Mordsreise - Ingrid Schmitz - E-Book
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Ingrid Schmitz

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Beschreibung

Mia Magaloff und Freundin Gitti haben eine Reise mit einem Überraschungsziel gewonnen. Sie werden mit dem Bus ins Industriegebiet von Leer (Ostfriesland) gebracht. Dort findet eine Verkaufsveranstaltung statt. Sie hatten etwas ganz anderes erwartet. Als sie dann vom Tod eines Mannes erfahren, wird es zudem noch gruselig. Beim Entfliehen aus dem Ganzen mittels Fähre nach Spiekeroog, ahnt keiner von beiden, wer ihnen folgt und was auf sie wartet …

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Mordsreise

Ingrid Schmitz

Ein Insel-Krimi

edition oberkassel

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

Was wurde eigentlich aus …

Danksagung

Dank an die LeserInnen

Ingrid Schmitz

Impressum

Landmarks

Cover

Inhaltsverzeichnis

Für dich!

1.

Walther hob den Hörer hoch und wurde überfallen.

»Ich brauche dich! Sofort!«

»Messie-Moritz?«, fragte Walther und bekam ein Fluchen zurück.

»Hör auf damit! Mir ist nicht danach! Komm nach Leer!«

»Mitten in der Nacht? Außerdem, warum sollte ich dir helfen? Du hast dein Versprechen nicht eingehalten!«

»Du bekommst alles zurück … wenn ich nicht mehr bin. Das habe ich schriftlich festgelegt!«

Walther lachte laut auf. »Wenn du nicht mehr bist? Das dauert mir zu lange! Ich soll in deinem Vermächtnis stehen? Das will ich sehen … Schwarz auf Weiß!«

»Zeig ich dir! Komm jetzt! Sofort!«

»Also gut, aber sag erst, worum es geht.« So schnell wollte Walther sich nicht einschüchtern lassen.

Moritz wurde hysterisch: »Es geht um Leben und Tod! Du bist der Nächste, wenn du nicht kommst! Das muss als Warum reichen.«

Freizeichen.

Walther fasste sich ans Herz, spürte die unregelmäßigen Schläge. Er ging wieder zurück ins Schlafzimmer, wo seine Frau Nette leise schnarchte. Wenn er sie jetzt weckte, müsste er ihr alles haarklein erklären. Wie wohl? Er zog die Jacke vom Stuhl, der krachte aufs Parkett.

Nette schnellte hoch: »Wo fährst du hin? Walther! Komm sofort zurück!«

Er bekam nicht mehr mit, wie Nette nach seinem Handy griff, das er in der Eile auf dem Tischchen hatte liegenlassen. Nachdem auch das keine Klarheit brachte, nahm sie ihr eigenes zur Hand und löschte den letzten Chatverlauf.

Walther hatte sich verspätet. Er hoffte, dass Moritz mal wieder übertrieben hatte. Übertreibung war sein Markenzeichen, in allem. Mehr ist mehr hieß seine Devise. Selbst mit dreiundvierzig Jahren hatte sein Freund diese ruinöse Einstellung nicht aus seinem Gehirn gelöscht bekommen, das gleichlautende Tattoo nicht weglasern lassen.

Er wollte Karriere machen, vom Schnäppchenjäger zum Ramschgott. Dementsprechend sah es in seiner Halle aus. Reizüberflutung in Perfektion, falls sich seit letzter Woche nicht etwas Grundlegendes verändert hatte - zum Positiven. Doch eher bekamen Fuchs und Hase Häschen. So eine Schande! Würde die Halle ihm gehören, er hätte etwas Großartiges damit auf die Beine gestellt und sich am angrenzenden Bürogebäude dumm und dämlich verdient …

Walther stand vor dem grauen Flachbau. Kurz überlegte er, wo Moritz wohl sein mochte, im Büro oder in der Halle? Keine Frage!

Er hämmerte kräftig gegen das verbeulte, aber gut gesicherte Stahltor. Als sich nichts tat, ging er drei Schritte rückwärts, um die Lage zu peilen. Zwischen Tor und Boden schimmerte Licht durch einen schmalen Spalt.

Walther griff vergeblich zum Handy.

Plötzlich fiel ihn jemand von hinten an.

»Keine Poli …!«

Walther drehte sich aus der unfreiwilligen Umarmung und drückte dem Gegner dabei den Ellbogen ins Gesicht.

»Spinnst du?«, näselte Moritz. Blut lief aus den Nasenlöchern.

Walther wollte fühlen, ob die Nase gebrochen war.

Moritz zuckte zurück.

»Nichts passiert«, sagte Walther. »Schief wie immer«, besänftigte er ihn, verschwieg aber, dass der früh Ergraute wie ein Scheintoter aussah.

Moritz tupfte die Boxernase trocken und warf das Papiertuch achtlos weg. »Komm mit!«

Es dauerte sehr lange, bis der Angeschlagene das Tor mit all den Schlössern und Riegeln wieder hinter ihnen gesichert hatte.

