Spiekerooger Utkieker - Ingrid Schmitz - E-Book
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Spiekerooger Utkieker E-Book

Ingrid Schmitz

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Beschreibung

Die Privatermittlerin Mia Magaloff nimmt sich eine Auszeit auf der Insel Spiekeroog. Strand, Meer und Sonne – mehr braucht sie nicht dafür. Doch bereits auf der Fähre zettelt jemand einen Streit mit ihr an. Auf der Insel begegnet sie einem scheinbar Durchgeknallten, der von sich behauptet, der lebendig gewordene Spiekerooger Utkieker zu sein, der über die Insel wacht. Er fleht Mia um Hilfe an, weil ein Unheil über Spiekeroog kommen soll. Mia ignoriert dies, bis anderntags eine Tote gefunden wird. Nun muss sich Mia kümmern, damit es nicht noch mehr Leichen gibt. Dieser Roman ist eine Neuauflage mit zusätzlichen unvorhersehbaren Wendungen.

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SpiekeroogerUtkieker

Ingrid Schmitz

edition oberkassel

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

Kapitel 46.

Was wurde eigentlich aus?

DANKE

Dank an die LeserInnen

Ingrid Schmitz

Impressum

Landmarks

Titelbild

Inhaltsverzeichnis

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Ereignisse in diesem Roman sind reine Fiktion.

Die Insel Spiekeroog gibt es tatsächlich – und sie ist wunderschön.

Für alle Utkieker

1.

Gekonnt drehte er den Revolver in seiner Hand. Er ließ die Trommel seitlich herausklappen und schaute hinein. Mit einem satten Klack drückte er sie wieder zurück. Noch immer saß jeder Handgriff.

Wann hatte er das zuletzt gemacht? Es war schon lange her. Einerseits gut, andererseits schlecht - weil er gerne mit dieser Waffe geschossen hatte. Nur so, zum Spaß.

Er zielte auf die Tür und drückte gerade in dem Moment ab, als sie aufgerissen wurde. Ein ohrenbetäubender Knall.

»Nein!«, schrie Mia zu Tode erschrocken. Die Handtasche in der Linken und die Mappe in der Rechten fielen zu Boden. Sie torkelte in den Raum und hielt sich mit letzter Kraft am Lederschwingstuhl der Essecke fest.

»Nein!«, rief auch Mario. »Das wollte ich nicht!«

Er fing sie auf, bevor sie auf den Boden sackte.

Mia nahm langsam ihre Hände vom Bauch und schaute, ob sie bluteten. Taten sie nicht. In Tränenbächen floss die Erleichterung aus ihren Augen. Sie wich der Wut.

Mario drückte und küsste sie. Der sonst so polternde Scherzbold war auf Flohgröße mit Hut geschrumpft. Er gab ihr die Waffe in die Hand.

Erst jetzt beruhigte Mia sich langsam wieder.

»Und?« Unsicher, ob es der richtige Zeitpunkt für seine Frage war, stellte er sie dennoch: »Wie war er?«

Mia runzelte die Stirn. »Wer? Der Richter? Mein Ex? Der Termin?«

»Du bist mir noch böse.« Mario nahm ihre Hände.

»Nein, bin ich nicht!« Mia zischte es, wie eine Schlange, kurz bevor sie ihr Opfer angreift. »Im Gegenteil. Ich freue mich! Ich freue mich, dass ich noch lebe und dass ich nun geschieden bin! Wir sollten das endlich feiern.«

»Also los!«, sagte Mario. Er strahlte. Die Scheidung brachte ihn wieder einen Schritt weiter.

Während Mia die fallengelassenen Sachen aufhob und kurz darauf ins Badezimmer verschwand, legte Mario seinen Big Size Revolver zurück in den Originalkarton. Karneval war er der Cowboyheld damit gewesen. Er holte den roten Acht-Schuss-Ring aus der Trommel und atmete den Geruch tief ein. Diese Schreckschusspistole hatte er mit elf bekommen und in einer Kiste mit seinen Habseligkeiten gefunden. Ebenso wie er sollte sie bei Mia ein neues Zuhause finden. Darüber wollte er gleich mit ihr reden und dann gab es eine zusätzliche Überraschung für Mia. Eine, über die sie sich ganz bestimmt freuen konnte. Hoffentlich.

Mario hörte die Dusche rauschen. Zeit genug, das Wohnzimmer zu dekorieren. Er nahm den jungen Farn von der Fensterbank, schüttete den Sand aus dem Glastopf auf die Holztischplatte und legte die Muscheln darauf, stellte die rotweiße Leuchtturmlampe aus dem Regal dazu. Fertig. Halt! Nicht ganz. Er eilte in die Küche und kam mit dem gekühlten Sekt und zwei Gläsern zurück.

2.

Mias gute Laune war zurückgekehrt.Die Aufregungen der letzten Stunden hatte sie unter der Dusche abgeseift. Ihre langen dunklen Haare waren nur kurz geföhnt, sie wellten und kräuselten sich sowieso, wie sie wollten. Fertig.

Nur einen Spalt breit öffnete Mia die Wohnzimmertür und lugte um die Ecke.

»Ohhhh! Was ist das?« Verzückt trat sie ein. »Wann hast du das denn alles gemacht?« Die Frage war überflüssig und nur so herausgerutscht.

Stolz warf Mario sich in die breite Männerbrust und streckte ihr das gefüllte Sektglas entgegen.

»Nanu, so feierlich?«, sagte sie und hoffte, dass es nicht das war, was ihr die Phantasie durch den Kopf jagte.

