Morgenröte - Norbert Stöbe - E-Book

Morgenröte E-Book

Norbert Stöbe

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Beschreibung

Aufbruch zur Morgenröte

Die nicht allzu ferne Zukunft: Aufgrund einer Instabilität der Sonne steigen die Temperaturen und Strahlungswerte auf der Erde massiv an. Die Felder verdorren, Flüchtlingsströme ziehen nach Norden, die Menschen werden zu Nachtwesen. Zwar funktionieren die Funknetzwerke, Satelliten und andere Infrastruktur noch, doch nach und nach bricht die öffentliche Ordnung zusammen. Da entschließen sich die USA und die Vereinten Nationen zu einem tollkühnen Plan: Binnen zehn Jahren soll auf dem Mond ein Raumschiff gebaut werden, das 18.000 Menschen zu dem erdähnlichen Planeten Morgenröte bringen soll, um dort eine neue Zivilisation aufzubauen. Die Plätze an Bord sollen ganz offiziell verlost werden. Aber geht bei diesem Projekt alles mit rechten Dingen zu? Wer erhält wirklich einen Platz an Bord? Wie können so viele Menschen auf eine so lange Reise geschickt werden? Und vor allem: Existiert Morgenröte, diese letzte Hoffnung der Menschheit, überhaupt?

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Seitenzahl: 333

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Das Buch

Die nicht allzu ferne Zukunft: Aufgrund einer Instabilität der Sonne steigen die Temperaturen und Strahlungswerte auf der Erde massiv an. Die Felder verdorren, Flüchtlingsströme ziehen nach Norden, die Menschen werden zu Nachtwesen. Zwar funktionieren die Funknetzwerke, Satelliten und andere Infrastruktur noch, doch nach und nach bricht die öffentliche Ordnung zusammen. Da entschließen sich die USA und die Vereinten Nationen zu einem tollkühnen Plan: Binnen zehn Jahren soll auf dem Mond ein Raumschiff gebaut werden, das 18000 Menschen zu dem erdähnlichen Planeten Morgenröte bringen soll, um dort eine neue Zivilisation aufzubauen. Die Plätze an Bord sollen ganz offiziell verlost werden. Aber geht bei diesem Projekt alles mit rechten Dingen zu? Wer erhält wirklich einen Platz an Bord? Wie können so viele Menschen auf eine so lange Reise geschickt werden? Und vor allem: Existiert Morgenröte, diese letzte Hoffnung der Menschheit, überhaupt?

Der Autor

Norbert Stöbe, 1953 in Troisdorf geboren, begann schon als Chemiestudent zu schreiben. Neben seiner Tätigkeit als Chemiker am Institut Textilchemie und Makromolekulare Chemie der RWTH Aachen übersetzte er die ersten Bücher. Sein Roman New York ist himmlisch wurde mit dem C. Bertelsmann Förderpreis und dem Kurd Lasswitz Preis ausgezeichnet. Seine Erzählung Der Durst der Stadt erhielt den Kurd Lasswitz Preis und die Kurzgeschichte Zehn Punkte den Deutschen Science Fiction Preis. Zu seinen weiteren Romanen zählen Spielzeit, Namenlos und Der Weg nach unten. Norbert Stöbe ist einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Schriftsteller. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Stolberg-Dorff.

NORBERT STÖBE

MORGENRÖTE

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

www.diezukunft.de

Originalausgabe

Copyright © 2014 by Norbert Stöbe

Copyright © 2014 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Ralf-Oliver Dürr

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-14747-1

www.diezukunft.de

Ich danke Barbara Ostropfür Anregungen und Kritik

Prolog

Einheit Lo an Einheit Ru: Hörst du mich?

Ru: Ich höre dich, und wie immer, wenn ich deine Stimme vernehme, lacht mir das Herz.

Lo: Idiot. Ist die Sonde beladen?

Ru: Was glaubst du wohl?

Lo: Na los, sag schon.

Ru: Ist beladen, verschlossen und versiegelt.

Lo: Dann Finger weg, ich starte.

