Mr. Globetrotter - Klaus Denart - E-Book

Mr. Globetrotter E-Book

Klaus Denart

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Beschreibung

Eine Autobiografie, fesselnd wie ein Abenteuerroman. Vorwort von Rüdiger Nehberg

Wer das Fernweh kennt, wen das Abenteuer lockt, der kommt um den Lebensbericht von Klaus Denart nicht herum. Einer ganzen Generation moderner Abenteurer ist er ein großes Vorbild. Fasziniert von seiner unstillbaren Neugier, die eigenen Grenzen auszuloten, erlebt der Leser die Abenteuer des Autors hautnah mit. Man befährt gemeinsam mit ihm den Blauen Nil in einem hölzernen Sarg oder durchquert zu Fuß den lateinamerikanischen Dschungel. Anhand dieser spannenden und authentischen Reiseberichte voll hintergründigem Humor und scharfsinniger Reflexionen lernt man die beeindruckende Persönlichkeit des Autors kennen. Die Erkenntnisse und Erfahrungen, die Klaus Denart aus diesen Abenteuern gewonnen hat, haben ihn entscheidend beim Aufbau seines Unternehmens Globetrotter Ausrüstung beeinflusst. Mit seiner besonderen Unternehmensphilosophie wurde es zum größten Outdoor-Händler in Europa.

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Seitenzahl: 501

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort12 Uhr Mittagswehr oder spiel mir das Lied vom TodEismeer oder Afrika?Hunger in AddisDanakil – die heisseste Wüste der ErdeEin Sarg treibt auf dem Blauen NilAbenteuer BerufslebenMit zwei kleinen Kindern kreuz und quer durch AfrikaDanakil zum Zweiten – durchs Höllenloch der SchöpfungZu Fuss durch den Urwald MittelamerikasGlobetrotter Ausrüstung – eine merk-würdige FirmaZeittafel meiner ReisenCopyright

Vorwort

Was treibt manche Menschen hinaus in die Ferne?

Haben sie keine Heimat? Keine Heimat in sich?

Ist ihr Freiheitsdrang ausgeprägter? Und was bedeutet Freiheit eigentlich? Wenn sie getrieben sind, sind sie dann wirklich frei? Wenn man altersbedingt etwas ruhiger und besinnlicher wird, so schadet es nicht, sich seine Gedanken über die Motive des eigenen Lebensweges zu machen.

Schon als Sechsjähriger bin ich allein stundenlang in der Natur herumgestromert, freute mich, wenn ich mich an Hase oder Reh heranpirschen und sie beobachten konnte. Das waren meine kleinen Abenteuer. Mit elf Jahren fuhr ich mit einem Cousin mit dem Fahrrad von Kiel nach Schweden; mit dreizehn ging’s per Anhalter nach Stockholm; mit 15 Jahren in den Sommerferien über Brüssel, Paris, London bis zum nördlichsten Punkt Schottlands.

Das Reisen ließ mich fortan nicht mehr los. Und so wurden es zehn Jahre meines Lebens, die ich herumgereist bin und buchstäblich zum Globetrotter wurde. Das alles in einem Buch zu erzählen, sprengt den stabilsten Bucheinband. Ich berichte daher nur von den Reisen ausführlich, die mich am meisten geprägt haben.

Immer weiter zog es mich in die Ferne. Und das bereits in den frühen 1960ern, als Fernreisende noch als Pioniere galten und an so etwas wie Abenteuertourismus noch nicht zu denken war.

Als ich 19 Jahre alt war, fragte mein Schulfreund Peter mich: »Hast du Lust, mit mir für zwei Wochen nach Norwegen zu fahren?« Und wie ich Lust hatte! Das Problem: Peter fuhr Moped, ich fuhr Fahrrad. Peter blieb zwei Wochen, mich ließ Norwegen neun Monate lang nicht mehr los. In Nordnorwegen lernte ich die Samen, die Rentiernomaden kennen, deren ursprüngliches und naturverbundenes Leben ganz meinen Vorstellungen entsprach und das ich nur zu gerne teilte. Unvergesslich bleibt mir, wie ich als Fremder bei ihrem herbstlichen Schlachtfest mithelfen durfte, das mich in seiner Archaik zutiefst beeindruckte.

Im Frühjahr 1963 bin ich dann vom äußersten Norden Europas per Anhalter über den Nahen Osten, Ägypten und den Sudan nach Äthiopien gereist. Ich hab es auf meinen Reisen nie eilig gehabt und blieb fast zwei Jahre in dem faszinierenden Kaiserreich im Osten Afrikas. Am eigenen Leib erfuhr ich quälenden Hunger –, lernte aber auch, wie man sich an den eigenen Haaren aus der Misere zieht.

Von den Felsenkirchen in Lalibela aus ritt ich mit Maultieren über 4000 Meter hohe Gebirgspässe. Mit einem belgischen Kameramann durchquerte ich zu Fuß die Danakil, die heißeste Wüste der Erde. Und mit einem sargähnlichen Fahrzeug fuhren Günter Krieg und ich den reißenden Blauen Nil hinab. Nach 25 Tagen zerschellte das Boot. Wir mussten sechs Tage lang ohne Essen laufen, klettern, kriechen, bis wir auf Menschen stießen.

Nach über zwei Jahren zurück in Deutschland lernte ich meine Frau Rosemarie kennen. Noch vor der Hochzeit warnte ich sie: »Ich will wieder auf Reisen. Da musst du mitkommen.« Wir bekamen zwei Töchter, und sobald die aus den Windeln waren, ging es für die gesamte Familie wieder los – dreieinhalb Jahre mit einem Unimog kreuz und quer durch Afrika. Gemeinsam durchquerten wir die Sahara von West nach Ost. Ein Familienurlaub der besonderen Art, der uns nachhaltig zusammengeschweißt und jeden von uns geprägt hat.

Nach unserer Rückkehr besuchten wir meinen Freund Rüdiger Nehberg, den ich sofort mit meinem Danakil-Bazillus infizierte. Drei Monate später stand ich, zusammen mit Rüdiger und dem Chemiestudenten Horst Walter, erneut unter der sengenden Sonne der Danakil-Wüste. Es war das extremste Abenteuer meines Lebens, das alle Facetten dessen enthielt, was viele Menschen einst auch in Europa durchleiden mussten: Hitze, Hunger, Durst, Bedrohung, Krieg. Aber auch faszinierende Begegnungen mit ursprünglichen Menschen, die von dieser menschenfeindlichen Wüste geprägt sind – der Kontakt mit dem Islam oder das Besteigen von feuerspeienden Vulkanen gehörten dazu.

Erst die Gründung der Firma Globetrotter Ausrüstung 1979 schränkte mein Nomadenleben stark ein, die Reisen wurden kürzer. Die existenziellen Erfahrungen aus meinen Abenteuern waren mir beim Aufbau und der Leitung des Unternehmens eine enorme Hilfe. Denn der Weg zu dem heute größten Out-door-Spezialisten Europas erforderte nicht selten Mut, Zielstrebigkeit und Risikobereitschaft. Werte wie Teamgeist und soziale Verantwortung, auch unseren Mitarbeitern gegenüber, prägen nach wie vor die Kultur unserer Firma.

Heute reise ich noch, aber ich muss nicht mehr ständig auf Achse sein. Ich genieße das Leben auf dem Lande mit Pferden, Hund und Katzen; ich freue mich, wenn im Februar die ersten Kraniche mit lautem Trompeten ihre Rückkehr verkünden oder wenn die Bussarde scheinbar schwerelos im Aufwind ihre Kreise ziehen, sorglos den Moment genießend und nicht ahnend, dass die Menschen ihre Lebensgrundlage – die intakte Natur – jeden Tag kontinuierlich zerstören.

Was hat es für mich bedeutet, immer auf Achse zu sein? War es Lust? War es Flucht? Sucht oder Suche? Sicher von allem etwas. Letztlich bedeutet Reisen für mich, herauszufinden, wo meine physischen und psychischen Grenzen sind.

12 Uhr Mittagswehr oder spiel mir das Lied vom Tod

Das letzte Stakkato, die letzten Korrekturen, um das Kanu optimal auf Kurs zu bringen. Die Stechpaddel stießen in die Fluten. Der Spaß konnte beginnen!

Im nächsten Moment zog es den offenen Kanadier in den Sog des Mittagswehrs. Wir rauschten den aufgestauten Wasserfall hinab. Der Bug tauchte in die Walze. Die rotierenden Wassermassen schnappten sich das Boot, wirbelten es herum. Mein Freund Melchior und ich fanden uns in den Strudeln wieder und trieben ein paar Meter flussabwärts.

»Super! Ganz toll! Aber können wir die Sache sicherheitshalber noch mal wiederholen?«, rief der Fotograf Uwe Reuter. Es gab damals ja noch keine Kameras, bei denen man sich das Foto eine Sekunde später auf dem Display ansehen konnte. »Klar, können wir.«

Reuter arbeitete für eine Illustrierte, die eine Reportage über diese neu gegründete Firma in der Wandsbeker Chaussee in Hamburg bringen wollte. Über diesen exotischen Laden, in dem u. a. Arved Fuchs beraten und für seine Nordpolexpeditionen ausgerüstet wurde. Die Beratung war so gründlich, dass wir mit Arved in einem Tiefkühllager arktistaugliche Schlafsäcke testeten. Bei minus 20° Celsius, inmitten von Bergen von Eipulver. Die Kälte war erträglich, hingegen war der penetrante Geruch von Hunderten von Tonnen Eipulver schon fast eine expeditionsreife Herausforderung.

Peter Lechhart – mein Kompagnon, mit dem ich 1979 das Unternehmen Globetrotter Ausrüstung gegründet hatte – fuhr mit Arved zum Bossons-Gletscher am Montblanc, um den angehenden Arktisforscher in die Geheimnisse des Eiskletterns einzuweihen. Wie man sieht, war Service am Kunden für uns schon damals selbstverständlich. Peter selbst war Bergführer-Ausbilder und hatte natürlich großen Spaß daran, mit Arved die Rettung aus Gletscherspalten zu üben oder Séracs, wie man die bizarren Türme aus Gletschereis nennt, zu überwinden.

