MULTIPLAYER - Gefährliches Spiel - Jannis Becker - E-Book
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MULTIPLAYER - Gefährliches Spiel E-Book

Jannis Becker

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Beschreibung

„Rache ist etwas Wunderbares, dachte Finja. Sie hatte einmal gelesen, dass Rache nur dann süß sei, wenn das Opfer den Rächer erkannte. Seit sie ‚Breath of Doom‘ spielte, teilte sie diese Ansicht nicht mehr. Es war viel schöner, sich im Stillen zu rächen, unerkannt und in fremder Gestalt.“ Ein Chef, der sie schlecht behandelt. Kollegen, die ihr die kalte Schulter zeigen. Ein Leben, das sie von Tag zu Tag mehr zu ersticken droht. Finja fühlt sich wie im freien Fall – bis sie das Online-Rollenspiel „Breath of Doom“ entdeckt. In der abenteuerlichen Fantasywelt wird aus der hilflosen jungen Frau die mächtige Zauberin Brianna. Hier kann sie es mit jedem Gegner aufnehmen und voller Selbstvertrauen von Sieg zu Sieg ziehen. Auch in Finjas wahrem Leben scheint sich auf einmal alles zum Guten zu wenden, als sie dem schüchternen Ben begegnet. Doch ist er wirklich der Mann, für den sie ihn hält? Und ist auch in der Online-Welt alles anders, als es auf den ersten Blick scheint? Ein fesselnder Roman über die beklemmende Frage: „Was passiert, wenn ein Spiel zur gefährlichen Falle wird?“

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Über dieses Buch:

Ein Chef, der sie schlecht behandelt. Kollegen, die ihr die kalte Schulter zeigen. Ein Leben, das sie von Tag zu Tag mehr zu ersticken droht. Finja fühlt sich wie im freien Fall – bis sie das Online-Rollenspiel „Breath of Doom“ entdeckt. In der abenteuerlichen Fantasywelt wird aus der hilflosen jungen Frau die mächtige Zauberin Brianna. Hier kann sie es mit jedem Gegner aufnehmen und voller Selbstvertrauen von Sieg zu Sieg ziehen. Auch in Finjas wahrem Leben scheint sich auf einmal alles zum Guten zu wenden, als sie dem schüchternen Ben begegnet. Doch ist er wirklich der Mann, für den sie ihn hält? Und ist auch in der Online-Welt alles anders, als es auf den ersten Blick scheint?

Ein fesselnder Roman über die beklemmende Frage: „Was passiert, wenn ein Spiel zur gefährlichen Falle wird?“

Über den Autor:

Jannis Becker ist das Pseudonym, unter dem der für historische Romane bekannte Autor Wolfgang Jaedtke seine Thriller und zeitgenössischen Geschichten veröffentlicht. Wolfgang Jaedtke wurde 1967 in Lüneburg geboren, studierte Historische Musikwissenschaft und promovierte mit einer Arbeit über Beethoven. Danach arbeitete er für ein Theater, bevor er sich als Schriftsteller selbstständig machte.

Bei dotbooks erschien bereits Wolfgang Jaedtkes historischer Roman Die Tränen der Vila. Weitere Titel sind in Vorbereitung.

***

Originalausgabe Januar 2014

Copyright © 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von katielittle/shutterstock.com.

ISBN 978-3-95520-467-9

***

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Jannis Becker

MULTIPLAYER

Gefährliches Spiel

Roman

dotbooks.

Für

Merianna

Cassaja

Mantika

Anamyris

und

Dariya

Kapitel I

Die Abendsonne glänzte blutrot auf den Hängen des Gebirges. Eine schattenhafte Gestalt bewegte sich vorsichtig auf den Eingang einer Schlucht zu. Ihr schmaler, langgliedriger Körper war in eine Rüstung aus dunklem Leder gehüllt, die den flachen Bauch und die muskulösen Schenkel frei ließ. Ihre Brust hob und senkte sich rasch, während ihr längliches Gesicht mit den dunklen Augen sich von einer Seite zur anderen wandte, auf der Suche nach Gefahr. Kurz hielt sie inne und winkte Ghira an ihre Seite, den schwarzen Panther, der sie begleitete. Dann schlich sie hinter einen Felsvorsprung und lugte um die Ecke.

Die Schlucht lag wie ein finsterer Korridor zwischen hoch aufragenden Hängen, gesprenkelt mit verkrüppelten Birken. Schon von weitem erkannte Brianna, dass sich dunkle Gestalten im Schatten der Felsen herumtrieben. Die massigen Körper waren doppelt so hoch wie sie selbst und mindestens viermal so breit. Sie standen einfach da, abwartend wie ein groteskes Begrüßungskomitee, die schweren Keulen gesenkt.

Das muss jetzt nicht sein, dachte Brianna seufzend. Die halten mich nur auf.

Eine Schlägerei mit den Trollen würde sie wahrscheinlich überstehen, doch es konnte wertvolle Minuten kosten. Vorsichtig schlich sie näher, bis die Gestalten deutlicher wurden und ihre groben Gesichter aus dem Schatten auftauchten. Hässlich waren sie, wie riesige Kröten auf zwei Beinen, mit einfältig glitzernden Schweinsäuglein und meißelartigen Zähnen. Ghira, Briannas schwarzer Panther, wollte bereits vorpreschen und sich auf den ersten der Gesellen stürzen, doch sie hielt ihn zurück.

Nicht heute, Ghira! Wir haben etwas anderes vor.

Sie hob die Arme, stellte sich auf die Zehenspitzen und beschwor eine dunkle Wolke, die sich als träge kreisende Schwade herabsenkte und ihren Körper umhüllte. Der Tarnzauber machte sie und ihren Begleiter unsichtbar – allerdings nur für 30 Sekunden. Die Zeit lief. Sie musste sich beeilen.

Entschlossen huschte sie vorwärts, direkt auf die Trolle zu. Ihre mächtigen Gestalten kamen näher, wuchsen zu dunklen Kolossen. Brianna hielt sich nah an der rechten Seitenwand der Schlucht, umrundete den ersten der Trolle, schlüpfte zwischen zwei weiteren hindurch, näherte sich dem Anführer, der mit seiner Steinkeule ungeduldig auf den Boden klopfte. Doch er starrte an ihr vorbei, die glitzernden Augen stumpf und leer.

Ein andermal, versprach ihm Brianna in Gedanken. Du kriegst noch, was du verdienst. Aber im Moment habe ich keine Zeit.

Sie ließ die Gruppe hinter sich und erreichte den rückwärtigen Teil der Schlucht. Der Tarnzauber hielt immer noch an – keine Gefahr mehr. Die Trolle waren weit genug weg, und Brianna wusste, dass sie ihre Wachposten nicht verlassen würden.

Bei Fuß, Ghira!

Sie wartete, bis der Panther sie eingeholt hatte, und bog in ein enges Kerbtal ein, das sich zur Rechten öffnete. Dort lag der Eingang zur Mine, eine finstere Stollenöffnung, gestützt von modrigen Balken. Vorsichtig schlich Brianna näher, bis sie einige Meter tief hineinsehen konnte. Der Boden war mit Geröll übersät, durchsetzt von gebleichten Knochen, die von vergangenen Schlachten zeugten.

Er ist hier drin – ich weiß es. Ich muss nur warten, bis er wieder herauskommt.

Ein wütendes Grunzen in ihrem Rücken ließ sie erschrecken. Sie fuhr herum und sah mehrere gedrungene Gestalten auf sich zukommen, die im Schatten eines Felsüberhangs gelauert hatten. Sie waren deutlich kleiner als die Trolle und überragten Brianna kaum um eine Kopflänge.

Orks, erkannte sie. Ihr nervt, Jungs! Aber wenn’s sein muss…

Die Unholde stellten keine ernstzunehmende Bedrohung dar, doch sie waren im Weg. Erneut stellte sich Brianna auf die Zehenspitzen und wirkte einen Verteidigungszauber, der sie und ihren Begleiter in eine schimmernde Blase hüllte. Dann warf sie sich dem ersten der Angreifer entgegen. Elegant wirbelten ihre beiden vergifteten Klingen und deckten den Ork mit einem Hagel tödlicher Hiebe ein. Die grünliche Haut platzte auf, und ein Blutregen schoss hervor. Als der Ork zu Boden ging, warf sich Brianna ohne Zögern auf den nächsten und hetzte ihren Panther auf einen dritten. Ohne mehr als ein paar Kratzer einzustecken, schlug sie den Gegner nieder, und auch Ghira brachte den seinen zu Fall. In selbstmörderischer Sturheit drangen die Orks vor, obwohl offensichtlich war, dass sie keine Chance hatten. Kaum zwei Minuten später war der gesamte Boden vor dem Stolleneingang mit toten Körpern bedeckt. Brianna hielt inne und drehte sich um sich selbst, sah jedoch keinen Gegner mehr auf den Füßen.

Alles in Ordnung, Ghira?

Sie bemerkte, dass der Panther aus einigen Wunden blutete, und legte rasch einen Heilzauber auf ihn. Die Wunden schlossen sich im Bruchteil einer Sekunde. Eine Weile wartete sie, ob die Orks zurückkehren würden, doch als sich nichts regte, bezog sie ihren Wachposten vor dem Stolleneingang. Der Schwarze Ritter würde kommen, früher oder später. Sie war sicher, dass er dort drinnen war. Er suchte nach den Schätzen, die irgendwo auf der untersten Ebene des Bergwerks von einem Drachen gehütet wurden, und da Brianna sein Vorhaben schon beim letzten Mal vereitelt hatte, war er sicher für einen zweiten Versuch zurückgekehrt.