Einheit Lo schloss per Mindinterface das Startrohr, öffnete die Rumpfklappe und löste den Startvorgang aus. Das kleine Triebwerk zündete, die Sonde schoss aus dem Rohr hervor und entfernte sich in einem flachen Bogen vom Raumschiff im Orbit. Die Ladung bestand aus Viren, hergestellt im Bordlabor. Das Ziel des Wartungsflugs war ein Biotop an der Nordspitze des Kontinents Eura. Aus noch unbekannten Gründen war es dort zu einem genetischen Austausch zwischen endemischer und importierter Flora gekommen. Die entstandenen Gewächse waren winzig, mit bloßem Auge kaum zu erkennen, doch sie waren der erste Beweis dafür, dass nicht nur Koexistenz möglich war, sondern vielleicht sogar eine Art Synthese. Sie waren der Beginn von etwas Neuem und daher schützenswert. Allerdings hatte sich herausgestellt, dass die Neugewächse hyperempfindlich auf die Sporen des Schimmels der Gattung Stachybotrys reagierten, der als Verunreinigung eingeschleppt worden war. Die Viren in der Sonde hatten die Aufgabe, spezielle Genfragmente in das Genom der neu entstandenen Mischpflanzen einzuschleusen, um sie zu immunisieren und ihnen zumindest eine Chance auf Evolution zu eröffnen.

Einheit Lo beobachtete, wie die Sonde beim Eintritt in die Stratosphäre aufleuchtete. Der Hitzeschild machte noch immer Probleme; nach jedem dritten Flug war ein Komplettaustausch fällig, und die dafür benötigten Materialien mussten wie alle anderen Ressourcen aufgespürt, aufbereitet und vom Planeten in den Orbit transportiert werden. Rund zwei Drittel der rund einhundertsechzig noch betriebsbereiten Einheiten waren mit dem Erhalt des Status quo beschäftigt, mit Selbstwartung, Reparaturen und Nachschub. Der Rest überwachte das Leben auf dem Planeten. In den letzten Jahren hatte sich das Verhältnis ein wenig zugunsten von Forschung und Evolutionsüberwachung verbessert, doch da immer wieder Einheiten ausfielen, konnte niemand sagen, wie lange sie ihre selbst gewählte Aufgabe noch würden wahrnehmen können.

Lo schwebte am Führungsseil entlang durch den Korridor. Der Weg durch die Eingeweide des Raumschiffs war unbeleuchtet. Sie brauchte kein Licht, um sich zu orientieren. Als sie den umgebauten Frachtraum erreichte, war Ru schon da. Hier trafen sich die Einheiten zur Regeneration, zur Besprechung und zum Träumen. Auf Einzelkabinen konnten sie verzichten. Privatsphäre stand nicht auf ihrer Prioritätenliste. Das Alleinsein war die Grundbedingung ihrer Existenz. Jeder Einzelne von ihnen lebte in einer Blase. Und ihre Intimität – die Intimität, die ihnen möglich war – gehorchte neuen Gesetzen.

Sie schwebte neben Ru in eine Nische, fixierte sich und schloss die Regenerationsschläuche an. Dann stellte sie mit Ru eine Kabelverbindung her.

E-3?, fragte Ru.

Gut, E-3, antwortete Lo.

Es gab sieben Simulationen. Das war nicht viel. Hin und wieder sprachen sie darüber, den Fundus zu erweitern, doch die Simulationen waren rechenintensiv, und es war Konsens, die Hardware möglichst zu schonen. E-1 war ein Teilstück des New Yorker Broadways. E-2 war ein zwanzig Kilometer langer Abschnitt des Gelben Flusses. E-3 war eine kleine, namenlose Koralleninsel. Wer sich einloggte, hatte sie ganz für sich allein.

Er stand am Strand, nackt und braun gebrannt. War er früher wirklich so groß gewesen? Der Wind spielte mit seinem schulterlangen Haar. Das Wasser leuchtete türkisblau. Die Brandung rauschte. Sie ging zu ihm und lächelte ihn an. Sie spürte, wie ihre Füße in den warmen Sand einsanken. Eine Krabbe huschte im Seitwärtsgang vorbei. Hand in Hand schritten sie ins Wasser. Sie schwammen ein Stück, dann tauchten sie. Ohne einmal Atem zu holen, schwammen sie vors Riff. Hier sah man manchmal sogar Mantas. Es gab Clownfische, Kofferfische, Papageienfische und stachlige Steinfische, die auf ihren Ruheplätzen wegen ihrer hervorragenden Tarnung kaum zu erkennen waren. Dicht über dem Grund standen Gruppen silbriger Barrakudas. Seepferdchen umtanzten die Anemonen. Es gab sogar zwei Muränen, doch die wollten sie heute nicht besuchen.