Er strich sich mit der Hand flüchtig über die hohe Stirn. »Ja ... ich ... ich habe eine Überraschung für dich. Eigentlich sind es sogar zwei ...«

»Mit der von vorhin?«

»Ohne.« Abrupt hob Mario das glattrasierte Kinn. Achtung! Nun wurde es hochoffiziell.

»Mia! Ich habe mir Gedanken um dich ... um uns gemacht und bin der Meinung, dass wir ... dass wir doch gut ...«

»... heiraten könnten?«, fiel sie ihm ins Wort. »Vergiss es!« Mia hatte es gar nicht so empört sagen wollen, wie es klang. Aber gegen das Heiraten war sie ab sofort allergisch.

Empört sagte Mario: »Nein, nicht heiraten … Ach, vielleicht ist es wirklich zu früh für meine erste Überraschung. Kommen wir lieber zur nächsten.« Er setzte sich zu ihr und nahm sie in seinen muskulösen Arm. »Du wirst doch bald fünfzig und kannst sicherlich einen Urlaub gebrauchen.«

»Danke, dass du nicht Kur gesagt hast.«

»Bitte … Und du liebst doch das Meer und den Strand.«

Er zeigte auf seine Tischdeko. Mia überlegte kurz, wer den Sand wohl wieder wegmachte. Nun griff Mario hinter das Sofakissen und holte einen Umschlag hervor, den er mit einer schwungvollen Geste überreichte.

Anstatt nachzusehen, was sich darin befand, sah sie ihn lange an.

»Ein gemeinsamer Urlaub?«, fragte sie und der Gedanke daran machte sie traurig. Natürlich mochte sie Mario sehr. Auch im Bett war er ihr nicht unangenehm. Ja, man konnte fast sagen, er entsprach genau dem, was sie sich von einem Mann wünschte, wenn es um das Thema Sex ging. Nicht zu viel, nicht zu wenig, aber nicht mittelmäßig und keinesfalls langweilig.

Mario hob die Augenbrauen. »Warum entsetzt dich ein Urlaub mit mir so?«

»Soll ich ehrlich sein?«

»Immer!«

»Nach unserem letzten Fall waren wir jeden Tag, jede Stunde zusammen. Lieber würde ich ein paar Tage alleine wegfahren. Versteh mich nicht falsch. Ich genieße deine Nähe, aber ich brauche ein wenig Zeit, um über mich, über uns nachzudenken. Da ist so viel auf mich eingestürzt in letzter Zeit.«

Mia griff zum Sektglas. Es war leer. Mario schenkte nach.

Ziemlich laut sagte er: »Wenn du die Beziehung beenden möchtest, dann sage es lieber gleich.«

»Beziehung?«, fragte Mia zurück.

Sie hörte regelrecht, wie er einschnappte, deshalb versuchte sie ihn zu beschwichtigen. »Nein, nein, keinesfalls möchte ich unsere Freundschaft beenden. Ich werde dir sicher in naher Zukunft ein Angebot machen, von dem ich aber jetzt noch nicht weiß, ob ich es wirklich will.«

Marios Miene hellte sich auf. »Zusammenziehen?«

Sie grinste. »Aus rein finanziellen Gründen, versteht sich.«

»Sicher, rein finanziell.« Die Stirn kräuselte sich. »Übrigens wäre der Urlaub, den wir ... ich meine du ... du kannst ihn auch alleine antreten ... kostenlos.«

»Das kann ich nicht annehmen! Wohin würde die Reise gehen?«

»Nach Spiekeroog. Sieben Tage. Hier kommen die Teilnahmebedingungen: Die Unterkunft ist deshalb kostenlos, weil ich, sagen wir mal: einen Gutschein dafür habe. Ich kenne da jemanden, der eine Ferienpension auf Spiekeroog hat. Essen und Getränke an deinem Geburtstag übernehme ich - falls du es nicht übertreibst.« Er hob den Zeigefinger.

»Oha, das hört sich gut an, dann müsste ich nur die Fahrtkosten übernehmen.«

Mario überlegte: »Wenn du darauf bestehst, dann aber nur die Fahrtkosten der Fähre, plus Kurtaxe. Ich bringe dich nach Neuharlingersiel. Damit ich sicher sein kann, dass du mir nicht durchbrennst. Ach ja, und du müsstest alle Kosten außer der Reihe übernehmen. Falls du in einen Kaufrausch verfällst, komme ich natürlich nicht dafür auf. Einverstanden?«

»Wann geht es los?«, fragte Mia.

»Übermorgen – damit du an deinem Geburtstag auf der Insel bist.«

3.

Bereits am Abend vor ihrem Urlaub hatte sich Mia von Mario so richtig verwöhnen lassen, seelisch und körperlich. Nur kurz war die Stimmung gekippt, als er alles über Mias Scheidungstermin wissen wollte.Sie hatte keine Lust gehabt, darüber zu reden.

Mia schob die Bettdecke beiseite und setzte sich auf. »Zwei allerletzte Sätze dazu: Bodo wandert nach Arabien aus und wird dort einen Harem gründen. Ich wünsche ihm jedenfalls viel Glück und dass er die Übersicht behält.«

»Ach komm, das hast du doch erfunden«, sagte Mario.

»Nein, das hat er gesagt.«

»Dann hat er es erfunden.«

»Dem traue ich alles zu, auch wenn ich ihm sonst nichts mehr glaube.«

Bis spät in die Nacht gaben sie sich realistischeren Zukunftsplänen hin, die nur für die nächsten drei Monate galten. Darüber schliefen sie irgendwann ein.