Es war seine Zeit: neun Uhr abends. Natürlich hätte sie selbst in den Stollen hinabsteigen und nach ihm suchen können, doch dieser Herausforderung fühlte sie sich noch nicht gewachsen. Die unterirdischen Räume wimmelten von gefährlichen Monstern, nicht zu vergleichen mit den lächerlichen Level-15-Orks am Eingang. Brianna war stark im Angriff, doch sie trug nur eine leichte Rüstung und war auf Duelle oder kleine Gruppen von Gegnern spezialisiert. Der Schwarze Ritter hatte es dort unten leichter: Er war von Kopf bis Fuß in einen schweren Panzer gehüllt und konnte viel Schaden einstecken, ohne dass seine Lebenspunkte in den roten Bereich sackten. Dafür jedoch war er weitgehend wehrlos gegen Magie – und darauf beruhte Briannas Plan.

Fast eine Viertelstunde wartete sie. Dann endlich sah sie die schemenhafte Gestalt am Ende des Stollens auftauchen. Dass er es war, wusste sie, noch bevor sie sein Gesicht erkennen konnte, denn sein Name – GORTHAUR – leuchtete in flammender Schrift über seinem Kopf. Er war angeschlagen; Brianna sah es an dem roten Lebensbalken unter dem Namen, von dem ein rundes Drittel fehlte. Offenbar hatte er bereits einen guten Teil seiner Kraft im Kampf gegen die Monster verloren, die die Mine bevölkerten. Umso besser.

Auch er erkannte sie, denn über ihrem Kopf leuchtete ebenfalls ein Namensschild, auch wenn sie selbst es nicht sehen konnte. Der Schwarze Ritter hielt inne, verharrte reglos. Das hatte er noch nie getan, und erst als das Chatfenster sich öffnete, begriff Brianna, dass er eine Nachricht tippte.

[Gorthaur:] <Du schon wieder?!!>

Brianna antwortete ohne Zögern.

[Brianna:] <Ja, ich! Ist das ein Problem für dich?>

[Gorthaur:] <Was willst du von mir?>

[Brianna:] <Das weißt du doch.>

[Gorthaur:] <Ständig lauerst du mir auf! Das ist Grief Play! Ich melde dich, und dann machen sie deinen Account dicht!>

[Brianna:] <Feigling! Rufst du schon nach Mami, weil du Angst vor mir hast?>

Diese Provokation würde er sich nicht bieten lassen, das wusste sie. Der Chat verstummte. Befriedigt sah Brianna, dass die Gestalt in der schwarzen Rüstung einige Schritte vorwärts tat und ihren mächtigen, zweihändigen Kampfhammer hob.

Na bitte! Los geht’s…

Binnen Sekunden wirkte sie zwei Zauber – den Schutzbann, der ihren Körper in eine durchsichtige Blase hüllte, und einen Bann auf ihren Gegner, der diesen verlangsamte. Der Schwarze Ritter bewegte sich nun wie in Zeitlupe. Brianna stürzte ihm entgegen, ihren Panther im Gefolge. Der schwere Kampfhammer fuhr nieder – und traf Ghira, der mit einem Jaulen zurücksprang. Brianna sah, dass sein Lebensbalken auf 30 Prozent sank.

Na warte, Gorthaur…

Der Bremszauber sorgte dafür, dass der Schwarze Ritter mehrere Sekunden brauchte, um den Hammer zu einem erneuten Hieb zu heben. Diese Zeitspanne nutzte Brianna aus, umrundete leichtfüßig ihren Gegner und fiel ihm in den Rücken. Die beiden vergifteten Dolche zuckten hervor, stachen zu, glitten einmal, zweimal, dreimal an der schweren Rüstung ab – dann endlich ein Treffer, immerhin mit 50 Punkten Schaden.

Währenddessen hatte der Schwarze Ritter sich endlich umgedreht und ihr das Gesicht zugewandt, das von einer eisernen Maske bedeckt war. Grotesk verlangsamt fuhr der schwere Hammer nieder. Brianna sah den Hieb kommen, nahm sich jedoch keine Zeit zum Ausweichen; stattdessen stach sie blindlings weiter zu. Der Hammer traf, raubte die Hälfte ihrer Lebenspunkte und schleuderte sie mehrere Schritte rückwärts. Gleichzeitig jedoch griff ihr Panther wieder an, todesmutig und ungeachtet seiner Verletzung.

Ja, los, Ghira! Lenk ihn ab!

Der Ritter wandte sich wieder dem Tier zu, und Brianna nutzte die Gelegenheit für eine erneute Attacke. Mit verdoppelter Wut drang sie auf ihren Gegner ein, nutzte eine kürzlich erworbene Spezialfähigkeit namens „Heimtückischer Stoß“ und trieb beide Dolche gleichzeitig in seinen gepanzerten Wanst. Die schwere Rüstung gab nach, die Eisenplatten zersprangen, und helles Blut sprudelte hervor. Der Schwarze Ritter wankte, den Hammer zum Schlag erhoben.

„Perfektes Ausweichen“, zauberte Brianna geistesgegenwärtig und tauchte zur Seite weg, als der eisenbeschlagene Kolben niederfuhr. Dann setzte sie zum „Todesstoß“ an, einer Über-Kreuz-Bewegung beider Dolche in Halshöhe, die den Kopf des Gegners glatt von den Schultern trennen konnte.

Ja! Ja!, triumphierte sie, als die Attacke gelang. Der Lebensbalken des Schwarzen Ritters schrumpfte zu einem Strich. Wie ein gefällter Baum fiel der Koloss und blieb reglos im Schutt des Stolleneingangs liegen.

Brianna reckte ihre blutigen Waffen und stieß ein markerschütterndes Siegesgeheul aus. Dann wandte sie sich ihrem Panther zu und legte erneut einen Heilzauber auf ihn. Ghira trottete folgsam an ihre Seite, und Brianna streichelte seinen Kopf.

Gut gemacht, Ghira! Ohne dich hätte ich es nicht geschafft. Nun müssen wir nur noch abwarten.

Sie zog sich in einen Winkel hinter dem Stolleneingang zurück und beobachtete die Leiche des Schwarzen Ritters. Sein Name, GORTHAUR, schwebte noch immer in leuchtender Schrift über dem zerschlagenen Körper. Bisher war er jedes Mal zurückgekehrt und wiederauferstanden. Sie wusste, dass dies etwa fünf Minuten dauerte, denn ihr Gegner musste das Spiel im Basislager neu beginnen und dann zu Fuß hierherlaufen, um seine Ausrüstung wieder in Besitz zu nehmen. Sie würde auf ihn warten und ihn erneut töten, sobald er auftauchte. Das hatte sie schon mehrmals getan, und stets hatte es funktioniert – zuweilen drei- oder viermal nacheinander, bis „Gorthaur“ endlich aufgab und sich ausloggte. Wahrscheinlich hoffte er jedes Mal, dass sie die Geduld verlieren und nicht mehr da sein würde, wenn er zurückkehrte. Doch Brianna hatte Geduld. Sie konnte Stunden warten, wenn es sein musste, um ihn wieder und wieder zu töten, sobald er es wagte, sein maskiertes Gesicht am Eingang der Schlucht zu zeigen.

Diesmal jedoch wartete sie vergeblich. Eine lange Zeit verging, bis schließlich ein Lichtwirbel über der Leiche erschien und sich zu einem strahlenden Glutball verdichtete. Wie von Geisterhand wurde der Körper aus dem Staub gehoben, schwebte aufwärts und vereinigte sich mit dem unirdischen Licht. Dann verging die Erscheinung im Nichts. Der Leichnam war spurlos verschwunden, selbst die Blutflecken am Boden hatten sich aufgelöst.

Brianna verstand, was das bedeutete: Gorthaur, der Schwarze Ritter, würde heute nicht mehr zurückkehren. Er wusste, dass sie auf ihn wartete und dass er erneut unterliegen würde, wenn er zurückkehrte. Er gab sich geschlagen.

***

Zufrieden klickte Finja auf das Systemmenü und loggte ihren Avatar aus. Für heute war die Schlacht geschlagen. Brianna, die Dunkelelfe, konnte sich wieder zurückverwandeln. Ihr glattes, schwarzes Haar hellte sich auf, nahm eine undefinierbare Farbe zwischen Blond und Braun an und kräuselte sich im Nacken. Das lange, schmale Gesicht dehnte sich, die hohen Wangenknochen sanken ein Stück herab, und die dunklen Augen färbten sich blau. Arme und Beine schrumpften auf ihre natürliche Länge, Bauch und Brüste wölbten sich ein wenig vor.

Schade, dachte Finja wie jedes Mal. Als sie an sich herabsah, fiel ihr Blick auf Ghira, der sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte und zufrieden schnurrte. Auch er hatte sich zurückverwandelt und war nur noch ein rauchschwarzer Kater mit hellen Pfoten und einem weißen Fleck auf der Stirn. Von dem Kampf hatte er nicht das Geringste mitbekommen. Er wusste nicht einmal, dass seine Krallen eben noch über die Rüstung eines feindlichen Ritters geschrammt waren, dass er das Leben seiner Heldin gerettet hatte und fast für sie gestorben war.

Gerührt strich Finja dem schlafenden Kater über die Stirn. Er schien die Berührung zu spüren, ohne zu erwachen, räkelte sich auf ihren Schenkeln und kehrte den Bauch nach oben. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, kraulte sie das dichte Fell. Vielleicht träumte er etwas Schönes, wenn sie das tat.

Die Entspannung zwang ihr ein Gähnen ab. Es war bereits Viertel vor zehn; sie hatte länger vor dem Bildschirm gesessen als jemals in den vergangenen Wochen – acht Stunden lang im Büro und noch einmal zwei Stunden zu Hause. Nun forderte der Marathon seinen Tribut. Sie musste bald ins Bett gehen, wenn sie morgen bei der Arbeit einigermaßen ausgeruht sein wollte. Und das wollte sie, denn sie war gespannt darauf, welchen Gesichtsausdruck der Mann zeigen würde, dem sie vor wenigen Minuten den virtuellen Kopf von den Schultern getrennt hatte.

