MS Kristiana - Eine Liebe am Ende der Welt - Greta Jänicke - E-Book
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MS Kristiana - Eine Liebe am Ende der Welt E-Book

Greta Jänicke

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Beschreibung

Die MS Kristiana sticht wieder in See - dieses Mal in Richtung Neuseeland. Auf dieser Reise sieht sich Bordärztin Eva plötzlich der Nachricht gegenüber, dass es von ihrer verschollenen Schwester - angeblich - ein Lebenszeichen gibt. Derweil kommen sich der Journalist Tim und die Pianistin Anna näher: Er ist auf Spurensuche im Leben seines Großvaters, der in Neuseeland lebte und offenbar Annas Großmutter kannte, die eine berühmte Konzertpianistin war.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungNeuseeland Herbst 1958PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Epilog

Über dieses Buch

Band 2 der Reihe »Auf Fahrt mit der MS Kristiana«

Die MS Kristiana sticht wieder in See – dieses Mal in Richtung Neuseeland. Auf dieser Reise sieht sich Bordärztin Eva plötzlich der Nachricht gegenüber, dass es von ihrer verschollenen Schwester – angeblich – ein Lebenszeichen gibt. Derweil kommen sich der Journalist Tim und die Pianistin Anna näher: Er ist auf Spurensuche im Leben seines Großvaters, der in Neuseeland lebte und offenbar Annas Großmutter kannte, die eine berühmte Konzertpianistin war.

Über die Autorin

Greta Jänicke lebt mit ihrer Familie und dem neurotischen Kater Klaus-Peter am Niederrhein. Sie arbeitet im Vogelschutz und setzt sich aktiv für Tierrechte ein. Mit den Romanen über das Kreuzfahrtschiff MS Kristiana widmet sie sich einem Herzensprojekt. Die Jungfernfahrt führt die Leser ins wunderschöne Norwegen. Greta Jänicke ist Mitglied bei DELIA, der Vereinigung deutschsprachiger Liebesroman-Autoren und -Autorinnen.

Greta

Jänicke

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Marion Labonte, Labontext

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Illustrationen von © Getty Images: Derkien | Toltek | Rawpixel; © iStock: Jeff Manes

Kartenillustrationen: Christl Glatz | Guter Punkt, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0382-6

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für Papa!

Wo immer du jetzt bist …

NeuseelandHerbst 1958

Paul nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Ich werde dich nie vergessen.« Sag nur ein Wort, und ich bleibe!

Er sprach diese Worte nicht aus. Denn sie hatten sich beide gegen ihre Gefühle und für die Vernunft entschieden. Weil sie wussten, dass sie nicht glücklich werden konnten, wenn dadurch andere Menschen unglücklich wurden.

»Ich werde dich immer lieben und an dich denken.« Grit lächelte trotz der vielen ungeweinten Tränen in ihren Augen.

Seit sie beschlossen hatten, dass es ein Abschied für immer sein würde, tanzte eine Melodie durch Pauls Kopf. Gestern Abend hatte er sie aufgeschrieben. Für sich selbst. Für Grit, die Liebe seines Lebens!

Grits Lied stand über den Noten, mehr nicht. Als er ihr das Blatt reichte und sie die Noten las, wusste er, dass sie die Melodie in ihrem Kopf vernahm. Tränen liefen über ihre Wangen.

»Leb wohl«, sagte er leise. Ein letztes Mal berührten seine Lippen ihren Mund. Dann wandte er sich um und ging. In seiner Manteltasche befand sich ein weiteres zusammengefaltetes Notenblatt. Darauf war dasselbe Stück notiert. Grits Lied die Melodie einer großen Liebe, die nicht sein durfte …

Prolog

Im Hotel steckte Adrian den Korkenzieher in seine Jackentasche, bevor er die Rotweinflasche und zwei Gläser aus seiner Reisetasche nahm. Dann ging er zu Jasmins Tür und klopfte an.

Sie öffnete und lächelte, als sie ihn sah.

Adrian präsentierte ihr den Wein. »Den hatte ich dir in Svolvær versprochen, aber dann kam alles anders. Magst du ihn jetzt mit mir trinken?«

»Komm rein«, sagte sie leise.

Adrian betrat das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Er stellte die Flasche und die beiden Gläser auf den kleinen Tisch unter dem Fenster und zog den Korkenzieher hervor. Als Jasmin auf ihn zuschritt, hob er den Blick. Wie schön sie ist, dachte er. Nach der Trennung von Eva hatte er es nicht für möglich gehalten, dass ihn eine Frau jemals wieder so verzaubern könnte.

Jasmin wirkte unsicher. »Warum starrst du mich so an?« Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar, das lockig über ihre Schultern fiel. Während der Arbeit trug sie es meist hochgesteckt, aber so gefiel es ihm besser.

»Es ist alles perfekt«, versicherte er. »Du bist hier … Ich bin hier …« Er verstummte.

»Ja.« Sie stand jetzt dicht vor ihm. In ihren Augen lag ein Leuchten, das ihn alles andere vergessen ließ. Er hob die Hand und vergrub sie in ihrem Haar. Sein Gesicht näherte sich ihrem. Er spürte ihren Atem, seine Lippen berührten ihren Mund …

… und dann klingelte sein Handy. Erschrocken, als wären sie bei etwas Verbotenem ertappt worden, fuhren sie auseinander. »Verdammt!«, stieß er hervor. Die Stimmung war zerstört. Er lächelte Jasmin entschuldigend zu, während er das Handy aus der Hosentasche zog. Auf dem Display stand Evas Name. Seine Frau war erst vor ein paar Stunden zurück nach Hamburg geflogen und rief ihn jetzt schon an. Er hatte den Verdacht, dass sie ihn kontrollieren wollte. »Was ist?«, rief er ungehalten in das Telefon.

Am anderen Ende blieb es sekundenlang still. Seine Ungeduld steigerte sich, bis er ein leises Schluchzen vernahm.

Die Wut schwand augenblicklich. »Eva! Was ist passiert?«

»Fenja!«, stieß Eva hervor. »Sie wurde auf ihrem Fahrrad angefahren.«

Eiskalte Panik breitete sich in ihm aus. »Wie schlimm ist es?«

Wieder dauerte es, bis Eva antwortete. »Sehr schlimm. Sie wird gerade notoperiert.«

Adrian schluckte schwer. Seine Gedanken rasten, drehten sich nur im Kreis. Nie zuvor war ihm in dieser Intensität bewusst geworden, wie sehr er seine Tochter liebte und dass sie der wichtigste Mensch in seinem Leben war.

»Ich komme sofort!«, rief er. In diesem Moment dachte er nicht daran, dass er hier in Bergen über tausend Kilometer entfernt war und keine Ahnung hatte, wann der nächste Flug nach Hamburg ging.