Sie schnippte mit den Fingern. Zwei Haie kamen angeschwommen, wunderschöne Tigerhaie, beide über fünf Meter lang. Als die Tiere sie erreicht hatten, wurden sie langsamer. Sie schwammen dicht an die Tiere heran, legten die Hände um die Rückenflosse. Dann schwammen die Haie los. Der Sandboden fiel unter ihnen ab und machte bodenloser Tiefe Platz. Die Haie wurden immer schneller und zogen sie hinaus ins blaue, unermesslich weite Meer.

ERSTER TEIL

195 Jahre zuvor

Lynn Parker, CNN: Wie ist man eigentlich auf die Bezeichnung »Singularität« gekommen?

Mehti Jolenka, Astronomisches Observatorium Kapstadt: Das habe ich mich auch schon gefragt. Wir Astronomen bezeichnen damit eigentlich Gegebenheiten, bei denen physikalische Gesetze nicht definiert sind, wie zum Beispiel bei einem schwarzen Loch. In diesem Fall aber gelten die Gesetze sehr wohl. Ich glaube, wir haben es hier mit einer etwas unscharfen Analogiebildung zu tun. Gemeint ist wohl, dass es sich um ein singuläres Ereignis handelt.

L. P.: Singulär, inwiefern?

M. J.: Ohne Beispiel in der Erdgeschichte und einzigartig in der Geschichte der Menschheit. So etwas erlebt man nur einmal.

L. P.: Warum nur einmal?

M. J.: Wenn die Entwicklung sich nicht umkehrt, wird es bald keine Menschheit mehr geben.

1  Providence, Rhode Island, USA

Irgendwann war die Stadt bunt geworden, und keiner hatte es gemerkt. Männer in Overalls hatten eines Abends Gerüste errichtet, Schutzmasken aufgesetzt und aus Kanistern ihre Mixturen versprüht, und eh man sichs versah, waren sie mitsamt der Gerüste wieder verschwunden. Zurückgeblieben waren die Farben: Kotzgrün, Quietschgelb und verschiedene, mehr oder minder aggressive Varianten von Rot. Warum ausgerechnet diese Farben und nicht irgendwelche anderen, die kein Augenflimmern zur Folge hatten und das ästhetische Empfinden nicht verhöhnten? Das wussten allein die Ingenieure und Techniker in ihren unter Erdwällen verborgenen Hightech-Fabriken – Designer und Architekten waren beim Prozess der Entscheidungsfindung unübersehbar außen vor geblieben. Oder aber es gab in besseren Gegenden andere, schönere, teurere Farben, und hier handelte es sich um einen typischen Fall von Downgrading.

Hinter den Fassaden hatte sich nichts geändert, jedenfalls nicht zum Guten. Sie versteckten die gleichen verkommenen und immer weiter verkommenden Wohnungen und deren Bewohner, falls die Wohnungen überhaupt noch bewohnt waren. Von der äußerlichen Verwandlung bekamen sie nur wenig mit. Der Blick auf ihre eigene Fassade war ihnen naturgemäß verwehrt, der Blick auf die gegenüberliegenden Fassaden durch mehrere Schichten aufgeklebtes Toilettenpapier oder nahezu undurchsichtige wärme- und strahlungsdämmende Folie eingeschränkt. An den Folienfenstern konnte man abzählen, wer Arbeit hatte. Schutz war teuer, und das galt nicht nur für Folien.