Rache ist etwas Wunderbares, dachte Finja. Sie hatte einmal gelesen, dass Rache nur dann süß sei, wenn das Opfer den Rächer erkannte. Seit sie Breath of Doom spielte, teilte sie diese Ansicht nicht mehr. Es war viel schöner, sich im Stillen zu rächen, unerkannt und in fremder Gestalt. In der Realität hätte man dafür eine Maske aufsetzen, sein Gesicht verschleiern oder sich sonst wie unkenntlich machen müssen. Das Computer-Rollenspiel nahm ihr diese Mühe ab: Sie konnte eine beliebige Identität annehmen und mit stolz erhobenem Haupt ihre Waffen recken, ohne dass jemand sagte: Oh, seht mal, das ist doch die kleine Blonde aus dem Callcenter!

Behutsam nahm Finja den schlafenden Kater in die Arme und trug ihn zum Bett hinüber, wo er sich ohne Widerstand ablegen ließ und auf dem Deckengebirge zerfloss wie ein Tuch aus anschmiegsamem Samt. Dann wartete sie noch ein paar Minuten, bis sie hörte, dass Carla, ihre Mitbewohnerin, das Bad freigab. Finja duschte, was sie stets vor dem Schlafengehen tat, sah in den Spiegel und war beinahe erstaunt, dass ihr ein blasses, rundes Gesicht mit hellen Augen aus dem Dampfnebel entgegenblickte – nicht die glutäugige Elfe mit dem schwarzen Haar.

Brianna steht garantiert nie vor dem Spiegel, dachte sie mit einem Anflug von Neid. Und auf der Waage erst recht nicht.

Die Waage … In Briannas Welt gab es einen solchen Gegenstand überhaupt nicht. Es gab vergiftete Klingen, Daumenschrauben, Streckbänke und Galgen, aber das neuzeitliche Folterinstrument mit der Digitalanzeige war noch nicht erfunden worden. Die Leute in Breath of Doom hatten anderes zu tun, als sich um ihr Gewicht zu sorgen; sie kämpften, erforschten dunkle Geheimnisse, erlebten Abenteuer und retteten ganze Kontinente vor dem Zugriff böser Mächte. Sie hatten keine Zeit für Eitelkeit, und ihr Spiegelbild sahen sie höchstens einmal durch Zufall, wenn sie sich über stehendes Wasser beugten. Das einzig relevante Gewicht war das ihrer Ausrüstung, die ihre Beweglichkeit beeinträchtigen konnte, wenn sie zu schwer war. Brianna hatte damit kein Problem. Sie trug nur ihre Dolche und eine leichte Rüstung, keinen Schild, nicht einmal einen Helm. Wenn sie sich bewegte, lief sie stets – das war vom Programm so vorgesehen; es gab in der Welt von Breath of Doom keine gehende Fortbewegung. Alle liefen ständig, wenn sie nicht gerade stillstanden. Kein Wunder, dass jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, gertenschlank war.

Viel Bewegung!, echoten die Worte ihres Hausarztes in ihrem Kopf. Nicht so viel vor dem Bildschirm hocken.

Aus schlechtem Gewissen trat Finja auf die Waage, obwohl sie sich eigentlich geschworen hatte, es niemals am Abend, sondern immer nur vor dem Frühstück zu tun. Unbarmherzig vergalt ihr die Digitalanzeige diesen Fehler: 78,5 Kilo.

Selbst schuld, schalt sie sich, beschloss, es am Morgen noch einmal zu versuchen, und tröstete sich mit der Erwartung, dass es dann eineinhalb Kilo weniger sein würden. Mindestens.

Ghira erwartete sie, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Er lag wie ein fallen gelassener Wollschal am Fußende des Betts und schnurrte im Schlaf. Finja kroch unter die Decke und mühte sich wie üblich, ihre Beine so zu drapieren, dass sie ihn nicht wecken musste.

Schlaf gut, Ghira, dachte sie, als sie das Licht löschte. Und als sie zur dunklen Zimmerdecke starrte, auf der Reflexe der Straßenlaterne vor dem Fenster irrlichterten, fügte sie noch hinzu: Gute Nacht, Gorthaur. Wir sehen uns wieder, verlass dichdrauf.

Kapitel II

In der wirklichen Welt flammte keine sinkende Sonne auf zerklüfteten Hängen. Keine Amazone pirschte mit gezückten Dolchen durch dunkle Schluchten, und kein schwarzer Panther folgte ihr auf dem Fuß, um ihre Feinde anzuspringen. Es war Anfang Juli, doch der Himmel ließ keinen Sommer erkennen, sondern war diesig und von einer Glocke aus Smog verdeckt.

Keine noch so hohe Temperatur hätte Finja verführt, mit Hotpants und bauchfreiem Top nach draußen zu gehen wie „Brianna“. Wie üblich trug sie eine weite Stoffhose und eine dezent gemusterte Bluse, als sie die Wohnung verließ und zur U-Bahn-Haltestelle ging.

Sie war bereits spät dran. Hastig drängte sie sich an den Obdachlosen vorbei, die den Treppenaufgang umlagerten, hinab in die Dungeons der City. Stumme Gespenster standen wartend auf dem Bahnsteig, versteinert wie Statuen, die übernächtigten Augen auf den Zuganzeiger gerichtet. Die U-Bahn rauschte herein wie ein Drachenmonster aus einer unterirdischen Höhle und kam kreischend zum Stehen. Die Türen schwangen auf, und die stummen Gespenster drängten hinein, klammerten sich an Haltegriffe oder quetschten sich in freie Ecken – Finja mitten unter ihnen. Das Gedränge war so dicht, dass ein hohlwangiger Mann um die 50 ihr eng auf den Leib rücken musste, wobei er ein Muskelzucken zustande brachte, das wohl ein entschuldigendes Lächeln darstellen sollte. Sein Ellbogen drückte in ihre linke Seite, und sie bemühte sich, nicht hörbar nach Luft zu schnappen.

Eine halbe Stunde später betrat sie den Bürokomplex ihres Arbeitgebers in der Innenstadt. ThonArt Ticket-Service stand weithin lesbar über dem Eingang. Der Pförtner grüßte. Zwei Treppen führten über einen Korridor in ein Großraumbüro voller Bienenwaben mit gläsernen Wänden.

„Hi!“ Jost, der ehrenamtlich für den Kaffeeservice zuständig war, grüßte freundlich wie stets. „Willst du’n Kaffee?“

Finja schüttelte dankend den Kopf und nahm ihren Platz am Fenster ein. Um neun Uhr wurden die Leitungen freigeschaltet, und sie musste sich beeilen, ihren Rechner hochzufahren und die Armaturen auf dem Schreibtisch zu ordnen.

„Morgen!“, sagte Birgit, ihre Platznachbarin. „Na, spät dran?“

Finja lächelte stumm, ohne sich zu einer Erwiderung durchringen zu können. Sie war heiser, wie so oft am Morgen, und versuchte, ihre Stimmbänder zu schonen, da sie sie bis zum Abend noch pausenlos gebrauchen würde.

74, informierte sie die Digitalanzeige über die Kunden, die bereits in der Warteschlange hingen.

Finja tat es sich nicht an, in den Spiegel zu blicken, der an der Rückwand ihrer Zelle hing, obwohl das von allen Angestellten erwartet wurde. Der Coach in der Schulung über Telefon-Marketing hatte diese Maßnahme dringend empfohlen: „Lächeln Sie, das wirkt sich auch auf Ihre Telefonstimme aus! Kontrollieren Sie Ihr Lächeln im Spiegel!“ Doch Finja sah nicht gern in diesen Spiegel, denn sie empfand ihn wie ein gläsernes Kamera-Auge, das sie kontrollierte. Erst recht hatte sie keine Lust, ein künstliches Lächeln einzuüben, das am Ende aussah wie die Grimassen jener Hollywood-Stars, die sich das Dauergrinsen mittels chirurgischer Wangenstraffung ins Gesicht tackern ließen. Birgit schien es ähnlich zu gehen; sie hatte ihren Spiegel sogar demonstrativ mit einem Foto ihres jüngsten Sohns überklebt.

Clarissa dagegen, Finjas rechte Nachbarin, betrachtete ihren Spiegel als Gottesgeschenk und sah während der ganzen Arbeitszeit mehr dorthin als anderswo. Auch jetzt nutzte sie die Gelegenheit, um in aller Seelenruhe ihren Lippenstift nachzuziehen.

Finja verdrehte die Augen. Sie mochte die junge, dunkelhaarige Frau nicht, die im ganzen Betrieb „die Schöne“ genannt wurde. Clarissa studierte Medienwissenschaft, machte den Telefonjob nur nebenbei und stolzierte durch die Flure der Firma wie ein Model. Jede ihrer Bewegungen schien zu sagen: Ich bin hier eigentlich nicht angestellt, sondern potenziell die Chefin – oder zumindest eines Tages die Gattin des Chefs. Natürlich war sie makellos schlank. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau wie Clarissa jemals vor einer Imbissbude stand und eine Currywurst mit Pommes verlangte – wahrscheinlich hätte der Verkäufer sie ungläubig angeblickt und gefragt, ob er das Ding als Geschenk einpacken solle.

82, zeigte die Warteschlange.

Finja seufzte und suchte nach ihrer Samtstimme wie ein Flötenspieler, der die Anblas-Haltung für den ersten Ton einnimmt. Dann setzte sie ihr Headset auf und verfolgte den Sekundenzeiger der Wanduhr. 58 … 59 … Start.