Langweilig wurde es Walther in der Zwischenzeit nicht. Er sah zur maroden Dachkonstruktion. Noch immer hatte Moritz sie nicht reparieren lassen, riskierte, dass es irgendwann und irgendwo reinregnete und die Berge von Kartons durchnässten, die aussahen, als seien sie mit riesigen Lastern einfach abgekippt worden.

Moritz stupste ihn an: »Beeil dich!« Schmale Wege schlängelten sich von einem Ramschberg zum Nächsten.

Walther folgte dem Krempelkönig und betete, dass der von ihnen verursachte Luftzug nirgendwo eine Lawine auslöste. Sie erreichten den Durchgang zum nächsten Hallenraum. Dicke Kunststoffmatten trennten ihn ab. Was sich dahinter verbarg, wusste er, weil er Moritz damals dabei geholfen hatte, die Regale aufzubauen und die Kleiderständer hinzustellen.

Sein Freund und er hatten sich dabei gut ergänzt. Moritz war mit seiner Körpergröße ein guter Festhalter und Walther brachte die nötige Kraft für das Montieren mit. Für das Sortieren der Bekleidung war seine Frau Nette zuständig gewesen. In dem Zusammenhang winkte ihm sein schlechtes Gewissen zu.

»Schon wieder neue Ware?«, fragte Walther und zwängte sich zu den Paletten mit den aufgerissenen Kartons.

Moritz nickte. Seine Augen glänzten. Aber es war ein eher fiebriger Glanz. »Ja, und morgen kommt der Bus mit den nächsten Kunden!«

Das schockte Walther jetzt nicht.

Jede Woche kam ein Bus mit angeblichen Reisegewinnern hierher, die mit minderwertiger Ware abgezockt werden sollten.

»Deswegen hast du mich mitten in der Nacht hierher gelockt? Damit ich die Klamotten aufhänge? Ich fasse es nicht!« Er öffnete stöhnend die Outdoorjacke, unter der er noch das Oberteil des Schlafanzugs trug, weil es schnell gehen musste.

»Nein … das heißt … ja«, antwortete Moritz.

»Was denn jetzt? Worum geht’s?«

»Lass uns in den Kassenraum gehen.« Er gab einem der Kleiderständer einen Schubs. Die dünnen Polyesterblusen flogen wie auf einem Kettenkarussell.

Moritz machte die Tür hinter Walther zu, warf sich auf den Bürostuhl und hüllte sich zunächst einmal in unerträgliches Schweigen. Dabei wischte er sich mehrmals über die feuchten Augenlider.

»Raus damit!«, sagte Walther. »Wieso hast du nicht mehr lange zu leben? Warst du beim Arzt? Hat er dir das gesagt? Und wieso bin ich der Nächste?«

Moritz schüttelte den Kopf. »Ich bin da in eine Sache hineingeraten … habe auf den Deal meines Lebens gehofft, jetzt soll er mich mein Leben kosten.«

»Wegen der Klamotten? Deswegen wird man nicht umgebracht. Also, normalerweise …«

»Du hast ja keine Ahnung!«, sagte Moritz.

»Worüber reden wir?« Walther fuhr sich durch die neue hochrasierte Frisur mit gegelter Tolle. Angewidert wischte er sich die fettigen Finger an seiner Jeans ab. Daran musste er sich erst noch gewöhnen. Für seine Begriffe dauerte die Antwort seines Freundes viel zu lange. Es schien wirklich ernst zu sein.

»Ich meine die Kollektion«, sagte er. »Die habe ich zum Spottpreis bekommen. Allein bei der Bezeichnung hätten alle Warnlampen blinken müssen. Das sollen alles Markenartikel berühmter Designer sein - Prada, Gucci und so weiter. Aber, für echte Marken sind sie zu billig und für gefälschte zu teuer. Das war mir erst nach einem nochmaligen Rabatt aufgefallen, den ich bekam, weil ich vom Kauf zurücktreten wollte.«

»Hast du Mängel oder Fehler an der Kleidung finden können?«

»Das ist es ja gerade. Nein. Sie sehen täuschend echt aus. Soweit ich es beurteilen kann.«

»Freu dich doch! Dann sind sie es auch! Wo ist das Problem?« Walther sah es völlig pragmatisch.

»Das Problem?« Moritz fasste sich an den Kopf. »Der Lieferant setzt mich unter Druck. Er will morgen jemanden schicken, um die vier Paletten Ware zu kontrollieren.«

»Zeig sie ihm.«

»Geht nicht. Ich habe nur zwei bestellt und auch erhalten - keine vier! Doch das glauben sie mir nicht.«

Walther runzelte die Stirn. »Die sind nicht die Hellsten, oder? Sie müssen nur auf den Lieferschein gucken, den du quittiert hast. Der Fahrer kann es sicher auch bestätigen, was er geliefert hat.«

»Der behauptet, er habe vier ausgeliefert. Habe mir vom Lieferschein eine Kopie mailen lassen. Da stehen vier Paletten und meine Unterschrift.«

»Was steht auf deiner Originalausfertigung?«, fragte Walther und hoffte, er würde ihm gleich für diese geniale Idee einen Kaffee ausgeben.

