere und erbrach sich auf die Fliesen.

»Annegret …« Herrmann Schweikhard saß erstarrt auf dem Sofa, sah zu seiner Frau, die würgend am Boden kniete.

Peppi eilte zu ihr. »Andi, ruf einen Arzt.«

»Nein, keinen Arzt«, widersprach Frau Schweikhard keuchend. »Es geht schon wieder. Ich …« Sie richtete den Oberkörper langsam auf, um Fassung bemüht. »Ich mach das sauber … Entschuldigen Sie.«

»Es ist wohl besser, wenn Sie sich erst einmal hinsetzen.« Peppi wollte ihr aufhelfen, aber die Frau wehrte sie ab. Unsicher kam sie auf die Beine, schwankte durch den Flur, kam mit Eimer und Wischer wieder zurück.

»Frau Schweikhard«, versuchte es Peppi erneut.

Die Frau begann, das Erbrochene aufzuwischen.

»Annegret, lass doch …« Der Ehemann verstummte unter dem kalten Blick, den ihm seine Frau zuwarf.

Selbst Brander verspürte ein leichtes Frösteln. In diesem Haus war nicht erst vor fünf Minuten die Eiszeit ausgebrochen. »Frau Schweikhard, wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?«

Sie wischte weiter den Boden. »Vor einer Woche? Ich weiß es nicht.«

»Vor einer Woche? Aber …«

»Sie ist volljährig!« Annegret Schweikhard stützte sich auf den Stiel des Wischers und sah zu Brander. »Was soll ich machen? Sie von der Polizei suchen lassen? Sie ist volljährig. Sie darf ihren Aufenthalt selbst bestimmen. Soll ich sie einsperren? Was? Sagen Sie es mir! Was soll ich tun?«

»Haben Sie sich keine Sorgen gemacht? Eine Woche … das ist eine lange Zeit.«

»Es ist nicht das erste Mal.«

»Haben Sie zwischendurch mal miteinander telefoniert?«

»Was geht Sie das an? Was geht Sie unser Leben an? Lassen Sie uns in Ruhe.« Erschöpfung mischte sich in die aufgebrachte Stimme. Sie stieß die Luft laut aus. »Lassen Sie uns doch endlich in Ruhe.«

»Das kann ich leider nicht«, erwiderte Brander ruhig. »In der Wohnung Ihres Sohnes wurde ein totes Mädchen gefunden. Ihr Sohn ist flüchtig.«

»Mein Sohn ist kein Mörder!«

Deswegen bist du auch gerade in die Knie gegangen und hast auf den Boden gekotzt, dachte Brander bei sich. »Das behauptet auch niemand. Dennoch müssen wir mit Ihrem Sohn dringend sprechen. Wo könnte er sein? Haben Sie Namen von Freunden? Gibt es Orte, wo er sich häufig aufhält? Könnte Ihre Tochter es wissen?«

»Wir können Ihnen nicht weiterhelfen.« Sie starrte unverwandt in Branders Richtung, aber ihr Blick ging durch ihn hindurch.

Was war mit dieser Frau? Wovor fürchtete sie sich? Brander hätte gern gewusst, wem Annegret Schweikhards Gedanken galten. Ihrer Tochter? Ihrem Sohn? Die Stille zog frostig kalt durch den Raum. Die Distanz zwischen den Eheleuten war greifbar.

»Wir benötigen aktuelle Fotos von Ihren Kindern. Und ich möchte das Zimmer Ihrer Tochter sehen.« Für seine zweite Forderung gab es eigentlich keine Veranlassung, außer der Möglichkeit, dass das tote Mädchen die Tochter des Hauses sein könnte.

Nachdem Annegret Schweikhard ihn weiterhin nur anstarrte, wandte er sich an ihren Mann. Der stützte schließlich die Hände auf die Oberschenkel und erhob sich. »Kommen Sie bitte mit.«

Das Bett war gemacht, aber den Rest des Zimmers beherrschte eine ertragbare Unordnung. Ein angenehmer Kontrast nach der Nüchternheit des Wohnzimmers. Kleidungsstücke lagen auf Schreibtisch und Stuhl, an den Wänden hingen Poster von Bands, die Brander nicht kannte. Grimmig blickten die Musiker in das Zimmer. Schminkutensilien lagen auf einem Nachttisch, es roch nach kaltem Rauch. Es war ein Mädchenzimmer – und doch wieder nicht. Es strahlte eine unterschwellige Aggressivität aus. Sie schien zwischen den Wänden zu vibrieren. Brander entdeckte einen bunten Plüschpapagei neben dem Kopfkissen. Er wirkte deplatziert, verloren. Fühlte sich Denise in diesem Haus auch so? Brander versuchte, sich vorzustellen, wie der Umgang der Schweikhards mit ihren Kindern war. Gab es Herzlichkeit? Lustige Abende mit Gesellschaftsspielen? Er wandte sich wieder der Wanddekoration zu. »Kennen Sie diese Bands?«