Die Farben waren umsonst gewesen, denn sie lieferten Strom, und je kräftiger die Sonne schien, desto mehr davon. Der Strom wurde an die Hausbewohner verkauft und speiste deren Klimaanlagen und ihren Gerätepark, und wenn sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten, wurde ihnen der Strom abgestellt und ins Große Netz eingespeist, das ihn an die Fabriken weiterleitete, die Solarfarbstoffe, IceSuits, Kühlelemente und dergleichen herstellten. Die bunten Fassaden waren ein Nebeneffekt, der Hoffnung signalisieren sollte. Aber niemand glaubte die Botschaft, denn es gab keine Hoffnung mehr.

2

Not macht erfinderisch, lautet ein altes Sprichwort. Rudger Zegg konnte das bestätigen. Zwei Plastikrohre, eine Handvoll Metallschrott, ein kaputtes Fernglas, ein paar Spiegel – und fertig war das Periskop.

Rudger saß im Halbdunkel seines Arbeitszimmers. Auf den OLED-Tapeten hatte er auf engstem Raum die verschiedenartigsten Vegetationszonen miteinander vereint: Dschungel und Wüste, Polarkreis und Hochwald, Steppe und Gebirge. In letzter Zeit zog er das Meer allerdings der Wüste vor. Sein Arbeitsplatz mit dem halbrunden Schreibtisch, von dem aus er in den Zeiten, da die Stromversorgung funktionierte, seine Downgrading-Jobs erledigte und das Periskop bediente, stand dicht an der Wand neben der Tür, sodass er einen guten Blick auf die landschaftlichen Attraktionen hatte. Außerdem gab es in dem Raum noch ein kniehohes Regal, das die Rundumsicht kaum beeinträchtigte, und ein Sofa für das Nickerchen zwischendurch. Hin und wieder, wenn er Streit mit Venice hatte oder einfach nur allein sein wollte, übernachtete er darauf.

Der Raum lag unter dem Gehsteig und ragte bis in den Fahrbahnbereich. Noch ehe die oberen Geschosse wegen der Klimatisierungs- und Dämmprobleme nahezu unvermietbar wurden, hatte der Hausbesitzer in weiser Voraussicht die Kellerräume ausgebaut, ohne sich um Grundstücksgrenzen oder Bauvorschriften zu scheren. Er hatte auf illegale Arbeiten spezialisierte Baufirmen beauftragt und einfach losgelegt. Die mit aktiven Bildwänden ausgestatteten Kellerräume vermittelten den zahlungskräftigen Bewohnern das Gefühl, eine intakte Naturoase zu bewohnen. Eine Zeit lang brachten die Basements gutes Geld. Als es schlimmer wurde und die Zahlungskräftigen sich nach Norden absetzten, war Rudger mit Venice auf der Flucht vor der Hitze und der schwächelnden Infrastruktur von L. A. hierher nach Providence, Rhode Island gekommen. Da waren die Hauspreise und Mieten schon erschwinglich gewesen. Jetzt waren sie für das, was in der Stadt noch funktionierte, schon wieder zu hoch. Ein nostalgisches Rudiment von Pflichtgefühl veranlasste sie, dem Hausbesitzer, der sich ebenfalls in den kanadischen Norden abgesetzt hatte und an einem der gigantischen Neubauprojekte in den Northwest Territories beteiligt war, wenigstens sporadisch Miete zu überweisen. Aber vielleicht war es auch gar keine Nostalgie, sondern eher eine Notwendigkeit – der zum Scheitern verurteilte Versuch, sich einer Normalität zu versichern, die in Auflösung begriffen war.

Rudger schob das Periskop im Führungsrohr bis zur Markierung hoch und sicherte es mit einem Metallstift in der ersten Bohrung. Die mit Staub und angeklebten Glasscherben getarnte Spitze ragte jetzt genau acht Zentimeter aus dem Rinnstein hoch. Er drückte das Auge ans Okular und drehte langsam das Periskop. Das Sehfeld erfasste in flachem Winkel die Straße bis zur Dachrinne des gegenüberliegenden vierstöckigen Hauses. Es war knallgelb. Die Luft über der Straße waberte. Die Fahrbahn war uneben, als dränge der Schotter durch den weichen Asphalt ans Licht. Wegen der Schlaglöcher, von denen einige groß genug waren, um einen chinesischen Kleinwagen zu verschlingen, gab es keinen Durchgangsverkehr. Im Viertel wurden keine Pizzas mehr ausgeliefert, auch die Post hatte die Zustellung schon vor zwei Jahren eingestellt, angeblich aus Sicherheitsgründen. Die wenigen Tagläufer wirkten in ihren reflektierenden IceSuits wie Engelserscheinungen aus einem Alptraum von Himmel. Und wenn es Abend wurde, zischte hin und wieder ein Seg oder eins dieser neumodischen Kreiselzweiräder vorbei, die man abstellen konnte, ohne dass sie umkippten. Das war alles.