»Ich habe keinen Lieferschein bekommen und in meiner Hektik auch keinen verlangt. Könnte mir selbst eine runterhauen. Jetzt sitze ich in der Klemme und kann es nicht beweisen.«

»Dumm gelaufen. Fürchte, den Fehler musst du blechen.«

»Wovon denn? Nach der Bezahlung der zwei Paletten bin ich sowas von klamm.« Moritz rollte erst mit den Augen und dann mit dem Bürostuhl hin und her. Er sah seinen Freund flehend an.

Walther versuchte, Moritz’ Ausführungen in seinen Worten zusammenzufassen. So richtig gelang es ihm nicht. Er beschränkte sich darauf, eine Begründung für die Misere abzugeben. »Das kommt davon, wenn du den Hals nicht vollbekommst und deine Augen blind vor Eurozeichen sind. Immer nur billig, billig! Gib den Ramsch zurück und fertig!«

»So einfach ist das nicht.« Moritz rieb sich durchs puterrote Gesicht, schrie auf, als er an die Nase kam. »Walther, du musst mich morgen bei der Reisegruppe vertreten. Der Betrieb muss weiterlaufen. Ich brauche jeden Cent vom Verkauf und wenn hier ordentlich was los ist … wird der Geldeintreiber nichts riskieren … hoffe ich mal.«

»Okay, ich helfe dir«, sagte Walther, hatte aber das dumpfe Gefühl, dass sein Partner wieder einmal nicht die volle Wahrheit gesagt hatte und viel mehr dahinter steckte.

Moritz verzog die Mundwinkel nach oben, bevor wieder ein Strich aus seinen Lippen wurde. »Nette soll auch kommen und Fotos von der Busgesellschaft machen … und vom Geldeintreiber - unauffällig.«

»Gut, wir stehen morgen früh auf der Matte.«

»Nein, das ist zu spät!« Moritz bekam Panik in den Augen. »Ihr müsst jetzt kommen! Ihr könnt im Bürogebäude schlafen.«

Walther traute seinen Ohren und, als er auf die Uhr schaute, seinen Augen nicht. Es war zwei vor zwölf. Er tippte aufs Ziffernblatt.

Moritz ignorierte es, stand auf, steckte den Kopf durch den Türspalt und sah sich nach links und rechts um, anstatt gleich durch die große Scheibe des Kassenraumes zu blicken. Er kam zurück und flüsterte Walther ins Ohr: »Bei der Ware handelt es sich um eine teure Probelieferung. Wenn sie das Geld nicht bekommen …« Er ratschte mit zwei Fingern über seine Kehle.

»Ist ja gut! Reg dich nicht auf!« Walther wischte über seine Stirn. »Sie werden bestimmt nicht mitten in der Nacht auftauchen.«

»Weiß man’s?« Moritz pustete ihm den Atem in sein Hochrasiertes, als er weitersprach: »Ich darf jetzt nicht lange alleine sein, hörst du?«

»Ähm, klar. Nur mal so eine Verständnisfrage: Sagtest du nicht, ich bin der Nächste, dem sie nach dem Leben trachten, oder gehörte das zu deiner Dramaturgie? Was habe ich damit zu tun?«

Moritz senkte den Kopf. »Sie könnten denken, dass du mit drin steckst. Also beeile dich! Wir sind doch Partner und haben bisher alles gemeinsam durchgestanden.«

Walther zögerte. »Nicht alles! Du bist mir noch etwas schuldig. Eine ganze Menge schuldig!«

»Fang nicht wieder davon an! Das ist Vergangenheit. Die hatten wir doch begraben.«

»Du hast sie begraben.«

Moritz wütete: »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt! Wenn das ausgestanden ist, bekommst du alles, was du willst.« Er öffnete die Schublade, wühlte sich nach hinten durch und holte einen weißen Umschlag hervor.

»Hier habe ich was vorbereitet. Falls mir was passiert.«

Walther griff danach.

Moritz zog den Umschlag zurück und vergrub ihn wieder in der Schublade. »Jetzt nicht!«

Obwohl Walther den Glauben an Moritz’ Ehrlichkeit verloren hatte, stimmte er zu: »Okay! Ich fahre nach Hause, packe Nette und ein paar Sachen ein und komme sofort wieder.«

Moritz legte eine Hand auf seine Schulter. »Sag ihr nicht, was ich dir erzählt habe. Sag ihr, mir geht es nicht gut und ich brauche eure Hilfe für die morgige Reisegesellschaft. Verstanden?«

»Sie wird mich killen, wenn ich ihr verschweige, in welche Gefahr wir uns begeben - vorausgesetzt, es stimmt wirklich. Kann es sein, dass du in letzter Zeit ein wenig überarbeitet bist und die Bedrohung gar nicht so groß ist?« Walther hoffte es sehr.

Der Blick seines Freundes zeigte ihm, wie daneben er mit diesem Gedanken lag.

Walther stand auf und kam mit einer angebrochenen Flasche Cognac aus dem Getränkeversteck wieder, knallte sie vor Moritz auf den Tisch.