»Nein.«

Brander betrachtete eines der Poster genauer. Vier Personen waren abgebildet, drei dunkel gekleidet mit Masken vor den Gesichtern, der vierte, im Zentrum der Gruppe, glatzköpfig, mit Sonnenbrille, Bart; der nackte, muskulöse Oberkörper war tätowiert. Die Rockbands, die Brander kannte, trugen keine Masken. Er entdeckte ein zweites Bild der Band, es war ein vergrößertes Foto von einem Konzert. Rücken und Hinterköpfe einiger anderer Konzertbesucher waren mit darauf. Das Hakenkreuz im Nacken eines Mannes ließ nichts Gutes vermuten.

»Was für einen Umgang hat Ihre Tochter?«

Schweikhard zuckte die Achseln. »Sie ist oft bei Marcel und seinen Freunden. Die beiden stehen sich sehr nahe.«

»Kennen Sie Marcels Freunde? Wir brauchen Namen, Kontaktdaten …«

»Denise hat manchmal von einem Robin gesprochen.«

»Robin – und wie weiter?«

Schweikhard hob erneut die Schultern. »Tut mir leid …«

»Fallen Ihnen andere Freunde Ihrer Kinder ein?«

»Nein. Ich … wir kennen Marcels Freunde nicht.«

Wenn es Männer waren wie auf diesen Postern, passten sie auch nicht in dieses glattpolierte Haus. »Gibt es Verwandte, bei denen Denise oder Marcel sein könnten?«

Der Mann senkte den Blick. »Sicher nicht.«

»Warum nicht?«

»Meine Eltern und meine Schwester mit ihrer Familie leben in Lindau. Annegrets Verwandtschaft lebt in Erlangen. Das ist zu weit weg.«

Das war sicher nicht der Grund, ahnte Brander. »Ich brauche dennoch Adressen und Telefonnummern.«

»Sie werden Denise oder Marcel dort nicht finden.«

»Das mag sein. Ich bitte Sie dennoch, mir diese Informationen zu geben.« Brander musterte den Mann vor sich. Ein gestandener Managertyp, dessen Karrieretipps bei seinen Kindern anscheinend versagt hatten. »Herr Schweikhard, was für eine Beziehung haben Sie zu Ihren Kindern? Ich meine, Ihre Tochter bleibt einfach eine Woche weg, und Sie machen sich keine Sorgen?«

»Natürlich mache ich … machen wir uns Sorgen. Aber Denise ist ein sehr schwieriges Mädchen. Sie wissen nicht, wie das ist, mit so einem rebellischen Kind zurechtkommen zu müssen.«

Oh, doch, das wusste Brander ziemlich genau. Unwillkürlich sah er die tote Frau in dem Badezimmer am Boden liegen, und gleichzeitig sah er Nathalie vor sich. Ein verzweifelter, wütender Wildfang, der ihn schon manche Stunde Schlaf gekostet hatte. Doch in ihr Leben war Ruhe eingekehrt. Hier in diesem Zimmer schien er eine ähnliche Verlorenheit zu spüren, wie er sie damals bei Nathalie wahrgenommen hatte. Oder bildete er sich das nur ein?

»Hat Ihre Tochter ein Handy?«

»Ja.«

»Haben Sie mal versucht, sie zu erreichen?«

»Ja, aber … sie geht selten ran, wenn wir anrufen.«

»Ich brauche die Nummer. Haben Sie vielleicht doch irgendeine Idee, wo wir Marcel finden könnten?«

Schweikhard schüttelte den Kopf.

Brander ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen. »Haben Sie ein Foto von Denise und Marcel?«

Der Mann ging an Brander vorbei zum Bett seiner Tochter, zog eine Schublade des Nachttisches auf und entnahm ein Foto. »Das sind sie vor ungefähr einem Jahr.«

Brander betrachtete das Bild. Das Mädchen war etwas kleiner als ihr Bruder, dunkelblondes, langes, glattes Haar, schmale Lippen, dezent geschminkt. Eine hübsche junge Frau. Marcel wirkte älter, als er war. Er hatte herbe, ernste Gesichtszüge, die Haare waren auf wenige Millimeter kurzgeschoren. Beide grinsten in die Kamera. Ein Selfie, man sah nur die Gesichter, wenig vom Hintergrund. Er fragte sich, woher Schweikhard so genau wusste, dass sich dieses Foto in dem Nachttisch befand.