Der Wecker riss Mia aus ihrem Traum. Mario schnarchte ungestört weiter. Sie setzte sich auf, rieb den verspannten Nacken. Nur sein Brustbereich war mit dem Oberbett bedeckt. Die andere Hälfte der Decke hatte sie wohl im Schlaf zu sich gezogen. Für seine einundfünfzig Jahre war sein Körper athletisch. Als Kriminalhauptkommissar musste er sich fit halten. Sie liebte die kräftigen, aber nicht übermäßig vielen Haare auf seinen muskulösen Beinen. Nur dazwischen sah es momentan nicht so kraftvoll aus. Nun lag er da, so bloß und klein, so verletzlich – und doch nicht, wenn sie an die großen Taten dachte, die dieser Sonderling diese Nacht vollbracht hatte.

Nur nicht berühren. Sie durften keine Zeit mehr verlieren und mussten spätestens in einer Stunde auf der Autobahn sein, damit sie die Fähre in Neuharlingersiel nicht verpassten. Mia flüsterte ihm ein zärtliches »Aufstehen« ins Ohr und küsste ihn auf die stoppelige Wange. Er streckte die Arme nach ihr aus. Sie entkam rechtzeitig.

Das schnelle Frühstück verlief harmonisch. Auch im Wagen gab es kein Geschrei und keine Vorhaltungen, so wie es mit Bodo ... Ach, sie hatte ja damit abgeschlossen.

»Warst du schon mal auf Spiekeroog?«, fragte Mia und achtete genau auf seine Reaktion.

»Ja, aber nicht lange. Drei Tage.«

»Aha. Ein Quickie sozusagen«, stellte Mia fest.

Mario hustete. »Ja ... sozusagen.«

»Soll ich etwas von dir ausrichten, wenn ich die Ferienhausbesitzerin begrüße?« Mia hatte ihn fest im Blick. »Du hattest mir gar nicht gesagt, dass es eine Frau ist, die dir … uns … also mir die Wohnung kostenlos zur Verfügung stellt.«

Mario winkte ab. »Frau oder Mann, das ist doch egal.«

»Och ... es wäre mir schon wichtig.«

Er lockerte den Hemdkragen und holte tief Luft. Der Hals war puterrot. »Wie süß! Du bist ja eifersüchtig«, lenkte er ab.

Mia lachte auf. »Ich? Nein, nur achtsam.«

Es wurde mucksmäuschenstill im Wagen. Sie ließ ihre Gedanken schweifen und schwor sich erneut, dass sie sich nie wieder in ihrem Restleben betrügen lassen würde. Dass sie selbst auch nie wieder ... Na ja, das war ein anderes Thema - kein bedeutendes, ein einmaliger Ausrutscher sozusagen und sehr lange her. Sie sah unauffällig zu ihm hinüber.

Er räusperte sich, drehte am Knopf für den Radiosender, stellte ihn wieder aus. Stille. Nicht einmal Irene von der Navigation meldete sich. Was sollte sie auch sagen? Fahren Sie weiter geradeaus auf der A 31 ... Richtung Neuharlingersiel ... fahren Sie weiter geradeaus auf der ... und das alle drei Minuten? Dann lieber Schweigen.

»Mia, versprich mir eins«, sagte Mario in die Stille, »wenn du auf Spiekeroog bist, kümmere dich nicht um die Angelegenheiten anderer. Konzentrier dich auf dich selbst. Fang nicht an, nach irgendwelchen Tätern oder Mördern zu suchen, höchstens nach Muscheln. Nicht jedes verkohlte Strandgut ist eine Leiche, nicht jeder, der schweigsam ist, ein Triebtäter. An deiner Stelle würde ich auch die Pensionswirtin nicht direkt zu deiner Freundin machen. Geh lieber spazieren, oder schwimmen, oder in die Sauna. Du wolltest doch Ruhe haben, um über alles nachdenken zu können.«

»Ich werde mich bemühen«, sagte Mia.

4.

Der Autoverkehr stockte. Zeit für Mia, das Begrüßungsschild am Ortseingang zu lesen: Herzlich willkommen in Neuharlingersiel - Nordseeheilbad - Gemeinde in der Samtgemeinde Esens im Landkreis Wittmund im Nordwesten Niedersachsens.

Jetzt wusste Mia es ganz genau. Sie seufzte laut auf. Hier und jetzt fing ihr Urlaub an.

Mario parkte auf dem großen Platz, direkt am Fährhafen. Nach einem kurzen Recken und Strecken ging er zum Parkkartenautomaten, wo er sich in die Schlange einreihte.

Mia atmete tief die Meeresluft ein. Sie hielt es nicht länger aus. Den Trolley ließ sie im Kofferraum. Erst einmal den Ort besichtigen. Ab zu den Fischkuttern, die in ihren verschiedenen Farben und mit den Schleppnetzen malerisch aussahen. Ihre Kamera hielt sie zum Abschuss bereit.

»Ich geh zum Hafenbecken! Kommst du nach?«, rief Mia im Gehen Mario zu, was er nur mit einem Nicken bestätigte. Sie war aufgeregt wie ein Kind. Gleich beim ersten Kutter blieb sie stehen und drückte den Auslöser im Sekundentakt. Heimlich fotografierte sie auch die Menschen, die am Rand des Weges in Strandkörben saßen oder an ihr vorbeigingen. Ein älteres Pärchen schleckte Eis und warf den Spatzen hin und wieder ein Stück Waffel zu. Mit lautem Tschilpen schlugen die sich wie die Halbstarken.