Bereits 1970 hatte Peter zusammen mit drei Freunden das grönländische Inlandeis, das sich in Jahrtausenden zu einem 3000 Meter hohen Eispanzer angehäuft hat, auf Skiern durchquert und sich damit auf die Spuren des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen begeben, der 1888 als erster Mensch diese unendliche Eiswüste überwunden hatte. Folglich wurde der nächste Sohn, den Erika Lechhart in Hamburg zur Welt brachte, auf den Namen Fridtjof getauft.

Wahrscheinlich spürte Peter, dass Arved ein Besessener war. So besessen, wie er selbst gute zehn Jahre zuvor gewesen war. Und Besessenen muss geholfen werden. Steht das nicht schon in der Bibel?

Wenn die Kunden Glück hatten, konnten sie auch Rüdiger Nehberg begegnen, der in den Pausen zwischen seinen spektakulären Survivaltouren gerne bei seinen Freunden von Globetrotter Ausrüstung vorbeischaute, um seine minimale Ausrüstung auf Vordermann zu bringen. Viel brauchte er wirklich nicht: meistens reißfeste Reepschnüre, wasserdichte Kanister, gelegentlich mal ein neues Survivalmesser. Das Messer ist ein unentbehrliches Universalwerkzeug mit Hohlgriff, in dem man Angelzeug und Streichhölzer unterbringen kann. Die Reepschnüre sind für alles erforderlich, was unbedingt zusammengehalten werden muss.

Und was brauchte ein richtiger Mann in der Steinzeit? Richtig! Eine Steinaxt, ein scharfes Messer aus Flintstein und Schnüre aus Pflanzenmaterial. Viel mehr benötigt auch der Überlebensexperte Rüdiger selten.

Heute umgeben sich Männer mit Spielzeug: mit protzigen Autos, Navigationsgeräten und Telefonen, deren Funktionsfülle sich der Eier legenden Wollmilchsau annähert, obwohl sie doch eigentlich nur die Kommunikation zwischen zwei voneinander getrennten Menschen ermöglichen sollen.

Lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass man Kinder an ihrem Spielzeug erkennt, richtige Männer dagegen ihre inneren Werte hinter äußerlicher Bedürfnislosigkeit verstecken?

Ich hatte Rüdiger in einem lichten Moment mit dem Begriff »Sir Vival« geadelt. Er wurde sein Markenzeichen. Rüdiger und ich sind seit Ende der 60er-Jahre dicke Freunde. Ich war 1965 mit einem selbst gebauten »Sarg« in XXL-Größe den wilden Blauen Nil in Äthiopien hinuntergefahren. Rüdiger plante das gleiche Flussabenteuer, als wir uns 1968 kennenlernten.

Echte Globetrotter waren Anfang der Achtziger noch absolute Exoten. Massentourismus in entlegene Regionen der Erde gab es damals noch nicht. Globetrotter waren Individualisten, Einzelgänger, die von weniger tatkräftigen Träumern bewundert und von fantasielosen Spießern als Spinner abgetan wurden. Die weite Welt lockte, und verlockend war es vor allem für Studenten, dem Hörsaal eine Saharadurchquerung im VW-Bus vorzuziehen.

Waren das noch Zeiten – Deutschlands Freiheit musste noch nicht am Hindukusch verteidigt werden. Afghanistan war für viele Reisende geradezu der Inbegriff der absoluten Freiheit. Legendär waren der schwarze Afghane, die afghanische Küche oder auch die Waffenschmieden am Kyber-Pass, wo geschickte Handwerker jede Pistole preiswert nachbauten und an alle verkauften, die kaufen wollten. Auch an ungläubige Globetrotter. Nahezu unglaublich erscheint es heute, dass Afghanistan in der Vor-Taliban-Zeit ein tolerantes Land war.

Unser winziger, vollgestopfter Laden zog die Globetrotter an und weckte bei vielen das Fernweh. Wer noch nicht wusste, wohin er reisen sollte, holte sich bei uns Inspiration, schnupperte Abenteuerluft, stöberte in den neuartigen Büchern für Rucksackreisende. In den alternativen Reiseführern erfuhren die Wissbegierigen, in welchem Restaurant in Kabul es das zarteste Lamm zum günstigsten Preis gab. Oder – ganz wichtig – wie man als Trans-Sahara-Reisender ungeschoren die Grenze nach Nigeria passieren konnte. Hätte man sich eigentlich denken können: Am besten am Wochenende, wenn Fußballspiele übertragen werden, dann waren die korrupten Grenzbeamten mehr am Spiel als an den Gepäckstücken der Globetrotter interessiert. An den Wänden lehnten Sandbleche aus dem Zweiten Weltkrieg, Relikte von der Landung der Alliierten in der Normandie. Die drei Meter langen Stahlbleche dienten aneinandergereiht als Fahrbahn für die Fahrzeuge der angelandeten Truppen. Ohne die Bleche wäre die Offensive der Amis und Engländer wahrscheinlich im weichen Strandsand der Normandie stecken geblieben. Selbst 35 Jahre nach der Invasion waren die Sandbleche noch begehrt bei Wüstenfahrern, die damit die Sahara zu erobern trachteten. Monate vor der Eröffnung unseres Ladens waren Peter und ich in die Normandie gefahren, schlürften frische Austern am Omaha Beach und suchten uns bei Schrott- und Autohändlern unser Inventar an alten Blechen zusammen. Dieser geschichtsträchtige Schrott der Alliierten zierte also »Norddeutschlands erstes Spezialgeschäft für Expeditionen, Safaris, Survival, Trekking«.

Melchior Carati, einer unserer ersten Angestellten, hockte – wenn er wissbegierige Kunden hatte – gern im Schneidersitz auf dem massiven Kartentisch, drehte sich seine Zigaretten und plauderte nebenher kenntnisreich darüber, ob man nach Neuseeland besser einen Daunen- oder einen der neuartigen Hohlfaser-Schlafsäcke mitnehmen sollte, ob auf der Südinsel Daune oder auf der Nordinsel Hollowfill zu bevorzugen sei. Und es muss einmal gesagt werden: Manche Kundin wusste nach so viel anregendem Geplauder über ein horizontales Thema nicht, ob sie sich für Premium-Gänsedaune oder für unseren charmanten Kosmopoliten aus Holland entscheiden sollte. Zum Geruch von Melchiors Drum-Tabak gesellte sich der ständige Qualm von Peters Pfeifen, der mit seinem rotblonden Vollbart wie ein Imker aussah. Ganz zu schweigen von den rauchenden Köpfen mancher Kunden, die von unseren massiven Produktinformationen wie benebelt waren. Bei den Daunen ging es um das Füllvolumen pro Kubikzoll, bei den Zeltnähten um die Anzahl der Nadelstiche pro Zentimeter. Die Luft war jedenfalls rauchgeschwängert, sie durchdrang die Schlafsäcke und die Bekleidung. Zusätzlich zur Ware lieferten wir den Duft nach Lagerfeuer und der weiten Welt gleich mit.

Peter und ich hatten seit der Gründung unseres Unternehmens im September 1979 den Ehrgeiz, unseren Kunden die bestmögliche Ausrüstung zu verkaufen, optimal und individuell zugeschnitten auf die jeweiligen Reiseziele. Schrott – außer den Sandblechen – ging bei uns nicht über den Ladentisch. Dem Kunden die angemessene Qualität für sein persönliches Reiseziel zu empfehlen und ihn objektiv zu beraten, das war unser unbedingtes Firmenethos. Und wir empfahlen unseren Kunden nur das, was wir auch selbst auf unseren Reisen mitgenommen hätten.

Das sprach sich schnell herum! Und so war es nicht verwunderlich, dass die jungfräuliche deutsche Antarktisforschung bei uns auftauchte, um sich Rat und Ausrüstung zu holen. Wir rüsteten die Baufirma Christiani & Nielsen mit Zelten, Schlafsäcken, Polarstiefeln, Eisschrauben und Kochern aus, jene Handwerker und Ingenieure, die die erste deutsche Forschungsstation im ewigen Eis errichteten. Schließlich versorgte »Polar-Klamott«, wie einer der spanischen Seeleute des nagelneuen Forschungsschiffs »Polarstern« unsere Firma taufte, 300 Seeleute und Antarktisforscher mit allem Nötigen. Kein Wunder, dass sich auch die Presse für unseren ebenso winzigen wie originellen Laden interessierte.

Wenden wir uns also wieder dem Mittagswehr zu.

»Das sah toll aus, Jungs! Aber wenn ihr noch mal runterfahren könntet, wäre es noch toller«, konstatierte der Fotograf Uwe Reuter.

»Sitzt du diesmal hinten?«, fragte Melchior, der beim Kentern offensichtlich mehr Wasser geschluckt hatte als ich.

»Kein Problem. Lass uns zusehen, dass wir noch gerader ins Wehr hineinkommen. Vielleicht schaffen wir’s jetzt, ohne zu kentern.«

Wir trugen das Kanu 50 Meter flussaufwärts, setzten es ins Wasser und begannen sofort, heftig zu paddeln. Mit flotter Geschwindigkeit wollten wir das Boot auf der Ideallinie halten und mit Tempo geradewegs durch das Wehr schießen. Das Wehr erfasste unser Boot und übernahm die Kontrolle. Es zog das Kanu diagonal in die Strömung. Wir kenterten erneut. Ich versank im Wasser, was für mich eigentlich nichts Bedrohliches darstellte. Wasser war mein Element, das mich noch nie beunruhigt hatte. Ich brauchte ja nur wieder aufzutauchen und ans Ufer zu schwimmen. Auftauchen und …

Aber was war das? Das Wasser wollte mir nicht gehorchen! Das hatte ich ja noch nie erlebt.