»Kann ich das Foto mitnehmen?«

»Wir hätten es aber gern wieder.«

»Ja, natürlich. Wenn Sie mir dann bitte noch die Handynummer Ihrer Tochter geben.«

Erst vor wenigen Wochen war Peppi aus ihrem geliebten französischen Viertel in Tübingen zu ihrem Lebensgefährten Marco Schmid gezogen. Der Staatsanwalt besaß eine geräumige Wohnung am Österberg. Brander setzte Peppi vor dem Haus ab und fuhr zu dem Kampfsportzentrum, in dem sein Kumpel Karsten Beckmann an zwei Abenden Taekwondo unterrichtete. Nathalie ging seit knapp anderthalb Jahren zu ihm. Sie würde sich freuen, wenn sie nicht mit der Bahn zurück nach Entringen fahren musste.

Während er vor dem Gebäude wartend im Auto saß, ging er das Gespräch mit Schweikhards Eltern noch einmal durch. Die Ehe schien nicht von Herzlichkeit geprägt, das gesamte Umfeld war nicht besonders einladend. Diese Stille. Die nüchterne, kühle Einrichtung. Warum war Annegret Schweikhard zusammengebrochen? Lassen Sie uns doch endlich in Ruhe. Die Vorstrafe von Marcel Schweikhard kam ihm in den Sinn. Er wusste noch zu wenig über den damaligen Vorfall. Körperverletzung. Verurteilt. Was war danach geschehen? War das tote Mädchen Denise? Hatte der Bruder seine Schwester getötet?

Ein Klopfen an der Seitenscheibe ließ ihn zusammenzucken. Karsten Beckmann beugte sich herunter, als Brander das Fenster öffnete.

»Hallo schöner Mann, heute schon was vor?« Beckmann zwinkerte ihm lüstern zu.

»Ja, aber in diesen Träumen kommst du nicht vor.«

»Du brichst mir das Herz. Was führt dich dann her, wenn nicht die Sehnsucht nach meinem gestählten Männerkörper?«

»Ich wollte Nathalie abholen.«

Beckmann zog die Augenbrauen hoch. »Na, Pflegepapa, du bist ja gar nicht informiert. Nathalie hat sich diese Woche vom Training abgemeldet, muss lernen, das arme Kind. Matheprüfung.«

Davon wusste Brander in der Tat nichts.

»Und, Süßer? Wie wär’s, wenn du mich nach Hause bringst und ich dich noch auf einen kleinen Schlummertrunk verführe?«

»Spar dir deinen Baggermodus für Manuel auf.«

»Ach, Manu …« Beckmann seufzte abgrundtief. »Den seh ich gerade kaum noch. Seit er beim Musical ist, muss er jeden Abend arbeiten, kommt irgendwann nachts nach Hause, und bis er dann aus den Federn kriecht, bin ich schon längst bei der Arbeit.«

»Hör auf zu jammern, Sissy.«

»Oh, mein Freund, darf ich dich daran erinnern …«

»Nein, darfst du nicht.« Brander ahnte, dass Beckmann nur darauf herumreiten würde, wie liebeskrank er gewesen war, als Cecilia vor wenigen Jahren drei Wochen in den Staaten verbracht hatte – ohne ihn.

»Ich habe einen Glen Scotia zu Hause, Campbeltown Single Malt, ein sanfter maritimer Charakter. Ein winziger Schluck müsste doch mit der Straßenverkehrsordnung vereinbar sein, oder?«

»Aber nicht mit meiner Einstellung zum Thema Alkohol und Autofahren.«

»Andi, Darling, du kannst mir nicht ständig einen Korb geben. Das ist nicht gut für mein Ego.«

Brander lachte. »Dein Ego hält das aus. Jetzt steh hier nicht rum wie ’ne Bordsteinschwalbe und steig ein.« Er könnte ja zumindest mal an dem Whisky schnuppern.