»Hier! Trink einen Schluck oder zwei oder drei, damit du ruhiger wirst. Nette und ich sind gleich zurück.«

Einen Hoffnungsschimmer hatte er noch. »Oder bist du ein wenig durcheinander von dem vielen Durcheinander hier? Mir wäre das auch zu viel. Da sieht und hört … oder meint man plötzlich etwas, was gar nicht der Fall ist.«

»Du meinst … du meinst ernsthaft … ich bin verrückt?«, fragte Moritz.

»Nein!« wehrte Walther ab. »Nicht unbedingt, aber es könnte ja mal sein.«

Moritz zog die leere, aber gebrauchte Kaffeetasse zu sich heran und schüttete sich einen doppelten Cognac ein, trank ihn auf ex.

»Bis gleich«, sagte Walther.

»Halt! Warte!« Moritz griff in seine Anzugtasche und streckte ihm einen dicken Schlüsselbund entgegen. »Hier! Nimm den mit. Damit du nicht klopfen musst.«

»Okay.« Walther öffnete die Tür.

»Schließ mich ein!«, rief er hinterher.

»Was?«

»Schließ mich ein! Wenn ich jemanden kommen höre, weiß ich, dass nur ihr reinkommen könnt und niemand anderes.«

Walther ließ ihm einen Gesundheitstipp da: »Du solltest mal Urlaub machen. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich!«

»Ich mir auch! Geh jetzt!«

»Hast du mal daran gedacht, die Polizei einzuschalten?«, fragte Walther.

»Was soll ich denen sagen?«

»Was du mir gesagt hast. Nenne den Lieferanten, die Kontaktdaten und wer dich bedroht hat.«

»Ach«, er winkte ab. »Bedrohung allein reicht da nicht aus. Da muss erst etwas passieren. Außerdem … es ist ein Internetgeschäft, die Mailadresse eine Hotmail. Kann niemand nachvollziehen. Habe selbst mal eine solche gebraucht. Seine Rufnummer ist unterdrückt.«

»Lass mich raten«, sagte Walther, »das Geld hast du denen bar angewiesen, anonym, richtig?«

»Natürlich.« Moritz trank einen Schluck Cognac aus der Flasche und schüttete Walther einen ein. Der schob die Tasse angewidert von sich.

Walther sperrte den Kassenraum nicht ab, so wie Moritz es verlangt hatte, denn er sollte die Gelegenheit behalten, sich bei Panik einigermaßen frei bewegen oder in der Halle verstecken zu können. Er sah sich ein letztes Mal nach Moritz um und machte sich daran, sämtliche Sicherheitsschlösser des Hallentors hinter sich abzuschließen. Wohl war ihm nicht dabei.

2.

Kaum hatte Walther die Schlafzimmertür geöffnet, schnellte Nette wie ein Springteufel hoch: »Ich lasse mich scheiden!«

Walther zuckte zusammen. »Hast du etwa einen anderen?« Damit hätte er rechnen müssen. Schöne Frauen hatte man nie für sich alleine, auch die kreativen waren begehrt, die sich am Rande des Durchgeknallten bewegten. Nein, er wollte sie keinesfalls verlieren. Er brauchte sie - für seinen Plan.

Walther zog sich aus, zerrte frische Sachen aus dem Kleiderschrank und packte seine Sporttasche mit dem Nötigsten für eine Übernachtung.

Nette verfolgte jede seiner Bewegungen. »Iiich? Einen anderen? Natürlich nicht! Wie kommst du darauf? Aber du …!«

Walther warf nun ihre Tasche auf das Fußende der Bettdecke. »Pack deine Sachen!«

»Nein, Walther! So war das nicht gemeint. Ich meine, nicht so schnell. Ich geh hier nicht weg! Ich meine … ich kann doch nicht meine ganze orientalische Deko aufgeben … meinen Buddha … also gut, ich gebe dir noch eine Chance … wenn du mir sagst, wo du warst, dann können wir über alles reden.«

»Ich war bei Moritz!« rief er auf dem Weg zum Bad.

»Moritz?« Sie sah ihm hinterher. »Was hat er gesagt? Glaube ihm kein Wort! Er ist ein Betrüger! Hast du immer noch nicht die Nase voll von seinen obskuren Geschäften? Oder macht ihr jetzt etwa gemeinsame Sache? Seid ihr etwa …«

Die Dusche rauschte. Er hatte Nettes Nöte nicht gehört.

»Was ist jetzt?«, schimpfte Walther, als er aus dem Bad kam.

Nette sprang aus dem Bett und warf die Tasche gegen die Wand, holte stattdessen ihren Koffer. Doch sie brachte es nicht fertig, ihn zu packen, warf sich der Länge nach darüber.

Walther schüttelte den Kopf. »Mach nicht so ein Theater! Moritz wartet auf uns. Du sollst mitkommen. Wir übernachten dort, denn morgen früh kommt ein Reisebus mit Kunden, die wir betreuen müssen. Denen kannst du das Fotoshooting anbieten. Ich kümmere mich um den Verkauf der Klamotten. Moritz kann nicht, er bekommt zeitgleich Besuch vom Lieferanten.«

Nette lachte hysterisch. Walther tippte auf die Stirn. »Beeil dich lieber! Vergiss die Kamera nicht! Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir ihm helfen müssen.«

Im Auto hatte Nette letzte Zweifel ausgeräumt und war Walther gehörig auf den Nerven herumgetrampelt. Aber da musste er jetzt durch. Der Zweck heiligte die Mittel.

