Motel Terminal - Andrea Schulthess Fischer - E-Book

Motel Terminal E-Book

Andrea Schulthess Fischer

4,9

Beschreibung

Meret, knapp 13 Jahre alt, kennt nichts als ihr kleines Zimmer. Weil die Welt draußen böse ist, wie ihre Mutter Nora sagt. Doch Merets Hamster sterben immer, und Tagebuch-Schreiben füllt noch keinen Tag. Zum Glück gibt es ihre Großtante Julie, die Besitzerin und einzige weitere Bewohnerin des Motels. Sie kümmert sich um die geliebte Meret und lädt sie ab und zu heimlich zu sich in die gute Stube ein. Auch Nora liebt nichts und niemanden so sehr wie Meret. Doch sie ist überzeugt, dass die Behörden ihr die uneheliche und unregistrierte Tochter wegnehmen würden, wenn sie von ihr erführen. Deshalb versucht die junge Mutter mit aller Macht, eine perfekte Situation für das Leben als kleine Familie zu schaffen, und gibt dafür dem wohlhabenden Banker Stefan eine gute Ehefrau. Sie wartet nur noch auf den richtigen Moment, um ihm von ihrem heimlichen Kind zu erzählen und alles endlich gutzumachen.Nico wiederum will nur weg aus dem Dreckskaff mit dem grusligen Motel. Noch die Ausbildung abschließen, dann »Fuck you, Breitenach!«. Bis dahin muss er allerdings sein Lehrgeld mit Botengängen für die Alte vom Motel aufbessern. Doch mit deren plötzlichem Tod wird ein ganze Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, und Nico entdeckt das versteckte Kind. Damit entfacht er ein Drama, das keinen der Beteiligten unbeschadet lassen wird. »Motel Terminal« vereint die Präzision und Wucht eines literarischen Dramas mit der Spannung und dem Tempo eines Thrillers. Sie legen »Motel Terminal« garantiert nicht aus den Händen und werden dieses Buch nicht so schnell vergessen.

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Seitenzahl: 365

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ANDREA FISCHER SCHULTHESS

MOTELTERMINAL

ROMAN

Dieses Buch wurde unterstützt durch die Stadt Zurich.

Verlag

Salis Verlag AG, Zurich

www.salisverlag.com

*

[email protected]

 

 

Lektorat

Patrick Schär

Korrektorat

Ina Serif

Umschlagbild

Adrian Ochsner

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer

 

 

1. Auflage 2016

 

 

 

 

 

© 2016, Salis Verlag AG, ZürichAlle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

 

ISBN 978-3-906195-42-1

Für Adrian, Lena und Serafin.

»Die Gesetze fragen wenig nach den Beweggründen.«

Nora oder ein Puppenheim, Henrik Ibsen

Merets Tagebuch

Drei Tage nach meinem elften Geburtstag

Jeder Mensch braucht ein Geheimnis. Sagt Mama. Jetzt habe ich auch eins. Das hier. Mein Tagebuch. Ich habe es aus dem Papier zusammengeklebt, das Mama mir bringt, damit ich zeichnen kann. Sie will ständig, dass ich zeichne. Wer zeichnen kann, kann sich die ganze Welt ausdenken, sagt sie. Ich finde das etwas komisch. Woher soll ich wissen, wie die Welt aussieht? Alles, was ich sehe, ist ja hier drin. Oder vor meinem Fenster. Und das kann ich mir nicht mehr ausdenken, es ist ja schon da. Alles andere kenne ich aus meinen Büchern. Die Dinge, die dort drin gezeichnet sind, kann ich mir auch nicht mehr ausdenken, das hat ja schon der getan, der es gezeichnet hat. Oder fotografiert, wie in dem Buch mit der Puppe und den Teddybären, in dem alles aussieht wie richtig, aber ohne Farben.

Mama sagt trotzdem, wer zeichnen kann, ist wie Gott. Warum sie das die ganze Zeit sagt, kapiere ich nicht so richtig. Sie glaubt ja gar nicht an Gott. Das hat sie mir selbst gesagt.