»Papa hat für dich eine Privatmaschine gechartert«, sagte Eva in diesem Augenblick. »Du musst nur zum Flughafen fahren, es ist alles vorbereitet.«

Adrian empfand Dankbarkeit. In dieser Situation war es hilfreich, dass sein Schwiegervater vermögend und einflussreich war und ihm eine schnelle Heimreise ermöglichte. Er schob den Gedanken beiseite, dass Clemens Tychsen diese Dankbarkeit gerne für seine eigenen Pläne nutzte.

Aber darüber würde er sich später den Kopf zerbrechen. Jetzt wollte er so schnell wie möglich zu seiner Tochter, alles andere war unwichtig. »Ich mache mich sofort auf den Weg«, versprach er und beendete das Telefonat.

Mit wenigen Worten informierte er Jasmin über das, was er soeben von Eva erfahren hatte.

»Das tut mir so leid.« Jasmin war sichtlich erschrocken. »Natürlich musst du sofort los.«

»Ich rufe dich an«, versprach er.

»Ja, bitte. Ich möchte wissen, wie es Fenja geht.« Sie umarmte ihn kurz. »Und dir«, fügte sie leise hinzu, dann ließ sie ihn hastig los und trat einen Schritt zurück.

Adrian lächelte ihr traurig zu. »Das ist das zweite Mal, dass ich dich allein lassen muss. Denkst du an mich, wenn du den Wein trinkst?«

»Ich denke an dich, aber ich werde den Wein nicht ohne dich trinken.« Ihre Stimme war rau. Sie nahm die verschlossene Flasche vom Tisch und drückte sie an sich. »Ich passe gut darauf auf und warte, bis wir sie irgendwann zusammen trinken können.«

»Das werden wir«, versprach Adrian, dann ging er.

Kapitel 1

»Endlich!« Eva seufzte erleichtert auf, als Adrian in den frühen Morgenstunden die Eingangshalle des Krankenhauses betrat. Sie eilte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Ganz fest umschlang sie ihn, obwohl sie spürte, dass sein Körper sich anspannte. Dann ließ er seine Reisetasche fallen und legte beide Arme um sie.

Seit Eva die Nachricht von Fenjas Unfall erhalten hatte, fühlte sie sich wie im Ausnahmezustand. Sie hatte sich so sehr auf ihre Tochter gefreut, als sie am Vortag in die Maschine von Bergen nach Hamburg gestiegen war. Und jetzt stand sie hier und bangte um das Leben ihres Kindes.

»Wie geht es Fenja?« Seine Stimme klang rau, seine Miene spiegelte die Angst um ihre gemeinsame Tochter.

Eva selbst hatte noch nie zuvor eine so tiefe Angst verspürt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie presste die Lippen aufeinander, konnte sekundenlang nicht antworten. »Während der Notoperation sind Komplikationen aufgetreten, Fenja wurde ins künstliche Koma versetzt. Im Moment kann niemand sagen, ob sie …« Eva brach ab. Sie brachte das Schreckliche nicht über die Lippen und fühlte sich schutzlos, als Adrian sich aus ihrer Umarmung löste.

»Wo ist sie?«, wollte er wissen. »Ich will sie sehen.«

»Sie liegt auf der Intensivstation.«

Mit einem akustischen Signal, das überlaut die nächtliche Stille durchbrach, öffnete sich eine Aufzugtür und ein älteres Paar trat heraus. Die Frau schluchzte leise. Der Mann neben ihr hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt.

Das Bild war Eva vertraut, sie hatte es während ihrer Zeit als Krankenhausärztin oft gesehen. Heute spürte sie zum ersten Mal selbst die Verzweiflung eines betroffenen Angehörigen.

Stille senkte sich über die Eingangshalle, nachdem das Paar das Krankenhaus verlassen hatte. Tagsüber herrschte hier rege Betriebsamkeit, jetzt waren sie allein in dem um diese Zeit nur spärlich beleuchteten Raum. Lediglich über dem Tresen zwischen der Treppe und den Aufzügen brannte eine Lampe. Dort saß eine Frau mittleren Alters und schaute neugierig zu ihnen herüber. Sie senkte den Blick, als Eva zu ihr sah.

Dann öffnete sich die Tür des zweiten Aufzugs, und ein Arzt in einem weißen Kittel stieg aus. Dr. Lothar Beck.

Eva kannte ihn gut, sie hatte mit ihm in der Uniklinik zusammengearbeitet, bevor sie die Stelle als Schiffsärztin auf der MS Kristiana übernahm. Sie schätzte ihn und seine Arbeit sehr und hatte bereits nach Fenjas Operation mit ihm gesprochen.

Lothar Beck wirkte erschöpft, als er dem Ausgang zustrebte. Doch als er sie und Adrian sah, kam er mit einem müden Lächeln zu ihnen. »Hallo.«

»Hallo«, sagte Eva. »Lothar, das ist mein Mann Adrian.«

Der Arzt reichte Adrian die Hand. »Lothar Beck. Eva und ich waren früher Kollegen. Ich bin der behandelnde Arzt Ihrer Tochter.«

Adrian nickte. Es war ihm anzusehen, dass ihn nur eines interessierte: »Wie geht es Fenja?«

»Ihr Zustand ist stabil, aber unverändert ernst. Wir müssen die nächsten Tage abwarten. Aufgrund ihrer hämodynamischen Instabilität …«

»Adrian ist kein Mediziner«, fiel Eva ihm ins Wort.

»Ja, natürlich. Entschuldigung.« Er suchte Adrians Blick. »Ihrer Tochter musste die Milz entfernt werden. Außerdem hat sie eine Gehirnerschütterung und mehrere gebrochene Rippen. Ich habe Eva alle wichtigen Informationen über die OP gegeben, außerdem hat sie alle Laborberichte gesehen.«

All das hatte er Eva schon vor Stunden mitgeteilt, aber sie war unfähig, wie eine Ärztin zu denken. Sie fühlte ausschließlich wie eine Mutter. Die Angst setzte ihr zu. Sie schwankte kurz, und sofort griff Lothar Beck besorgt nach ihrem Arm. Aber auch Adrian hielt und stützte sie.

»Du musst dich ausruhen«, sagte Lothar Beck mitfühlend.

»Ja.« Sie nickte und atmete tief durch. Ein Blick zu Adrian verriet ihr, dass auch er am Ende seiner Kräfte war.

»Wie ist das passiert?«, fragte er leise.

»Das wissen wir noch nicht.« In Evas Angst mischte sich Wut. »Sie ist gestürzt, nachdem ein Auto ihr Fahrrad gerammt hat. Der Autofahrer hat sie einfach liegen lassen und ist abgehauen«, stieß sie hervor.