Mit Sack und Pack standen sie vor der Halle. Walther begann mühsam mit der Entriegelung des Tores. »Da muss es doch was Einfacheres geben!«, schimpfte er.

»Überwachungskameras«, schlug Nette vor. »Wieso wartet Moritz in der Halle auf uns und nicht im Büro?«

»In der Halle ist es ihm sich … sicher will er schon etwas vorbereiten, umsortieren … kennst ihn ja. Warum zitterst du so?«, fragte Walther, »ist dir kalt?«

»Um ein Uhr morgens umsortieren?« Sie zog ihre Jacke enger und die Schultern hoch.

Geschafft. Walther schob das Tor zur Seite.

»Wo sind die Schutzhelme?«, fragte Nette, die die Halle zwar kannte, aber das wahllos gestapelte Gerümpel kam ihr von Mal zu Mal bedrohlicher vor.

Walther nahm sie an die Hand und zog sie hinter sich her.

An einer Biegung mussten sie halten, weil der ohnehin schon schmale Weg durch Kartons verschüttet war.

Sie bahnten sich ihren Weg. Nachdem sie in den abgetrennten Bereich mit den Klamotten gekommen waren, rief Walther nach seinem Freund, damit der sich nicht tödlich erschreckte.

»Moooritz! Wir sind da! Nicht erschrecken! Wir sind’s nur!«

Nette sah sich um, als verfolgte man sie und als lauerte hinter jedem Kleiderständer die Gefahr. Nicht auszudenken, wie ihr Verhalten gewesen wäre, wenn er ihr den wahren Grund erzählt hätte, warum sie zu dieser sehr frühen Morgenstunde hierher kamen.

Noch einmal rief er nach Moritz. Keine Antwort. Keine Regung. Nichts. Sie hatten den Kassenraum fast erreicht, da sah Walther die beschlagenen Scheiben. Mitten im Gehen stoppte er.

»Warte hier!«, befahl er kurz und ließ die Tasche fallen, ging mit übereifrigen Schritten alleine weiter.

»Walther!«, rief Nette ihm hinterher, doch da hatte er die Tür vom Kassenraum schon geöffnet.

Walther blieb stehen und hielt sich am Türrahmen fest. Er jammerte, leise unverständliche Worte.

Nette lief zu ihm. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und sah über seine Schulter hinweg. Ihr spitzer Schrei gellte durch die Halle.

Moritz Oberkörper lag auf der Tischplatte, die Arme links und rechts daneben gestreckt. So als habe ihn während der Büroarbeit die Müdigkeit übermannt. Einzig und allein die glänzende Blutlache passte nicht so recht ins Bild.

»Ich … hätte … bei ihm … bleiben sollen!«, stammelte Walther und dann im Stakkato: »Ich hätte ihm glauben sollen! Ich hätte die Polizei …!« Schweiß tropfte von seinen Schläfen.

Nette ging einen Schritt vor, wollte womöglich Erste Hilfe leisten.

Walther bekam gerade noch ihren Arm zu packen. »Nichts anfassen! Ruf lieber die Polizei!«

Sie tippte auf dem Tastenfeld herum, vertippte sich …

Er sackte in die Hocke. »Nein! Halt! Warte! Ich muss dir vorher etwas sagen …«

Nette half ihm, wieder aufzustehen. Sie kletterten auf einen Kartonstapel und umarmten sich, wie zwei verlorene Seelen, die sich wiedergefunden hatten.

Nicht nur der ständige Luftzug ließ Walther frösteln, sondern auch das, was er sagte.

In der Halle rumorte es. Jemand schob die Kunststoffmatten am Durchgang beiseite und rief in den Raum: »Hallo! Ist da jemand?«

Walther legte einen Finger auf seine Lippen. Nette hielt sich den Mund zu, unterdrückte den Schrei.

»Hallo!« Nun rief eine dunklere Stimme, die immer näher kam.

Walther trat die Flucht nach Vorn an.

Nette erwischte seinen Jackenzipfel, der ihr durch die Finger glitt.

»Warte hier!«, befahl er.

Zwei fluchende Männer, in weißen Papier-Overalls mit strammgezogener Kapuze auf dem Kopf und angelegtem Mundschutz, kamen Walther entgegen. Auch sonst waren sie sicherungstechnisch für einen Tatort bestens gekleidet. Der Größere trug einen Koffer in der Handschuhhand. Sie gingen auf blauen Überziehern, um keine Sohlenabdrücke zu hinterlassen.

»Wo müssen wir hin?«, fragte der Füllige, der sich das Schienbein rieb.

Walther atmete erleichtert aus, doch dann fragte er zurück: »Wer hat Sie gerufen?«. Die Frage war nicht unberechtigt, hatte Nette doch den Anruf zur Polizei unterbrochen, weil er ihr etwas sagen musste.