Mia musste sich bremsen. Wenn sie so weiterknipste, war der Akku bald leer und der Chip voll. Aber das Licht an diesem herrlichen Sonnentag war perfekt und es gab so viel mit der Kamera festzuhalten: die schönen roten Giebelhäuser mit den Geschäften, das Eiscafé und Restaurant, die Fischer auf ihren Kuttern … und ... und … und. Sie ging zum Deichtor, das sperrangelweit offenstand, drehte sich um und sah noch ein Schild. Es benannte das Jahr der Entstehung des Fischereihafens: 1693! Himmel! Unvorstellbar, dass 1693 genau an dieser Stelle auch schon jemand gestanden hatte. Eine Frau in ärmlicher Kleidung, gekrümmt von der Arbeit oder befallen von einer damals noch unheilbaren Krankheit oder Seuche, sah sehnsüchtig hinaus aufs Meer oder nahm sich vor, in selbstmörderischer Absicht ins Wasser zu gehen, weil sie ein Kind der Schande unter ihrem Herzen trug. Im letzten Moment war sie jedoch von einem jungen Fischer gerettet worden. Er päppelte sie mit Lebertran wieder auf, nahm das mit einer Sturzgeburt zur Welt gekommene Kind als das seine an, ehelichte sie und schenkte ihr viele weitere Kinder, bevor sie dann doch mit 27 Jahren an einer Kiefervereiterung starb.

Mias Phantasie galoppierte mit ihr durch. Zurück im Hier und Jetzt ging sie hinüber zu einer niedrigen Steinmauer mit zwei Bronzeskulpturen und las das Schild: Der junge und der alte Fischer. Der Alte lehnte sich auf einen umgedrehten Weidenkorb, der auf dem Mäuerchen stand, und schaute aufs Meer. Er streckte den Ankommenden seinen Hosenboden entgegen. Er glänzte golden in der Sonne und fühlte sich glatt und warm an. Jeder musste ihn betatschen, deshalb war er so blank gerieben. Der junge Fischer saß auf dem Mäuerchen mit Blick auf die ankommenden Besucher. Fehlte nur noch, dass er den hübschen Frauen hinterherpfiff und die Augen leuchteten, wie bei einem Bewegungsmelder.

Mia schwenkte den Blick wieder aufs Wasser. Sie war regelrecht verliebt in die Krabbenkutter, in Schwarz-Rot und Blau-Weiß. Der Rot-Weiße gefiel ihr auch sehr gut. Sein Fischernetz hing mit Tauen und Stangen am beweglichen Mast und sah aus wie eine übergroße Hängematte.

Mia ging neugierig darauf zu, doch da kam auch schon Mario an, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Er legte einen Arm um sie und sah ihr lange in die Augen. Die runzlige Stirn machte ihn zehn Jahre älter.

Sie gingen zurück zum Wagen. Mia bestand darauf, den Koffer selbst zu ziehen. Das Haus mit den Fahrkartenschaltern war nicht weit entfernt.

In der schicken Eingangshalle fühlte sie sich sofort wohl. Wände in Pastellblau mit Weiß gehalten, indirekte Deckenbeleuchtung, schwarzweiße Fliesen und mit hellem Holz vertäfelte Schalter. Darüber zeigten Monitore die Aufnahmen der Webcams vom Hafen, vermutlich um die Wartezeit zu verkürzen und die Vorfreude zu steigern. Die schwarzen Absperrbänder gaben den Weg zu den Schaltern vor. Links daneben befand sich ein Kiosk, an dem Mario stand und irgendetwas kaufte.

Zwei von drei Schaltern waren geöffnet. Mia wählte den linken, wie viele das vor ihr getan hatten. Sie beantwortete die zahlreichen Fragen des Mannes hinterm Schalter, bezahlte und bekam zur Belohnung ein Ticket. Für den Koffer gab es einen schicken Anhänger und den Hinweis auf einen bereitstehenden stählernen und nummerierten Gepäckcontainer hinter dem Haus.

»Weißt du, was mich wundert?«, fragte Mia Mario. »Die Überfahrt dauert doch nur zirka eine halbe Stunde. Warum muss ich für die kurze Zeit meinen Koffer abgeben?«

»Aus Sicherheits- und Platzgründen«, antwortete er, wie aus der Pistole geschossen. »Damit man bei Windstärke Zwölf nicht von den herumfliegenden Koffern erschlagen wird und jeder Fahrgast einen Sitzplatz bekommt. Merk dir die Nummer des Containers, dann findest du dein Gepäck schneller wieder.«

Mia war dankbar für den Tipp. Alles Weitere würde sie selbst herausfinden müssen und darauf freute sie sich auch. Wie sehr hatte sie sich einen Inselurlaub gewünscht! Dass sie das mit ihren fünfzig Jahren noch erleben durfte. Halt! Das stimmte nicht ganz. Noch war sie 49 Jahre, 11 Monate und 364 Tage alt.

Nun hieß es also Abschied nehmen. Wie sie das hasste! Auch wenn sie sich nur für einen einzigen Tag von jemandem verabschieden musste, tat es ihr in der Seele weh, kamen Verlustängste und Tränen. Ob das mit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter und dem Abschied für immer zusammenhing? Oder empfand sie diesmal einen Trennungsschmerz der Liebe? Dafür war ihre Liebe - wenn es überhaupt Liebe war - viel zu frisch. Arm in Arm schlenderten sie zur Anlegestelle der Fähre.

»Die wollen alle auf die Fähre?«, fragte Mia mit Blick auf die Menschenmenge, die sich in Zweierreihen aufgestellt hatte.