Adrians Hände ballten sich zu Fäusten. »Hat die Polizei eine Spur?«

»Keine Ahnung. Mir ging es in den letzten Stunden nur um Fenja.«

»Natürlich.« Er zog Eva für einen tröstenden Moment an sich und ließ sie viel zu schnell wieder los. »Bringst du mich zu ihr?«

Lothar Beck nickte zustimmend, als Eva ihn fragend anschaute, und zog sein Handy aus der Kitteltasche. »Ich sage auf der Station Bescheid, damit sie euch reinlassen.«

Eva hatte Adrian noch nie weinen sehen. Nicht einmal an dem Tag, als sein Vater starb und auf den Lofoten beigesetzt wurde. Doch jetzt, am Bett seiner schwer verletzten Tochter, rollte eine Träne über seine Wange. Seine Hände umklammerten den metallenen Rahmen am Fußende des Bettes.

Eva ahnte, was in ihm vorging. Sie konnte den Anblick auch kaum ertragen. Blutige Schrammen zogen sich durch Fenjas Gesicht und über ihre nackten Arme. Blutergüsse, die blaulila schimmerten. Nur das monotone Piepen des Überwachungsmonitors war zu hören. Die Anzeigen veranschaulichten die Herzfrequenz, den Blutdruck und die Sauerstoffsättigung. Schläuche und Kabel, die mit Fenjas Körper verbunden waren, zeichneten sie auf oder erhielten Funktionen aufrecht. Durch einen Tubus wurde sie beatmet. Eine einzelne Lampe an der Leiste über dem Bett war eingeschaltet. Sie schuf mehr Schatten als Licht.

»Wer hat dir das angetan?«, brach es aus Adrian heraus.

»Sie wird es schaffen«, flüsterte Eva mit bebenden Lippen. »Sie muss es schaffen.« Die Vorstellung, ihr Kind für immer zu verlieren, war unerträglich.

Adrian sprach kein weiteres Wort, bis sie das Krankenhaus verließen. Auch draußen ging er schweigend neben ihr her. In seiner Rechten trug er die Reisetasche, die linke Hand hatte er in der Tasche seiner Jacke vergraben. Er ging direkt neben Eva, und doch schien er weit weg zu sein.

»Mein Wagen steht dahinten.« Sie wies mit dem Finger die Straße entlang.

Adrian blieb stehen. »Ich fahre mit einem Taxi zum Hotel.«

»Du kannst doch bei uns …« Eva brach ab, als Adrian den Kopf schüttelte.

»Bitte, Adrian!« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Lass mich jetzt nicht allein mit der Angst um unsere Tochter.«

Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Unsicherheit, ihre Worte berührten ihn offenbar. Eva sprach hastig weiter: »In den letzten Wochen auf der MS Kristiana hat sich doch gezeigt, dass wir ganz gut miteinander auskommen. Und ich fände es schön, wenn wir in den nächsten Tagen zusammen zu Fenja fahren.«

Er ließ sich Zeit mit der Antwort, stimmte aber schließlich zu.

Nach wenigen Minuten erreichten sie Evas Wagen. Adrian stellte seine Reisetasche in den Kofferraum und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Früher hatte Adrian sie an seinen Gedanken und Gefühlen teilhaben lassen, aber obwohl Eva die Stille zwischen ihnen jetzt als bedrückend empfand, versuchte sie nicht, sie durch belanglose Worte zu brechen. Sie ließ Adrian während der gesamten Fahrt von Eilbek nach Blankenese in Ruhe.

Die Villa ihres Vaters auf dem Süllberg, in der sie zusammen mit Fenja seit der Trennung von Adrian lebte, war hell erleuchtet, doch als sie die Eingangshalle betraten, war niemand zu sehen.

»Du kannst das Gästezimmer neben der Bibliothek haben«, sagte Eva. »Du kennst dich ja aus.«

Adrian ging in Richtung der breiten Treppe, die sich in einem Bogen nach oben schwang.

»Möchtest du noch etwas trinken?«, fragte Eva hastig. »Oder hast du Hunger?«

»Nein, danke.« Er wünschte ihr eine gute Nacht, dann ging er nach oben.

Eva schaute ihm nach, aber er drehte sich nicht noch einmal um. Sie würde ohnehin nicht schlafen können, also ging sie in die Küche und setzte Teewasser auf. Aufgewühlt trat sie an das Fenster. Im Licht der Morgendämmerung konnte sie die Elbe sehen. Ein Schiff zog vorbei, groß und weiß wie die MS Kristiana.

Eva dachte an die letzten Wochen. Sie hatte die Stelle als Ärztin auf dem Kreuzfahrtschiff vor allem deshalb angenommen, weil sie um ihre Ehe kämpfen wollte. Schließlich war Adrian der Kapitän, und es hätte keine bessere Möglichkeit gegeben, ihn täglich zu sehen und ihm nahe zu sein.

Gesehen hatte sie ihn jeden Tag, die Nähe zwischen ihnen aber war verschwunden. Zu viel stand zwischen ihnen: Evas Lügen, ihre kurze Affäre mit Magnus und das Kind, das nicht zur Welt hatte kommen dürfen. Doch damit nicht genug, denn auf der MS Kristiana war etwas passiert, womit Eva nie gerechnet hätte: Eine andere Frau war in Adrians Leben getreten!

Sie spürte wieder diesen Druck in ihrem Bauch, als sie an Jasmin Andres dachte. Eine unsägliche Mischung aus der Angst, Adrian endgültig zu verlieren, und dem Gefühl der Unzulänglichkeit. Es war offensichtlich, dass Adrian sich nicht nur aus beruflichen Gründen für die Hotelmanagerin auf der MS Kristiana interessierte. Dass die beiden sich näher waren, als Eva ohnehin schon befürchtet hatte, war ihr bei einem Halt auf den Lofoten klar geworden, als sie zusammen mit Fenja das Elternhaus ihres Mannes betreten und ihn dort zusammen mit Jasmin Andres angetroffen hatte. Eva hegte keinerlei Zweifel daran, dass die beiden die Nacht miteinander verbringen wollten. Sie hatte gleichermaßen Wut und Schmerz empfunden – so wie immer, wenn sie an Adrian und Jasmin dachte.

»Ich werde nicht zulassen, dass sie ihn mir wegnimmt«, flüsterte sie.

»Redest du mit dir selbst?«

Eva fuhr herum. Fiona Steidl stand in einem dünnen Negligé an der Tür. Ihre langen roten Haare fielen offen über ihre Schultern.

»Da kocht was.« Fiona schien keine Antwort auf ihre Frage zu erwarten und wies auf den Wasserkocher.