»Der Kommissar«, meinte der Fülligere von den Beiden. »Er kommt gleich nach. Wo ist das Opfer?«

Walther ging vor. Er rätselte noch. Vielleicht hatte jemand anderes die Polizei angerufen, weil er Schreie gehört oder etwas Verdächtiges gesehen hatte. Das musste aber kurz vorher geschehen sein, bevor Nette und er angekommen waren. Wie auch immer. Hoffentlich erschien bald der Leichenwagen. Zu wissen, dass Moritz tot im Kassenraum in seiner Blutlache lag, war für ihn schier unerträglich. Am liebsten würde er sofort mit seiner Frau nach Hause fahren. Jedoch mussten sie auf den Kommissar warten und ihre Angaben machen. Das war er nicht nur Moritz schuldig.

Er ging mit den beiden Männern.

Sie blieben ruckartig stehen. »Okay. Da hinten. Keinen Schritt weiter!«

Walther hielt sich nur kurz daran, bog nach links zum Kartonberg ab und setzte sich wieder zu Nette.

»Der Kommissar kommt gleich«, klärte er sie auf.

»Gut!«, Nette senkte den Kopf wieder auf ihre Knie -

bis der Schuss fiel - bis Walther sie am Arm zog.

»Raus hier!«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne. Geduckt liefen sie um den Kartonberg herum. Wenn er sich richtig orientierte, müssten sie auch auf diesem Wege zum Tor kommen.

Nette presste die freie Hand auf ihren Mund.

Plötzlich kreuzten die beiden Männer in den Overalls ihren Weg.

Der Größere drohte mit der Waffe. Mal hielt er sie auf Nette, mal auf Walther.

Die beiden wagten es nicht, sich zu rühren.

»Bis bald!«, grunzte der Große und spuckte vor ihnen aus.

»Bist du bescheuert?« Der Füllige rieb umständlich mit seinem blauen Überzug am Fuß darüber. Bei jeder Bewegung verschob sich das Plastikteil. Erst als nur noch eine staubige Spur zu sehen war, gab er sich zufrieden.

»Komm jetzt!«

Die Männer liefen los, kamen kurz darauf zurück und bogen diesmal in die entgegengesetzte Richtung ab.

Als Walther das Hallentor hörte, atmete er tief durch.

»Ruf an! Ruf die Polizei an!«, schrie er aus voller Brust in Richtung Nette. »Verdammt nochmal! Tu doch was!«

Er stolperte zum Kassenraum. Nette folgte Walther, blieb dicht hinter ihm. Sein erster Blick fiel auf Moritz‘ Nacken, in dem ein kreisrundes Loch mit Schmauchspur zu sehen war. Hier musste der Schütze die Waffe aufgesetzt haben - Genickschuss, wie bei einer Hinrichtung. Er wagte es nicht, den Kopf anzuheben. Hätte der Schädel nicht zertrümmert sein müssen? Viel mehr Blut …? Die Blutlache …! Warum wurde auf ihn geschossen? Er war doch bereits tot!

Er trat näher heran.

Die Blutlache unter Moritz hatte sich verändert! Es sah so aus, als habe sein Freund mit den Armen darin gerudert. Wie ein Engel im Schnee! Ein Engel im Blut! Es sah so aus … als habe er vorhin noch ge …!

Er rannte raus, an Nette vorbei und kämpfte mit der hochkommenden Übelkeit.

3.

Mia Magaloff rollte den Hartschalenkoffer wie bei einem Hindernislauf durch die Räume ihres Einfamilienhauses. Für die diversen Trödelmarktfunde fand sie zwar immer wieder einen Platz darin, was aber zur Folge hatte, dass die Zimmer immer enger wurden. Bei Büchern, antiker Deko oder alten Kleinmöbeln bekam sie sich nicht in den Griff - bei Männern schon. Da überlegte sie zehn Mal, ob und wen sie mit nach Hause nehmen sollte. Mit 53 Jahren nach einer langjährigen Ehe und einer kurzfristigen Beziehung wieder Single zu sein, hatte Vor- und Nachteile. Keine Zeit für Reue und schon gar nicht fürs Ausmisten. Sie war spät dran, weil es zu früh war. Sie hatte sich um sechs Uhr morgens mit ihrer Freundin Gitti im Krefelder Hauptbahnhof verabredet.

Auf dem Weg ins Bahnhofsgebäude setzte sie sich ihre Handtasche auf den Kopf und sah kurz zum Himmel. Die Wetter-App würde wohl recht behalten. Für heute sagte sie den ganzen Tag Regen voraus. Ausgerechnet am Tag der großen Gewinnreise mit Gitti, zu der sie von ihr als Begleitperson eingeladen worden war.

Fünf Tage irgendwohin - ab Hamburg.

Wenigstens Gitti war pünktlich. Sie stand vor der Bahnhofsbäckerei. »Mia! Hier! Hier bin ich!« Nun hetzte sie auch noch: »Schnell! Wir verpassen sonst unseren Zug! Mach doch voran!«

Mia fiel ihr um den Hals - vor Erschöpfung. Schließlich war sie nicht mehr die Dünnste. »Hast du die Tickets?«, fragte Mia - nicht ohne Grund.

»Klar!« Gitti reichte sie ihr. »Sehen wie Flugtickets aus, meinst du nicht auch?«

Mia freute sich.