»Bordsteinschwalbe?« Beckmann grinste belustigt. »Aus welchem Jahrhundert kommst du denn?«

2

Freitag

Das Büro der Rechtsmedizinerin befand sich in Tübingen in der Nägelestraße, die Obduktion wurde jedoch im Institut für Pathologie in der Liebermeisterstraße durchgeführt. Die Lage zwischen altem Botanischem Garten und Stadtfriedhof war nett und zentrumsnah, stellte Brander aber vor ein Parkplatzproblem. Am Institut waren sämtliche Parkplätze belegt, der Studentenparkplatz in der Wilhelmstraße war überfüllt, die Parkstreifen am Straßenrand ohnehin zugeparkt. So blieb ihm nur das Parkhaus König. Die lange Parkplatzsuche ließ ihn mit einigen Minuten Verspätung eintreffen. Zeit, sich am Anblick des alten klassizistischen Gebäudes zu erfreuen, blieb Brander nicht. Er eilte hinein, zog sich um und stand wenig später schwitzend im Obduktionssaal. Ein ganzer Pulk erwartete ihn: Maggie Sailer mit ihrem Kollegen, dazu eine Handvoll Medizinstudenten und Manfred Tropper.

»Ich dachte schon, du wolltest kneifen«, begrüßte Tropper ihn.

»Der Herr Brander hat’s also doch noch geschafft«, freute sich Margarete Sailer. »Florian, hol mal ’nen Stuhl und ’nen Eimer für den Herrn Kommissar«, wies sie einen der Medizinstudenten mit süffisantem Grinsen an.

»Danke, aber so alt bin ich noch nicht. Ich kann noch stehen.«

»Und wie sieht’s mit dem Frühstück aus?« Maggie Sailer zwinkerte ihm zu. »Du warst lange nicht dabei, und das wird heute keine appetitliche Angelegenheit.«

»Das ist nicht meine erste Obduktion.«

»Wie du meinst. Aber wenn dir schlecht wird – da ist die Tür.« Sie wandte sich ihrem Kollegen zu. »Wir wären dann vollzählig.«

Die beiden Rechtsmediziner begannen mit der äußeren Leichenschau. Das Mädchen hatte ein paar Blutergüsse an Armen und Oberkörper. »Die meisten davon hat sie sich aber schon mindestens ein paar Tage vor ihrem Tod zugezogen«, stellte Sailer fest. »Hier, das sieht etwas heftiger aus, könnte eine leichte Rippenprellung sein.«

»Wurde sie verprügelt oder war es ein Sturz?«, fragte Brander.

»Kann ich auf die Schnelle noch nicht sagen.«

»Was ist mit dem Hämatom am Hinterkopf?«, fragte Tropper.

»Florian?«, rief Sailer erneut den Studenten auf.

Der junge Mann trat näher, neigte sich zum Kopf des Opfers. »Unterhalb der Hutlinie. Könnte also von einem Sturz kommen.«

»Korrekt. Wir schauen uns die Verletzung aber nachher noch genauer an. Denn ausschließen können wir Fremdeinwirkung durch bloße Inaugenscheinnahme nicht.«

»Und kann mir auch einer von euch sagen, was das ist?«, wandte sich Sailers Kollege an die anwesenden Studenten. Er deutete auf den rechten Unterschenkel. Es war keine Verletzung, sondern eine Tätowierung über dem Knöchel, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte: drei gleich lange Striche, die sich in der Mitte trafen, am äußeren Ende der Striche war jeweils ein weiterer Strich, wie ein kleiner Haken. Darunter eine Zahl: 28.

»Irgend so ’n Symbol«, murmelte eine Studentin.

»Nein, wirklich? Könnten Sie das bitte ein bisschen genauer spezifizieren?«

»Nun ja …« Die Aufmerksamkeit behagte der Studentin nicht. Ihr Gesicht lief rot an. »Sieht aus wie … wie ’n Hakenkreuz, aber mit nur drei Haken.«

Der Rechtsmediziner nickte. »Andere Meinungen?«

Tropper wollte zu einer Erläuterung ansetzen, wurde aber mit einem »Du hältst die Klappe« zum Schweigen verurteilt. Nachdem die Studenten jedoch nicht weiterwussten, wurde dem Kriminaltechniker doch noch das Wort erteilt.

»Das Symbol ist eine sogenannte Triskele. Die hier verwendete Darstellungsform findet man in der rechten Szene. Das Symbol und auch die Zahlen geben einen konkreten Hinweis auf eine bestimmte Gruppierung. Die Zahlen stehen für Buchstaben, die zwei für das B, die Acht für das H. Vorschläge?«, reihte sich Tropper nahtlos in das Abfrage-Komitee der Rechtsmediziner ein.