„Schönen guten Tag, ThonArt Ticket-Service, Sie sprechen mit Finja Goden.“

„Guten Tag, ich möchte zwei Karten für das Konzert am Sonntag in der Stadthalle.“

„Gern.“ Finja sah den Sitzplan auf ihrem Bildschirm durch. „Parkett oder Rang?“

„Parkett, und bitte ganz in der Mitte!“

„Da habe ich noch die 12. Reihe, Platz 17 und 18 rechts.“

„Rechts? Ich wollte doch Mitte.“

„Das ist in der Mitte der Reihe.“

„Aber wenn es rechts ist, kann es doch nicht in der Mitte sein!“

Finja seufzte. „Die Plätze haben immer die Bezeichnung rechts oder links, auch in der Mitte. Das ist so üblich.“

„Aber ich möchte in der Mitte sitzen!“

„Tun Sie ja. In der Mitte der Reihe stoßen Platz 18 rechts und Platz 18 links aufeinander. Mittiger geht’s nicht.“

„Dann geben Sie mir doch diese beiden!“

„18 links habe ich leider nicht mehr frei. Aber 17 und 18 rechts sind wirklich genauso gut. Auf eine Platznummer mehr oder weniger kommt es dort nicht an.“

„Werte Frau, das lassen Sie mal bitte mich entscheiden, worauf es ankommt! Haben Sie nicht in einer anderen Reihe die beiden Mittelplätze frei?“

„Ich hätte noch Reihe 17, Platz 14 links und 14 rechts.“

„14? Wieso jetzt plötzlich 14? Ich denke, in der Mitte ist Platz 18!“

„Die 17. Reihe ist kürzer als die 12. Sie hat nur 28 Plätze insgesamt.“

„Sie machen’s aber kompliziert, Fräulein!“

Finja unterdrückte einen weiteren Seufzer. „Tut mir leid. Möchten Sie nun die 12. oder die 17. Reihe?“

„Ich würde die 12. nehmen, wenn es genau in der Mitte wäre …“

„Das ist es, glauben Sie mir.“

„Na schön. Habe ich einen Reklamationsanspruch, falls mir die Plätze nicht gefallen?“

„Leider nein.“

„Ich muss mich also auf Ihr Wort verlassen?“

„Das müssen Sie wohl.“

„Also gut. Legen Sie die Plätze bitte zurück.“

„Gern. Auf welchen Namen?“

„Baron von Steven und Gattin.“

„Steven mit v?“

„Hören Sie mal, werte Dame! Ich bin Carl von Steven, Inhaber der Steven AG. Sie kennen sich wohl in der Stadt nicht aus, oder?“

„Schon, aber ich habe nicht das ganze Telefonbuch im Kopf.“

„Ich bin auch nicht das ganze Telefonbuch!“, erregte sich Carl von Steven. „Ich bin Baron von Steven und nicht irgendwer!“

„Selbstverständlich, Herr Baron“, lenkte Finja ein und hoffte, dass die Anrede korrekt war.

„Und wie war noch mal Ihr werter Name?“

„Finja Goden.“

„G-O-D-E-N?“

„Ja.“

„Na dann besten Dank.“

„Gerne. Schönen Tag noch.“

Das fängt ja gut an, dachte Finja, als sie abschaltete und sich eine Verschnaufsekunde vor dem nächsten Anruf nahm. Manche Kunden waren schwierig, besonders diejenigen, die zur High Society gehörten. Finja bemühte sich, die Macken dieser Leute mit Humor zu nehmen, indem sie sich Filmtitel ausdachte, in denen sie die Hauptrollen spielten – Horrorfilm-Titel natürlich: Aufsichtsrat des Grauens, Die Rückkehr des Chefarztes, Revenge of the Rechtsanwalt. Auch Baron von Steven eignete sich für einen solchen Titel. Der blutige Baron vielleicht … oder Der Schrecken von Reihe 12?

***

Wenige Minuten später kam der Abteilungsleiter ins Büro gerauscht. Finja erkannte bereits an seinem raschen Schritt, dass etwas nicht stimmte. Ihr Magen sackte ein Stück abwärts, als er sich direkt neben ihr aufbaute, einen Ellbogen auf die Glaswand gestützt. Sie war noch mitten in einem Gespräch und schwor sich, ihn zu ignorieren. Absichtlich dehnte sie die Unterhaltung mit dem Kunden aus, gab sich betont charmant und zwang sich, ihre Nervosität zu unterdrücken.

Als der Kunde auflegte, beugte Stefan sich vor und drückte resolut den „Nachbearbeitungs“-Knopf, um Finjas Leitung zu unterbrechen.

Eigentlich hatte sie geplant, ihn mit einem besonders süffisanten „Guten Morgen erst mal“ zu ärgern. Doch als sie sich ihm zuwandte, sank ihr der Mut. Er sah nicht nur angespannt aus, sondern richtig wütend. Seltsam, wie dieser Zug sein attraktives Gesicht verzerrte.

„Was war das vorhin mit Baron von Steven?“, fragte er ohne Einleitung.

„Wie – was das war?“ Finja runzelte die Stirn. „Ich hab ihm Karten reserviert. Stimmt irgendwas nicht?“

„Das kann man wohl sagen!“, gab Stefan zurück, so laut, dass sich mehrere Köpfe zu ihnen umdrehten. „Er hat sich bei Markus Thon persönlich beschwert.“

„Beschwert? Wieso?“

„Über unfreundliche Bedienung und patzige Antworten.“

„Patzige Antworten? Von mir?“

Stefan hob einen Zettel, auf dem er sich offenbar eine handschriftliche Notiz gemacht hatte. „Du hast gesagt: Ich kenne Sie nicht, ich habe doch nicht das ganze Telefonbuch im Kopf.“

„So habe ich das nicht gesagt!“, verteidigte sich Finja. „Und deswegen ruft dieser Typ gleich beim Chef an?“

„Dieser Typ ist Inhaber der Steven AG“, erklärte Stefan, „des größten Arbeitgebers in der Stadt. Außerdem ist er ein persönlicher Freund des Bürgermeisters.“

„Und woher soll ich das wissen? Wenn er so ein Mister Wichtig ist, kann er seine Karten doch beim Bürgermeister bestellen!“

„Finja, so geht das nicht!“ Stefan trat einen Schritt näher, so dass sie gezwungen war, zu ihm aufzublicken. „So kannst du einen Kunden nicht behandeln – und schon gar nicht jemanden von Stevens Format! Der Chef hat mir die Hölle heißgemacht. Er erwartet eine Versicherung, dass so etwas nicht wieder vorkommt.“

Finja wandte sich ab. Sie konnte es nicht ertragen, ihm ins Gesicht zu sehen und dabei den Kopf in den Nacken legen zu müssen wie ein schüchternes Mädchen vor dem strengen Papa. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als Stefans Körpergröße anziehend auf sie gewirkt hatte. Wenn er wollte, konnte er den starken Beschützer spielen – und sie, Finja, war darauf hereingefallen. In Wahrheit, dachte sie bitter, ist er ein kleines Würstchen, das sich vor seinem Chef fürchtet. Und vor seiner frischgebackenen Ehefrau.

„Jetzt mach nicht auf beleidigt“, setzte er nach. „Oder soll ich dich persönlich zu Thon schicken?“

Finja biss die Zähne zusammen und schluckte ihren Ärger. Das Einzige, was schlimmer sein konnte als Stefans Gehässigkeiten, war ein Gespräch mit Markus Thon, dem Inhaber der Firma.

„Also gut, es kommt nicht wieder vor“, versprach sie mechanisch.

Stefan blieb einen Augenblick stehen, wie um abzuwägen, ob er ihren Worten trauen konnte. Dann wandte er sich um, verließ den Raum und zog sich in sein Büro zurück.

Finjas Platznachbarin Birgit warf ihr einen Blick zu und verdrehte die Augen, wie um zu sagen: Mach dir nichts draus. Finja quittierte die stumme Anteilnahme mit einem schwachen Lächeln, dann wandte sie sich wieder dem Telefon zu. Die Warteschlange blinkte ungeduldig.

Längst hatte sie die Fähigkeit erlernt, ihre Anrufer wie ein Roboter zu bedienen und nebenbei an etwas ganz anderes zu denken. Das freundliche Flöten ihrer Bedienungsstimme driftete weg, ihre Finger bewegten sich wie von selbst auf der Tastatur. Ihre Gedanken waren weit fort.

Vielleicht hätte ich ihm gestern Abend nicht die Laune verderben sollen, dachte sie. War ja klar, dass er es an mir auslässt.

Dennoch war sie fest entschlossen, es wieder zu tun, heute Abend, morgen Abend – sooft er es wagte, sich in der Welt von Breath of Doom blicken zu lassen. Sie freute sich sogar darauf. Die abendliche Session, in der sie ihrem Abteilungsleiter die täglichen Demütigungen heimzahlte, war längst der Höhepunkt ihres Tages geworden. Ob er sie wegen schwacher Leistungen mahnte, ihr Fehler vorhielt, ihren Umgang mit der Kundschaft kritisierte, ihre häufigen Fehltage monierte oder sie einfach nur links liegenließ, stets kostete es ihn am Abend den Kopf, ein ums andere Mal.

Als Finja sich in der Mittagspause für zehn Minuten auf die Toilette zurückzog – was sie regelmäßig tat, um ein wenig allein zu sein –, hörte sie Stimmen aus Stefans Büro. Es lag gleich nebenan, und sie hatte wie üblich die Zelle an der hintersten Wand besetzt und das Kippfenster geöffnet. Wenn sie sich hinauslehnte und der Verkehrslärm auf der Straße nicht zu laut war, konnte sie gelegentlich hören, was im Büro des Abteilungsleiters gesprochen wurde. Stefan wusste nichts davon; schließlich war die Damentoilette der einzige Ort in der Firma, den er nie aufsuchte.