Ich schon. Denke ich. Tante Julie erzählt mir manchmal von ihm. Sie sagt, dass er die ganze Welt gemacht hat, aber sie sagt auch, dass er sehr nett ist. Lieb. Sie nennt ihn den lieben Gott. Man kann immer mit ihm reden, wenn man will, sogar mitten in der Nacht, wenn man nicht schlafen kann. Das stört ihn überhaupt nicht. Man darf auch laut mit ihm reden oder ganz leise. Es reicht sogar, wenn man alles nur denkt. Er hört es trotzdem. Darum rede ich nur in meinem Kopf mit Gott. Ich will nicht, dass Mama es hört und wieder wütend wird, weil es immer so schwierig ist mit mir.

Das einzig Blöde an Gott ist, dass ich Angst habe vor ihm. Julie sagt, dass er alles sieht und weiß. Ein bisschen erinnert er mich an Mama. Sie weiß auch immer alles, was ich tue, esse, sage. Sie macht mir auch manchmal Angst.

Aber Gott weiß sogar noch mehr. Er weiß, wenn ich fiese Dinge denke oder sauer bin auf ihn, weil er etwas nicht so gemacht hat, wie ich es mir beim Beten gewünscht habe. Zum Beispiel, wenn ich die Elstern vor dem Fenster den ganzen Tag nicht sehen kann, obwohl er genau weiß, dass das Unglück bringt.

Im Ernst, manchmal denke ich, für was soll ich überhaupt beten, wenn es ja sowieso nichts nützt? Aber vielleicht hat Gott auch einfach zu viel zu tun und kann nicht alles auf einmal machen. Mama sagt auch, dass ich viel zu ungeduldig bin.

Dann fühle ich mich gemein, weil ich wegen so was Kleinem böse auf Gott bin. Oder auf Mama. Ich probiere darum immer, nicht böse auf die beiden zu werden. Das Doofe ist nur, wenn ich etwas ganz fest nicht tun will, passiert es mir irgendwie wie von selbst. Das ist, wie wenn mich mein Ausschlag juckt und Mama mir verbietet zu kratzen, damit er sich nicht entzündet. Dann gebe ich mir ganz fest Mühe, es nicht zu tun, aber irgendwann passiert es einfach. Dann kratze ich so fest, bis alles blutet.

Mit Gott ist es ähnlich. Plötzlich denke ich gemeine Worte und ich sage ihm, dass ich ihn blöd finde und dass ich ihn hasse und solche Sachen. Und danach habe ich Angst, dass er wütend ist auf mich und mich bestraft. Darum muss ich ihn ablenken, damit er alles vergisst. Ich sage ganz schnell dreizehn Mal hintereinander »xyzxyzblabla, xyzxyzblabla, xyzxyzblabla, abc, Amen.« Das funktioniert natürlich nicht richtig, weil Gott ja eben alles weiß. Die ganze Sache macht mich nervös. Darum probiere ich manchmal einfach so zu tun, als gäbe es ihn gar nicht.

Lieber Gott, wenn du das hier gelesen hast, sei bitte nicht böse. Ich weiß natürlich, dass es dich trotzdem gibt.

Prolog

Sonntag, 28. Juli 2013, das Ende

Wie eine Puppe sieht sie aus. Ihre Haut scheint kaum Poren zu haben, liegt weich und cremefarbig über ihrem Schädel. Umgibt ihn als Hülle, schmiegt sich an das Jochbein und den Kieferbogen, als wären darunter nicht Knochen, Tod, das Ende.

Ich liebe sie. Alles an ihr. Von den hellen Härchen auf ihren kleinen, runden Zehen bis zu dem schimmernden Wirbel über ihrer hohen Stirn. Und in ihrer Mitte liebe ich den perlrunden Knopf auf ihrem jungfräulichen Bauch. Er gehört mir mehr als alles andere an diesem perfekten Geschöpf, der Liebe meines Lebens. Er ist das Zeichen unserer ewigen Verbundenheit.