Die sahen tatsächlich vielversprechend aus, auch wenn sie die Reisekosten bis Hamburg selbst tragen mussten und ihr Endziel nicht eingetragen war.

Auf dem Bahnsteig angekommen, japsten sie im Gleichklang nach Luft. Kein Zug zu sehen.

»Verpasst!«, rief Gitti vorwurfsvoll. »Nun werden wir auch unseren Flug verpassen. Nur wegen dir! Bestimmt sind die anderen Gewinner gleich in der Luft, Richtung Dubai, Venedig, Kopenhagen oder so.«

»Aha«, antwortete Mia. »Du bist bestens über die heutigen Flüge ab Hamburg informiert, nur Düsseldorf hast du vergessen.«

Gitti schoss das Entsetzen ins Gesicht. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Keinen!« Mia lachte und sah noch einmal auf den Fahrschein. »Das ist alles Unsinn!«, rief sie gegen den Geräuschpegel auf dem Bahnsteig an und etwas leiser: »Wir haben keine Flugreise gewonnen. Da steht nichts von Flug. Nur von Busterminal am Hamburger Hauptbahnhof. Also geht die Reise mit dem Bus weiter. Toller Marketing-Gag, es wie Flugtickets aussehen zu lassen.«

»Glaub ich nicht!«, sagte Gitti, »Das wird der Shuttle-Bus zum Flughafen sein.«

»Nee. Kein Flug! Viel zu teuer! Überhaupt: Wie viele Personen haben die Reise gewonnen?«

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen? Das stand nicht in der Gewinnbenachrichtigung.«

Mia tat so, als würde sie angestrengt nachdenken. »Lass mich raten: Nur wir?«

Einmal hatten Mia und Gitti umsteigen müssen und nun saßen sie endlich im ICE nach Hamburg. Sie zogen es vor, ihre Koffer ins Gepäckregal zu stellen. Gitti bestand darauf, sich auf den Platz zu setzen, von wo aus sie den besten Blick auf ihr Gepäck hatte.

Zum Glück handelte es sich dabei um eine freie Vierer-Sitzgruppe, so dass Mia genügend Beinfreiheit bekam. Zufrieden ruckelte sie auf dem blau gepolsterten Sitz hin und her wie eine Glucke, die nun bereit war zu brüten. »Wohin auch immer es uns treibt«, begann sie fast lyrisch, »mir ist alles recht. Ich bin jedenfalls so froh und dankbar, dass du mich eingeladen hast. Das nenne ich wahre Freundschaft.«

Gitti winkte ab: »Ich habe dir zu danken. Du weißt doch, mich darf man nicht alleine reisen lassen. Das ist lebensgefährlich - für die anderen.«

Sie plauderten über dies und das, vertrieben sich die Fahrzeit. Gitti war etwas eingefallen. Sie holte einen Pikkolo aus der Tasche.

Mia lehnte ihn mit erhobenen Händen ab. Sie hatte beschlossen, für ihr restliches Leben auf Alkohol zu verzichten. Einfach nur so. Nicht, weil sie es musste, sondern weil sie es konnte.

»Dann eben nicht.« Es klang leicht beleidigt. Wieder kramte sie in ihrer Tasche, zog diesmal eine Plastikdose hervor, die sie mit Schwung und einem Tadaaa! öffnete und Mia unter die Nase hielt. »Möchtest du vielleicht ein Mettbrötchen mit Zwiebeln?«, fragte sie.

Mia drückte flott mit zwei Fingern die Nasenflügel zusammen. Der Gestank! Nicht auszuhalten! Schlimmer als Knoblauch!

»Wer nicht will, der hat schon.« Gitti biss herzhaft hinein, öffnete den Schraubverschluss des Piccolos und prostete ihr zu: »Auf unseren Urlaub!« Sie nahm einen kräftigen Schluck, rülpste verhalten. Doch nach kurzer Zeit steckte sie das Fläschchen und das Brötchen wieder weg, prüfte drei Mal, ob der Verschluss wirklich zugedreht war.

»Alleine macht es keinen Spaß«, meinte Gitti in ihre Richtung. Sie trommelte dabei mit den Fingern auf der Tischablage herum. Die Frauen schwiegen einige Bahnkilometer.

Aber Gitti wäre nicht Gitti, wenn sie das auf Dauer durchhalten würde. Schon gar nicht, wenn sie etwas beschäftigte. Das sah Mia an den steilen Falten auf der Stirn und tatsächlich brach es aus ihr heraus: »Was meint die große Hellseherin Mia Magaloff denn, wohin es geht, wenn es schon keine Flugreise sein soll?« Sie fragte so provokativ, als wüsste sie jetzt schon, dass Mia mit ihrer Vermutung auf alle Fälle daneben liegen würde.

»Alles, was weiter als 300 km ist, kannst du knicken«, grenzte Mia es realistisch ein.