»Na, wenn’s rechts ist, vielleicht beloved Hitler«, schlug eine Studentin vor.

Tropper schüttelte den Kopf

»BH steht doch für Büstenhalter«, wusste ein vorwitziger Student.

»Bevor mir jetzt noch einer mit dem chemischen Zeichen für Bohrium kommt, lösen wir das Rätsel lieber auf«, schlug Maggie Sailer vor.

»Die Buchstaben stehen für Blood and Honour. Das ist ein weltweites rechtsextremes Netzwerk, die Division Deutschland wurde 2000 hierzulande verboten, was aber nicht heißt, dass es sie in Deutschland nicht mehr gibt«, dozierte Tropper. »Blood and Honour leitet sich von den Worten Blut und Ehre ab. Diese Worte standen zum Beispiel auf den Fahrtenmessern der Hitlerjugend.«

»Dann war die ’ne Nazibraut.« Die Studentin, die das beloved Hitler in den Raum geworfen hatte, schaute mit Abscheu auf die Tote.

»Das wissen wir nicht, aber es gibt uns zumindest einen Hinweis auf ihre mögliche politische Einstellung.«

»Wer lässt sich denn sonst so was tätowieren?«

»Sie könnte eine Aussteigerin gewesen sein«, gab Brander zu bedenken.

»Und die Nazis haben sie jetzt umgebracht?«

»Das herauszufinden ist nicht unsere Aufgabe. Und bevor die Dame hier vor uns vollends der Verwesung anheimfällt, machen wir mal weiter. Denn unsere Aufgabe ist es, zunächst erst einmal herauszufinden, woran sie überhaupt gestorben ist«, meldete sich Sailers Kollege wieder zu Wort und bat um Skalpell und Säge.

»Maggie, jetzt lass uns mal rekapitulieren. Wo stehen wir? Woran ist das Mädchen gestorben?«, fragte Brander, nachdem die Obduktion beendet war. Er war mit der Rechtsmedizinerin und Tropper zur Mittagspause in die Stadt gegangen. Da das Wetter noch immer sonnig warm war, hatten sie sich einen der freien Plätze vor der Kelter gesucht. Während Margarete Sailer und Manfred Tropper sich ein Hauptgericht von der Tageskarte bestellten, begnügte Brander sich mit einem Cappuccino. Er konnte die Gerüche und Bilder aus dem Obduktionssaal nicht so leicht abschütteln und war dankbar für die frische Luft, die er tief in seine Lungen sog.

»Ganz ehrlich? Du siehst mich ein wenig ratlos.« Die Rechtsmedizinerin verzog bedauernd das Gesicht. »Also, definitiv ausschließen können wir Ertrinken, Erstechen, Erschießen. Auch die Verletzungen, die sie hat, wären niemals tödlich gewesen, zumal die meisten davon schon älter waren. Könnten von einer Prügelei stammen.«

»Was ist mit dem Hämatom am Hinterkopf?«

»Nach Sachlage sieht es ja so aus, als ob sie im Bad gestürzt wäre. Daher wurde das Hämatom höchstwahrscheinlich bei ihrem Sturz verursacht, aber es hätte nicht zum Tode geführt. Maximal eine kurze Bewusstlosigkeit, wenn überhaupt.« Maggie Sailer strich sich gedankenverloren durch ihre kurzen Haare. »Das Wahrscheinlichste ist, dass sie erstickt ist. Aber ich bin nicht sicher, wie. Strangulation können wir ausschließen. Dafür gibt es keine Anzeichen.«

»Sicher? Die Leiche war schließlich …«

»Es gibt keinerlei Würgemale am Hals«, unterbrach die Medizinerin ihn. Sie ließ die Arme wieder sinken. »Zungenbein und Kehlkopf sind nicht gebrochen. Es gibt keine petechialen Blutungen … Willst du mehr hören?«

»Aber wie ist sie dann erstickt? Freddy, zeig noch mal die Bilder aus der Wohnung.« Vielleicht hatten sie etwas übersehen.

Manfred Tropper nahm seinen Tablet-PC und reichte ihn Brander. Maggie Sailer beugte sich zu ihm. »Ersticken durch Aufhebung der Atemexkursion wäre möglich.«

»Heißt im Klartext?« Brander schnupperte einen Hauch ihres Parfums. Ein angenehm blumiger Duft, der ein wenig die Gerüche von der Obduktion überdeckte, die sich in Branders Nase festgesetzt hatten.