„… müssen wir mal sehen“, sagte er gerade. „Ich kann ja mal die Dienstpläne durchgehen.“

Seine Stimme klang warm und vertrauenerweckend. Auch so konnte er sprechen, wenn er nur wollte. Finja erinnerte sich mit gemischten Gefühlen, dass er diese Samtstimme früher auch ihr gegenüber gebraucht hatte. Mit wem er wohl sprach? Sie lehnte sich weiter aus dem Fenster und spitzte die Ohren.

„Freitags hab ich ein wichtiges Seminar. Wär toll, wenn ich da erst nachmittags kommen müsste, so gegen drei.“

Clarissas Stimme – eindeutig. Finja erkannte sie leicht; schließlich plapperte dieses Organ sechs bis acht Stunden am Tag direkt neben ihr, nur durch eine Glaswand gedämpft.

„Natürlich nehme ich Rücksicht auf dein Studium“, versprach Stefan, der aus Prinzip alle Angestellten duzte. „Vielleicht kann ich eine der Teilzeitkräfte auf Freitagmorgen verlegen. Mach dir keine Sorgen, das geht schon klar.“

„Hey, das ist echt nett von dir, Stefan!“

„Kein Problem.“

Ein saures Brennen der Eifersucht zog Finja den Magen zusammen. So wie die beiden sprachen, konnte man meinen, sie wären die besten Freunde. Nicht, dass Finja es darauf angelegt hätte, Stefans Freund oder gar Clarissas Freundin zu sein. Eigentlich konnten ihr beide gestohlen bleiben, doch es war typisch, wie sie sich gegenseitig umgarnten. Stefan war – natürlich – der allgemeine Schwarm der Abteilung. Er sah geradezu verboten gut aus mit seiner schlanken, kräftigen Statur und dem markigen Gesicht, das immer ein wenig wirkte, als sei es für irgendeine Parfumwerbung am Computer zusammengepixelt worden. Er wirkte jünger als 30, aber zugleich umgab ihn dieses Flair von Souveränität und selbstbewusster Männlichkeit, das auf den ersten Blick unwiderstehlich anziehend wirkte. Alle Frauen im Callcenter, selbst die älteren, fanden ihn hinreißend, auch wenn sie sich aus taktischen Gründen mühten, es zu verbergen. Dass er seit kurzem verheiratet war, weil seine Freundin ein Kind erwartete, tat der allgemeinen Stefan-Verehrung kaum Abbruch. Clarissa freilich konnte auf Augenhöhe mit ihrem Abteilungsleiter reden: Sie brauchte ihn weder zu beliebdienern noch anzuflirten, denn „die Schöne“ war selbst ein Star. Eigentlich, dachte Finja, passten sie hervorragend zusammen, Clarissa und Stefan, das Traumpaar jeder Daily Soap.

„Ich könnte Tamara auf Freitag umlegen“, sagte Stefan gerade, offenbar über dem Dienstplan brütend. „Allerdings macht sie immer ganze Tage. Wenn du nachmittags dazukommst, hättest du nicht deinen üblichen Platz, sondern müsstest vorne zwischen Bettie und Jost sitzen.“

„Das ist mir ganz recht“, meinte Clarissa offenherzig. „Ich bin sowieso nicht glücklich mit meinem Platz.“

„Nanu – warum denn?“

„Ach, nichts Wichtiges. Es ist nur … diese Hektik von links die ganze Zeit …“

Stefan schien nicht zu begreifen, wovon sie sprach – und auch Finja begriff es nicht gleich, bis ihr Abteilungsleiter in ein verständnisvolles Lachen ausbrach.

„Ja, Finja ist manchmal ein wenig …“

„Ich weiß auch nicht, aber irgendwie macht sie mich nervös“, klagte Clarissa. „Sie ist immer so verkrampft. Kommt schon morgens mit einem Gesicht wie saure Sahne an, sagt keinen Ton, rutscht beim Telefonieren dauernd auf ihrem Stuhl hin und her und zupft an ihren Haaren rum.“

Eine jähe Hitze schoss Finja ins Gesicht. Stimmte das etwa? Sicher, wenn sie einen schwierigen Kunden hatte und das Gespräch sich in die Länge zog, zwirbelte sie manchmal eine ihrer Locken zwischen den Fingern. Doch was ging das Clarissa an? Beobachtete sie ihre Nachbarin etwa die ganze Zeit? Und was das „morgens keinen Ton sagen“ betraf, ging „die Schöne“ nicht gerade mit gutem Beispiel voran.

„Und manchmal kaut sie sogar auf ihren Nägeln. Nicht so lecker“, setzte Clarissa noch hinzu. „Ich dachte immer, dass … na ja …gewichtige Menschen eher gemütlich als nervös wären.“

Erneut lachte Stefan. Finja hätte dieses Lachen gerne ergriffen, es wie einen Putzlappen zusammengerollt und ihm in den Hals gestopft. Sie zitterte vor Wut.

„Entschuldigung – eigentlich ist das nicht zum Lachen“, setzte er mit seiner Abteilungsleiterstimme nach. „Ich habe selbst den Eindruck, dass diese Tätigkeit Frau Goden gelegentlich ein wenig überfordert. Ich meine, sie ist seit eineinhalb Jahren bei uns und macht ihre Sache nicht schlecht. Aber die häufigen Fehltage deuten natürlich schon auf gesundheitliche Probleme hin.“

„Bei dem Gewicht hätte ich auch gesundheitliche Probleme“, stimmte Clarissa mit geheucheltem Mitleid zu.

„Na, wie dem auch sei …“ Stefan schien das Thema plötzlich unangenehm zu werden. „Jedenfalls ist die Sache mit dem Freitagmorgen kein Problem. Ich rede mit Tamara und sag dir morgen Bescheid.“

„Danke, echt lieb, Stefan!“ Clarissas hohe Absätze klackten in Richtung Tür. „Schöne Pause noch.“

„Dir auch.“

Finja kochte. Sie hatte genug gehört, schloss sogar das Fenster und kauerte sich auf dem geschlossenen Toilettendeckel zusammen, um wieder zu sich zu kommen. In knapp zehn Minuten würde sie wieder am Telefon sitzen und freundlich Anrufe beantworten müssen, keine eineinhalb Meter von Clarissa entfernt. Sie musste sich jetzt zusammenreißen.

Wenn diese Tusse jetzt hier reinkommt, um sich schnell noch vor dem Spiegel die Lippen nachzumalen, bringe ich sie um. Sie sah sich selbst bereits aus der Zelle stürmen wie einen durchgedrehten Psychokiller im Film, um Clarissa von hinten mit der Klobürste zu erwürgen.

Noch größer aber war ihr Zorn auf Stefan. „Frau Goden“ hatte er sie genannt, als müsse er deutlich den Abstand zu ihr betonen. „Sie macht ihre Sache nicht schlecht“, hatte er gesagt, ganz der Chef, geradezu gönnerhaft. Finja erinnerte sich an ganz andere Worte: „Das machst du gut“, hatte er einst mit Samtstimme geraunt, als sie sein bestes Stück im Mund gehabt hatte. Die Erinnerung stülpte ihr den Magen um, und fast wäre sie aufgesprungen, um den Toilettendeckel hochzuklappen und sich zu erbrechen.

Doch gleich darauf ertrank ihre Wut in Scham, und statt des Käsebrots vom Frühstück drängten die Tränen ins Freie. Das also war sie in den Augen der anderen: ein dickes Mädchen, das nervös auf seinem Stuhl herumrutschte und an den Nägeln kaute. Ob alle so dachten? Auch Birgit? Redeten alle hinter ihrem Rücken über die hektische, die übergewichtige, die merkwürdige Finja? Hatte auch Stefan so gedacht, als er auf ihr gelegen hatte, das Gesicht zwischen ihren Brüsten vergraben? Was war sie für ihn gewesen – ein Stück rohes Fleisch, vor dem man sich ekelte, wenn man nicht gerade am Verhungern war?

Der Zeiger der Uhr rückte unbarmherzig vor, und um Viertel nach zwei zwang sich Finja, die Toilette zu verlassen und an ihren Arbeitsplatz zurückzugehen. Clarissa war bereits dort, und – siehe da! – sie schenkte Finja ein Lächeln. Was das wohl bedeuten mochte? Herablassung? Mitleid? Oder empfand sie womöglich Schuldgefühle, weil sie über sie gelästert hatte?

Finja war es gleichgültig. Sie ignorierte die Kollegin, schaltete ihr Telefon ein und nahm das nächste Kundengespräch an. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Clarissa sich zurücklehnte und die schlanken Beine übereinanderschlug. Sie trug einen kurzen Rock, wahrscheinlich Größe 34.

Bestimmt landet sie irgendwann mit Stefan im Bett, dachte Finja. Ob sie ihm auch einen blasen muss – und am Morgen danach das Frühstück auslässt, um die Kalorien wieder einzusparen?

Sie schalt sich wegen ihrer Gehässigkeit und versuchte, sich auf den Anrufer zu konzentrieren.

***

Der Tag verging schleichend wie gewöhnlich. Von den 60 oder 70 Anrufen, die sie entgegengenommen hatte, als das Callcenter endlich schloss, blieb ihr kein einziger im Gedächtnis. Sie verabschiedete sich von niemandem, nicht einmal von Birgit, sondern räumte zeitig ihren Platz und brachte es gerade noch fertig, „Schönen Feierabend“ in die Runde zu murmeln.