Rosemarie – seit 1967 meine Frau – hatte ihren ersten Beinahe-Herzstillstand bereits zwei Tage nach unserer Eheschließung erlitten, nur weil ich mich auf Teneriffa in der Brandung zwischen den scharfkantigen Felsen herumgetummelt und dabei noch einen Riesenspaß gehabt hatte, wenn die tosenden Wellen mich in dem Pool zwischen den Felsen durchwalkten, als wäre ich in einer riesigen Waschmaschine. Im nächsten Moment entspannte sich das Chaos, kurze Atempause im Rhythmus der Wasserkräfte. Doch nur wenige Sekunden später zog es mich durch die »Pforte« zwischen den Felsen ein Stück in die offene Bucht hinaus. Es war ein fantastisches Gefühl, sich den Wasserkräften hinzugeben, ohne Gegenwehr, ohne Angst, sich treiben zu lassen und den Kurs nur mit einigen Schwimmbewegungen zu korrigieren, damit man nicht gegen das spitze Vulkangestein geschleudert wurde. Obwohl man versucht ist, gegen den Strom anzukämpfen, ist es klüger, sich den Kräften der Natur anzupassen. Ich war Sporttaucher und Rettungsschwimmer, und Rosi war schwanger. Da fürchtete sie doch glatt, zwei Tage nach der offiziellen Familiengründung den Erzeuger ihres kommenden Kindes zu verlieren.

Alles, was mich mein Leben lang über Wasser gehalten hatte, funktionierte hier am Mittagswehr nicht mehr. Die Arme flach an die Hüftknochen gelegt, Beinstöße nach oben. Die Routine versagte. Der Wasserfall drückte mich nach unten. Nein – er drückte mich nicht nach unten. Meine Beinstöße von unten und der Wasserfall von oben hielten mich im Gleichgewicht. Leider hielt dieses Gleichgewicht der Kräfte meinen Kopf einen halben Meter unter der Wasseroberfläche. Eine Scheißsituation, die mir völlig neu war. Klar, Scheißsituationen hatte ich in meinem abenteuerlichen Leben schon einige erlebt. Aber lebensbedrohliche Situationen im Wasser hatte ich noch nicht kennengelernt, vielleicht auch deshalb, weil einem die Gefahren manchmal gar nicht bewusst sind. Wenn wir Gefahren immer im Voraus erkennen würden, dürften wir uns ja gar nicht mehr auf die Straße trauen. Rückblickend möchte ich gern mal wissen, wie viele Lkws ich in meinem Leben schon in dem Moment überholt habe, in dem die Fahrer vom Sekundenschlaf übermannt wurden und im letzten Moment wieder aufgewacht sind. Waren es 10, 20 oder gar 50? 50 Mal das Glück gehabt, nicht von einem schlingernden Lkw erwischt zu werden …

Natürlich wusste ich, dass immer mal wieder Paddler am Mittagswehr ertrunken waren. Schlechte Schwimmer, dachte ich mir. Dass mich das gleiche Schicksal ereilen könnte, darauf hatte ich nie einen Gedanken verschwendet.

Ein Mann will nach oben. Aber wie? Es war wie in einem Traum, in dem man rennt und rennt und kein Stück von der Stelle kommt. Ich konnte es nicht glauben – sollte es das gewesen sein? Dabei spürte ich keinerlei Panik, stellte nur lapidar fest, dass ich in der Falle saß und es definitiv keinen Ausweg gab. Knapp die Hälfte meiner mutmaßlichen Lebensspanne hatte ich hinter mir. Ging ich doch davon aus, dass ich mindestens achtzig Jahre alt werden würde. Ich war noch keine vierzig, hatte eine Frau und zwei Töchter, mit denen ich dreieinhalb Jahre kreuz und quer durch Afrika gefahren war. Ich war noch keine vierzig, hatte eine erfolgreiche Firma und war kein bisschen müde. So vergeht die Herrlichkeit der Welt…

Was für ein erbärmliches Ende, dachte ich, so ohnmächtig wie eine Fliege, die das Heransausen der Fliegenklatsche zu spät bemerkt. Erstaunlich, wie schnell wir auf das Maß einer Fliege schrumpfen können, wenn uns bewusst wird, wie gering wir sind. Woher nimmt der Mensch eigentlich seine Vermessenheit, sich für die Krone der Schöpfung zu halten? Der Mensch ist doch das einzige Lebewesen, das um seine Endlichkeit und Unvollkommenheit weiß und diese Unvollkommenheit ein Leben lang kompensieren muss. Der Mensch will nicht akzeptieren, was er vielleicht im Innersten spürt, dass er letztlich auch nicht mehr als ein Tier ist. Er verdrängt völlig, dass fast alle seine Handlungen instinktgesteuert sind. Krone der Schöpfung? Lächerlich!

Ich war noch keine vierzig und hatte doch schon ganz andere Wildwasser gemeistert als dieses lächerliche Mittagswehr. Jeden Tag hatten wir mindestens 20 Mittagswehre zu überwinden, damals, 1965 auf dem Blauen Nil in Äthiopien. Und unser Fahrzeug war kein Kanu, sondern ein Sarg in XXL-Größe gewesen. Doch nun war mein Kopf einen halben Meter unter Wasser und guter Rat teuer. Um die Nerven meiner geneigten Leser nicht weiter zu strapazieren, schlage ich vor, wir wenden uns erst einmal dem hohen Norden zu. Auf den unerquicklichen Strudel werde ich später zurückkommen …

Eismeer oder Afrika?

1963 war ich aufgebrochen, um durch Afrika zu trampen. Ursprünglich wollte ich den Schwarzen Kontinent in einem alten Mercedes 180 erobern, zusammen mit Burkhard, dem der Mercedes gehörte. Burkhard aus Karlsruhe hatte ich ein Jahr zuvor in Skaidi kennengelernt.

Skaidi? Ein winziges Nest in Nordnorwegen, dort, wo die Fernstraße E6 – die sich auf einer Strecke von gut 3000 Kilometern vom südschwedischen Trelleborg über Oslo bis nach Kirkenes an der russischen Grenze schlängelt – an eine T-Kreuzung stößt. Dort geht es linksherum nach Hammerfest, der nördlichsten Stadt der Welt. Die meisten Autofahrer bogen in Skaidi rechts ab, um das nahe Nordkap zu besuchen.

Skaidi war damals auch ein Knotenpunkt für die Samen. (Früher wurden die Bewohner Lapplands Lappen genannt. Heute nennen wir sie so, wie sie sich selbst bezeichnen.) Im Juni, wenn der Schnee endlich die würzigen Moose und Flechten freigab, trieben die Rentierzüchter auf ihrer Wanderung an die Küste des nördlichen Eismeers ihre vieltausendköpfigen Herden durch Skaidi. Am Küstensaum wurde dann eines der Leittiere hinter ein Boot gebunden. Das Ruderboot entfernte sich vom Ufer, und die ganze Herde sprang hinterher ins eiskalte Wasser. Auf den Inseln vor der Küste wartete reichhaltiges Futter auf die Rentiere. Was das Leben auf diesen Inseln aber geradezu paradiesisch machte, war die Tatsache, dass es in diesem rauen Seeklima keine Mücken gab. Im lappländischen Binnenland dagegen terrorisieren Myriaden winziger Blutsauger Menschen und Tiere. Lapplands Mücken sind bei allen gefürchtet. Da bleibt nur die Flucht auf die Inseln oder – wie in Schwedisch-Lappland – in die Berge.

Im August war der kurze Lapplandsommer schon wieder zu Ende. Also fingen die Samen eines der Leittiere ein, banden es hinter ein Boot, und die riesige Herde schwamm zurück aufs Festland. In den folgenden Wochen zogen sie in ihre angestammten Zentren zurück, die so wohlklingende Namen wie Karasjok und Kautokeino tragen.

Anfang September 1962 kamen sie – wie jedes Jahr – auch durch Skaidi, wo ich für gut zwei Monate sesshaft geworden war. Insgesamt war ich bereits seit Monaten mit dem Fahrrad und per Anhalter in Skandinavien unterwegs gewesen. In Skaidi gab es nur etwa 20 Häuser, eine Tankstelle und ein Restaurant. Völlig unerwartet bot sich mir hier die Möglichkeit, meine Reisekasse etwas aufzufüllen.

Das Restaurant in Skaidi gehörte Sofie Pettersen, einer rundlichen, stets freundlichen »Mamutschka«. Sofie entsprach eigentlich gar nicht dem Bild der Skandinavier in den 60er-Jahren, die alle groß und sportlich-drahtig wirkten. Sofie war die erste rundliche Frau, die ich in Norwegen wahrnahm. Mit ihrem breiten, slawisch anmutenden Gesicht entsprach sie eher dem Bild einer Russin aus der Zeit des Kalten Krieges. Sofie war eine gewichtige Institution auf dem Weg zum Nordkap, und ihre Kochkünste schienen mir denen eines Sternekochs um Längen überlegen zu sein. Oder lag es vielleicht nur daran, dass ich als 20-jähriger Globetrotter notorisch ausgehungert war und dieser Mangel meine kulinarische Urteilskraft trübte? Aber Sofie muss tatsächlich ein Kochgenie gewesen sein: Hätte ich sonst heute noch den Geschmack ihrer Rentiersuppe auf der Zunge, den Geruch ihrer Suppe in der Nase? So schmeckt Lappland, genauer gesagt, die Finnmark. Es war die fleischgewordene Metamorphose der gesamten Vegetation des hohen Nordens: Moose, Flechten, Blaubeerblätter, Krüppelbirken, Krüppelwacholder, als i-Tüpfelchen mit den Mineralien der Seeluft gewürzt.

Sofie war obendrein die letzte Informationsquelle vor dem Nordkap. Immer freundlich und in fließendem Deutsch klärte sie die Touristen über Wetterkapriolen, Straßenverhältnisse und die vermeintlichen Gefahren bei der Fahrt zum Nordkap auf, die viele schon als Abenteuer empfanden. Sofie bot mir an, in ihrem Restaurant zu jobben. Dazu gehörte es auch, die Touristenhütten winterfest zu machen, Bäume zu fällen, Holz zu sägen und Proviant für den bevorstehenden langen Winter einzulagern, wenn der Ort völlig von der Außenwelt abgeschnitten sein würde.