Wenn ich lange genug auf ihren Hals schaue, fast die Luft anhalte dabei, sieht es aus, als ob ihr sauberes Blut noch immer unter der Haut pocht, hell jede Zelle nährt, damit sie für immer bleibt, was sie ist: meine Prinzessin. Niemand wird sie mir rauben, kein Ritter, kein Räuber und auch sonst keiner aus der Welt da draußen.

Ich brauche Luft, Leere, muss denken. Ich gehe hinab in Merets Zimmer. Öffne das Fenster vor der Glyzinie. Unter der schlafenden Fassade liegt das ewig gelbe Stück Rasen mit dem leeren Bassin. Daneben wartet das Skelett der maroden Kutsche auf seine Braut. Ein blinder Fleck unter einem Himmel aus Anthrazit. Hier spielen längst keine Kinder mehr. Die sind anderswo. Liegen wahrscheinlich vor den Fernsehern, während ihre Väter die Samstagsräusche ausschlafen und ihre Mütter in der schwülen Luft von Liebe träumen.

Hinter dem Ginster hockt der Kater. Er beobachtet alles mit seinen gelben Augen. Zwei Elstern hüpfen im Laub auf dem Beckengrund und schütteln mit wohligem Tremolo die Parasiten aus ihrem Gefieder. Irgendwo hinter dem Kompost höre ich ihre Brut betteln. Sie ist nimmersatt und ohne Dank.

Ich schließe das Fenster und setze mich an den niedrigen Tisch, an dem ich so oft mit meinem Mädchen gesessen habe. Ein schimmernder Streifen Erdbeermarmelade von ihrem letzten Frühstück zieht sich noch über die Tischplatte. Ich schiebe meinen Arm darüber, spüre, wie die Haut haften bleibt, die Erinnerung an den Härchen zieht. Dann lege ich meinen Kopf auf den Tisch.

Kapitel 1

Freitag, 19. Juli 2013, 08:26

Der Himmel war verschmiert. Hinter der radlosen Kutsche im Hof färbte er sich zu Sorbet; Himbeere mit Mango. Nur Steiners Hahn krähte irgendwo. Dass der nicht schon in einem Suppentopf dümpelte, war ein Wunder, der musste längst zäh sein wie Gummi. Den Steiner gab es ja schon ewig nicht mehr. Armes Viech, dachte Nora und wusste selbst nicht recht, ob sie den Hahn oder den Schwerenöter mit dem roten Kopf meinte. Alle Alten sterben weg, und was bleibt, ist ein braches Feld, eine behinderte Kutsche, ein einsamer Hahn und dieses staubige Labyrinth hier, in dem ich das tue, was man leben nennt. Und warum? Damit ein Kind ein Kind bleibt. Und wozu das? Sie hatte es vergessen.

Nora lehnte ihre Wange gegen die warme Tasse mit Sprung in ihren Händen. Parzival, der gelbäugige Kater, zwängte sich zwischen ihren Beinen hindurch und wollte sich ihr auf die Füße legen. Sie schob ihn mit der rechten Fußspitze weg, ein Maunzer krächzte aus seiner Schnauze. Wenigstens einer, der noch aufmuckte. Sie selbst hatte schon lange damit aufgehört. Was nützte es schon.

In diesen stillen Stunden, bevor sich die unerträgliche Weite des neuen Tages ganz entfaltete, kauerte sie sich unter den letzten Zipfel Nacht. Er war das Versprechen, dass eine neue Dunkelheit sich um sie legen und sie ein Kalenderblatt weitertragen würde, wenn sie nur die nächsten paar Stunden hinter sich brachte, tat, was es zu tun gab. In diesen Momenten wusste sie, dass Großvater nie ganz gegangen war. So einer wie der lässt sich auch vom Tod nicht daran hindern, andere zu überschatten und ihnen das schiere Sein zu vermiesen. Überall hockt er, in jedem düsteren Winkel dieses Hauses, in der fettigen Luft und selbst im Licht. Auch nach vierzehn Jahren unter der Erde war er hier noch immer Herr im Haus.