Auf dem Heimweg betäubte sie ihre Gedanken, indem sie den Drogeriemarkt aufsuchte und sich auf ihre Einkaufsliste konzentrierte. Gegen halb acht war sie zu Hause, stieg die Treppen zum fünften Stock der Mietskaserne hoch und schloss die Wohnungstür auf. Ghira wartete wie üblich auf seinem Schlafplatz im Flur und kam ihr schnurrend entgegen. Finja nahm ihn auf den Arm und drückte eine Wange in sein weiches Fell. Die Berührung war tröstlich. Allerdings hielt der Kater es nicht lange aus, sondern verdrehte sich in ihren Armen, sprang zu Boden und stolzierte mit erwartungsvoll gerecktem Schwanz in Richtung Küche.

Er hat Hunger, verstand Finja. Genau wie ich.

Zum tausendsten Mal dachte sie daran, wie ungesund es war, in der Mittagspause immer nur einen Snack zu essen und sich am Abend den Bauch vollzuschlagen. Doch es ging nicht anders, denn im Betrieb brachte sie es einfach nicht fertig, mehr zu essen als den üblichen Joghurt und vielleicht noch einen Müsliriegel.

Sie folgte dem Kater in die Küche, um seinen Napf zu füllen und sich selbst die Spaghetti von gestern aufzuwärmen. Durch die geöffnete Balkontür drangen feine Schwaden von Zigarettenrauch herein: Carla, ihre Mitbewohnerin, stand draußen und rauchte. Sie winkte durchs Fenster, als sie Finja bemerkte, in ihrer üblichen laxen Art.

Finja mochte Carla. Mittlerweile war es zwei Jahre her, dass sie sich durch eine Wohnungsanzeige gefunden hatten. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden, auch wenn sie so verschieden waren, wie es zwei Frauen Mitte 20 nur sein konnten. Carla studierte Betriebswirtschaft, war aufgeschlossen und kontaktfreudig, groß, schwarzhaarig und – natürlich – schlank. Finja versuchte ständig, sie nicht zu beneiden, indem sie sich sagte, dass 50 Kilo leicht zu halten waren, wenn man rauchte wie ein Schlot. Sie selbst hätte diesen Preis unter keinen Umständen gezahlt, denn sie hasste Zigarettenrauch, und am Anfang hatte es über dieses Thema manche Auseinandersetzung gegeben. Doch mit Carla konnte man reden; sie war rücksichtsvoll und beschränkte das Rauchen auf ihr Zimmer und den Balkon.

„Ich mach die Spaghetti warm!“, rief Finja nach draußen. „Möchtest du auch?“

„Nee danke“, gab Carla zurück, löschte ihre Zigarette und kam herein.

Toll sieht sie wieder aus, dachte Finja mit einem dumpfen Grummeln in der Magengegend, das nichts mit der bevorstehenden Mahlzeit zu tun hatte. Diese knallenge Jeans… Wenn ich so was tragen müsste, würde ich ersticken. Sie konzentrierte sich auf die Tomatensauce, die langsam zu köcheln begann.

„Und – wie war’s im Büro, Schatz?“, fragte Carla grinsend. Mit dieser Frage parodierte sie gern den gemeinsamen Alltag, der tatsächlich gewisse Ähnlichkeit mit einem Eheleben hatte: Sie selbst war viel zu Hause und besorgte daher ungefragt den Haushalt, während Finja von morgens bis abends im Büro schuftete.

„Ach, na ja“, gab Finja unbestimmt zurück, „das Übliche halt.“

Sie war dankbar, dass Ghira sich soeben schnurrend um ihre Knöchel wickelte. Abwesend beugte sie sich hinab und streichelte den pelzigen Kopf des Katers, während sie gleichzeitig versuchte, mit dem Kochlöffel in der anderen Hand die Sauce zu rühren.

Carla warf ihr einen forschenden Seitenblick zu. „Sieht aber nicht so aus“, bemerkte sie schlicht. „Wieder Ärger mit deinem Chef?“

„Er ist nicht der Chef – bloß Abteilungsleiter.“

„Und das nutzt er scheinbar ordentlich aus“, stellte Carla fest. „Was war es denn diesmal? Hast du deine Quote nicht geschafft oder irgendwelche Blaublüter mit dem falschen Titel angeredet?“

Wider Willen musste Finja lachen. „Wir haben keine Quoten. Ich hab dir doch erklärt: Es ist ein Inbound Center.“

Sie wusste, dass ihre Mitbewohnerin keine Erfahrung mit solchen Dingen besaß. Carla war Studentin, und ihre Jobs beschränkten sich zumeist auf die Bedienung in Szenekneipen.

„Okay, du willst nicht drüber reden, oder?“

Finja schüttelte den Kopf. „Lieber früh ins Bett.“

„Früh ins Bett?“ Carla grinste. „Das wär ja mal ganz was Neues! Gestern hab ich dich um halb elf noch rumoren gehört.“

„Ach … ich konnte nicht schlafen“, schwindelte Finja. Aus irgendeinem Grund war es ihr peinlich zuzugeben, dass sie in letzter Zeit fast jeden Abend vor dem Computerbildschirm verbrachte.

„Mirjam hat übrigens angerufen“, sagte Carla, während sie den Kühlschrank öffnete und einen Tetrapak mit Orangensaft herausnahm.

„Ah – danke.“

„Ruf mal lieber gleich zurück! Sie hat draufgesprochen, dass sie um acht wegmuss.“ Sie verdrückte sich in Richtung ihrer Zimmertür. „Ich hab auch noch was vor. Bis dann, Schatzi!“

Finja nickte, griff nach dem Telefon und rief Mirjam an, während sie am Herd stand. Mirjam war so etwas wie ihre beste Freundin – falls davon überhaupt die Rede sein konnte. Leider sahen sie sich nur selten, denn Mirjam hatte wenig Zeit. Sie arbeitete in der Vertriebsabteilung eines Kosmetik-Konzerns und hatte einen zweijährigen Sohn aus einer geplatzten Beziehung. Gewöhnlich verabredeten sie sich ein- bis zweimal die Woche in der Mittagspause zum Essen, wenn der Kleine bei Mirjams Mutter war. So auch diesmal. Finja freute sich, denn andernfalls wäre sie am nächsten Tag sicher wieder der Versuchung erlegen, die Mittagspause auf der Toilette zu verbringen und zu lauschen, was in Stefans Büro vor sich ging. Außerdem bedeutete das Treffen mit Mirjam eine warme Mahlzeit am Mittag – und geringeren Appetit am Abend.

Sie beendete das Gespräch und zwang sich, nicht allzu viel von den aufgewärmten Spaghetti zu essen. Dann machte sie rasch den Abwasch und ging auf ihr Zimmer.

Erst mal duschen?, fragte sie sich, als sie ihr Bürokostüm gegen T-Shirt und Leggings tauschte. Doch der Computerbildschirm lockte. Ghira lag bereits auf dem Drehstuhl vor dem Schreibtisch und wartete auf die allabendliche Session.

Nachher, entschied Finja, nahm den Kater auf den Arm, um den Platz freizubekommen, setzte sich und startete den Computer. Ghira schien zu wissen, was nun kam, denn er rollte sich auf ihrem Schoß zusammen und verfolgte aufmerksam den Mauszeiger auf dem Bildschirm.

Breath of Doom – die erregende Fanfarenmusik, die stets beim Start des Spiels erklang, ließ Ghiras Ohren zucken. Finja bemerkte es, stellte den Ton ein wenig leiser und klickte sich durch das Startmenü. „Brianna“ erschien, an ihrer Seite der schwarze Panther, den sie auf den Namen seines zahmen Artgenossen getauft hatte.

„So, Stefan …“

Die Zeit der täglichen Rache war gekommen. Eilig lenkte Finja ihren Avatar zum Tor des Basislagers und hinaus in die Wildnis. Wo mochte er diesmal sein? War er überhaupt schon im Spiel?

Natürlich. Er wohnt in Grevenstedt und fährt mit dem Wagen – seit halb acht müsste er zu Hause sein. Seine Frau hat eine eigene Wohnung; er fährt nur am Wochenende dorthin. Zehn Pflichtminuten Telefon, „hallo, Schatz“, sie holt das Baby an den Hörer, plapper, turtel, „ich lieb dich auch“, tschüss. Spätestens um halb neun sitzt er am Rechner.

Es gab technisch keine Möglichkeit, seine Anwesenheit festzustellen. Das ging nur bei einem Spieler, mit dem man zur selben Gruppe gehörte oder den man seiner Freundesliste im Chat hinzufügte. In Gorthaurs Fall kam das natürlich nicht in Frage. Auch starteten sie nicht im selben Basislager, denn ihre Avatare gehörten zu verschiedenen Völkern: Brianna zu den Elfen, die sich ihre Heimatstadt mit Menschen und Zwergen teilten, Gorthaur zu den „Streitern des Zorns“, einem Volk, das auf einem anderen Kontinent der Spielwelt beheimatet war.

Doch Finja kannte alle Orte, an denen der Schwarze Ritter sich gewöhnlich aufhielt. Er war Level 30, und sie hatte extra in einem Forum nachgelesen, welche Aufgaben ein Streiter des Zorns auf dieser Stufe bekam und in welche Gegenden sie ihn führten. Wie üblich schaltete sie ihre Tarnung ein und patrouillierte die Schattenberge hinab, zu den Eingängen der Minen, durch die Wälder von Lotharn und zur Brücke der Verdammnis.

Da bist du ja.

Gorthaurs ferne Gestalt tauchte zwischen den Hügeln jenseits der Brücke auf. Schon von weitem erkannte Finja den Namenszug, der über seinem Kopf schimmerte. Diesmal verzichtete sie darauf, ihm offen entgegenzutreten, denn er war nicht allein.

Du Feigling… hast dir also Verstärkung geholt.