»Sieht so aus. Hoffentlich ist auf der kleinen Insel genügend Platz für alle«, spielte er den Entsetzten.

Mia sah ihn von der Seite an. In Wirklichkeit hätte sie Mario lieber eine andere Frage gestellt, zum Beispiel, ob es wirklich Liebe war, die er für sie empfand. Sie gab zu, dass ihr selbst die Antwort schwerfallen würde.

Mario drückte sie plötzlich an sich. Er zeigte auf die See und flüsterte: »Da kommt die Spiekeroog.«

Es hörte sich dramatisch an, als sei es das U-Boot, mit dem sie nun in den Krieg fahren müsste und von dem beide wussten, dass es niemals zurückkehren, dass sie nie zurückkehren würde.

Mias Hals war wie zugeschnürt. Mario wühlte in seinen Taschen, zog eine flache Geschenkbox mit roter Schleife hervor und überreichte sie Mia.

»Noch darf ich dir nicht zum Geburtstag gratulieren, das bringt Unglück, aber mitgeben kann ich dir mein Geschenk schon mal. Im Inneren befindet sich eine Zeitschaltuhr. Die Box lässt sich erst morgen öffnen. Solltest du es früher versuchen, zerstört sie sich von selbst. Ich weiß ja, wie neugierig du bist.«

Mia lachte laut und war froh, so ihre Tränen als Lachtränen tarnen zu können. Warum war sie heute nur so nah am Wasser gebaut? »Darf ich mich denn schon dafür bedanken, oder bringt das zehn Jahre schlechten Sex?«

»Darfst du, wenn du mir dabei tief in die Augen schaust.«

Sie küssten sich so lange, bis die weiße Fähre mit dem orangefarben gestrichenen Mast am Pier angelegt hatte und erste Fahrgäste ausstiegen.

Ein älterer Mann sah sie, pfiff durch seine wenigen Zähne.

Mia wurde verlegen.

5.

Nur zögerlich löste sich Mia aus Marios Umarmung. Teenieverhalten - aber schön.

Sie hatte alle anderen vorgelassen und stand schon auf dem Aufstieg der Fähre, als Mario ihr einen vorerst letzten Kuss gab.

»Denk dran: keine Skandale mit den Ostfriesen«, rief Mario.

»Danke, du Scherzkeks. Deine Sprüche vermisse ich jetzt schon.«

»Du wirst es überleben. Wir sind ja nicht aus der Welt. Ich schicke dir jeden Abend eine WhatsApp-Nachricht, damit du weißt, dass ich an dich denke.«

Der Fährmann zog die Wollmütze tiefer.

Auch eine Frau um die Vierzig hatte wohl alles mitbekommen. Sie schüttelte den schwarzgetönten Frisch-vom-Friseur-Bob und schob sich mit prallgefüllten Einkaufstaschen an ihr vorbei. »Sie sind bestimmt nicht verheiratet«, murmelte sie im Vorbeigehen.

Mia hatte sich flink einen Platz auf dem Oberdeck gesichert, um möglichst lange winken zu können. Sie setzte ihre große dunkle Sonnenbrille auf und knöpfte den hellen Trenchcoat ein wenig höher, schlug den Kragen hoch. Ihre dunklen Locken flogen im Wind hin und her. Die Sonne schien an diesem herrlichen Apriltag zwar mit voller Kraft, aber der Wind war ruppig und dabei fuhren sie noch nicht einmal.

Nun setzte der kraftvolle Dieselmotor ein, der ein neueres Modell zu sein schien, weil er nicht auf jedem Zylinder einzeln stampfte, sondern erstaunlich leise war. Zumindest klang es auf dem Oberdeck so. Nur der Schiffsboden vibrierte ein wenig. Hinter den stattlicher werdenden Heckwellen wirkte Mario an der Anlegestelle immer kleiner, aber nicht unbedeutender für sie.

Erst als er nur noch als schwarzer Punkt zu erkennen war, ging Mia ein Deck nach unten in den Hauptsalon der Fähre, wo nicht viele saßen. Der Großteil der Passagiere bevorzugte es wohl, sich auf dem Oberdeck den Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen. Mia sollte es recht sein.

Sie setzte sich auf die dunkelrot gepolsterte Bank an den Tisch, sah durch das Bullauge und beobachtete den Wellengang. Ein Mann ganz am Ende des Salons vertrieb sich die Zeit mit einer Flasche Bier.

Nun kam die Dreiste mit der Bobfrisur hinzu. Sie trug Taschen mit sich, in denen Flaschen klimperten. Eine Fahne roch Mia jedoch nicht, als die Frau sich vor sie stellte. Ihr starrer Blick aus eisblauen Augen war unheimlich. »Warum ist denn der junge Mann nicht mit auf unsere schöne Insel gekommen? Musste er zu seiner Frau?« Der Spott troff ihr dabei aus den Mundwinkeln.