»Druck auf den Thorax. Sie hat ein paar blaue Flecken im Brustbereich.«

»Aber eher seitlich, und du hast selbst gesagt, dass die Blessuren schon älter sind«, warf Tropper ein. »Rippenfrakturen hat sie auch keine.«

»Burking«, schlug die Rechtsmedizinerin vor.

»Burking?« Brander hob fragend den Blick. Er hatte den Begriff schon einmal gehört, konnte ihn aber so schnell nicht zuordnen.

»Ja, die Erstickung kommt dadurch zustande, dass sich der Täter zum Beispiel auf die Brust des Opfers setzt oder kniet und dadurch massiven Druck ausübt. Eventuell hält er noch Nase oder Mund des Opfers zu, dann geht’s ein bisschen schneller. Durch den Druck kann das Opfer nicht mehr ausreichend atmen. Das Opfer gerät in Panik, dadurch wird Adrenalin ausgeschüttet, was wiederum zu höherem Sauerstoffbedarf führt, der aber nicht eingeatmet werden kann. Ergo Sauerstoffmangel, Ohnmacht, Koma, Tod.«

»Wie lange dauert so was?«

»Na ja, in zwei Minuten ist das nicht unbedingt abgehandelt.«

»Wieso nennt man das Burking?«

»Benannt nach William Burke, einem Serienmörder aus Edinburgh um achtzehnhundert-irgendwann. Eine Mordmethode, die kaum Spuren hinterlässt.« Sailer lächelte ein wenig schuldbewusst. »Daran war Burke gelegen, weil er die Leichen für anatomische Forschungszwecke verkauft hat.«

»Heute wird diese Methode mitunter in der militärischen Nahkampfausbildung vermittelt, und es wird auch als Foltermethode angewandt«, wusste Tropper.

»Aber sie lag auf der Seite. Wie soll der Täter da auf ihrem Brustkorb gekniet haben?«, gab Brander zu bedenken.

»Der Täter kann die Lage unmittelbar nach ihrem Tod verändert haben. Vielleicht war sie auch noch nicht tot, als er von ihr abgelassen hat.«

Brander atmete tief durch. Er hatte selbst das Gefühl, dass ihm jemand die Luft abschnürte. Blood and Honour, rechte Szene. Wo war dieses Mädchen reingeraten?

Maggie Sailer tätschelte mütterlich Branders Arm. »Sind das die Nachwehen der Obduktion oder wirst du im Alter weich?«

»Was heißt hier Alter? Ich bin siebenundvierzig.«

»Für meine Kids bist du schon fast ein Opa.«

»Also Tod durch Ersticken«, lenkte Brander das Thema wieder in eine Richtung, die nicht sein Alter oder sein Feingefühl betraf. Konnte ja nicht jeder so eine Rossnatur wie die Sailer haben.

»Nicht so schnell, Herr Kommissar. Jetzt warten wir erst einmal die histologischen und toxikologischen Untersuchungen ab. Vielleicht stand sie unter Drogen, und das hat zum Atemstillstand geführt. K.-o.-Tropfen wären auch noch eine Option. Die können wir aber nur schwer nachweisen, wenn überhaupt.«

»Oder doch ein Herzinfarkt«, mutmaßte Tropper.

»Nein, ein Herzinfarkt war es definitiv nicht. Da hätten wir entsprechende Anzeichen gefunden. Ihr Herz war jung, kräftig und gesund. Ich hätte jetzt gern noch einen Espresso.« Sie gab der Bedienung ein Zeichen.

»Du hast dich noch nicht über den Todeszeitpunkt geäußert«, fiel Brander ein.

»Andi, du bist und bleibst derselbe. Hat man dir eine Frage beantwortet, kommt gleich die nächste. Lass mich mal in meine Glaskugel schauen …« Maggie Sailer strich mit den Händen über eine imaginäre Kugel. »Schätzungsweise vor fünf oder sechs Tagen. Genauer kann ich es dir im Moment nicht sagen. Wir müssen noch weitere Analysen machen. Vielleicht weiß ich dann mehr.«

Fünf oder sechs Tage. Brander rechnete zurück. Das wäre das vergangene Wochenende. Also wären auch Freitag- oder Samstagnacht denkbar, als sich die Nachbarin über den Lärm beschwert hatte. Er würde mit dieser Frau Habring unbedingt ein Gespräch führen müssen.

Kriminaloberrat Hans Ulrich Clewer hatte das Team in einem Konferenzraum zusammenkommen lassen. Brander fasste das Ergebnis der Obduktion für die Kollegen zusammen.