Über ihrem Kopf hörte Nora den Tag erwachen. Die sanfte Stimme der Großtante sprach zu Merets Kontrollfensterchen. »Liebes? Bist du wach? Möchtest du Saft oder Milch?«

»Egal.«

»Auch gut. Zieh dich schon einmal an, Schätzchen, Mama kommt gleich hoch und bringt dir was.« Nora kannte diese Worte wie ihren Puls: Mama kommt gleich zu dir. Mama, das bin ich. Ich bin Mama. Mama ist alles, was ich bin und sein werde, dachte sie und goss Milch in den kleinen roten Topf mit dem krummen Boden. Die Flasche wog tonnenschwer in ihrer Hand, zog ihr Schultern und Nacken nach vorn, während die nikotingelbe Decke ihr von oben die Luft aus den Lungen drückte.

Sie war noch nie gern in diesem trüben Haus gewesen. Und hier wohnen hatte sie erst recht nie gewollt. So weit weg von der Stadt, vom Leben und der Leichtigkeit. Das Einzige, was hier im Kaff pulsierte, war die Autobahn drüben hinter dem Feld.

Am schlimmsten war es gewesen, als Nora noch ein Kind war. Damals hatte das Motel noch Gustav gehört. Sie hatte den Großvater zwar kaum gekannt, wer hatte das schon, aber seine Frau, die Anni, die hatte sie immerhin geliebt. Dreiundfünfzig Jahre lang hatte die runde kleine Frau neben dem Alten existiert, bis dass der Tod euch scheidet eben. Er hatte kaum jemals mit ihr gesprochen, nur dann und wann ein paar Forderungen geblafft oder sie unsanft am Oberarm gepackt, wenn ihr warmes Herz wieder etwas gar begriffsstutzig war. Er bestieg sie, wenn es sich ergab, aß, was sie ihm hinstellte, und trug, was sie für ihn wusch und bügelte. Als der Krebs kam, nahm Anni all ihre Wärme mit unter die Bettdecke im dämmerigen Schlafzimmer im zweiten Stock und lag dem Ende entgegen. Gustav ignorierte das und schlief unten im Wohnzimmer.

Nur Tante Julie, Annis Zwillingsschwester, ging noch zur Großmutter hinauf und streichelte sie in den Schlaf. Ab und zu kam der Arzt und schüttelte den Kopf. Die Kinder kamen nie. Sie hatten wohl nicht die Kraft, in die Trostlosigkeit des Kaffs einzutauchen, vielleicht hatten sie auch Angst vor dem trauerbösen Vater. Oder sie waren ganz einfach zu faul. Wen kümmerten schon ihre Gründe, Tatsache war doch, dass Anni nicht nur am Krebs zugrunde ging, sondern am Leben im Allgemeinen und an gebrochenem Herzen im Besonderen.

Erst als Anni tot war, da liebte Gustav sie. Und zwar so gnadenlos, dass er sich mit ihrer Leiche im Schlafzimmer verschanzte und keinen reinließ, sechs ganze Tage lang. Vielleicht war es ja gar nicht Liebe, sondern Trotz. Wenn er Anni schon nicht mehr haben konnte, so sollte auch sonst keiner sie bekommen. Die auf der anderen Seite der Tür waren ja doch nur geldgierige Aasgeier, vom Amtsarzt über den Bestatter bis zu den Gören. Saupack, allesamt, mieses, das nur ans Geld dachte. Fast pietätloser als das Amt, dessen Steuerrechnung für die Lebensperiode, die Anni noch angebraucht hatte, schon zwei Tage nach ihrem Dahinscheiden im Briefkasten lag. In der Schweiz hat das Amtliche halt schon immer Vorrang gehabt vor dem Emotionalen, meinte Julie. »Wenigstens in diesem Punkt versteht der Gusti die Menschen um ihn herum.«

Als alles Reden nichts half und die Großmutter anfing, unter der Tür hervorzustinken, erschien das Amtliche in Form zweier junger Männer in fabrikneuer Uniform. Und so kam es, dass zwei Polizisten aus dem Kaff etwas taten, was noch keiner von ihnen je hatte tun müssen: einbrechen und sich mit einem zornigen alten Mann um seine verwesende Frau rangeln.