Mia war ja schon direkt und stellte manchmal freche Fragen, aber diese Frau war um Klassen besser. Normalerweise hätte sie eine schlagfertige Antwort parat gehabt, so was wie: »Nein, er musste zu seinem Mann.« Stattdessen provozierte sie anders: »Gibt es auf Spiekeroog keine Glasflaschen mehr?«

Empört, nein, eher entsetzt sah die Dreiste sie an. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, sodass Mia ein Stück zurückwich. »Was soll denn diese Anspielung? Meinen Sie etwa, ich habe Schnaps darin? Denken Sie das wirklich?« Ihre Stimme überschlug sich. Die Bobfrisur wippte. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf Mias Brust: »Fassen Sie sich mal an die eigene Nase. Sie haben wohl gestern Abend heftig gefeiert, was? Man riecht es noch. Oder mussten Sie heute Morgen Ihren Alkoholpegel gleichgehalten? Sie sollten sich was schämen, mich zu verdächtigen, dass ich ...«

»Aber ... das war … ein Scherz, weil Sie mich ...!«

»Das war ernstgemeint! Aber wissen Sie was?« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Solche Leute wie Sie sollten elendig verrecken! Verrecken sollten sie, am Alkohol und an der Pest!«

Mia schlug auf den Tisch. »Jetzt gehen Sie zu weit! Das ... ist …« Sie rang nach Luft und Worten. Was war das denn? Ein Fluch?

Die Verflucherin hob den rechten Arm und machte eine abfällige Handbewegung. Gummisohlenquietschend verschwand sie aus dem Salon.

Mia war nicht so schnell sprachlos zu bekommen, aber diese Hexe hatte es geschafft. Wie hatte Mario gesagt: Versprich mir, dass du dich in nichts einmischst, was dich nichts angeht ... oder so ähnlich. Genau, was ging es sie an, wenn eine scheinbar frustrierte Frau mit ihren leeren Flaschen klimperte. Mia hatte sich nur für die dreisten Fragen ein wenig rächen wollen, aber dass es gleich missverstanden wurde … Manche Leute besaßen einfach keine Nerven. Austeilen ja, einstecken nein.

Zu Beginn der Überfahrt hatte Mia gedacht, die Fahrt würde länger dauern, aber durch diesen Zwischenfall hatte sich die Zeit rasant verkürzt. Sie ging wieder auf das Oberdeck, schloss ihren Kurzmantel. Die Hexe saß auf einer Bank am hinteren Ende. Heimlich machte Mia ein Handyfoto von ihr. Das würde sie später Mario übermitteln, mit der dazugehörigen Geschichte. Auch das Schild Möwen bitte nicht füttern! fotografierte sie, weil die Vorstellung sie zum Lachen brachte, was passierte, wenn alle Passagiere genau das tun würden.

In der Ferne sah Mia bereits die Insel mit ihren Wiesen und weißen Häusern, leuchtendrot die Dachziegel. Endlich kam ein wenig Freude auf, obwohl ihr der Fluch immer noch in den Knochen steckte. Ach, Blödsinn, so eine durfte ihr nicht die Urlaubsstimmung vermiesen.

Mia wusste noch nicht viel über Spiekeroog. Sehr gerne hätte sie sich vorher die Touristikbroschüre nach Hause schicken lassen. Dafür war leider die Zeit zu knapp gewesen. Sie liebte es, in diesen Hochglanzprospekten zu blättern und sich so schon einmal an den Ort zu träumen. Zwar waren das alles gestellte Heile-Welt-Fotos, auf denen die Familien lachend über den Sand liefen oder die Oma der aufmerksamen Enkelin auf einer Bank etwas vorlas, aber warum nicht? Im Urlaub waren die Menschen viel entspannter. Na ja, nicht alle. Sie kannte es von Urlauben an anderen Orten. Aufs Handy schauende Menschen, die am Strand spazieren gingen und nicht nur den Daheimgebliebenen, sondern auch allen Anwesenden ausgiebig schilderten, was die ohnehin gerade sahen.

Mia hatte das Handy jedenfalls nur für Notfälle mitgenommen. Sie wollte die Momente auf der Insel genießen und achten. Ja, und natürlich würde sie während der sieben Tage den Großteil ihrer Getränke und das Essen selbst bezahlen. Mario musste es ihr nicht finanzieren. Das wäre ja noch schöner ... Er hatte ihr bereits den kostenlosen Aufenthalt ermöglicht und ein Geschenk in die Hand gedrückt. Das sollte genügen. Was es wohl war? Sie war das Stehen an der Reling leid und fand ein paar ockerfarbene Bänke weiter einen freien Platz. Der zirka 120-Kilo-Mann daneben lockte sie mit den Worten: »Keine Angst, ich beiße nicht!« und klopfte auf die freie Sitzfläche.

Mia wagte es, wandte sich etwas ab und öffnete die Cowboy-Bag. So hieß ihre geräumige graue Handtasche, laut Anhänger. Der kleine Geschenkkarton lag obenauf, sie drehte ihn in alle Richtungen. Die rote Schleife öffnete sich dabei. Oh ... wenn sie noch ein wenig mehr drehte … fiel vielleicht auch das Papier ... ? Im Geiste hörte sie Marios mahnende Worte und drückte die Magnetknöpfe der Tasche wieder zusammen. Wenn ein Mann solch einen Einfluss auf sie hatte, dann war das schon mal ein gutes Zeichen, oder etwa nicht? Fragte sich nur, wie lange der Zustand anhielt.

6.

Gleich war es so weit, dann legte die Fähre an. Zu Mias Besinnungsprogramm gehörte es auch, Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Was spürte sie jetzt? Den Wind, der um ihre Nase wehte. Er forderte sie auf, zu inhalieren. Sie schmeckte das Salz auf den sonnengewärmten Lippen. Für einen Moment schloss sie die Augen, freute sich, dieses wunderschöne Bild wiederzubekommen, sobald sie die Lider wieder öffnete. Nein, es war kein Traum! Höchstens der Traum von einer ruhigen Zeit auf der Insel.

Der Schiffsmotor heulte auf und riss sie aus der Entspannung. Alles auf dem Schiff vibrierte. Unter den Passagieren kam Hektik auf.