Eva konnte die Geliebte ihres Vaters nicht leiden und war überzeugt, dass Fiona wegen seines Vermögens, vor allem aber wegen seiner Beziehungen das Bett mit Clemens teilte. Immerhin verdankte sie ihm einige Fernsehauftritte und Moderationsaufträge.

Fiona gähnte laut. »Wenn du Kaffee kochst, hätte ich auch gerne eine Tasse.«

»Koch dir deinen Kaffee gefälligst selbst«, erwiderte Eva unfreundlich und ging an ihr vorbei aus der Küche. Sie hörte Fiona etwas Unverständliches murmeln, während sie die Treppe hinaufstieg und in ihr Zimmer ging.

Mitten im Raum blieb sie stehen. Sie fühlte sich unsagbar einsam. Da war die Angst um ihr Kind, dazu noch die unerfüllte Liebe zu dem Mann, der in dem Zimmer am Ende des Ganges schlief. Er war so nah – und doch so weit von ihr entfernt. Das Gefühl wurde immer stärker und schließlich so übermächtig, dass Eva es nicht mehr aushielt. Fluchtartig verließ sie ihr Zimmer und eilte zum Gästezimmer am Ende des Ganges. Sie hob die Hand, klopfte leise.

Alles blieb still. Vorsichtig drückte Eva die Klinke nach unten und öffnete die Tür.

Die Vorhänge an den Fenstern waren nicht zugezogen, und so konnte sie im aufziehenden Licht der Morgendämmerung Umrisse erkennen. Auf einem Stuhl neben dem Kleiderschrank stand Adrians Reisetasche. Adrian lag auf dem breiten Doppelbett auf der gegenüberliegenden Seite mit dem Rücken zu ihr.

»Schläfst du?«, flüsterte sie.

»Nein.« Adrian richtete sich auf. »Ich kann nicht schlafen.«

Eva schloss die Tür und trat an sein Bett. »Das geht mir genauso.« Sie setzte sich auf die Bettkante, wollte ihm so nah wie möglich sein.

»Ich muss die ganze Zeit an Fenja denken«, sagte Adrian bedrückt.

Sofort empfand Eva ein schlechtes Gewissen, weil sie in den letzten Minuten keineswegs nur an Fenja, sondern an sich selbst und Adrian gedacht hatte. Sie senkte den Kopf.

»Komm her!« Er streckte die Arme nach ihr aus und zog sie an sich.

Eva wusste genau, dass es nicht mehr als eine tröstende Geste war, doch sie genoss es, in seinen Armen zu liegen. Es fiel ihr in diesem Moment nicht schwer, seinen Worten zu glauben: »Alles wird gut!«

Als sie zwei Stunden später gemeinsam ins Erdgeschoss traten, saßen Clemens und Fiona bereits am gedeckten Frühstückstisch.

Clemens stand auf und reichte seinem Schwiegersohn die Hand. Dann nahm er Eva kurz in die Arme. »Wie geht es Fenja?« In seinem Blick lag Sorge.

»Ich habe eben im Krankenhaus angerufen. Sie ist so stabil, dass die Ärzte heute schon die Aufwachphase einleiten wollen«, erwiderte Eva. »Ich fahre sofort nach dem Frühstück zu ihr.«

»Ich komme mit«, sagte Adrian.

»Ich wollte eigentlich ein paar Dinge mit dir besprechen«, wandte Clemens ein.

»Im Moment ist mir nichts wichtiger als mein Kind«, wies Adrian seinen Schwiegervater zurecht.

Clemens hob beschwichtigend die Hände. »Natürlich! Genau darum geht es ja. Ich halte es für besser, wenn du vorerst in Hamburg bleibst, deshalb wollte ich mit dir besprechen, wen ich als Ersatz für dich auf die MS Kristiana entsenden soll. Natürlich erstmal nur für die Fahrt von Bergen nach Sydney.«

Adrian lächelte ironisch. »Ich bin sicher, du hast längst eine Entscheidung getroffen.«

Clemens lächelte knapp zur Antwort. »Aber da ist noch etwas.« Er ließ seinen Blick zwischen Adrian und Eva hin- und herwandern. »Es geht um Veit Uthoff.«

Adrians Gesicht verschloss sich augenblicklich. »Was gibt es da noch zu besprechen? Der Mann gehört ins Gefängnis.«

Eva sagte nichts dazu. Sie kannte Veit seit ihrer Kindheit und konnte sich immer noch nicht wirklich vorstellen, dass er als Kapitän auf seinem Schiff junge Mitarbeiterinnen belästigt und unter Druck gesetzt haben sollte. Andererseits hatte Fenja ihn dabei beobachtet, und für Eva gab es keinen Grund, an der Aussage ihrer Tochter zu zweifeln.

»Ich bin seit vielen Jahren mit Veit befreundet.« Clemens’ Stimme klang ruhig, auch seine Miene war unbewegt, doch Eva kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass es in ihm anders aussah. Das verriet die Ader an seiner Schläfe, die jetzt ein wenig vortrat. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er verärgert war.

»Nach allem, was du weißt, hältst du an dieser Freundschaft fest?« Anders als sein Schwiegervater zeigte Adrian seinen Ärger. Seine Stimme wurde laut. »Reicht dir nicht, was du von deinen Mitarbeiterinnen erfahren hast?«

»Ich will erst hören, was Veit dazu sagt«, erwiderte Clemens. »Zumindest das bin ich ihm schuldig. Ich bin nicht nur sein Chef, wir sind auch seit Jahren miteinander befreundet!«

Adrian wirkte fassungslos. »Clemens, deine eigene Enkelin wird gegen Veit Uthoff aussagen! Außerdem eine junge Frau aus der Besatzung der MS Kristiana, die vorher mit diesem Mistkerl unangenehme Erfahrungen gemacht hat – und zu allem Übel wurde ihr auch noch mit Kündigung gedroht! Ich finde es unglaublich, dass du dich jetzt noch hinter Veit Uthoff stellst.«

Eva legte beschwichtigend eine Hand auf Adrians Arm. »Papa hat doch nur gesagt, dass er Veit Uthoff anhören will«, sagte sie, doch ihre Worte erzielten bei ihrem Mann keineswegs die erhoffte Wirkung. In seinem Blick lag unverhohlene Wut.

Erschrocken zog Eva ihre Hand zurück.

»Ich fahre jetzt direkt zu Fenja«, sagte er.

»Lass uns doch erst frühstücken …«, bat sie, doch Adrian fiel ihr ins Wort.

»Mir ist der Appetit vergangen. Wir sehen uns im Krankenhaus.« Damit drehte er sich um und verließ das Zimmer.

Unschlüssig schaute Eva ihm nach. Sollte sie ihm folgen?