Seit Jahren war nie mehr jemand in den zweiten Stock hinaufgegangen. Behauptete Julie zumindest verlässlich nach dem zweiten Baileys. »Der Geruch jener Tage hängt dort noch immer, sag’ ich dir. Der von Annis faulem Fleisch, der von Großvaters Wut und der vom Adrenalin der jungen Polizisten.« Ja, und vielleicht auch der von deiner Scham darüber, dass du und deine Schwester diesem Haus so wenig Gutes hattet geben können, weil Gustav euch überlegen gewesen war, immer und in allem, dachte Nora manchmal. Aber laut gesagt hätte sie das nie. Denn über den eigentlichen Grund für ihre gemeinsame Abscheu vor dem zweiten Stock sprachen die beiden nicht.

Gustav erschien nicht zur Beerdigung seiner Frau und sprach fortan nie wieder ein Wort. Zwei Jahre später gab auch er den Löffel ab – und Tante Julie fing endlich an zu leben.

Ohne ihren Schwager war das Haus heller, farbiger. Sogar die Luft wurde leichter und der Staub tanzte ausgelassener in den schmierigen Sonnenstrahlen zwischen den Gardinen. »Weißt du, Gustavs Schweigen war manchmal so laut, dass es von innen her gegen meinen Kopf drückte und mir in den Ohren stach«, erzählte sie Nora, wenn sie sich mal wieder einen zu viel hinter die Binde gekippt hatte. Dabei presste sie dramatisch ihre Handteller an die Schläfen unter den gelblichen Haarfäden und neigte den Kopf nach vorn. So verharrte sie, bis sie sich sicher war, dass ihr Publikum auch wirklich verstanden hatte, was sie hatte durchmachen müssen. Dann setzte sie sich wieder kerzengerade hin, legte ihre Hände in den Schoß, neigte den Kopf leicht nach rechts und nickte gewichtig. Wie ein Schulmädchen, das beim Lehrer petzt, fand Nora und wand sich betreten. Was für eine läppische Vorführung, dachte sie – und wollte der Tante doch tröstend über den Kopf streicheln, vielleicht aus Mitleid, vielleicht aus schlechtem Gewissen, weil die Alte so viel für sie tat, während sie ihr nur knapp die Einsamkeit linderte und sie aufrichtig liebte. Sie ließ das Streicheln immer bleiben. Julie war zu alt und zu hölzern, um noch jene sanfte Zärtlichkeit zu lernen, die über einen trockenen Klaps oder das hastige Kopulieren mit dem Steiner hinausging. Zu viel Gustav. Das dörrt jeden aus.

Auf der heißen Milch hatte sich eine Haut gebildet. Nora hob sie mit den Zinken einer Gabel ab und schleuderte sie mit einer knappen Bewegung des Handgelenks in den Abfluss. Sie füllte die dampfende Flüssigkeit in Merets Sonntagstasse, die mit der Kaiserin Sisi darauf. Seit vor ein paar Monaten die Schiefe-Turm-von-Pisa-Tasse auf dem Küchenboden zerschellt war, hatte Sisi auch am Freitag Dienst, Doppelschicht quasi. Nora schabte mit einem Esslöffel einen dicken Batzen Honig aus dem Glas und rührte damit so lange in der Milch, bis er sich ganz aufgelöst hatte. Gedankenverloren steckte sie sich rasch den tropfenden Löffel in den Mund und drehte ihn so, dass die Zunge sich in der süßen Wölbung festsaugen konnte.