Sitzenbleiben! Ruhe bewahren, mahnte sie sich innerlich. Aber wie? Das einzige Rettungsboot, das sie beim Betreten der Fähre gesehen hatte, reichte niemals für alle. Im Vorbeigehen war ihr auch nur ein Rettungsring aufgefallen. Einer für alle? Das passte nur bei Nylonstrümpfen. Ah ja, die Rettungswesten. Doch niemand schrie, und sie hörte keine Bitte-bewahren-Sie-Ruhe-Durchsage des Schiffskapitäns. Das ließ hoffen. Außerdem befanden sie sich ja nicht auf dem Atlantik. Die lauten Motorengeräusche wurden leiser. Zur Not müsste sie ans Ufer schwimmen. Wenn eine hundertjährige Japanerin den Weltrekord von 1.500 Metern in einer Stunde fünfzehn aufstellte, schaffte sie das allemal, falls sie nicht vorher erfror. Sie stand auf und stellte sich in die Schlange der wartenden Fahrgäste. Angekommen.

Mia sah in die Runde. Da standen Einzelpersonen, Pärchen und Familien mit Kleinkindern. Es war Ende April. Die Schulferien waren vorbei. Aber nicht nur Touristen wollten auf die Insel, sondern auch ein paar Geschäftsleute, die sie am Business-Outfit meinte erkennen zu können. Wo war eigentlich die Verflucherin? Mia hatte sie völlig aus den Augen verloren.

Mit einem sanften Rums hielt das Schiff am Fähranleger. Der Aufstieg, der nun ein Abstieg war, wurde ausgefahren. Fähren-Flyer wurden verteilt ... und dann der spannende Moment: Mia betrat zum ersten Mal in ihrem Leben eine autofreie Insel. Ein einzigartiges Erlebnis. Sie stellte sich etwas abseits und atmete tief durch. Freiheit.

Wie war noch mal die Nummer des Gepäckcontainers? Da sah sie ihren leuchtendroten Trolley mit dem Aufkleber Krefeld - schön hier im offenen Behälter stehen. Sie zog ihn heraus, verschätzte sich mit dem Gewicht und musste ihn auf den Boden krachen lassen.

Fast unendlich zog sich die Straße Wüppspoor vom Hafen in den Ort. An der Telefonzelle blieb Mia stehen und zog die aus dem Internet ausgedruckte Straßenkarte aus ihrer Tasche. Das mit dem Maßstab hatte sie noch nie kapiert. Sie schaute auf den Plan. Die Anzahl der Straßennamen hielt sich in Grenzen und sie waren relativ einfach zu merken: Süderloog, Noorderloog, Westerloog und dann Slurpad, Tranpad und Noorderpad …

»Wo ist Mario?«, meldete sich eine sanfte Frauenstimme von hinten.

Mia schrak herum und sah eine rotblonde Naturschönheit mit Sommersprossen. Sie zog einen Bollerwagen hinter sich her und blieb auf ihrer Höhe stehen. »Moin. Sie sind doch Mia Magaloff, oder?« Sie klappte die Deichsel vom leeren Bollerwagen hoch und streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen.

Mia drückte kräftig zu und nickte. »Ja, bin ich. Mario ist nicht mitgekommen. Er ... er war verhindert.«

»So? Seltsam.«

»Ja, nicht? Vielen Dank, dass Sie mich abholen«, sagte Mia und hievte ihren Koffer auf den dunkelgrünen Bollerwagen mit den Rasenmäherrädern. Marke Eigenbau. Auf dem seitlichen Brett stand in Schreibschrift Grüne Fee. Fast war Mia versucht, den Koffer wieder herauszunehmen, denn er hatte ja auch Rollen und war leicht zu ziehen. Nein, das wäre unhöflich gewesen.

»Hm ...«, die Frau im leichten grünen Kleid sah auf den Wagen. »Ich wollte schnell etwas bei Feinkost Sanders einkaufen. Wenn Sie mitkommen möchten, es liegt auf dem Weg.« Sie blieb abrupt stehen: »Ach, Entschuldigung. Ich habe mich nicht vorgestellt. Ich heiße Fee ... Mir gehört das Fee-rienhaus Zur grünen …«.

» … Fee«, sagte Mia, die nur noch Grün sah.

» … in dem Sie untergebracht sind«, ergänzte sie. »Meinen Nachnamen Conrad, mit C, müssen Sie sich nicht merken.«

»Meinen auch nicht. Ich bin Mia. Wir können uns gerne duzen.« Mia stellte ihren Koffer wieder auf eigene Rollen.

Doch, sie wäre nicht abgeneigt, sich mit dieser Fee näher bekanntzumachen. Sie musste herausbekommen, wie eng die Verbindung zu Mario wirklich war.

Fee und Mia betraten den Supermarkt. Mia staunte, wie reichhaltig das Angebot in dem kleinen Geschäft war. Schließlich befanden sie sich auf einer Insel, wo alle Nahrungsmittel mit der Fähre rüberkamen. Da musste gut kalkuliert werden. Während Fee einen Gang weiter Lebensmittel in den Korb packte, ging Mia direkt zur Kassiererin. Es war die Gelegenheit. Die blonde Frau an der Kasse machte einen sehr netten Eindruck. Mia zückte ihr Handy und öffnete die Fotodatei. Nachdem sie die Aufnahme gefunden hatte, streckte sie ihr das Smartphone entgegen.

»Moin. Kennen Sie diese Frau?«, fragte Mia.