»Setz dich!«, befahl Clemens, während er selbst wieder am Kopfende des Tisches Platz nahm.

Wie üblich machte Eva genau das, was ihr Vater von ihr verlangte. Obwohl sie sich deshalb über sich selbst ärgerte, nahm sie am Tisch Platz.

Fiona Steidl saß ihr gegenüber. Sie hatte bisher kein Wort gesagt, doch als sie sich anschauten, lächelte sie.

Eva gab den Blick hochmütig zurück, dann konzentrierte sie sich auf ihr Frühstück. Der Appetit war auch ihr vergangen, trotzdem griff sie nach einem Croissant. Sie brach ein Stück davon ab und kaute lustlos darauf herum.

Karin Bertram, die Haushälterin ihres Vaters, trat an den Tisch. Sie begrüßte Eva mit einem freundlichen Lächeln und erkundigte sich nach Fenja.

»Ich fahre gleich zu ihr.« Die Worte sollten vor allem ihrem Vater klarmachen, dass sie nicht die Absicht hegte, lange am Frühstückstisch sitzen zu bleiben.

»Das hat sie dich nicht gefragt«, sagte Fiona mit einem provozierenden Lächeln.

Karin Bertram ignorierte Fiona. »Ich drücke beide Daumen, dass es ihr bald wieder besser geht«, sagte sie zu Eva. »Sobald Fenja wieder wach ist und Appetit hat, backe ich ihre Lieblingswaffeln und bringe sie ihr ins Krankenhaus.«

»Darüber wird sie sich bestimmt freuen.« Eva lächelte der Haushälterin zu.

»Natürlich wird sie sich freuen, bei dem schlechten Essen, das in den meisten Krankenhäusern serviert wird«, meldete sich Fiona wieder zu Wort.

Karin und Eva warfen sich einen kurzen Blick zu. Eva war sicher, dass Karin die derzeitige Geliebte ihres Vaters auch nicht mochte. Sie ließ sich allerdings nie etwas anmerken und blieb stets freundlich. Sie reagierte nur, wenn Fiona sie direkt ansprach, und dann auch nur mit dienstbeflissener Höflichkeit.

Eva bemerkte, dass ihr Vater sie mit gerunzelter Stirn beobachtete. Er griff kurz nach Fionas Hand. Die Geste war nicht nur liebevoll, sondern auch eine Warnung und zeigte deutlich, dass er sich jederzeit schützend vor seine Geliebte stellen würde.

Eva füllte viel Milch in den Kaffee, damit er schneller abkühlte und sie die Tasse in einem Zug austrinken konnte. Dann erhob sie sich. »Entschuldigt mich bitte«, sagte sie bemüht freundlich. »Aber ich will dabei sein, wenn Fenja aus dem Koma erwacht.« Sie verschwieg, dass es sich dabei womöglich um einen langen Prozess handeln konnte. Die Medikamente, die Fenja in diesem Zustand hielten, wurden nur langsam reduziert.

»Ruf mich bitte an, wenn es etwas Neues gibt«, bat Clemens.

Damit du bloß nicht selbst ins Krankenhaus fahren musst, dachte Eva bitter.

Er war dabei gewesen, als die beiden Polizisten ihr gestern die Nachricht vom Unfall ihrer Tochter überbracht hatten – und dann hatte er sie allein gelassen, so wie immer. Er hatte sie weder ins Krankenhaus begleitet, um ihr während der stundenlangen Wartezeit vor dem Operationssaal beizustehen, noch hatte er in der vergangenen Nacht auf sie und Adrian gewartet.

Er hat ein Flugzeug für Adrian gechartert!

Dafür war sie ihm dankbar, aber dennoch blieb ein bitteres Gefühl. Es war typisch für Clemens, die Dinge finanziell zu regeln, aber gestern hätte sie einen Vater an ihrer Seite gebraucht.

Wenn es Kristiana gewesen wäre …

Der Gedanke erfüllte Eva mit dem altbekannten Schmerz. Und mit dem Wissen, dass ihre Halbschwester die Tochter war, die ihr Vater wirklich liebte. Deshalb hatte er das neue und hochmoderne Schiff seiner Reederei auch nach seiner jüngsten Tochter benannt.

MS Kristiana!

Es gab in der ganzen Flotte ihres Vaters keine MS Eva. Deutlicher konnte er nicht zeigen, welche seiner Töchter ihm wichtiger war. Auch wenn er nie über Kristiana sprach, so wusste Eva doch, dass er ständig an sie dachte. Das Foto ihrer Halbschwester stand auf seinem Schreibtisch, genau vor dem Foto, das Eva zusammen mit ihrer Tochter Fenja zeigte. Clemens Tychsen hatte sogar ein Gemälde anfertigen lassen, das Kristiana zeigte. Er musste von seinem Schreibtisch nur den Kopf heben, um einen Blick darauf zu werfen.

Ob ihm überhaupt bewusst ist, wie weh mir das tut? Denkt er jemals darüber nach? Oder ist es ihm einfach egal?

Eva erinnerte sich noch gut an die Verzweiflung ihres Vaters, als Kristiana vor zehn Jahren verschwand. Das war das erste und einzige Mal, dass Eva ihren Vater hatte weinen sehen …

»Ist noch etwas?« Die Stimme ihres Vaters schreckte Eva aus ihren Gedanken. Er schaute sie mit gerunzelter Stirn an.

Fiona hingegen musterte sie aufmerksam, während sie einen Apfel aß, den sie in mundgerechte Stücke geschnitten hatte.

»Ja, da ist noch eine ganze Menge!«, hätte sie ihm am liebsten entgegengeschleudert und ihm danach endlich gesagt, was sie schon seit ihrer Kindheit quälte. Aber sie schwieg. Nicht nur Fionas Anwesenheit hielt sie davon ab. Tief in ihr blieb immer die Sehnsucht, doch noch die Anerkennung und Liebe ihres Vaters zu gewinnen.

»Nein.« Sie wandte sich um und verließ den Raum.

Adrian saß neben Fenjas Bett, als Eva das Zimmer auf der Intensivstation betrat. Er hob den Kopf und nickte ihr zu, dann schaute er wieder auf das blasse Gesicht seiner Tochter. Mit dem Daumen streichelte er über Fenjas Handrücken.

Eva kontrollierte die Anzeigen auf dem Monitor neben dem Bett und die Infusion, die durch den dünnen Schlauch in Fenjas Vene lief. Ihre Kollegen hatten die Aufwachphase noch nicht eingeleitet.

Adrian stand auf, um einen weiteren Stuhl für sie zu holen. Bei seiner Rückkehr war Lothar Beck in seiner Begleitung.