Obwohl es noch so früh am Tag war, legte sich schon frische Hitze auf die nie ganz verglommenen Schichten der vergangenen Tage. Und heute sollte es noch schwüler werden. 38 Grad hatte ihre App angezeigt, und sie hätte am liebsten geheult. Nora hasste den Sommer. Er war ihr schon immer viel zu organisch und unruhig gewesen, die Hitze machte sie matt, die halb nackten Menschen mit viel zu viel schwitziger Haut überall ekelten sie an.

Hundertmal lieber erfrieren, als den Hitzetod sterben, dachte sie zum wiederholten Mal und stellte sich vor, wie sie noch an diesem Abend in den Zug nach Bern steigen würde, im Rucksack eine Flasche Wodka und zwei, drei Schachteln Benzodiazepine. Von dort würde sie über Brig nach Mörel weiterreisen und sich von der letzten Gondel auf die Riederalp tragen lassen, weg von all dem hier. Sie würde bis zum Märjelensee wandern, ganz ohne Eile, und dann, wenn der Himmel nochmals durchsichtig und weit wurde, bevor er sich um die Erde schloss, würde sie sich irgendwo in eine Nische im uralten Eis legen, wo keine Wanderer sie finden würden. Zuerst würde sie die Tabletten schlucken und warten, bis sie sicher im Magen aufgelöst und ins Blut gedrungen wären. Erst jetzt würde sie sich auf ihre Jacke legen und am Schnaps nuckeln, das Firmament als Verheißung über sich, ganz langsam, damit die Kälte ihr in die Knochen kriechen konnte, ohne dass die Schmerzen sie noch erreichten. Nach und nach würde sie abtauchen und nie wieder erwachen.

Aber die Gletscher schmelzen einem ja auch unter dem Arsch weg, bis ich mich endlich mal zu was durchringen kann. Andere machen zwei Schritte vor und einen zurück, ich stehe einfach wie ein Esel auf dem immer selben Fleck und warte, dass etwas passiert.

Ärgerlich drehte sie den kalkigen Hahn mit dem blauen Punkt auf, bis das Wasser eine kalte Glasstange war, in die sie ihre Pulsadern schob. Sie teilte sich und umfing ihre Handgelenke als kühlende Manschetten. Nora schloss die Augen und stellte sich vor, wie das kalte Blut sich langsam in ihrem Körper ausbreitete und die hektischen Moleküle immer langsamer machte, bis alles in ihr wieder ruhig und ordentlich war.

Julie kam in die Küche, ihr Morgenmantel wie eine zimtfarbene Watterüstung um ihren winzigen Körper gewickelt, als ob die Hitze für sie nicht gelte, und streifte Noras Wange rasch mit dem Handrücken: »Ah, du hast uns gehört, fein. Ist der Honig bereits drin?« Ohne die Antwort abzuwarten, tunkte sie den kleinen Finger in die Milch und leckte ihn mit ihrem Zünglein ab. Sie glich dabei einem Leguan, der aus seinem krustigen, spröden Echsenmaul eine feuchte, marzipanrosa Zunge hervorschnellen lässt. Sie nickte zufrieden. Dann erst sah sie Nora an, die sich die Hände an dem harten grauen Tuch abtrocknete, das an dem Haken mit der gelben Plastikblume hing. »Schläfst du heute eigentlich nochmals hier oder kommt er schon aus London zurück?«

»Er« war Noras Mann Stefan. Julie sprach seinen Namen niemals aus. Sie mochte ihn nicht. Überhaupt duldete sie keine Männer mehr in diesem Haus. Nach Gustavs Tod und Stefans einzigem Besuch damals vor der Hochzeit war der Steiner der Letzte gewesen, den sie noch ab und zu hereingelassen hatte. Und der war nichts als ein harmloser Feigling gewesen. »Das einzig Große an dem war sein Schwanz«, hatte Julie einmal gesagt. »Das wusste der ganz genau, ha, und wie. Darum rechnete er auch immer damit, dass ich ihm nie lange böse sein konnte. Und mit seiner Alten machte er es genauso. Meine Güte, was hat der alte Dorfhengst uns Weiber herumdirigiert mit seinem Prachtding. Eigentlich schade, dass es jetzt unter der Erde verrottet. Ich könnte es weiß Gott ab und zu gebrauchen.« Dann hatte sie gekichert, ein greises Mädchen mit Sehnsüchten aus einer anderen Zeit.