An guten Tagen bissen die Köhlerfische am nahen Repparfjord wie verrückt, sobald ich die Angel mit dem Blinker in den Schwarm unter den Fähranleger hielt. Schnell war der Eimer voller Beute, und ich fuhr mit dem Bus nach Skaidi zurück. Sofies Kühltruhen füllten sich, nicht nur mit Köhlerfisch, sondern auch mit Lachs. Sofie besaß eine Fanggenehmigung für norwegischen Wildlachs. Die Flüsse der Finnmark waren berühmt dafür, den besten Lachs Europas zu haben. Norwegische Lachsfarmen gab es damals noch nicht. Die dicke Sofie mit der Lachsangel am Flussufer sitzend, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und richtig: Sofie ließ angeln.

Ein spannendes Spektakel bot sich mir, als sich Anfang September eine Gruppe von Samen außerhalb des Ortes niederließ, um ältere Rentiere zu schlachten und die Jungtiere zu markieren, die im vergangenen Mittsommer geboren worden waren. In einem eingezäunten Areal von der Größe zweier Fußballfelder brodelte es. Über 1000 Rentiere, die fünf Großfamilien gehörten, liefen auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit aufgeregt durcheinander. Zäune kannten die halbwilden Tiere nicht, die normalerweise auf einer Weidefläche von der Größe Schleswig-Holsteins nach den schmackhaftesten Kräutern und Flechten suchten.

Die Samenkinder waren aus ihren jeweiligen Internaten angereist, um bei dem großen Schlachtfest in Skaidi dabei zu sein.

Alle trugen die traditionelle blau-rote Bekleidung der Rentiernomaden, die Männer zudem Lederhosen und taillierte Blusen. In ihrem Gürtel steckte ein scharfes Messer mit Birkenholzgriff. Den Kopf schützte und wärmte eine dreizipfelige, mit reichen Ornamenten bestickte Mütze.

Alle Familienmitglieder, vom Säugling bis zum Greis, waren auf dem Festplatz versammelt. In einer Ecke lagen die geschlachteten Tiere. Überall tobten die kleinen Kinder in ihren farbenprächtigen Trachten herum. Die toten Tiere wurden an Gestelle gehängt und von Frauen und älteren Männern ausgenommen, Felle und Geweihe auf einen Haufen geschichtet. Über einem offenen Feuer drehten Frauen Spieße mit Fleischstücken.

Durch den Rauch tönte das Gekläffe der Hunde und das Grunzen der Rentiere. Die Kinder beteiligten sich mit Leidenschaft an der Arbeit, die wahrlich kein Kinderspiel ist. Die Rentiere standen vor der Brunft und strotzten vor Kraft und Lebensenergie. Die kleineren Samenjungen durften ihr Geschick im Lassowerfen erproben und die Jungtiere dieses Sommers einfangen. Hatten sie eines erwischt, warfen sich zwei weitere Jungen auf das Tier und drückten es zu Boden. Als der kleine Jose-Mikel von einem Jungbullen umgerissen wurde, blieb er auf dem Boden liegen und stöhnte vor Schmerz. Doch die Tiere und Männer rannten weiter um ihn herum, ohne ihn zu beachten. Zeit zum Trösten hatte hier keiner. Das Leben war hart bei den Rentiernomaden, und hart zu sein musste geübt werden.

Schon einige Minuten später kerbte Jose-Mikel unter den kritischen Blicken seines Vaters einem Jungtier das Besitzerzeichen in die Ohren – zwei Keilschnitte ins linke, drei Keilschnitte ins rechte Ohr.

Bei den Tieren der Nachbarfamilie hatten die Tiere drei Schnitte links, drei Schnitte rechts. Die Kombinationsmöglichkeiten mit einer unterschiedlichen Anzahl von Schnitten waren vielfältig genug, um mit diesem System alle Tiere eines jeden Rentierzüchters in Lappland einfach unterscheiden zu können. Insgesamt, so hieß es, gäbe es 500 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten.

Auf keinem Schlachtplatz durfte die Renpolizei fehlen. Sie führte Buch über die Besitzerzeichen. Jedes geschlachtete Tier wurde kontrolliert, ob es zu den hier versammelten Sippen gehörte oder möglicherweise aus einem fremden Weidegebiet zugewandert war. Eine Arbeit war reine Männersache: das Schlachten. Das Lassowerfen überließen sie den halbwüchsigen Jungen. Das imposante Geweih dieser arktischen Hirschart war ein vortreffliches Ziel, und sobald sich die Seilschlinge im Gehörn der meist männlichen Tiere verfangen hatte, sprang einer der Männer vor, ergriff das Tier und benutzte die Geweihstangen als Hebel, um ihm den Kopf auf den Boden zu biegen. Dabei wölbte sich die Halswirbelsäule so stark, dass sich zwischen zwei Nackenwirbeln eine Lücke bildete. Die war groß genug, dass ein zweiter Mann dem Tier mit einem dreikantigen Dolch den Todesstoß versetzen konnte. Ich war jung und ich war neugierig auf die Kultur der Rentierzüchter. »Darf ich auch mal?«, fragte ich selbstbewusst.

Klar durfte ich. Menschen, die ihre alten Traditionen pflegen, freuen sich meist, wenn sich ein Fremder in ihren Fertigkeiten erproben will. Und sie freuen sich noch mehr, wenn sich der Fremde tollpatschig anstellt und von den bockigen Renbullen in die Blaubeeren stoßen lässt. Die Samen hatten also ihren Spaß mit mir, und nach einigen Minuten hatte ich auch meinen Spaß mit der Kultur der Rentierzüchter. Ich durfte den Hirschen an der Hinrichtungsstätte die Köpfe nach unten biegen und sie dem Schlachter darbieten. Ich empfand dies als eine selbstverständliche Arbeit, eben eine Arbeit, die gemacht werden musste, weil sie die Überlebensgrundlage dieses Volkes darstellt. Nicht, dass das Schlachten selbst ein Spaß gewesen wäre. Es war eher das kollektive Gefühl eines traditionellen Erntefestes, an dem die ganze Gemeinschaft beteiligt war und eine tiefe Zufriedenheit empfand. Der Sommer war mild gewesen, die Kälber hatten sich gut entwickelt. Die Herde war das sichtbare Zeichen des Reichtums dieser Gemeinschaft, der ich vorübergehend angehören durfte.

Dutzende von Rentieren wurden geschlachtet. Lkws kamen, um das Fleisch nach Hammerfest zu transportieren. Von dort wurde die Delikatesse dann in den Kühlkammern der legendären Postschiffe in die norwegischen Städte gebracht, die weiter im Süden lagen. Auch Sofie kaufte Berge von Renfleisch für ihre Vorratskammer. Das Ausnehmen der Tiere war Sache der Frauen und Mädchen. Einige Touristen betrachteten dieses bunte, folkloristische Spektakel. Darunter auch Burkhard, der Mercedes-Fahrer aus Karlsruhe, der mich wohl zwischen den Samen beobachtet hatte.

Am Abend trafen wir uns in Sofies Restaurant. Viele begegneten sich hier an diesem Samstagabend. Einige Touristen und Dorfbewohner, aber auch die Männer der Rentierzüchtergemeinschaft, die deshalb kamen, weil sie wussten, dass es bei Sofie Schnaps gab.

»Du wirst noch ein guter Rentierzüchter. Skål, Klaus!« Die Samen nutzten jede Gelegenheit, sich gegenseitig, mir und allen anderen zuzuprosten.

In Norwegen war Hochprozentiges eine Kostbarkeit und wurde nur in den staatlichen Monopolläden und in Restaurants mit Schanklizenz verkauft. Ich habe Sofie nie gefragt, ob sie eine Schankerlaubnis hatte oder ob sie den »schwarzen« Klaren in finsteren Wintermonaten selbst destillierte. Schwarzbrennerei war und ist in Norwegen natürlich verboten, aber trotzdem ein weitverbreitetes Hobby. Die Illustrierten boten eine Vielzahl von Anzeigen mit Arbeitsgerät für den passionierten Heimbrenner.

In jedem Fall floss bei Sofie der Klare in Strömen. Die Samen stimmten ihr Joiken an, einen monotonen Gesang, zu dem jeder für sich allein tanzte. Sofies sonst so freundliches Gesicht nahm allmählich skeptische Züge an. Die Wirtin beobachtete das Treiben ihrer Gäste mit Argusaugen. Sie hatte den Männern zwar den Schnaps verkauft, wollte aber unbedingt verhindern, dass die ausgelassene Stimmung in Aggression umschlug. Es war ein Seiltanz zwischen Geschäftstüchtigkeit und Risiko nach dem Motto: Ich verkauf dir die Waffen, mach aber keinen Blödsinn damit. Offenbar hatte Sofie im Lauf der Jahre schon genug Erfahrungen mit wild gewordenen Rentierzüchtern gesammelt.

»Wenn es mir zu bunt wird, dann verrammele ich die Türen«, sagte sie. »Dann können die ihren Rausch in den Blaubeeren ausschlafen.«

»Was machst du eigentlich hier in Lappland?«, wollte Burkhard von mir wissen.