Drei Häuser weiter zur Rechten hatte jemand die rote Fahne gehisst, das hieß, er hatte ein Stück Stoff vors Fenster gehängt. Das bedeutete, er brauchte Hilfe. Rudger kannte niemanden in dem Haus und konnte sich nicht aufraffen, dort nach dem Rechten zu sehen. Seine Gewissensbisse, als er das Periskop wieder gegen den Uhrzeigersinn drehte, fielen beunruhigend schwach aus.

Von links geriet ein Hund ins Blickfeld, ein mittelgroßer schwarzer Mischling. Ohne Schutz. Ohne Fell. Er schwankte. Der magere Rumpf war von Geschwüren zernarbt, von der staubtrockenen Nase hing ein Hautfetzen herab. Seine Flanken pumpten wie ein Blasebalg, seine eiternden Augen waren zugeschwollen. Der Hund blinzelte, bekam sie aber nicht auf. Er witterte. Offenbar nahm er mit seinem Geruchssinn den Schatten wahr, der zu dieser Tageszeit die Hitze auf der anderen Straßenseite ein wenig milderte.

Zögerlich setzte er den linken Vorderfuß auf die Fahrbahn. Die Pfote versank in einer Teerpfütze. Als er sie zurückzog, bildeten sich schwarze Fäden, die sich immer weiter dehnten, bis sie rissen. Der Hund schüttelte den Fuß, bekam den Teer aber nicht ab. Dann legte er sich an Ort und Stelle nieder und streckte alle viere von sich, als hätte er sich in sein Schicksal ergeben. Rudger wollte den Linksschwenk bereits fortsetzen, als er bemerkte, dass sich hinter dem Hund die Haustür geöffnet hatte. Aufgrund ihrer Nanobeschichtung war die gelbe Fassade makellos sauber. Umso unangenehmer stachen die mit verblassten Graffiti beschmierte Tür, die demolierten Klingelknöpfe und die an ihrem Kabel herabbaumelnde Überwachungskamera hervor. Seit einem Jahr, als die Hausbewohner in einem erstaunlichen Aufbäumen von Gemeinsinn in einem großen Treck gen Norden entschwunden waren, stand das Gebäude leer. Rudger beobachtete mit einem Anflug von Grauen, wie eine Art Grillzange aus dem dunklen Türspalt hervorgeschoben wurde. Die Zange wurde immer länger, und auf einmal erinnerte er sich, dass das eines dieser Werkzeuge war, mit denen Männer in orangefarbenen Overalls vor der Krise im Park den Müll von Rasenflächen und Gehwegen aufgelesen hatten.

Das Zangenende hatte den Hund erreicht. Die Metallklaue spreizte sich und schloss sich um seinen Hals. Dann wurde der Hund zur Tür gezogen. Ohne Gegenwehr zu leisten, verschwand er in der Dunkelheit des Flurs. Kurz darauf wurde die teerverschmierte Pfote auf die Straße geworfen. Die Tür fiel zu.

Rudger starrte noch eine Weile die geschlossene Haustür an. Dann zog er den Stift aus der Bohrung, fuhr das Periskop ein und ging in die Küche, wo Venice das Abendessen bereitete.

»Sie sind da«, sagte er.