Wer will das schon wissen, hatte Nora damals gedacht und war peinlich berührt unter irgendeinem Vorwand zu Meret hinaufgegangen. Sex war kein Thema, über das sie sprach, nicht einmal mit Stefan. Lästig genug, dass es ihn überhaupt gab, man musste sich nicht auch noch außerhalb des Schlafzimmers darüber unterhalten. Seit Vaters Tod hatte kein Mann mehr sie wirklich berührt, nur noch ihren Körper. Den hatte sie Stefan mit der Hochzeit zur Verfügung gestellt. Sex gegen finanzielle Sicherheit für sich und Meret. Das war machbar.

»Stefan kommt heute Abend zurück. Ich esse noch mit euch zu Mittag und gehe dann mal los.« Nora wischte den Tassenboden sauber und stellte Sisi auf das Tablett, auf das sie bereits eine Packung Cracker, eine abgepackte Portion Butter, ein Einzeldöschen mit Erdbeermarmelade und ein abgepacktes Plastikmesser gelegt hatte. Umständlich stieg sie damit über die schmierigen Näpfe von Julies Kater Parzival, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund immer im Weg standen, wie das fette alte Viech selbst, und ging über den engen, getäfelten Flur zur Treppe. Licht gab es hier schon lange keines mehr. Das brauchten sie auch nicht. Die beiden Frauen kannten jede Stufe und jeden Schatten mit ihren Körpern. Und Meret würde hier ohnehin nie mehr vorbeikommen.

Sie stieg langsam zu Merets Kammer hinauf, das Tablett mit beiden Händen fest umfasst. Die Stufen knarrten ihr Lamento, Fuß nach Fuß, bis der Spannteppich es oben verschluckte. Im ersten Stock war es still, wie immer. Um diese Zeit schlief auch Elvis, und man hörte nicht einmal das Quietschen seines Rads. Nora schaute kurz durchs Kontrollfensterchen gleich neben der ersten Tür rechts. Meret lag noch im Bett. Nora stellte das Tablett auf das halbrunde Tischchen mit den mürben Trockenblumen, drückte dreimal auf den Dispenser und desinfizierte sich gründlich Hände und Unterarme. Sie spürte, wie jeder Keim auf ihrer Haut zerplatzte. Jetzt war sie rein und bereit für ihre Prinzessin.

Merets Tagebuch

Einundzwanzig Wochen und fünf Tage vor meinem dreizehnten Geburtstag

Vorgestern ist Elvis gestorben. Das war ein bisschen unheimlich, aber nur ein bisschen. Eigentlich sah es aus, als würde er nur schlafen, aber ich habe trotzdem gemerkt, dass er anders war. Ich brachte ihn einfach nicht wach, obwohl ich die Körnerpackung schüttelte, das hat sonst immer geholfen. Da hab’ ich gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Und auch sonst war etwas komisch mit ihm. Es war, als hätte jemand ein Loch aus der Luft ausgeschnitten, dort, wo er lag. Das war natürlich nicht wirklich so, weil man aus der Luft ja keine Löcher schneiden kann. Ich habe es zur Sicherheit sogar probiert. Es geht wirklich nicht. Eigentlich schade, dann könnte ich mir ab und zu ein Loch machen und ein bisschen weg von hier. Zum Beispiel zu dem Bassin unter meinem Fenster.