»Och, ich reise seit fünf Monaten durch Skandinavien. Ein Schulfreund hat mich im Frühjahr ganz spontan gefragt, ob ich nicht Lust hätte, für zwei Wochen mit ihm nach Norwegen zu fahren. Das Problem war allerdings, dass er ein Moped und ich nur ein Fahrrad hatte. Im flachen Dänemark ging das super. Auf den breiten Radwegen konnte ich mich zwischendurch an seiner Schulter festhalten und mich von ihm ziehen lassen. Aber in Norwegen, da ging es einfach nicht mehr gemeinsam. Du hast hier ja die Straßen erlebt. Nur Schotter, bergauf und bergab. Peter konnte locker 30 km/h fahren, ich häufig nur 10. Nach zwei Tagen haben wir uns getrennt. Peter war zwei Wochen später wieder zu Hause, und ich bin immer noch unterwegs.«

»Und wovon lebst du?«

»Na, im Moment jobbe ich hier ein bisschen. Zwei Wochen nach dem Start in Kiel war ich bereits blank. Wir wollten ja auch eigentlich nach zwei Wochen wieder zu Hause sein. Ich hab dann in Bergen drei Wochen lang im Hotel Rosenkrantz gearbeitet. Teller gewaschen. Du hättest mal sehen sollen, wie ich gefressen habe. Ich war ausgehungert wie ein Bär. Die vielen Berge, die haben mich geschlaucht. Im Hotel konnte ich so viel essen, wie ich wollte. Und was ist passiert? Meine Füße sind total angeschwollen, ich hatte richtige Elefantenfüße, weil sich das Wasser in den Beinen staute und ich nicht mehr den ganzen Tag strampeln musste.«

»Und wie lange willst du noch in Skandinavien herumreisen?«, fragte Burkhard.

»Ich will hier im Norden überwintern. Im Februar, wenn die Polarnächte kürzer und die Tage etwas heller werden, fahren die Robbenjäger von Tromsö aus ins Nordmeer. Das ist eine ganze Flotte. Jedes Schiff hat oben am Mast einen Ausguck. Vom Mastkorb aus können die Jäger die Eiskante gut überblicken und die Robben leichter erspähen. Da möchte ich anheuern. Das muss man mal erleben.«

»Klingt ja ziemlich blutrünstig«, entgegnete Burkhard. »Ich will im nächsten Jahr mit einem Freund in meinem Daimler durch Afrika reisen. Ich freu mich schon riesig.«

»Jedes Schlachten ist natürlich blutig, egal, ob es um Schafe, Rentiere oder Robben geht. Schmeckt dir das Rentierfleisch denn nicht?«

»Klar, das Rentierfleisch schmeckt fantastisch.«

»Ohne das Fleisch und die Tierfelle hätten die Menschen in diesen Regionen, in denen sie wegen der Kälte kein Gemüse anbauen können, niemals überleben können. Und die gesamte Menschheit gründet ihre Existenz doch darauf, dass alle unsere Vorfahren mal als Jäger angefangen haben.«

Am Ende des Abends wünschte ich Burkhard viel Glück, und Sofie freute sich, dass es keine Schlägerei gegeben hatte. Nach zwei, drei Tagen ging das Schlachtfest zu Ende. Ein Mann griff sich einen der zahmen Leitochsen. Die Umzäunung wurde an einer Stelle geöffnet. Zunächst merkten die Tiere gar nichts von ihrer wiedergewonnenen Freiheit. Erst als der Same mit dem Leittier hinauslief und ein paar helle Töne ausstieß, wurde die Herde auf ihn aufmerksam. Zögernd setzten sich die ersten Tiere in Bewegung, und wie durch einen Sog wurde die riesige Schar mitgezogen. Immer schneller stampften die Hufe. Im Laufen, ohne die Behinderung des Zauns, schöpften die Tiere neue Kräfte. Wie ein langes Band wälzte sich die Herde über die baumlosen Hügelkuppen.

Schweigend standen die Samen da, seltsam gerührt und glücklich über das Schauspiel, das sich ihnen bot. Der Freiheitsdrang der Tiere schien sich auf die Menschen zu übertragen. Jeder Baum, jeder Strauch, jeder Hügel hier gehörte ihnen. In diesem Augenblick spürten sie ihre eigene Freiheit, und die Liebe zu ihrem harten Leben schlug neue, kräftige Wurzeln.

Der Schleier der Dämmerung legte sich über die Wildnis. Das Feuer wurde neu entfacht. Die Menschen hockten sich auf ihre Fersen und hatten Zeit zu einem erholsamen Schwätzchen. Das Fleisch brutzelte und erfüllte die Luft mit seinem würzigen Duft. Ein Älterer schnitzte aus Knochen kleine Figuren, Souvenirs für die nächste Touristensaison. Ein anderer zog schweigend an seiner Pfeife und blickte versonnen in den Dunst.

Doch plötzlich wurde er aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Einige Männer begannen zu joiken. Joik nennt sich der eintönige Gesang mit bedächtigem Rhythmus, der ganz und gar dem langsamen Takt angepasst ist, den die Natur des subarktischen Nordens vorgibt. Dieses Joiken hatte ich ja schon einige Tage zuvor an dem feuchtfröhlichen Abend beim Schlachtfest kennengelernt.

Ich entfernte mich langsam. Zurück blieb das Bild der flackernden Feuer am Fuße des Hügels, und in meinen Ohren tönte noch lange der melancholische Gesang, der nur hin und wieder vom Heulen der Hunde unterbrochen wurde – die seltsame Geräuschkulisse dieser sonst so stillen Wildnis.

In Skandinaviens Wäldern oder in der Einsamkeit der Berge herrscht oft Totenstille. Während es bei uns überall kreucht und fleucht und ständig die Vögel zwitschern, ist es im hohen Norden viel stiller. Die Vogelpopulation verteilt sich weitläufig in dieser riesigen Wildnis, während bei uns die Vögel ihre beengten Reviere durch lauten Gesang abgrenzen. Was uns Menschen erfreut, ist ja nichts anderes, als dem Nebenbuhler musikalisch zu signalisieren: »Ich such ’ne Braut, und mit der will ich an dieser Stelle meine Jungen großziehen. Da dulde ich keine anderen Kerle!«

»Touristen aus Mitteleuropa kriegen bei uns manchmal richtige Angstzustände«, hat mir einmal Bosse Hilleberg, der legendäre schwedische Zeltkonstrukteur, erzählt, als wir in den 90er-Jahren gemeinsam eine Reittour durch Mittelschweden unternahmen. Wir ritten durch Nadel- und lichte Birkenwälder, durchquerten Hochmoore und gelangten auf steilen Gebirgspfaden bis an die Schneegrenze des Anaris.

»Wir Skandinavier leben viel mehr im Einklang mit der Natur. Aber es gibt Touristen, denen ist die Stille so unheimlich, dass sie krank werden und schnellstens in die Zivilisation zurückmüssen. Dabei ist unsere Natur sehr friedlich. Wir genießen die Stille, wenn wir zum Beispiel stundenlang an einem Fluss sitzen und Forellen angeln«, erzählte Bosse.

»Das habe ich aber auch schon anders erlebt«, entgegnete ich.

»Ich war mal mit Ditmar und Rosi in der Nähe von Åre auf Skiern unterwegs. Traumhaftes Wetter, absolute Einsamkeit, dachten wir. Doch plötzlich knatterten ein paar Typen auf ihren Snowscootern an uns vorbei. Wenn es nach mir ginge, würde ich die Snowscooter in solch ursprünglichen Naturlandschaften verbieten.«

Bosse, der eigentlich Forstbeamter war, bevor er Zelte zu konstruieren begann, entgegnete: »Uns ist dieses Problem absolut bewusst. Aber wir Naturschützer haben erkannt, dass wir einige Orte für den Sport, für das Freizeitvergnügen opfern müssen. Wintersportzentren wie Åre ziehen die Menschen geradezu magnetisch an. Aber nur zehn Kilometer weiter begegnest du keiner Menschenseele mehr. Diese Zentren schützen also die Natur in der weiteren Umgebung.«

Schorsch, ein alter Freund von mir, begründete die Angst vor der Stille so: »Die meisten Menschen sind süchtig nach Unterhaltung. Ohne Geräusche können sie nicht leben, das würde ihnen Unbehagen bereiten. Viele joggen durch den Wald und lassen sich die Ohren von ihrem iPod volldröhnen. Die kommen nie zur Ruhe, wollen auch nie zur Ruhe kommen. Vielleicht wären sie dann gezwungen, einmal über ihr eigenes Leben nachzudenken.«

In der Stille Nordnorwegens erreichte mich einige Wochen später ein Brief aus Karlsruhe:

Lieber Klaus!

Ich fand es faszinierend, welch guten Draht Du zu den Lappen hast. Ich glaube, Du wärst der richtige Kumpel für mich. Hättest Du nicht Lust, mit mir durch Afrika zu fahren?

Ich würde mich freuen, von Dir zu hören.

Burkhard

Nein, Lust hatte ich eigentlich nicht. Norwegens ursprüngliche Natur war mir in den letzten Monaten sehr ans Herz gewachsen. Ich hatte inzwischen Norwegisch gelernt und freute mich darüber, bei der täglichen Zeitungslektüre immer mehr zu verstehen.

Und noch etwas hatte ich gelernt: Willst du Mädchen kennenlernen, ist es ebenfalls von Vorteil, erst die Sprache des Landes zu sprechen, bevor du es mit Französisch probierst.

Afrika war mir so fern. Aber nach einigen Tagen kramte ich Burkhards Brief wieder hervor. Ich las ihn ein ums andere Mal, und allmählich keimte in mir die Neugier. Eigentlich war es doch unglaublich, dass mir die Welt offenstand. Dass ich in wenigen Monaten, wenn ich nur wollte, mitten in Afrika sein konnte. Es dauerte einige Tage, doch plötzlich wurde ich immer euphorischer bei der Vorstellung, den afrikanischen Kontinent durchstreifen zu können. Das wäre doch die totale Freiheit. Und die absolute Steigerung des Freiheitsgefühls war es, dass mich die Bundeswehr ganz gewaltig am Arsch lecken konnte.

Eine berauschende Vorstellung. Ich hatte zwar den Kriegsdienst verweigert, ohne rechtlichen Beistand jedoch keine Chance, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden.

»Würden Sie schießen, wenn Ihre Mutter vom Feind bedroht werden würde?«, wollte der Vorsitzende bei der Anhörung von mir wissen.