3

In Momenten wie diesem wünschte Rudger sich sehnlichst einen verstoppelten, transpirierenden, muskelbepackten Kumpel, der ihm hätte zur Hand gehen können. Aber diesen Kumpel gab es nicht, hatte es nie gegeben, und deshalb trat er allein in die sengende Tageshitze hinaus, geschützt von einem reflektierenden knöchellangen Adidas Passive Cooler und einer Überziehkapuze mit integrierter Uvex-Brille. Den Filter hatte er auf 90 Prozent gestellt, und das war auch nötig. Mit seiner spiegelnden Beschichtung und den sechs Ballonreifen glich der UPS-Truck einer einfachen, aber wirkungsvollen Alien-Waffe, deren Wirkungsweise darin bestand, jeden, der ihrer ansichtig wurde, dauerhaft zu blenden. Teerbatzen, Fetzen von Plastiktüten und platt gewalzte Aludosen klebten am schwarzen Reifenprofil. Nur das dunkelgraue Logo erinnerte noch an die bulligen Wagen, mit denen UPS die Pakete vor der Singularität ausgeliefert hatte. Spätestens dann, wenn der Paketdienst nicht mehr käme, wäre es an der Zeit, sich dem Flüchtlingstreck gen Norden anzuschließen.

Für den Fall, dass der Truck noch von Menschenhand gesteuert wurde, nickte Rudger zu der langsam kreisenden verspiegelten Kuppel hoch und trat an den Bordstein. Der Truck summte leise, wie ein Trafo. HANDSCHUHE BENUTZEN! stand über den beiden Paketfächern. Rudger spähte durch die Brille zur anderen Straßenseite hinüber, doch dort regte sich nichts. Das Gelbe Haus wirkte ausgestorben. Er wusste, das war Täuschung, doch sein deutlich sichtbares Waffenholster und die Tageshitze waren vermutlich ein ausreichender Schutz vor einem Überfall.

Er hielt die Karte vor den Scanner. Das grüne Licht leuchtete auf, die Klappe für das Ausgabefach der ungekühlten Fracht sprang auf. Er zog die Pakete heraus, insgesamt waren es fünf, darunter zwei große, schwere Kartons, zwei mittelgroße und ein kleines, leichtes Päckchen. Inzwischen musste er heftig blinzeln, weil sich unter der Brille Schweiß gebildet hatte, der ihm in die Augen tropfte. Während die Klappe zusprang und der Truck zum nächsten Empfänger weiterfuhr, stapelte er die Pakete der Größe nach auf die Sackkarre und schob sie zur angelehnten Haustür.

Auf einmal fiel sein Blick auf die Fahne. Insgeheim hatte er gehofft, sie wäre in der Zwischenzeit verschwunden. Jetzt sah er, dass es ein T-Shirt war – ein Kinder-T-Shirt. Es hing drei Häuser weiter in der zweiten Etage an einem Stock, der aus einem Loch in der mit Alufolie beklebten Fensterabdeckung ragte. Die Ärmel bewegten sich sachte in der Konvektionsströmung über der Straße. Vor anderthalb Jahren hatten in dem Haus noch Leute gelebt – nicht nur in diesem, auch in den meisten anderen. Ein Bus hatte die Kinder eingesammelt und zur Schule gebracht. Nachts hatten sie auf dem Gehsteig gegrillt. Man hatte Geräusche gehört: Musik und Stimmen, Kindergeschrei. Als der Bus nicht mehr fuhr und die letzten Geschäfte in der Gegend schlossen, begannen die Leute wegzuziehen. Jetzt knackte nur noch der erhitzte Beton.

Und vor dem Fenster hing eine Fahne.

War es ein Hilferuf? Eine Mitteilung? Feierte ein schrulliger Überlebenskünstler seinen einsamen Geburtstag? Oder sollte das Hemd Leute wie ihn in eine Falle locken? Der Anstand hätte es verlangt, nachzusehen und sich wenigstens zu erkundigen, ob dort jemand Hilfe brauchte, doch er konnte die Pakete nicht hier auf dem Gehsteig stehen lassen. Außerdem war er sich gar nicht sicher, ob er sich in seiner Lage Anstand noch leisten konnte. Die Karten wurden neu gemischt, die Spielregeln änderten sich von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag. Das Sollen hatte ausgedient. Dies war die Zeit der Notwendigkeit, des Rette-sich-wer-kann.