Ein anderer Spieler begleitete den Schwarzen Ritter, offensichtlich ein Magier, wie der weite schwarze Mantel erkennen ließ. Das war erstaunlich. Bisher hatte Finja ihren Erzfeind immer nur allein in der Spielwelt umherstreifen sehen. Er gehörte keiner Gilde an, wie man Spielergruppen nannte, die sich auf Dauer zusammengetan hatten; andernfalls wäre neben seinem Namen ein entsprechender Vermerk erschienen. Wahrscheinlich war der Magier nur eine Zufallsbekanntschaft, irgendjemand, dem Gorthaur sich auf die Schnelle angeschlossen hatte.

Er hat Angst vor mir, dachte Finja befriedigt. Er weiß, dass ich nach ihm suche.

Allerdings erschwerte es ihre Aufgabe erheblich, mit zwei Gegnern zu tun zu haben. Die Fähigkeiten des Magiers konnte sie nicht abschätzen, obwohl anzunehmen war, dass er sich ungefähr auf demselben Level wie Gorthaur befand. Gegen offensive Magie war Finja recht gut geschützt, aber es bestand die Gefahr, dass der Magier Heilzauber einsetzte, um Gorthaurs Lebenspunkte zu regenerieren, wenn er verwundet wurde.

Im Tarnmodus schlich Brianna über die Brücke und pirschte sich unhörbar an die beiden heran. Eine Weile folgte sie ihnen, und da der Magier hinter Gorthaur ging, hatte Finja Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten.

Nicht ihn… sie! Es ist eine Frau.

Eindeutig, die Gestalt im wallenden schwarzen Mantel war weiblich.

Seine Frau?, fragte sich Finja. Nein, unmöglich. Stefans Ehefrau sah zwar aus wie ein Topmodel, war jedoch im Grunde ein Hausmütterchen; das wusste Finja sowohl aus eigener Anschauung als auch durch den Klatsch im Callcenter. Keine Frau, die ein zwei Monate altes Baby hatte, spielte ein Computer-Rollenspiel; allein der Zeitaufwand wäre mit der Fürsorge für einen Säugling unvereinbar gewesen. Außerdem konnte Finja sich kaum vorstellen, dass eine Frau wie Iris mit ihren zentimeterlangen künstlichen Fingernägeln in der Lage war, auf einer Tastatur zu tippen.

Tut mir leid, wer auch immer du bist, aber du hast dir die falsche Gesellschaft ausgesucht.

Die Magierin musste sterben. Finja pirschte sich näher heran, aktivierte ihren Angriffsmodus und stellte sich vor, die Fremde wäre Clarissa.

Tun wir einfach so, als wärst du’s.

„Los, Ghira!“

Der Kater auf Finjas Schoß spitzte die Ohren – doch sie hatte nicht ihn gemeint, sondern sein Pendant auf dem Bildschirm. Wie ein Blitz schoss der schwarze Panther aus der Tarnwolke hervor und stürzte sich auf die Magierin. Das Ablenkungsmanöver gelang, und zwar genau so, wie Finja es geplant hatte: Die überraschte Spielerin ließ ihren Avatar herumschnellen und schleuderte dem Tier einen Defensivzauber entgegen: „Giftwolke – Angriffskraft reduziert!“, flammte über dem Kopf des Panthers auf.

Gut so, dachte Finja. Jeder Zauber, den man im Spiel verwendete, konnte erst nach einer bestimmten Zeitspanne, dem „Cooldown“, erneut angewendet werden. Nach ihrer Erfahrung betrug der Cooldown für die meisten Zauber rund eine Minute. Ghira war nun geschwächt, doch er hatte dafür gesorgt, dass es nicht Brianna war, die sich die Giftwolke einfing.

Stirb, Schlampe.

Brianna sprang vor und ließ ihre Dolche wirbeln. Die überraschte Magierin hatte kaum eine Chance zu ernsthafter Gegenwehr. Dies schien auch die Spielerin zu begreifen, die die Gestalt lenkte, und versuchte zu fliehen.

Tut mir leid… keine Gnade heute!

Brianna holte sie mit Leichtigkeit ein, ließ beide Dolche gleichzeitig hervorzucken und stach sie nieder. Der dunkle Mantel der Magierin sank zu Boden: Ihr Körper hatte sich in Rauch aufgelöst, und aus dem Äther drang ein gequältes Seufzen wie von einer davonschwebenden Seele.

Wo ist Gorthaur?

Die Maus in Finjas Hand wanderte eilig hin und her – sie schwenkte das Blickfeld ihres Avatars, nach rechts, nach links, nach hinten. Endlich entdeckte sie die schattenhafte Gestalt des Schwarzen Ritters, der sich bereits in einiger Entfernung befand und zur Brücke flüchtete.

Sieh mal an! Im Betrieb den Chef markieren, aber abhauen, statt sich einem Duell zu stellen.

Rasch ließ sie Brianna einen Geschwindigkeitstrank schlucken, der das Lauftempo erhöhte, dann nahm sie die Verfolgung auf. Gorthaur hatte die Brücke bereits zur Hälfte überquert, als sie sich der Uferböschung näherte.

Bleib stehen, Stefan! Hast du plötzlich keine Eier mehr in der Hose?

Er würde ihr nicht entkommen. Immer aufs Neue würde sie ihn vernichten, immer aufs Neue jede Demütigung vergelten, die er ihr antat. Rasch markierte sie seinen Avatar mit der Maus und klickte auf „Verwirrung“. Der Zauber wirkte: Gorthaur hielt inne und drehte sich benommen auf der Stelle. Finja hatte seinen Sichtradius eingeschränkt, so dass alles, was weiter als fünf Schritte entfernt war, vor seinen Augen zu dichtem Nebel verschwamm.

<Bleib stehen!>, tippte sie in den Chat, während sie ihr Tempo drosselte und vorsichtig näher schlich, um die Wand aus Nebel nicht zu durchbrechen.

<Lass mich doch ENDLICH IN RUHE!>, kam die Antwort. <Was hab ich dir denn getan?>

Tja, denk mal scharf nach! Vielleicht kommst du drauf.

Brianna hob ihre Dolche und sprang vorwärts.

Kapitel III

Am folgenden Tag im Callcenter ließ Stefan sich nicht blicken. Er blieb in seinem Büro und verließ es nur einmal kurz, um sich Kaffee zu holen. Finja beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während sie telefonierte, und stellte befriedigt fest, dass er schlechtgelaunt aussah. Als er wieder verschwand, lächelte sie in sich hinein. Ein schlechtes Gewissen hatte sie nicht im Geringsten.

Eigentlich tue ich ihm einen Gefallen. Je kürzer er abends am Bildschirm hockt, desto länger kann er sich um seine junge Familie kümmern. Hauptsache, er lässt seine Laune nicht an mir aus.

Es war eine Erleichterung, in der Mittagspause mit Mirjam essen zu gehen. Wie üblich trafen sie sich in dem kleinen Bistro in der Fußgängerzone, das keine 200 Meter von Finjas Arbeitsplatz entfernt lag. Die Zeit war stets knapp, reichte aber für eine Mini-Pizza oder ein Knoblauchbrot, denn der kleine Imbiss war auf Berufstätige spezialisiert und servierte innerhalb weniger Minuten.

„Hey! Siehst gar nicht gut aus“, bemerkte Mirjam, als sie an einem der Fenstertische Platz nahmen.

Finja schwieg betreten. Sie hasste es, zu den Menschen zu gehören, denen man ihre Stimmung ohne weiteres ansah.

„Sag schon! Was ist los?“, drängte Mirjam, die ihrerseits trotz Beruf und Kleinkind immer wie aus dem Ei gepellt wirkte: rosiger Teint, glatte Wangen, perfekt geschminkt und frisiert. Nicht einmal Schwangerschaft und Geburt hatten sichtbare Spuren bei ihr hinterlassen. Oft fragte sich Finja, welche Eigenschaft es sein mochte, die manche Menschen derart immun gegen jede Form von Stress machte – und warum ihr diese Gabe versagt worden war.

„Och, nur das Übliche“, sagte sie, wie schon am Vortag zu Carla.

Der Ober brachte die Knoblauchbrote, ein Mineralwasser für Finja und den üblichen Rotwein für Mirjam.

„Du solltest dich nach einem anderen Job umsehen“, meinte Mirjam, die angesichts der knappen Zeit augenblicklich zu essen begann. Das war stets ihre Art und tat der Unterhaltung keinen Abbruch, denn sie verfügte über die erstaunliche Fähigkeit, gleichzeitig reden und essen zu können. „Ich meine …“, sie unterbrach sich für einen Schluck Rotwein, „… ist ja wirklich nicht so toll, wenn du ihn jeden Tag vor der Nase hast.“

Finja nickte. Schon tausendmal hatte sie daran gedacht, bei ThonArt zu kündigen – doch woher sollte sie auf die Schnelle einen anderen Job bekommen? Arbeit zu suchen kostete Zeit, und ebendiese Zeit ließ einem die Arbeit nicht. Es war ein perfekter Teufelskreis.

„Andererseits solltest du aber auch langsam drüber weg sein, oder? Wie lange ist das Ganze jetzt her?“

„Fast ein Jahr“, murmelte Finja, während sie lustlos an ihrem Knoblauchbrot knabberte.

„Ein Jahr!“ Ungläubig schüttelte Mirjam den Kopf. „Also, wenn ich nach jedem One-Night-Stand ein Jahr trauern müsste, wär ich längst alt und vertrocknet. Ist nicht gut für den Hormonspiegel, wenn die einzigen Drüsen, die noch Feuchtigkeit produzieren, die Tränendrüsen sind. Ehrlich, Finja! Meinst du nicht, dass es langsam reicht?“

Finja kaute schweigend. Das gummiartige Brot widersetzte sich den Zähnen fast ebenso wie dem viel zu stumpfen Messer.

„War es denn wirklich so toll?“, fragte Mirjam.