Mama hat den Kleinen in einem Plastiksack weggebracht und behauptet, er sei jetzt im Himmel. Ich glaube, das hat sie nur gesagt, damit ich nicht traurig bin. So was macht sie oft. Ein anderes Mal hat sie nämlich gesagt, wenn wir tot sind, sind wir wie Rauch, der langsam davonfliegt, bis er einfach weg ist. Aber vielleicht ist es bei Hamstern ja anders. Auf jeden Fall ist der alte Elvis jetzt weg.

Gestern hat Mama mir den neuen gebracht. Wie immer hat sie einen ausgesucht, der fast so aussieht wie der vorherige. Dann ist es, als wäre nichts passiert, sagt sie immer. Darum haben auch all meine Hamster denselben Namen. Elvis. Das war auch eine von Mamas Ideen. Sie hat gesagt, wenn man einem Hamster zu sehr nachtrauert, soll man sich gar nicht erst einen kaufen. Die leben halt nur zwei, drei Jahre. So ist das eben. Ich gebe mir darum fest Mühe, dass es mich nicht traurig macht, wenn wieder einer geht. Ich will nicht, dass Mama mir keinen neuen mehr bringt. Sonst habe ich ja niemanden mehr zum Reden, wenn sie weg ist.

Aber es ist gar nicht so einfach, das Traurigsein kommt einfach, ob ich will oder nicht. Vielleicht sollte Mama mir doch besser eine Katze bringen, so eine wie Parzival, aber netter. Er will nämlich meinen Hamster fressen, das weiß ich von Julie.

Es kommt eh nicht darauf an, was ich will. Etwas anderes als ein Hamster geht ja doch nicht. Katzen müssen immer nach draußen, die kann man nicht einfach mit mir zusammen hier einschließen.

Wenn ich es mir recht überlege, machen die neuen Hamster meine Traurigkeit meistens nur noch schlimmer. Vor allem der neue Elvis (also Nummer vier). Der sieht zwar fast gleich aus wie Nummer drei. Aber er ist völlig anders. Viel weniger nett. Er versteckt sich die ganze Zeit in seiner blöden Kokosnuss, und wenn ich sie hochhebe, macht er sich ganz flach und zittert. Das ist doch doof, ich tue ihm ja nichts. Trotzdem benimmt er sich, als wäre ich eine von den Bösen da draußen oder so. Aber er tut mir auch leid. Ich werde einfach ganz lieb sein zu ihm, dann merkt er, dass ich zu den Guten gehöre, wie Mama und Julie.

Als ich ihn heute auf die Hand genommen habe, um ihn zu streicheln, hat sein kleines Herz so schnell geschlagen wie Mamas Finger, wenn sie damit auf den Tisch trommelt, weil ich zu langsam bin mit meinen Hausaufgaben. Das mit dem nervösen Herzen kommt davon, dass die meisten Hamster lieber allein sind, sagt Mama. Ich kann das nicht verstehen. Ich bin immer traurig, wenn sie geht.

Kapitel 2

Freitag, 19. Juli 2013, 12:07

»Was willst du jetzt schon wieder bei diesen Hexen? Du bist ja voll krank im Kopf, Mann!«

Der junge Steiner wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß vom Stirnspeck und zog einen schneckendicken Rotzbatzen in seinen Gewaltschädel hoch, bevor der sich im Schnurrbart verkriechen konnte. Der Typ musste längst bis unter das Deckengewölbe voll sein mit der Pampe, dachte Nico und grinste. Würde so einiges von dem Scheiß erklären, den sein Lehrmeister ständig laberte …

»Ich frage mich, warum du denen immer den Arsch hinterherträgst. Wenn du bei mir nur halb so pflichtbewusst wärst, könnte aus dir glatt noch was werden. Schau mich nicht so unverschämt an. Wenn du meinst, es interessiert mich auch nur einen Mückenfurz, was du aus deinem armseligen Leben machst, hast du dich geschnitten. Es ist mir nämlich scheißegal. Nur damit du’s weißt. Es ist deine Mittagspause, nicht meine. Und jetzt hau ab!«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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