»Ich hab keine Mutter«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Meine Mutter war gestorben, als ich fünf Jahre alt war. Ich wollte nicht auf andere Menschen schießen, mich nicht vereinnahmen lassen von Holzköpfen, die von der Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1938 träumten.

Ich hatte von jeher eine abgrundtiefe Abneigung gegen alles Militärische, gegen den drohenden konservativen Revanchismus, ja, gegen alles Autoritäre, gegen sinnlosen Drill, gegen hirnlose Hierarchien, gegen Kadavergehorsam. Fahneneid!? Welch schreckliche Worthülse. Wie kann ein Mensch einen Eid auf die Fahne ablegen? Die Männer sind immer und überall beschissen worden, immer und überall wurde ihnen erzählt, sie müssten für Volk und Vaterland kämpfen, und immer war das Sterben absolut sinnlos.

Doch zurück zum Jahr 1962: Es war die Zeit des Vietnamkriegs, und den Menschen wurde eingeredet, die Freiheit des Westens müsse in Südostasien verteidigt werden, andernfalls falle ein Staat nach dem anderen unter kommunistische Herrschaft. Die Freiheit des Westens – lächerlich. Mit Bombenteppichen haben die Amerikaner das Land vernichtet, mit dem hoch giftigen Entlaubungsmittel Agent Orange die Wälder übersprüht, damit sie ihre Gegner, den Vietcong, am Boden besser erkennen und beschießen konnten. An den Folgen dieses Irrsinns leiden heute noch Hunderttausende Vietnamesen sowie amerikanische Soldaten, die mit dem Gift unwissentlich in Berührung kamen. Und dieselben gewissenlosen Firmen, die während des Vietnamkriegs mit Agent Orange ein Mordsgeschäft gemacht haben, produzieren heute genmanipuliertes Saatgut. Die Folgen für die Natur werden erst in 10, 20 oder 50 Jahren ersichtlich sein. Die Natur wird ärmer, Tiere und Pflanzen werden aussterben. Die Bauern werden von wenigen globalen Agrarmultis abhängig sein, die ihnen Gensaatgut, Pestizide und Dünger aus einer Hand verkaufen. Die Lieferanten werden die Preise bestimmen, und es wird keinen Weg zurück zu einer naturgerechten Landwirtschaft geben. In dieser Entwicklung sehe ich die größte Bedrohung für unsere Natur und für unsere Ernährung. Wenn unzählige Pflanzen- und Tierarten ausgerottet sind, dann werden die gewissenlosen Konzerne ihre Mordsgeschäfte gemacht haben, und niemand wird für die Katastrophe verantwortlich sein. Weder die Politiker noch die Bosse. Politiker sind im Nachhinein nie verantwortlich: nicht für Agent Orange in Vietnam, nicht für Tschernobyl, nicht für Seveso, nicht für den Irak-Krieg und nicht für das Asse-Atom-mülllager. Und die Konzernbosse, die die Katastrophen verursacht haben, sind von Natur aus verantwortungs-los!

Was das mit meiner geplanten Afrikareise zu tun hat? Wenn einer eine Reise tut, dann sollte er alle seine Sinne einschalten und jeden »Ismus« – ob Militarismus, Kolonialismus oder Rassismus – kritisch hinterfragen. Ich hatte in dieser Hinsicht stets meinen eigenen Kopf, der anpassungsfähig war, wenn er auf sympathische Menschen traf, dafür umso widerborstiger, wenn mein Freiheitsgefühl in Gefahr war.

Reisen war für mich der Inbegriff von Freiheit. Schon mit elf Jahren war ich zusammen mit meinem 20 Jahre alten Cousin Johannes mit dem Fahrrad nach Schweden gefahren. Als ich 13 war, trampten wir gemeinsam nach Stockholm. Mit 15 zog es mich und meinen Schulfreund Peter nach Paris, England und Schottland. Und da die Bundeswehr für mich das Gegenteil von Freiheit war, nämlich sinnloser Zwang, konnte es für mich als 20-jähriger Kriegsdienstverweigerer nur eine Entscheidung geben: für die Freiheit.

Ich hatte auch noch den Plan, an der Lette-Schule in Berlin Fotografie zu studieren. Berlin war damals das Schlupfloch für Wehrunwillige. Doch mein Entschluss stand fest: Erst mal fahr ich nach Afrika. Studieren kann ich auch später.

Skaidi zeigte sich mir kurz vor meiner Abreise im Oktober noch einmal von seiner märchenhaften Seite. Die sanft geschwungenen Hügel waren von einer geschlossenen Schneedecke bedeckt, die lichten Birkenwälder weiß gepudert. Die Natur schien mir stiller als je zuvor. Die Touristen waren längst wieder in Mitteleuropa, die Rentierherden scharrten unter der weißen Decke nach etwas Essbarem, während sie gen Süden zogen. Sofies Vorratskammern waren mit Rentierkeulen, Köhlerfisch und Lachs gefüllt.

Ich trampte über Helsinki und Stockholm nach Oslo. In der norwegischen Hauptstadt nahm ich mir ein gemütliches Zimmer, arbeitete in der Adventszeit und bis ins neue Jahr hinein im damals noch luxuriösen Hotel Astoria als Tellerwäscher und bereitete mich in meiner Freizeit mental auf Afrika vor.

In jeder freien Minute fraß ich mich in der Universitätsbibliothek durch die Bücher der Afrikaabteilung, lernte Henry Morton Stanley, David Livingstone und Mungo Park kennen, informierte mich über Sklavenhandel und Kolonialismus und kannte nach acht Wochen fast alle Volksgruppen in Afrika.

Zurück in Deutschland, erreichte mich ein Brief von Burkhard aus Karlsruhe:

Lieber Klaus!

Es tut mir unendlich leid, aber ich muss die Afrikareise abblasen, weil ich demnächst heirate …

Ich hoffe, Du wirst es verschmerzen können.

Burkhard

Doch ich war nicht mehr zu bremsen.

Ich packte Rucksack, Zelt und Schlafsack zusammen und trampte allein los. In der Schweiz war mein Geldbeutel schon wieder ziemlich schmal geworden.

Was steht in meinem Tagebuch vom Juli 1963?

Das Leben geht weiter, auch ohne Geld in der Tasche. Ein heruntergekommener Typ und ich treffen Sparmaßnahmen – schlafen in Ausstellungszelten gegenüber der Jugendherberge, gehen auf Nahrungssuche in den Botanischen Garten (ohne Erfolg) und holen uns mit den gebrauchten Tellern anderer Leute einen kostenlosen Nachschlag in der JH. Sind eine flotte Gemeinschaft (Günter, Roland, Giorgio und die beiden hamburgischen Mädchen). Bekommen vom Besitzer die Genehmigung, drinnen zu schlafen. Arbeit ist auch genug vorhanden. Für 3,70 Franken die Stunde fange ich bei der Straßenbaufirma Choppard & Zaugg an. Harter Job, aber bei dem herrlichen Wetter macht es Spaß. In der Mittagspause laufe ich in der Badehose einen Kilometer die Aare aufwärts. Dort ist eine Brücke, von der ich in die reißende Aare hechte und mich von der Strömung an der Jugendherberge vorbeitreiben lasse. Kurz vor dem Wehr muss man zusehen, dass man das Ufer erreicht… So vergehen die Wochen. Nach vier Wochen habe ich 740 Franken netto verdient. Mir reicht’s, nun kann das Geldausgeben wieder beginnen. Sandalen, eine Sonnenbrille für 80 Franken, Bier, essen gehen, mal mit dieser, mal mit jener…

30. August 1963:

Suche Emil Schulthess auf, einen der berühmtesten und ideenreichsten Fotografen der Welt, der zwei prächtige Bildbände über seine Afrikareise herausgegeben hat. Bereitwillig gibt er mir Auskunft über Afrika und einige fototechnische Dinge. Am Abend treffe ich einen Radrennfahrer in der JH. Er ist an einem Tag von Würzburg bis Zürich gefahren. Diese Tat begeistert mich und spornt meinen Ehrgeiz so sehr an, dass ich mir gleich am nächsten Tag am Bahnhof ein Fahrrad miete. Und was für eines – so schwer wie bei uns die Briefträgerräder. Sitze nach zwei Monaten zum ersten Mal wieder auf dem Fahrrad. Die Sache läuft prima, nach der ersten Steigung habe ich den toten Punkt überwunden und übernehme die Führung, damit sich mein Freund ein wenig von den Strapazen des vorigen Tages ausruhen kann. Nach 60 km beginnen die richtigen Steigungen und damit für mich die Strapazen; meine Kondition lässt merklich nach. Bis Sisikon am Vierwaldstättersee mache ich mit. Mein Freund lässt sich von einem Wagen über den Gotthardpass mitnehmen, und für mich beginnt die Rückreise. Fahre auf einer anderen Route am See entlang. Nach acht Stunden habe ich 150 km zurückgelegt. Auf dem Heimweg zur JH lerne ich eine hübsche Französin kennen. Nach gemeinsamem Abendbrot machen wir einen Spaziergang durch das abendliche Zürich. Kommen Punkt 22 Uhr in die Herberge. Dass ich in dieser Nacht gut schlafe, versteht sich von selbst.

Das Leben war leicht und locker. Ganz so, wie ich mir Freiheit und Ungebundenheit vorgestellt hatte. War das Geld ausgegeben, so konnte man ja wieder neues verdienen. Die materiellen Ansprüche waren nicht groß, und von einem Monat Arbeit konnte ich wieder einige Monate auf Reisen gehen.

Danach ging’s zügig gen Afrika: Türkei, Syrien, Libanon, wo bereits das Geld knapp wurde. Eine Blutspende in Beirut füllte die Reisekasse wieder ein wenig auf, sodass ich die Fähre nach Ägypten bezahlen konnte. Sudan. Und dann Äthiopien, eine Welt wie ein Paukenschlag. Spektakuläre Landschaften: Hochgebirge, Schluchten, wilde Flüsse, Dschungel, Wüsten.