»Moin.« Die Nette bekam eine rosigrote Gesichtshaut und ausgeprägte Denkerfalten auf der Stirn. »Warum wollen Sie das wissen?«

Mia sah sich verstohlen nach Fee um. »Ich ermittle privat.«

Die Kassiererin zupfte an ihrem blauen T-Shirt. »Nein, kenne ich nicht.«

Mia vergrößerte das Foto, in dem sie zwei Finger auf das Display setzte und sie gleichzeitig auseinanderstrich. »Und jetzt?«

Fee kam dazu.

Mia zeigte nun ihr das Foto: »Oder kennst du diese Frau?«

Fee sah aufs Handy, zur Feinkostverkäuferin, zu Mia und wieder aufs Handy. »Nein, wer soll das sein?« Es klang schroff.

Die Kassiererin scannte die Ware ein.

»Wenn ich das wüsste«, sagte Mia. »Sagen wir mal so: Ich suche sie, weil ich ihr ins Gewissen reden möchte.«

Der Fluch. Sie musste mit dieser Hexe über den Fluch sprechen. Bestimmt verteilte sie ihn an jeden, der ihr unliebsam war. Nicht auszudenken, was das mit besonders sensiblen oder womöglich depressiven Menschen machte. Mia hatte das tiefe Bedürfnis, der Verflucherin gründlich die Meinung zu sagen.

Als die beiden Frauen, mit Koffer und Bollerwagen im Schlepptau, das Ferienhaus erreichten, staunte Mia erst einmal darüber, wie schön es war. Die roten Backsteinwände mit den weißen Sprossenfenstern und das orangerote Ziegeldach wirkten für sich. In Kombination mit den Blühpflanzen in den Hängeampeln und Kübeln auf der Terrasse war es die ostfriesische Landlust pur. An der Südwand befand sich der Wintergarten, den sich Mia immer für ihr Haus gewünscht hatte. Natürlich bestand er nicht nur aus Glas, sondern auch aus weißen Holzsprossen. Mia seufzte beim Anblick der dunklen Rattanmöbel und des roten Terracottabodens, was einen schönen Kontrast darstellte. Ja, hier fühlte sie sich sofort wohl.

»Gefällt es dir?«, fragte Fee.

»Gefallen?«, rief Mia.

Fee zuckte zusammen.

»Gefallen ist gar kein Ausdruck! Das ist phantastisch schön!«

»Da bin ich aber erleichtert«, sagte Fee. »Ich bin mir sicher, Mario hätte es auch gefallen. Genauso wollten wir unser Traumhaus bauen lassen - nach der Hochzeit. Aber dann habe ich in letzter Sekunde vor dem Traualtar nein gesagt. Keine Entscheidung in meinem Leben habe ich bisher mehr bereut.« Sie strich ihre rotblonde Locke aus dem sommersprossigen Gesicht. »Mittlerweile sind wir gute Freunde, telefonieren und treffen uns regelmäßig. Ich bin so froh, dass er mir verziehen hat.«

»Ich nicht!«, brummelte Mia und merkte an Fees freundlicher Aufforderung, ins Haus zu kommen, dass die es nicht mitbekommen hatte. Musste nicht sein. Mia hatte wohl auch so manches nicht mitbekommen.

7.

Hätte Fee ihr nichts von ihrer Beziehung zu Mario erzählt, Mia hätte die Teezeremonie genossen, zu der sie eingeladen worden war.

Als die Kluntjes in die Tassen fielen, schilderte Fee, dass sie sich sofort in Mario verliebt hatte, als sie ihn das erste Mal am Strand traf. Er war so ein gut durchtrainierter Mann, und er wusste immer, was er wollte. Sie war damals Studentin mit Modelmaßen gewesen und himmelhochjauchzend in ihn verliebt.

Als der heiße Ostfriesentee auf die Kluntjes traf, knisterte es gewaltig. Mia wollte lieber nichts von Fees erster Nacht mit Mario und seinen Vorzügen wissen. Sie wollte im Glauben bleiben, sie alle zu kennen.

Als sie die Sahne in den Tee goss und in ihre Tassen schaute, schwebte nur Fee auf kleinen Wölkchen. Sie vertraute Mia an, dass sie Mario immer noch liebe und ihre Entscheidung, ihn nicht zu heiraten, sehr gerne rückgängig machen würde. Er wäre sicher ein toller Ehemann und Vater geworden - aber da sei ja nun sie (diesen abschätzigen Blick von ihr würde Mia so schnell nicht vergessen) und da wolle sie natürlich nicht dazwischenfunken. Dennoch sei es sehr schade, dass er nicht mitgekommen sei.

Mia und Fee hoben gleichzeitig ihre hauchdünnen Porzellantassen mit dem blauen Muster und tranken einen Schluck. Fee schloss genüsslich die Augen. Mia verzog das Gesicht. Ihre Sahnewölkchen schmeckten bitter.

8.

Gegen Abend ging es Mia etwas besser. Warum stellte sie sich so an, was Fee und Mario anging? Auch Mia hatte ihre Vergangenheit. Im Grunde hatte sie wohl eher Angst vor der Zukunft mit Mario.

Statt mit Fee zu Abend zu essen, wie es ihr angeboten worden war, ging Mia lieber spazieren. Mit Rucksack auf dem Rücken und Inselplan in der Hand, wanderte sie an der Touristeninformation vorbei und ging weiter zum Hauptstrand. Der breite weiße Sandstrand und das Wellenrauschen hatten etwas Beruhigendes.

---ENDE DER LESEPROBE---