»Schön, dich zu sehen.« Der Arzt lächelte ihr herzlich zu. »Fenja ist so stabil, dass wir die Sedierung jetzt unterbrechen, um ihren Status zu überprüfen. Wenn die Vitalwerte zufriedenstellend ausfallen, beginnen wir mit der Aufwachphase.«

»Was genau bedeutet das?« Adrian klang beunruhigt. »Was passiert, wenn ihre Vitalwerte nicht in Ordnung sind?«

»Das ist das ganz normale Prozedere«, erklärte Eva, die heute froh war, sich in ihre medizinische Kompetenz retten zu können. »Es handelt sich um ein sogenanntes neurologisches Fenster. Wenn man währenddessen feststellt, dass es noch zu früh ist, gibt man wieder mehr Narkotika, und das künstliche Koma wird fortgeführt.«

Eine Krankenschwester betrat das Zimmer, um dem Arzt zu assistieren. Die Dosis des Narkosemittels wurde reduziert, der Tubus entfernt.

Eva beobachtete aufmerksam die Reaktion ihrer Tochter. Sie erinnerte sich an die Worte, die sie selbst in solchen Fällen immer zu den Angehörigen gesagt hatte. Jetzt empfand sie sie als hohle Phrasen und wünschte sich, sie hätte mehr Sensibilität gezeigt.

Fenja atmete selbstständig, aber sie wachte noch nicht auf.

Adrian war unruhig, und Eva umfasste seinen Arm. »Es ist alles in Ordnung«, versicherte sie.

»Wie lange dauert es, bis sie aufwacht?«

»Nicht mehr sehr lange.« Dr. Beck wies auf Fenjas Finger, die sich leicht bewegten.

»Fenja.« Eva beugte sich über ihre Tochter und strich sanft über die Wange des Mädchens. »Papa ist auch da.«

Fenjas Augenlider flatterten leicht.

»Sieh mich an«, bat Adrian und griff nach ihrer Hand.

Es dauerte noch eine Weile, bis Fenja wirklich die Augen öffnete. Zuerst starrte sie an die Decke, schien nichts wahrzunehmen. Doch dann schaute sie zuerst Adrian und anschließend Eva an. Sie lächelte kurz und schloss die Augen wieder.

»Fenja ist auf einem guten Weg«, stellte Dr. Beck fest. Er wandte sich an die Krankenschwester und gab Anweisungen für die Medikation in den nächsten Stunden. Dann verließen die beiden zusammen das Krankenzimmer.

Eva wischte sich die Tränen von den Wangen. »Jetzt wird alles wieder gut«, sagte sie sanft zu Adrian.

»Ja.« Mehr sagte er nicht.

Eva sah ihm an, dass er mit der eigenen Rührung kämpfte.

Sie fasste sich ein Herz. »Lass uns bitte nicht sofort wieder allein«, bat sie.

Diesmal lächelte er. »Du hast deinen Vater doch gehört. Er hat bereits einen Ersatz für mich gefunden, der die MS Kristiana nach Australien bringt. Ich bleibe auf jeden Fall hier, bis Fenja das Krankenhaus verlässt.«

»Danke.« Am liebsten hätte Eva ihn umarmt und geküsst, aber das wagte sie nicht. Noch nicht!

In den nächsten Stunden wurde Fenja wacher. Immer wieder schlug sie die Augen auf, jedes Mal für einen zunehmend längeren Zeitraum.

Eva war zutiefst erleichtert, als sie auf Ansprache reagierte und schließlich auch die von Dr. Beck durchgeführte erste neurologische Untersuchung keine Auffälligkeiten zeigte. An den Unfall konnte Fenja sich allerdings nicht erinnern.

»Streng dich nicht an«, sagte Eva. »Die Erinnerung kommt dadurch nicht schneller zurück.«

»Und wenn sie nie zurückkommt?« Fenja schaute sie verzweifelt an.

»Dann ist das eben so«, sagte Adrian. »Wir sollten alle froh sein, dass du wieder gesund wirst. Alles andere ist nicht wichtig.«

Fenja schien nicht überzeugt, ließ das Thema aber auf sich beruhen. Sie schmiegte ihre Hand in Adrians. »Ich bin froh, dass du da bist.«

Ich auch, dachte Eva. Es fühlt sich so an, als wären wir als Familie endlich wieder auf einem guten Weg.

Drei Tage später besuchte Eva ihre Tochter wie jeden Vormittag im Krankenhaus.

Adrian war am Morgen von Clemens in die Reederei bestellt worden, er würde später nachkommen. Nun, da Fenja auf dem Weg der Besserung war, erwartete Clemens, dass Adrian doch zurück nach Bergen fuhr und die MS Kristiana zum nächsten Einsatzort nach Sydney steuerte. Wahrscheinlich versuchte er gerade, Adrian zu überreden.

Bitte, Adrian, flehte Eva in Gedanken, lass dich nicht darauf ein. Fenja und ich, wir brauchen dich hier!

Zum wiederholten Male bereute sie, dass sie das Haus, in dem sie vor ihrer Trennung als Familie gelebt hatten, vermietet hatte. Es tat weder ihr noch Adrian gut, dass sie ständig Clemens’ Einfluss ausgesetzt waren.

Nachdenklich betrat sie die Eingangshalle. Sie bemerkte Lothar Beck erst, als er unmittelbar vor ihr stand, und brachte ein erzwungenes Lächeln zustande. »Lothar.«

Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Du siehst blass aus.«

»Die Angst um Fenja …« Sie brach ab. »Aber jetzt geht es aufwärts.«

»Es ist erstaunlich, wie schnell sie sich erholt. Sie muss nicht länger auf der Intensivstation bleiben. Wir verlegen sie heute auf die Chirurgie«, bestätigte Lothar. Sein Blick war eindringlich. »Ist sonst alles in Ordnung mit dir? Ich war ziemlich überrascht, als ich hörte, dass du nicht mehr in der Uniklinik arbeitest.«

Zum ersten Mal seit Fenjas Unfall unterhielten sie sich auf einer persönlichen Ebene.

»Du weißt doch, was vorgefallen ist. Der Tod des Patienten, die Verleumdungskampagne, der ganze Dreck und die Lügen …« Sie hielt inne, weil das nur ein Teil der Wahrheit war. Der Teil, den Lothar kannte. Und das war nur der Beginn der Geschichte gewesen, die letztendlich zur Trennung zwischen Adrian und ihr geführt hatte.

Eva war nach dem Tod eines Patienten suspendiert worden, weil der Kollege, der den Fehler gemacht hatte, stattdessen sie bezichtigt hatte, um seine eigene Karriere zu retten. Seine falschen Behauptungen wurden durch die Aussagen einer Krankenschwester gestützt.