Er schob die Karre in den Hausflur, der ihm wegen des starken Filterfaktors der Brille vorkam wie ein pechschwarzer Schlund. Kaum war die Haustür hinter ihm zugefallen und das Sicherheitsschloss eingeschnappt, riss er Schutzhaube und Brille herunter, wischte sich den Schweiß ab und pellte sich aus dem Anzug. Keuchend legte er die drei armdicken Riegel vor, dann stellte er die Sackkarre am Treppenabgang ab und schleppte die Pakete nacheinander ins Basement hinunter. Je tiefer er kam, desto kühler wurde es. Beim Hochsteigen war es umkehrt. Bevor er sich ans Auspacken machte, trank er eine halbe Wasserflasche leer, sprühte Desinfektionsmittel in den Anzug und legte ihn in die Kühltruhe. Als er bemerkte, dass Alfred, der altersschwache Haushaltsbot, mit seinem Sensorstängel seinen Bewegungen folgte, zog er ihm den Stecker und steckte ihn nach kurzem Überlegen wieder ein. Er zögerte den Moment des Auspackens gern hinaus. Schon als Kind hatte er die masochistische Kunst praktiziert, die Wunscherfüllung hinauszuschieben. Jetzt, da die UPS-Lieferungen überlebensnotwendig waren, hatte er diesen Spleen perfektioniert.

Das erste Paket war von Amazon und enthielt fünfzig Kilobeutel Algenpampe für den Bioprinter, Aromanachfülltanks sowie allerlei nützlichen Kleinkram. Im zweiten waren Munitionsschachteln unterschiedlichen Kalibers, eine Großpackung Leuchtstäbe, eine Sprühgaskeule mit auswechselbaren Patronen und ein original Schweizer Taschenmesser. Die beiden mittelgroßen Pakete waren für Venice, die ließ er ungeöffnet. In einem davon war vermutlich sein Geburtstagsgeschenk. Er brachte die Sachen in den Maschinenraum, in dem auch die Notstromgeneratoren untergebracht waren. Früher war das die Waschküche gewesen. Jetzt verwahrte er hier in einem Regal die Waffen, die er sich nach und nach zusammengekauft hatte. Das Messer und das kleine Päckchen nahm er mit in sein Arbeitszimmer. Vor Venice’ Tür hielt er inne und überlegte, ob er klopfen sollte, wollte sie aber nicht bei der Arbeit stören. Er ging weiter zu seiner Arbeitshöhle, legte Paket und Messer auf den Schreibtisch und schaltete den Monitor ein.

Früher, vor der Singularität, hatte er ein Designbüro mit Filialen in zwei großen Städten geleitet. Zegg’s Up & Down war gut im Geschäft gewesen und hatte zu seiner besten Zeit fast fünfunddreißig Angestellte gehabt. Jetzt, da alles den Bach runterging, war Rudger vom einstigen Glanz nur noch das Down geblieben – und dieser Keller. Trotzdem koordinierte er noch immer verschiedene Projekte, darunter die Kühlanzugreihe von Adidas und eine Messkollektion von Samsung. Die Designfirma war aufgelöst, oder vielmehr, sie war innerhalb weniger Monate zerfallen. Da alle Betroffenen davon in Anspruch genommen waren, ihr Leben auf einer ganz elementaren Basis an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, waren ihm wenigstens die emotionalen Konflikte erspart geblieben, die normalerweise mit Pleiten einhergingen. Weil der Firmenapparat weggefallen war, arbeitete er jetzt wieder allein und autonom, wie damals als Student, als er nebenher alle möglichen Designjobs angenommen hatte, um später, wenn es darum ginge, sich bei den großen Agenturen zu bewerben, etwas vorweisen zu können. Schon damals hatte er das Ziel gehabt, irgendwann eine eigene Agentur zu besitzen, und das hatte er auch geschafft. Insofern war es bemerkenswert, dass er sich im Moment zumindest nicht unwohl fühlte. Er genoss es, wieder die Kontrolle über die einzelnen Projekte zu haben. Und noch konnten sie von dem, was er und Venice verdienten, recht gut leben. Das Erstaunlichste dabei aber war, dass selbst heute noch Spitzendesign produziert wurde und dass Menschen wie er damit beschäftigt waren, es zu verunstalten, nur damit man die Premiumprodukte zu überhöhten Preisen losschlagen konnte.