»Wirklich?« Gitti nahm den Pikkolo wieder hervor und spülte den Kummer hinunter. Sie verschluckte sich, musste husten. »Wofür dann der ganze Aufwand? Da hätten wir gleich mit dem Bus fahren können.«

Mia schlug sich vor den Kopf. »Na, klar! Hamburg! Mit dem Bus durch Hamburg, Endziel Fischmarkt, oder so.«

»Phhh! Das wäre ja eine tolle Überraschung!« Gittis gute Laune sank ein paar Stufen tiefer. »Das hätten die sich dann schön ausgedacht. Wir bezahlen die Anreise selbst und die geben uns nur ein Fischbrötchen auf dem Markt aus. Das ist doch die reinste Verarschung!«

Mia grinste. »Was meinst du, wie sich erst ein Gewinner aus Hamburg fühlen würde.«

Gitti gibbelte schadenfroh.

»Pfui, Gitti!« Mia empörte sich künstlich. »Wie gehässig du bist! Wenn das mal nicht bestraft wird.«

4.

Mittlerweile hatte sich Mias und Gittis Waggonabteil gefüllt, obwohl es zwischendurch keine Haltestation gegeben hatte.

Gitti sprach aus, was Mia in dem Moment selbst eingefallen war: »Die kommen sicher alle aus dem Restaurant und suchen wieder ihre Plätze auf. Das sieht man an den glühenden Gesichtern. Satt und … Was ist eigentlich das Gegenteil von durstig?«

»Das weißt du nicht? Das weiß doch jeder!«, antwortete Mia und sah schnell aus dem Fenster.

»Das ist mein Platz!«

Gitti fuhr herum und schrie auf. Da sie gegenüber Mia saß, also mit dem Rücken zur Tür, hatte sie ihn nicht kommen sehen.

Auch Mia war, beim aus dem Fensterschauen und gleichzeitigem Nachdenken, weit weg gewesen. Sie hielt vor Schreck die Luft an, pustete sie langsam wieder aus.

Der Fahrgast zeigte nicht an, welchen Platz er meinte, ließ so viel Raum für Spekulationen.

Gitti rutsche freiwillig rüber, überließ ihm ihren Fensterplatz. Sie lächelte ihn an. Nein, sie schmachtete förmlich nach ihm. Auch das noch!

Mia ärgerte sich, nicht auch ein Mettbrötchen mit Zwiebeln gegessen zu haben, dann hätte er seinen Sitzplatz bestimmt nicht eingefordert.

»Klar, dürfen Sie sich hierhin setzen, wenn Sie ihn reserviert haben.« Gitti klopfte neben sich. »Kommen Sie!«

Er zögerte.

»Keine Angst! Ich tue Ihnen nichts. Ich sehe nur so aus«, versuchte sie ihn zu beruhigen.

Der Mann lächelte noch nicht einmal.

Mia wünschte sich keine humorlosen Männer in ihrer Nähe.

Nun zeigte er auf Mias Platz.

Sie rutschte grummelnd nach links und überlegte, ob sie sich sein Ticket zeigen lassen sollte. Wer war er denn, dass er sich hier so aufführte? Nur, weil er einen Anzug trug? Noch nicht einmal eine Krawatte hatte er um. Feiner Geschäftsmann. Er hätte ja auch erste Klasse buchen können, wenn es nicht mehr Schein als Sein war.

Er setzte sich auf Mias angewärmten Sitz, verzog kurz das Gesicht, spreizte die Beine, um dazwischen seinen Koffer auf den Boden zu stellen. Es war ein Business-Lederkoffer mit Zahlenschloss, etwas breiter und dicker, mehr so ein Flugpilotenkoffer, aber Pilot war er ganz bestimmt nicht - die hatten Benehmen.

Mia war von dieser Sekunde an abgeschrieben. Gitti hatte nur Augen für ihn. Mia hingegen machte sein Anblick eher müde. Das lag wohl an seinen Schlafzimmeraugen. Ob er damit geboren worden war, oder unruhige Nächte ihn zum schläfrig aussehenden Opfer gemacht hatten? Mia musste wachsam bleiben.

»Darf ich mich vorstellen?«, flüsterte Gitti. Was sie immer machte, wenn sie erotisch wirken wollte. Sie war eindeutig in Urlaubs- und Angriffslaune. »Ich heiße Gitti und das ist meine Freundin Mia … und Sie sind?«

»Gitti!«, rief Mia, der es unangenehm war.

»E-mil!«, stellte er sich tatsächlich vor. Es klang weder erfreut noch freundlich, sondern eher wie eine Krankheit. Ob es tatsächlich sein richtiger Vorname war? Bestimmt, sonst hätte er ja nicht antworten müssen. Jetzt reichte er Gitti sogar seine fleischige Hand. Mia erwischte einen Blick in die Handinnenfläche und erkannte Schwielen darin.

Gitti schlug zögerlich ein, drückte dann aber kräftig zu, wie immer. Er drückte zurück. Sie verzog schmerzhaft das Gesicht und steigerte den Händedruck, was Mia deutlich an den weißen Fingerknöcheln, aber hauptsächlich an ihrem dämonischen Blick erkannte. Fehlte nur noch, dass sie gleich Armdrücken machten.

Mia verweigerte diese Art der Begrüßung mit ihm und hob stattdessen kurz die Hand, begleitet von einem dünnen »Hallo«.

---ENDE DER LESEPROBE---