Eva war zutiefst verzweifelt gewesen und hatte sich sehr allein gefühlt in dieser Zeit. Adrian war damals für Clemens’ Flotte gefahren und irgendwo auf einem Kreuzfahrtschiff in der Südsee unterwegs. Auch ihr Vater war ihr keine große Stütze gewesen, er hatte lediglich Sorge gehabt, dass die Schlagzeilen über seine Tochter auch der Reederei schaden könnten.

Dann war da Magnus gewesen. An den schrecklichen Tagen, aber noch mehr in den einsamen Nächten. Sie hatte sich wie eine Verzweifelte an ihn geklammert und Trost bei ihm gesucht. Aber selbst das endete in einem Desaster, als sie feststellte, dass ihre kurze Affäre nicht ohne Folgen geblieben war.

Dass sie ausgerechnet von Magnus schwanger geworden war, obwohl sie und Adrian sich ein weiteres Kind gewünscht hatten, war für Eva ebenso schlimm wie die furchtbaren Ereignisse, die zu ihrem Seitensprung geführt hatten. Dieses Kind durfte das Licht der Welt nicht erblicken. Sie wollte es nicht haben.

Durch einen perfiden Zufall erfuhr Adrian kurz nach seiner Heimkehr von ihrem Schwangerschaftsabbruch. Bis heute glaubte er, es sei sein Kind gewesen, und Eva ließ ihn in dem Glauben. Wenn er erfuhr, dass sie ihn betrogen hatte, würde sie ihn endgültig verlieren. Sie konnte nur hoffen, dass er ihr den Abbruch irgendwann verzeihen würde.

»Eva!« Lothars Stimme durchdrang ihre Gedanken. »Ist alles in Ordnung?«

»Entschuldigung.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich war in Gedanken versunken.«

»Und es waren ganz offensichtlich keine angenehmen Gedanken«, stellte er fest.

»Nein.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

»Es ist alles vorbei, deine Unschuld wurde bewiesen.«

»Das verdanke ich allein dir«, erwiderte sie leise. Während ihrer Suspendierung hatte Lothar Beck angefangen nachzuforschen und schließlich von der beteiligten Krankenschwester die Wahrheit erfahren.

»Wenn du nicht aufgedeckt hättest, dass Kollege Gödde die Berichte gefälscht hat …« Sie brach ab und atmete tief durch. »Dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Du hast die Wahrheit ans Licht gebracht«, sagte sie. »Aber mein Ruf war danach allein durch den Verdacht angekratzt, und damit hatte ich keine Aufstiegschancen mehr. Einige Kollegen haben sich von mir abgewandt.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Und dann hast du dort auch noch aufgehört und bist hierher gewechselt.« Eva starrte sekundenlang vor sich hin. »Selbst mein Privatleben wurde dadurch massiv beeinträchtigt. Ich konnte da einfach nicht bleiben.«

Und ich wollte meinen Mann zurückgewinnen, dachte sie. Wegen ihm habe ich meine Stelle in der Uniklinik aufgegeben. Weil ich hoffte, dass die räumliche Nähe auch uns wieder näher zusammenbringt.

Sie hatte gerne mit Lothar Beck gearbeitet, aber so vertraut war er ihr nie gewesen, dass sie ihm all das jetzt sagen konnte.

»Und auf dem Schiff fühlst du dich wohl? Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass dir das reicht. Eine so engagierte und ambitionierte Ärztin wie du gibt sich mit der Behandlung von seekranken Touristen zufrieden?«, hakte Lothar nach.

Nein!, schrie alles in ihr, doch sie nickte. »Ja. Ich bin mit meinem Mann zusammen. Und so langweilig ist die Arbeit nicht«, log sie. »Im Moment ist alles gut, so wie es ist.«

Lothar verzog das Gesicht, als sich ausgerechnet in diesem Moment sein Piepser meldete. Er zog ihn aus der Kitteltasche, warf einen kurzen Blick auf das Display und hatte es plötzlich sehr eilig. »Ich muss los. Ich würde mich freuen, wenn wir unsere Unterhaltung fortsetzen könnten. Vielleicht bei einer Tasse Kaffee?«

»Das wäre schön.« Eva war nicht sicher, ob ihre Antwort überzeugend klang. Sie mochte Lothar Beck, aber die Begegnung mit ihm hatte sie angestrengt. Der Rückblick in die dunklen Stunden ihres Lebens ebenso wie der Versuch, so zu tun, als wäre alles in ihrem Leben perfekt.

Lothar eilte den Gang hinunter. Eva sah ihm nach und ertappte sich bei dem Wunsch, dass sie genau so auch wieder arbeiten wollte.

Sie war zu aufgewühlt, um sofort zu ihrer Tochter zu gehen, und beschloss, eine Runde durch den Krankenhauspark zu spazieren, um die Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln und sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag. Unmittelbar kehrten ihre Gedanken wieder zu Adrian zurück und dem Wunsch, er möge in den nächsten Tagen nicht nach Bergen aufbrechen.

Als Eva eine halbe Stunde später das Zimmer ihrer Tochter betrat, saß Adrian auf der Bettkante und hielt Fenjas Hand. Eva freute sich. »So früh habe ich gar nicht mit dir gerechnet.«

Seine Miene war undurchdringlich, als er antwortete: »Die Unterredung mit deinem Vater war schnell vorbei. Wir fliegen Mitte September nach Sydney. Die MS Kristiana geht dort ab dem neunzehnten auf Fahrt.«

Wir!

Wie kraftvoll die Bedeutung eines so kleinen Wortes doch sein konnte.

»Und was ist mit mir?« Fenja hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihre Eltern ärgerlich an.

»Bisher war es doch okay für dich, bei Opa zu bleiben«, entgegnete Eva überrascht.

»Opa und Karin sind okay, die lassen mich in Ruhe. Aber ich kann die blöde Fiona nicht leiden.« Fenja schmollte.

»Darüber würde ich mir keine Gedanken machen«, erwiderte Eva. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder weg ist.«

»Da bin ich mir nicht sicher«, widersprach Fenja. »Bisher hat keine Frau so lange bei Opa gewohnt.«

»Das stimmt.« Eva zuckte hilflos die Schultern. »Als Alternative fällt mir nur ein Internat ein.«

Fenja hob abwehrend beide Hände. »Da bleibe ich lieber bei Opa.« Sie schwieg einen Moment. »Aber noch lieber wäre es mir, wenn du in Hamburg bleiben würdest und wir wieder in unser eigenes Zuhause zurückziehen könnten.«

Sobald zwischen mir und deinem Vater wieder alles in Ordnung ist, antwortete Eva in Gedanken.