Atemberaubend schöne Menschen. Die Frauen voller (christlicher) Nächstenliebe, wenn sie mich zum Kaffee ins Buna-Beit baten. Die Kaffeehäuser, meistens Lehmhütten, signalisierten mit ihren bunten Neonlampen, dass der Service nicht auf den Kaffeeausschank beschränkt sein musste.

Atemberaubend sind auch die Geschichte und Kultur dieses Landes, dessen letzter Kaiser, Haile Selassie (1892 – 1975), sich als 225. Nachfolger von König Salomon betrachtete.

Äthiopien empfand ich als so faszinierend, dass ich zwei Jahre lang blieb, durch das gesamte Land reiste und mich mit Schreiben und Fotografieren leidlich ernährte.

Ich war seit wenigen Tagen in Äthiopien und bummelte durch Gondar, die alte Kaiserstadt, einen der wenigen Orte des Landes mit einem historischen Kern. Der Palastbezirk mit massiven Burgen, Palästen und Kirchen war im 17. und 18. Jahrhundert gebaut worden. Ein halbwüchsiger Schüler sprach mich an und erzählte mir stolz von der Blütezeit Gondars:

»Hello, Mister! Darf ich dir Gondar zeigen? Woher kommst du? … Oh, Germany, very good. Habt ihr Paläste in Deutschland? «

»Ja, wir haben viele Paläste. Aber wir haben keinen Kaiser mehr.«

»Kaiser Fasilidas war der erste Kaiser, der sich vor 300 Jahren einen richtigen Palast gebaut hat. Früher reisten die Kaiser im ganzen Reich umher, weil sie ständig gegen rivalisierende Fürsten kämpfen mussten. Die hatten keinen festen Regierungssitz. Fasilidas war ein großer Kaiser.«

Rund 120 Jahre später war es mit der Herrlichkeit Gondars schon wieder vorbei. Kaiser Iyoas wurde 1769 von Fürst Mikael Sehul ermordet. Der Kaisermörder setzte kurz darauf Johannes II. als »Negus Negasti« (König der Könige) ein. Auch Johannes II. durfte nicht lange leben. Fürst Mikael ließ ihn vergiften, um gleich darauf einen neuen Kaiser einzusetzen. Mein Fremdenführer pries Haile Selassie gerade als großen Kaiser, als einige circa zehnjährige Jungen aufgeregt durch die Straße liefen und lauthals riefen:

»Kennedy muut! Kennedy ist ermordet worden. Hallo, Mister. Haben Sie gehört? Kennedy ist tot!«

Es war der 23. November 1963. Ganz Gondar schien schockiert zu sein. Mir war, als hätte mir jemand mit einem Riesenholzhammer auf den Kopf geschlagen. Kennedy verkörperte weltweit die Hoffnung auf eine bessere Welt, selbst hier in der äthiopischen Provinz. In Afrika herrschte Aufbruchstimmung. Die britischen und französischen Kolonien waren in den letzten Jahren nach und nach in die Unabhängigkeit entlassen worden. Afrika sprühte vor Optimismus und Idealismus. Das Joch der kolonialen Vorherrschaft war abgestreift. Jetzt hofften die Länder auf Freiheit und Wohlstand. Kennedy hatte das sogenannte Peace Corps ins Leben gerufen, eine »Friedensarmee«, die in den aufstrebenden Staaten Entwicklungshilfe leistete.

Trampen in Äthiopien war abenteuerlich. Es gab nur wenige private Fahrzeuge. Lkw-Fahrer waren diejenigen, die »Tramper« aller Art mitnahmen. Sie alle mussten es sich irgendwo in schwindelnder Höhe auf der Ladung bequem machen. Ich selbst hangelte mich an den Packtauen nach oben, wo auf Bergen von Baumwollballen, neben zwei Reserverädern, bereits zwei Männer lagen. Unten stand noch eine Bäuerin mittleren Alters mitsamt ihren zwei Ziegen, und auch sie wurden nach oben gehievt.

Unendlich langsam ging es voran. Schmale, zerfurchte Serpentinen schlängelten sich in die tiefe Schlucht zum Blauen Nil hinab. Aus 2000 Metern Höhe tastete sich der Fahrer hinunter in den Schlund. Die Menschen oben auf der turmhohen Ladung schaukelten über dem Abgrund. Aber sie nahmen es mit stoischer Gelassenheit, ließen sich völlig unverkrampft hin und her schütteln. Sie war ihnen vertraut, diese Art, zum nächsten Marktflecken zu reisen. Den Ziegen waren die Beine zusammengebunden, damit sie nicht in die Tiefe springen konnten.

Die Italiener hatten dieses Wunderwerk der Straßenbaukunst während der Besatzungszeit von 1935 bis 1941 gebaut, so wie fast alle Straßen in Äthiopien. Auch im Jahr 1963 war das gesamte Verkehrswesen immer noch italienisch geprägt. Die Straßen waren italienisch, die Lastkraftwagen waren italienisch, die äthiopischen oder eritreischen Fahrer sprachen Italienisch und tranken in den Ruhepausen italienischen Chianti. Nur die Huren in den Buna-Beits, den Kaffeehäusern, stammten nicht aus Italien, sondern aus Äthiopien – wunderschöne Frauen mit bronzefarbener Haut, die meist sanft und liebevoll waren. Diese Shermutas, die Liebesdienerinnen, waren ein allgegenwärtiger Teil der äthiopischen Gesellschaft.

Die Amerikaner bauten gerade eine neue, komfortablere Straße hinab zum Abbai, wie der Blaue Nil in Äthiopien genannt wird. Unten im Tal stand eine moderne Brücke kurz vor der Fertigstellung. Noch aber rumpelte der Lkw auf der italienischen Schotterstraße hinunter in die Schlucht, passierte die alte italienische Felssteinbrücke und kroch dann mühsam wieder hinauf. Es dauerte Stunden um Stunden. Die Nacht brach herein, und auf 2000 bis 3000 Metern Höhe wurde es bitterkalt. Ich kuschelte mich in einen Spalt zwischen den Baumwollballen, konnte wegen der Kälte aber nicht einschlafen. Addis Abeba war mein nächstes Ziel, während wir durch die Dunkelheit rumpelten. Nachts um 3 Uhr hielt der Fahrer an. »Wir sind gleich in Addis! Wohin willst du?«, fragte er mich.

»Ich weiß nicht. Ich denke, du kannst mich im Stadtzentrum absetzen.«

Wir fuhren durch spärlich beleuchtete Vororte. Aber großstädtischer wurde es nicht. Nach einigen weiteren Minuten hielt er an: »So, wir sind da!« Wie merkwürdig, dachte ich. Das kann doch nicht das Zentrum sein. Die Häuser zu beiden Seiten waren klein. Als sich meine Augen an die fremde Umgebung gewöhnt hatten, sah ich, dass es überwiegend Lehmhütten waren.

Der Fahrer wünschte mir alles Gute und fuhr weiter zum Mercato, dem großen Markt von Addis Abeba.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Die Straße sah in beide Richtungen gleich finster aus. Sollte dies das Zentrum der äthiopischen Hauptstadt sein? Ich entschied mich, die Straße weiter hinunterzulaufen. Allmählich wurde es lauter. Vor mir tobte eine streunende Hundemeute. Etwa zwanzig Hunde knurrten und bellten um die Wette. Wie sollte ich nur heil an den Kötern vorbeikommen? Ich zog mein Fahrtenmesser, das ich am Gürtel trug, aus der Scheide und war fest entschlossen, jeden Hund zu erstechen, der mir zu nahe kam. Obwohl mein Herz so laut schlug, dass die Tiere es fast hätten hören müssen, schritt ich voran. Doch meine Angst erwies sich als unbegründet. Die Vierbeiner schienen Respekt vor mir zu haben. Außerdem standen nicht wildfremde Tramper auf ihrer Speisekarte, sondern der Unrat, der sich am Straßenrand türmte. Ich lief mindestens eine halbe Stunde geradeaus, bis ich am rechten Straßenrand auf eine Polizeistation stieß.

»Kann ich hier bis morgen früh schlafen?«, fragte ich einen der Polizisten.

»Woher kommst du?«, wollte er wissen.

»Ich bin heute mit einem Lkw aus Debre Markos gekommen.« Nachdem ich ihm meinen Pass gezeigt hatte, war er zufrieden und wies mir einen Schlafplatz auf einer schmalen Holzbank zu, die etwa so breit wie eine Biergartenbank war. Schlafen konnte ich in jeder noch so unbequemen Position; nur im Stehen zu schlafen, wie Pferde oder Giraffen, hatte ich noch nicht gelernt. Ich legte mich also auf die schmale Bank und war im Nu eingeschlafen.

Hunger in Addis

Am Morgen trat ich vor die Tür der Polizeistation. Vor meinen Augen breitete sich die »Neue Blume« aus, was Addis Abeba in der Landessprache Amharisch bedeutet. Kaiser Menelik II. hatte die Blume gegen Ende des 19. Jahrhunderts gepflanzt. Der Monarch hatte einst sein Zeltlager auf dem Mount Entoto aufgeschlagen, von dem er sein Land weithin überblicken konnte. Nicht nur die Königin wusste es zu schätzen, dass es im Tal heiße Quellen gab. Sie liebte diesen üppig grünen Ort so sehr, dass sie an der Badestelle das erste feste Haus errichten ließ. Wenige Jahre später baute Kaiser Menelik II. seinen ersten Palast in der Nähe der Quellen und taufte diese Wellnessoase Addis Abeba.