Er rief das neue Dosimeter fürs Handgelenk auf und ließ es langsam auf dem 3D-Schirm rotieren. Das Multifunktionsgerät war eine wahre Augenweide, eine wundervolle Bestätigung des alten Bauhausprinzips »Form follows function«. Abgesehen davon, dass es sich flexibel ans Handgelenk schmiegte, zitierte es die seinerzeit wenig erfolgreiche Lumia-Reihe von Nokia, die zumindest designerisch ihrer Zeit voraus gewesen war. Der Zerstörungsweg, den er beschreiten würde, war vorgezeichnet: Das rechteckige Flexdisplay würde durch eine überlappende Folienverkleidung abgerundete Ecken bekommen und in der billigsten Variante eine hässliche ovale Form. Das Material würde glatt ausfallen und Knarzelemente verpasst bekommen, auch wenn das in der Herstellung nicht unbedingt billiger war. Er würde etwa vier Stunden für die Ausarbeitung brauchen und seine Vorschläge heute noch an den Auftraggeber weiterleiten. Wenn sie den zuständigen Designern ordentlich Kopfschmerzen bereiteten, hätte er seine Arbeit gut gemacht.

4

Venice hatte gehört, dass Rudger vor der Tür stehen geblieben war, doch sie hatte keinen Mucks gemacht. Sie wollte nicht gestört werden. Je unsicherer alles wurde, desto wichtiger wurde ihr die Arbeit. Sie war Putzfrau mit Leib und Seele. Derzeit hatte sie zwei Teams zu je drei Einheiten bei verschiedenen Großfirmen im Einsatz. Früher waren es mal fünf Teams gewesen. Da die Menschen überwiegend in den Nachtstunden arbeiteten, mussten die Bots tagsüber sauber machen. Ihre Arbeit erledigten sie nach der Einweisung selbstständig, die Transporte zwischen den Firmen und dem Notfallservice wurden von einer zuverlässigen Vertragsfirma erledigt. Eigentlich hätte sie es dabei bewenden lassen, sich ganz der Buchhaltung und der Akquise neuer Kunden widmen und in aller Ruhe darauf warten können, dass ein technischer Defekt oder ein sonstiger Zwischenfall ihr Eingreifen erforderlich machte. Das aber war nicht ihre Art. Außerdem hatte sie bei ihrer Putztätigkeit, die sie in der Anfangszeit noch eigenhändig erledigt hatte, gelernt, dass es Dinge gab, die eine Art von Einfühlungsvermögen erforderten, wie man es Maschinen einfach nicht einprogrammieren konnte. Dazu gehörten die Schreibtische der Chefs. Beim Putzen gab es nichts Heikleres. Manche Chefs erklärten beispielsweise ihren Schreibtisch für tabu und verboten den Zugriff darauf unter Androhung der Höchststrafe (Auftragsentzug). Entdeckten sie jedoch einen Fussel oder ein paar Staubteilchen in ihren sakrosankten Gefilden, drohten sie empört mit genau der gleichen Konsequenz. Andere hinterließen den Putzkräften ein Chaos von Kaffeeflecken, prekär gestapelten CD-Türmen, eingeloggten Pads und Notizzetteln, die beim kleinsten Luftzug davonzuwirbeln drohten. Etwa die Hälfte dieser Gruppe erwartete stillschweigend, dass am nächsten Abend, wenn sie zur Arbeit erschienen, makellose Sauberkeit und Ordnung auf ihrem Schreibtisch herrschte, während die andere Hälfte verlangte, entweder überhaupt nichts anzufassen, oder die Unordnung nach der Entfernung der Flecken, Krümel und abgeschnittenen Fingernägel wieder genauso herzustellen, wie man sie vorgefunden hatte. All diese Details konnte man natürlich auch einem Bot beibringen – vorausgesetzt, die Parameter waren bekannt und galten unveränderlich, sodass sie mit der immer gleichen Routine abgearbeitet werden konnten. Da eine solche Berechenbarkeit jedoch die große Ausnahme darstellte, behielt sie sich die Aufsicht über die Arbeit am Allerheiligsten vor. Das Reinigen eines Schreibtischs war eine Wissenschaft – und eine intuitive obendrein.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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