»Aber ich finde es gut, dass du mit Papa auf dem Schiff fährst«, ergänzte Fenja, was deutlich zeigte, wie sehr auch sie sich wünschte, dass ihre Eltern wieder zusammenkamen.

Eva schaute zu Adrian, aber der erwiderte ihren Blick nicht.

»Ich brauche übrigens ein neues Handy«, sagte Fenja. »Mein altes hat den Unfall nicht überlebt.«

»Das ist natürlich tragisch«, erwiderte Adrian trocken.

Fenja grinste. »Nicht wirklich. Es wäre schon lange ein neues fällig gewesen.«

Adrian runzelte die Stirn. »Das hast du doch erst vor einem Jahr bekommen.«

Fenja grinste wieder. »Ja, uralt. Sag ich doch.« Dann änderte sich ihr Tonfall, als sie hinzufügte: »Ich brauche dringend ein neues Handy, Papa. Wie soll ich sonst Kontakt zu meinen Freunden halten?«

Adrian wies auf das Telefon neben ihrem Bett. »Ruf sie an.«

Fenja schnappte entsetzt nach Luft. »Damit komme ich doch nicht ins Internet. Wirklich, Papa, du hast keine Ahnung! Ich brauche ein Handy, das ist lebensnotwendig. Kaufst du mir ein neues? Am besten heute noch?«

In diesem Augenblick klingelte Adrians Telefon. Nach einem kurzen Blick auf das Display seufzte er tief auf und reichte es an Fenja weiter. »Sag deinem Großvater, ich hätte dir mein Handy geliehen und wäre bereits weg.«

Fenja starrte ihn mit großen Augen an. »Ich soll für dich lügen? Was bekomme ich denn dafür?«

»Ein neues Smartphone.« Um Adrians Lippen zuckte es verdächtig.

Fenja nahm das Gespräch an. »Hallo, Opa …« Kurz lauschte sie. »Nein, Papa ist nicht da«, sie zwinkerte Adrian fröhlich zu. »Er hat mir sein Handy geliehen, weil meins bei dem Unfall kaputtgegangen ist. Er ist unterwegs und kauft mir ein neues.« Mit einem durchdringenden Blick auf ihren Vater fügte sie gleich das Modell hinzu, das sie sich wünschte.

Als sie kurz darauf das Gespräch beendete, seufzte Adrian erneut tief auf. »Das hast du ja ganz raffiniert eingefädelt.«

Fenja lachte. Eva und Adrian schauten sich an, mussten ebenfalls lachen.

»Das ist fast so wie früher«, sagte Fenja plötzlich. »Als wären wir wieder eine ganz normale Familie.«

Adrians Lachen brach ab. Er lächelte noch, aber es wirkte gezwungen, dann erhob er sich.

»Gehst du schon?«, fragte Fenja enttäuscht.

»Ich habe einen Sonderauftrag.« Er beugte sich zu Fenja hinab und schloss sie kurz in die Arme. »Ich muss ein neues Smartphone für meine Tochter kaufen.«

Sofort strahlte Fenja wieder und nannte vorsichtshalber noch einmal das gewünschte Modell.

»Alles klar. Das habe ich hier notiert.« Adrian tippte gegen seine Stirn. Bevor er ging, verriet er Fenja noch die PIN, mit der sie sein Handy entsperren konnte.

Am nächsten Tag musste Eva wieder allein ins Krankenhaus fahren. Ingenieure der Werft, in der die MS Kristiana gebaut worden war, hatten sich zu einem Besuch in der Tychsen-Reederei angemeldet und wollten Adrians Erfahrungen mit dem Schiff hören.

»Sag Fenja, dass ich sie heute Abend besuche«, sagte Adrian vor seinem Aufbruch und reichte Eva ein Päckchen. »Und gib ihr das.«

»Ist das ihr neues Handy?«

Adrian nickte schmunzelnd. »Genau das Modell, das sie sich gewünscht hat.«

»Sie hat es verdient«, sagte Eva leise. Sie wussten beide, dass sie damit nicht nur Fenjas Unfall meinte, sondern auch den verzweifelten Wunsch des Mädchens nach einer intakten Familie. Doch Adrian ging nicht darauf ein und verabschiedete sich.

Fenja schrie vor Freude auf, als Eva ihr das Geschenk überreichte. »Sag Papa vielen Dank.« Andächtig hielt sie das Telefon in den Händen.

»Sag es ihm selbst, er besucht dich später.«

Fenja schaute ihre Mutter sinnend an. »Dann kannst du doch eigentlich zusammen mit ihm noch einmal zu mir kommen.«

Eva schmunzelte. »Gibst du mir diplomatisch zu verstehen, dass ich dich jetzt lieber in Ruhe lassen soll?«

Grinsend hielt Fenja ihr neues Smartphone in die Höhe.

»Ich verstehe«, sagte Eva. »Du hast jetzt etwas Besseres zu tun, als dich mit mir zu unterhalten.«

»Bist du jetzt sauer?«, fragte Fenja zerknirscht.

Eva winkte lachend ab. »Nein, natürlich nicht. Ich komme dann heute Abend noch einmal mit Papa.«

»Gibst du ihm das hier?« Fenja reichte ihr Adrians Handy. »Sag ihm vielen Dank. Und dass ich nicht darin herumgeschnüffelt habe.«

»Das wird ihn freuen«, erwiderte Eva trocken.

Fenja winkte ab. »Ist sowieso alles nur langweiliger Schiffskram.«

Eva schmunzelte. »Woher weißt du das, wenn du nicht herumgeschnüffelt hast?«

Fenja zuckte mit den Schultern, gab jedoch schließlich zu: »Okay, ein bisschen habe ich doch nachgeschaut, aber da war nix Spannendes.«

»Okay.« Eva nickte. »Ich gebe es Papa, begnüge mich aber mit einem einfachen Dankeschön.« Sie verabschiedete sich mit einer Umarmung von ihrer Tochter und verließ das Krankenzimmer.

Wenige Minuten später saß sie in ihrem Wagen. Sie wollte gerade den Motor starten, als Adrians Handy klingelte. Auf dem Display leuchtete der Name »Jasmin« auf.

Eva spürte, wie sich alles in ihr verkrampfte. Sie starrte auf den Namen, bis das Klingeln nach einer Weile verstummte. Dann ploppte die Mitteilung auf, dass sich auf der Mailbox eine Nachricht befand.

Nein, ich werde diese Nachricht nicht abhören!

Eva ballte die Hände zu Fäusten. Sie spürte ihren raschen Herzschlag, in ihrem Kopf rauschte es. Adrian hatte Fenja die PIN gestern mitgeteilt, und Eva hatte sie nicht vergessen.

Und dann, ohne weiter nachzudenken, tippte sie die Ziffern ein und hörte die Mailbox ab.