Nun befand ich mich inmitten dieser Blume, die keine wohlriechende Rose war, noch weniger eine Orchidee von verschwenderischer Schönheit. Addis war wie ein auf den Kompost geworfener Blütenstrauß. Auf der anderen Seite der Polizeistation standen einfache Lehmhäuser ohne Glasfenster. Anstelle von Scheiben hatten die Häuser Fensterläden aus Holz, die tagsüber geöffnet wurden. Die etwas besseren Anwesen versteckten sich hinter Wellblechzäunen. Ein richtiges Zentrum konnte ich zunächst nicht entdecken. Auf den zweiten Blick gab es eines: Die Piazza aus der italienischen Besatzungszeit bestand aus mehreren eingeschossigen Ladenzeilen, in denen sich auch das Post Office befand. Von der Piazza zweigten alle bedeutenden Straßen ab: die Haile Selassie Road, die zum Verkehrskreisel Arat Kilo und zur Universität führte, die breite Churchill Road, die sich zum Bahnhof hinunterzog, und die Cunningham Road in Richtung Mercato. An der Piazza hielten die meisten Buslinien. Vor den Cafeterias und an den Haltestellen saßen die Schuhputzerjungen, die jeden vorbeikommenden Europäer in Beschlag nahmen, ganz gleich, ob dessen Schuhe gerade von einem anderen Schuhputzer auf Hochglanz poliert worden waren oder nicht. Und wenn ein »Ferenji« – vermutlich eine Verballhornung von »Frenchman« (Franzose), doch alle Ausländer wurden so genannt –, wenn also ein Ferenji mit nagelneuen Schuhen aus einem Schuhgeschäft trat, selbst dann versuchten die Jungen, ein paar Cent zu verdienen. Aus schierer Verzweiflung wollten sie mir sogar meine abgewetzten Sandalen putzen.

Ich war blank! Addis sah nicht danach aus, dass das Geld hier auf der Straße herumliegt und von mir nur eingesackt werden muss. Aber beunruhigend fand ich meinen Zustand absolut nicht: Irgendetwas würde mir schon einfallen. Es war mir ja auch schon in Norwegen immer etwas eingefallen, um meine Reisekasse wieder aufzufüllen. In Norwegen spürte ich das erste Mal in meinem Leben richtigen Hunger:

»Haben Sie Reste von Kake?« Die Frau guckte mich entsetzt an, so als hätte sie gerade erfahren, dass ich an Lepra oder an der Pest erkrankt sei. Ich versuchte es noch einmal, diesmal mit etwas geänderter Betonung: »Kacke, Kage, Kääge …« Kääge – so gedehnt, wie die Dänen es aussprechen. Schließlich auf Englisch: »Cake.« Ich stieß auf totales Unverständnis, ja, auf Ablehnung. Ich schien von einem anderen Stern zu kommen. Die Frau hätte meine Mutter sein können. Wo verbarg sie ihre mütterlichen Gefühle? Spürte sie nicht, sah sie nicht, dass ich fast am Verhungern war? Dabei wollte ich nichts sehnlicher, als von meinem letzten Geld ein paar billige, nahrhafte Kuchenreste zu kaufen. Ich hatte ganz einfach Hunger, einen Bärenhunger: Wie ein Bär, der nach langem Winterschlaf erstmals wieder aus seiner Höhle herauskriecht und spürt, dass sein Körper alle Kraftreserven aufgezehrt hat.

Die Frau hinter der Theke hätte mich in diesem Moment mit nichts glücklicher machen können als mit einer Tüte voller Kuchenreste. Seit meiner Kindheit hatte ich fast alle Schulferien bei meinen Großeltern in Gelting an der Flensburger Förde verbracht. Und direkt nebenan war die Bäckerei von Onkel Willi, der den besten Kuchen der Welt zusammenzauberte. Wann immer ich Hunger hatte, konnte ich in die Backstube von Onkel Willi gehen und mich nach Herzenslust über die Kuchenreste, meist die Randstreifen der Kuchenbleche, hermachen. Es war Kuchen, wie es ihn heute garantiert nicht mehr gibt. Lockere Tortenböden mit himmlischer Obstfüllung, gänzlich ohne Chemie, Aromastoffe oder Geschmacksverstärker. Freien Zugang zu Onkel Willis Backstube zu haben, das war wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges für ein Kind ein paradiesisches Privileg. Die Kuchenreste verfütterte Onkel Willi an seine drei bis vier Schweine, die in dem kleinen Stall hinter der Bäckerei ein grunzzufriedenes, schweinisches Dasein führten. Die Schweine waren meine Freunde. Nicht nur, weil wir das gemeinsame Interesse an Kuchenresten hatten.

An Onkel Willis Backstube musste ich denken, als ich hier in der Bäckerei in Alvik am Hardangerfjord in Norwegen stand und mich kein Schwein verstehen wollte. Wieso verstand die Frau nicht, was ich mit Kage-, Kake- oder Kackeresten meinte? Ich war weder an Lepra noch an Pest erkrankt. Ich hatte nur Hunger. Lag es etwa an meinem Aussehen, dass sie mir nichts verkaufen wollte? Eigentlich sah ich ja ganz normal aus. Gut – mit einer kleinen Einschränkung! Seit gestern war mein linkes Auge total zugeschwollen. Vorgestern hatte ich auf dem Fahrrad eine Kollision mit einer flotten Biene gehabt. Dem Fahrrad war nichts passiert, während die Biene den Aufprall vermutlich nicht überlebt hat. In einem Anflug von Rache schaffte sie es in ihrer letzten Sekunde, mir ihren Giftstachel einen Zentimeter unter dem linken Auge zu platzieren. Langsam, aber stetig wuchs mir das Auge zu. Wobei mir am ersten Tag ein schmaler Sehschlitz blieb. Als ich jedoch am nächsten Tag aufwachte, da war auch der Schlitz weg – ich sah gar nichts mehr. Außer auf dem rechten Auge.

Zwei Tage später, in der Bäckerei, sah ich immer noch so aus, als sei ich furchtbar verprügelt worden. Mit meinem offenen Auge tastete ich die ganze Bäckerei ab. Von Kage-, Kake- oder Kackeresten keine Spur. In Norwegen war immer alles so ordentlich. Furchtbar – dort gibt es keine Reste irgendwelcher Art. Jedenfalls verstand die Frau meine Zeichensprache, als ich mit dem Zeigefinger auf die Brötchen deutete. »Zwei Brötchen, bitte!« Meine vorletzten Kronen gingen für zwei läppische Brötchen drauf, die meinen hungrigen Magen nicht im Geringsten besänftigen konnten.

Seit 13 Tagen war ich auf Achse. Es fing damit an, dass mein Schulfreund Peter mich gefragt hatte: »Hast Du Lust, mit nach Norwegen zu fahren?« Lust hatte ich! Das Problem war nur – Peter hatte ein Moped und ich hatte nur ein ganz einfaches Fahrrad. Peter war schon wieder auf dem Rückweg nach Deutschland, während ich Kuchenreste zu schnorren versuchte. Am nächsten Morgen erreichte ich Bergen, die alte Hansestadt an der westnorwegischen Atlantikküste. Norwegen begeisterte mich, Norwegen ließ mich nicht mehr los. Ich musste also Geld verdienen, wenn ich weiterhin im Land der Fjorde herumbummeln wollte. Womit könnte man Geld verdienen? Natürlich – mit Tellerwaschen. Der Magen hing mir in der Kniekehle, als ich einige Hotels abklapperte, um nach einem Job zu fragen. Die ersten vier Herbergen hatten keine Arbeit für mich, aber im Hotel Rosenkrantz sagte man mir: »Fragen Sie heute Nachmittag noch mal nach.« Das klang zwar hoffnungsvoll, stillte aber meinen Hunger nicht. Ich schlich über den Marktplatz. Ach Gott, war Norwegen sauber. Die Früchte lagen fein säuberlich aufgetürmt auf den Tischen: Pyramiden von Äpfeln, Orangen, Tomaten, dahinter Kohl und Karotten. Sorgfältig musterte ich jeden Marktstand. Gab es nicht irgendwo Abfälle? Gab es keine braunen Bananen, keine angestoßenen Äpfel, die irgendwo unter den Tischen deponiert worden waren? Ich drehte Runde um Runde auf dem Platz. Sah denn niemand, dass ich hungrig war? Ich weiß nicht, ob ich schließlich beim Anblick von Käse, Fisch und Gemüse zu sabbern anfing wie ein verwöhnter Hund am Frühstückstisch. Ein Händler muss mich wohl einige Zeit beobachtet haben. Als ich zum 56. Mal an seinem Stand vorbeikam, nahm er die oberste Tomate von seiner Pyramide. Ermunternd hielt er mir das Prachtexemplar entgegen. Ich bin ihm noch heute dankbar, dass er meinen Hunger erkannt hat. Meinen Hunger stillen konnte diese köstlich aromatische Tomate natürlich nicht, aber die Geste des Mannes tröstete mich, machte mich zuversichtlich. Natürlich wäre ich auch ohne diese Gabe nicht vor Hunger aus den Latschen gekippt. Aber irgendwie fühlte ich mich missachtet, als kaum jemand von meinem Hunger Notiz genommen hatte. Es war wahrscheinlich Selbstmitleid – keine Sau interessierte sich für mich. Und Selbstmitleid macht doppelt hungrig. Selbstmitleid verdoppelt auch in anderen Situationen, verdoppelt Frust, verdoppelt Wut. Die eine Tomate hatte mein Selbstwertgefühl wieder aufgerichtet.

Und nur zwei Stunden später war ich König! Der Chef im Hotel Rosenkrantz ließ mich vor Freude in die Luft springen: »Du kannst hier morgen in der Küche anfangen. Wohnen kannst du unter dem Dach in einem der Personalzimmer.«

»Sagen Sie! Könnte ich heute schon was zu essen bekommen? Ich bin die letzten zwei Wochen mit dem Fahrrad durch die Berge gefahren und total ausgehungert.«

»Ja. Geh in die Personalkantine. Du kannst so viel essen wie du willst.« Fisch: geräuchert, gebraten, getrocknet. Käse, Fleisch, Obst, Gemüse. Auch Walfleisch. Wal war damals in jeder norwegischen Küche zu finden. Alles im Überfluss. In Norwegen hatte ich das erste Mal erlebt, dass das Glück mich in der Not nicht verlässt.