Eigentlich nicht, dachte Finja. Es fiel ihr schwer, ihre Gefühle auszudrücken. Sie trauerte nicht um Stefan; sie hasste ihn. Er steckte ihr in der Kehle wie dieses verflixte fettige Brot, und sie konnte ihn nicht schlucken. Doch die Gründe waren schwer zu erklären. Sie hatte Mirjam die Geschichte schon einmal erzählt, aber es war ihr nicht gelungen, das furchtbare Gefühl der Demütigung zu vermitteln, das sie davongetragen hatte.

„Schau mal, es war ein Betriebsausflug“, sagte Mirjam. „Da passiert so was schon mal. Man ist weit weg von zu Hause, man will Spaß haben und baggert ein bisschen rum.“

„Es war mehr als das“, beharrte Finja.

„Für dich vielleicht. Aber offenbar nicht für ihn.“

Finja nickte düster. Wahrscheinlich war es für ihre Freundin reine Routine, sich auf Betriebsausflügen diesen oder jenen Kollegen ins Bett zu holen, ohne dass sie lange darüber nachdachte. Mirjam hatte viele Affären, aber sie nahm Männer nicht besonders ernst – und hatte es auch nicht nötig, denn sie war attraktiv und selbstbewusst. Den Erzeuger ihres Kindes hatte sie eigenhändig vor die Tür gesetzt, weil er, in ihren Worten, „als Liebhaber mittelmäßig und als Vater nicht zu gebrauchen“ war.

Finja dagegen hatte ihr Glück kaum fassen können, als Stefan sie am letzten Abend jenes Betriebsausflugs vor nahezu einem Jahr auf einen Sekt in die Hotelbar eingeladen hatte. Sie war damals erst drei Monate bei ThonArt gewesen, und natürlich hatte sie – wie alle Kolleginnen – für ihn geschwärmt. Er hatte die Einladung damit begründet, sie besser kennenlernen zu wollen, allerdings wohlweislich abgewartet, bis alle anderen sich auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten. Er war charmant gewesen, sehr charmant. Finja war dahingeschmolzen, und als er schließlich vorgeschlagen hatte, das Gespräch auf seinem Zimmer fortzusetzen, war sie mit heftigem Herzklopfen darauf eingegangen.

„Mach dir mal seine Situation klar!“, riet Mirjam. „Seine Freundin war damals schon schwanger. In solchen Lebenslagen kriegen Männer oft Panik. Wenn sie plötzlich vor Augen haben, dass sie eine Familie gründen und Verantwortung tragen müssen, denken sie, ihr Leben wäre vorbei, und ticken erst mal aus. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede! Als Reiner damals erfahren hat, dass er Vater wird, hat er sich sinnlos besoffen und ist mit seinen Kumpels auf die Rote Meile in der Altstadt gegangen … Torschlusspanik.“

„Aber ich ahnte doch nichts davon!“, fuhr Finja auf. „Keiner im Callcenter wusste überhaupt, dass er eine Freundin hat.“

Mirjam zuckte mit den Achseln. „Dann ist der Kerl offenbar ein guter Taktiker. Erstaunlich. Normalerweise weiß jede Firmenbelegschaft über das Privatleben ihres Chefs Bescheid. Entweder funktioniert eure Klatsch-Hotline nicht so gut wie euer Kundenservice, oder ihr seid alle ein wenig blind, wenn es um diesen Schönling geht. Gib’s zu, du warst selber ein bisschen blind, oder?“

Finja seufzte. Mirjam hatte gewiss recht, doch das machte die Erfahrung noch bitterer. „Also, du meinst … er hat nur eine kurze Abwechslung gesucht, bevor für ihn der Ernst des Lebens begann?“

„Sieht ganz danach aus. Tut mir leid, wenn das jetzt weh tut, aber irgendjemand muss es dir mal sagen: Wahrscheinlich wäre diesem Kerl jede Muschi recht gewesen.“

„Aber es muss doch einen Grund geben, warum er sich ausgerechnet mich ausgesucht hat!“

Über diesen Punkt kam Finja nicht hinweg. Hatte Stefan sie schlicht für ein leichtes Opfer gehalten, weil sie jung und unerfahren war? Oder war seine Leidenschaft nicht doch – zumindest ein wenig – echt gewesen?

„Mach dir jetzt bloß keine Illusionen!“, warnte Mirjam. „Der Typ ist ein Arschloch, sieh es ein. Du warst im richtigen Moment da, um eine Lücke zu füllen, und du hast ihn wohl auch nicht gebremst. Oder hast du?“

„Nein“, gab sie beschämt zu. Gebremst hatte sie in der Tat nicht, eher im Gegenteil. Vor lauter Fassungslosigkeit über ihr Glück war sie bereit gewesen, Dinge zu tun, die sie noch nie zuvor getan hatte. Sie hatte ihn buchstäblich in jede Öffnung ihres Körpers eindringen lassen, berauscht von dem Hochgefühl, dass dieser attraktive und von allen umschwärmte Mann ausgerechnet sie begehrte. Einen Orgasmus hatte sie nicht gehabt, aber sie erinnerte sich daran, dass ihr das auch gar nicht wichtig gewesen war. Die ganze Zeit über hatte nur ein einziger Gedanke ihren Kopf erfüllt: ihm den Himmel auf Erden zu bereiten und ihm so viel Befriedigung zu schenken, dass er nicht mehr von ihr ablassen konnte. Halt diesen Mann fest und lass ihn nicht mehr los!, hatte sie gedacht – und sie hatte ihn festgehalten, ihn mit Armen und Beinen umschlungen und seinen Kopf zwischen ihre Brüste gedrückt, bis ein krampfhaftes Stöhnen seinen Körper erschüttert hatte. In jenem Moment hatte sie geglaubt, er würde für immer ihr gehören, und nur mit Mühe hatte sie eine Träne der Dankbarkeit für dieses Geschenk des Schicksals unterdrückt.

Das buchstäblich böse Erwachen war am nächsten Morgen gefolgt. Stefan hatte sie auf ihr Zimmer zurückgeschickt, damit es keinen Klatsch unter den Kollegen gab, und natürlich hatte Finja eingewilligt. Es würde eine Weile dauern – so hatte sie sich vorgemacht –, bis er sich offen zu seiner heimlichen Liebe bekannte. Sie war bereit gewesen, auf ihn zu warten und ihm so viel Zeit zu geben, wie er zu brauchen glaubte. Doch der Mann, der sie beim Gruppenfrühstück im Hotelrestaurant begrüßt hatte, war plötzlich wieder ihr Chef gewesen: freundlich, aber kühl, unbekümmert und gutgelaunt, doch distanziert wie stets.

„Hast du eigentlich mal versucht, mit ihm über die Sache zu reden?“, fragte Mirjam.

„Natürlich. Bei jeder Gelegenheit. Aber ich hab’s schnell aufgegeben.“

„Wieso?“

„Er tat, als wäre nichts gewesen.“

„Kein Wort? Nicht mal irgendeine Standard-Plattitüde, so in der Art: ‚Es war ein Ausrutscher‘ oder ‚Lass uns nicht mehr daran denken‘?“

Finja schüttelte den Kopf. „Nichts. Er hat immer dafür gesorgt, dass er nicht mit mir allein war … und als ich dann einfach in sein Büro geplatzt bin, meinte er nur: ‚Wir haben nichts zu besprechen‘, und hat mich rausgeworfen.“

Mirjam nickte wissend. „Und seitdem mobbt er dich, nicht wahr?“

„Na ja, was heißt mobben …“

„Meckert bei jeder Gelegenheit an dir rum. Über deine Fehlzeiten, über Unordnung an deinem Arbeitsplatz, über deinen Umgang mit irgendeinem Kunden und was ihm sonst noch so einfällt.“

„Ja, und hinter meinem Rücken lässt er widerliche Bemerkungen über mein Gewicht fallen, oder widerspricht zumindest nicht, wenn andere es tun.“

„Ist doch klar!“, meinte Mirjam. „Auf diese Weise will er jedem Verdacht vorbeugen, dass er sich jemals für dich interessiert hat.“

„Du meinst also … er verbirgt doch echte Gefühle?“

Mirjam seufzte. „Ich sag’s dir noch mal, Finja: Mach dir nichts vor! Du warst ihm gut genug für eine Nacht, aber …“

„… aber für den aufstrebenden Service Manager keine präsentable Frau“, ergänzte Finja bitter. „Keine, die sich die Nägel zu Krallen züchtet und Abendkleider in Größe 34 spazieren trägt.“

„Tut seine Freundin das?“

„Seine Frau. Er hat sie geheiratet, kurz nach der Geburt des Kindes.“

„Ach … und du glaubst immer noch, er will irgendetwas von dir?“

„Damals wollte er eine ganze Menge von mir! Du glaubst gar nicht, was alles.“

„Kann’s mir vorstellen.“ Mirjam grinste schief, während sie ihren Rotwein leerte. „So sind sie nun mal, die Männer. Aber ihre Bereitschaft, uns auszunutzen, lebt auch von unserer Bereitschaft, die Augen zu verschließen. Du bist das beste Beispiel: Der Kerl behandelt dich wie den letzten Dreck – und du glaubst immer noch, er würde irgendetwas für dich empfinden.“

Finja schwieg resigniert.

„Sehen wir’s mal aus seiner Perspektive“, schlug Mirjam vor. „Er hat seine Freundin betrogen, als sie bereits schwanger war. Wenn das rauskommen würde, hätte er einigen Ärger zu Hause.“

„Todsicher“, stimmte Finja zu. „Es heißt, seine Iris ist rasend eifersüchtig.“

„Na, siehst du! Wahrscheinlich muss er täglich drei Eide schwören, dass er ihr auch wirklich treu ist. Hast du irgendjemandem erzählt, was damals zwischen euch passiert ist?“

„Nur dir … und Carla, meiner Mitbewohnerin.“

„Aber niemandem im Callcenter?“

„Nein.“

„Warum nicht?“