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«Komiker ist der beste Beruf der Welt, unser Leben ist phantastisch! Wir können morgens ausschlafen, fahren mit unserem Tourbus durch die Republik, gehen abends in ausverkauften Hallen auf die Bühne, lassen uns abfeiern und verdienen viel Geld. Und das Schönste ist: Komiker werden ist keine Zauberei! Sie sind hässlich wie die Sünde? Spitzenvoraussetzung! Sie sind ausgesprochen hübsch? Genauso gut! Sie haben einen Sprachfehler? Ideal – gehen Sie keinesfalls zu einem Logopäden! Schauen Sie uns an: der eine von zwergenhaftem Wuchs und glatzköpfig, der andere fast blind und viel zu fett. Zusammen allerdings megaerfolgreich. Doch das war nicht immer so ...»
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Seitenzahl: 272
Veröffentlichungsjahr: 2012
Ande Werner • Lars Niedereichholz
Mundstuhl. Ein bisschen krass muss sein
Rowohlt Digitalbuch
Für Evelyn
«Ain’t no fun waiting round to be a millionaire»
Bon Scott (AC/DC), 1974
Lieber Leser!
Komiker ist der beste Beruf der Welt, unser Leben ist fantastisch!
Wir können morgens ausschlafen, fahren mit unserem Tourbus durch die Republik, gehen abends in ausverkauften Hallen auf die Bühne, lassen uns abfeiern und verdienen viel Geld. Und um das mal direkt vorwegzunehmen: Jeder Komiker, den Sie, lieber Leser, namentlich kennen, verdient unglaublich viel Geld. Einige Kollegen sind sogar Multimillionäre.
Und das Schönste ist: Komiker werden ist keine Zauberei! Mit einem Hauch von Humor, einem Quäntchen Glück und einer kleinen Prise Kreativität kann das jeder.
Sie sind hässlich wie die Sünde? Spitzenvoraussetzung für eine Komikerkarriere! Sie sind ausgesprochen hübsch? Genauso gut! Sie haben einen Sprachfehler? Ideal – gehen Sie keinesfalls zu einem Logopäden! Oder schauen Sie uns an: der eine klein und glatzköpfig, der andere kurzsichtig und fett. Zusammen allerdings megaerfolgreich. Das war nicht immer so.
Als wir im Jahre des Herrn 1996 Mundstuhl gründeten, waren wir bereits seit Jahren als Sänger zahlreicher guter, aber leider erfolgloser Gitarrenrockbands unterwegs und auf gut Deutsch gesagt so langsam echt am Arsch. Finanziell und emotional total am Boden.
Ande ernährte sich von Senfbrot (Brot mit Senf), hatte Spielschulden, keinen Job und wohnte in einer rumpelkammerartigen Einzimmerwohnung mit Etagentoilette in Frankfurt-Rödelheim. Lars ernährte sich von Zuckerbrot (Brot mit Zucker), hatte seinen erniedrigenden Bürojob bei der Frankfurter Ökobank gekündigt, seine schmale Abfindung bereits verlebt und wohnte mietfrei in der Dachwohnung seiner kurz zuvor ins Altersheim verbrachten Großmutter. Offensichtlich waren diese äußerst unbefriedigenden Lebensumstände allerdings die besten Voraussetzungen zur Gründung des erfolgreichsten deutschen Comedyduos.
Wie wir das geschafft haben, und noch wichtiger, wie auch Sie das schaffen können? Hier steht es geschrieben! Lesen Sie einfach dieses Buch! Es erzählt nicht nur unsere unglaubliche Geschichte, nein, es kann auch als Leitfaden benutzt werden. Als Anleitung für Ruhm, Reichtum, Glück und Selbstverwirklichung.
Denn wie bereits gesagt: Komiker werden kann jeder.
Und jetzt viel Spaß beim Lesen.
Ande und Lars
Blacky Lawless (W.A.S.P.), 1984
Von Lars
«Ich hab echt kein Bock mehr!»
Ich saß neben Ande an der heruntergekommen, nach Bier stinkenden Theke, war völlig am Ende und total scheiße drauf.
«Was’n los?», fragte Ande und grinste mich an, offensichtlich bester Dinge.
«Ich habe gerade mit dem Clubbesitzer gesprochen», erwiderte ich mürrisch. «Sag mal, weißt du, dass im Vorverkauf gerade mal vier Karten verkauft worden sind?»
«Ach komm! Das ist natürlich nich’ grad viel», sagte Ande immer noch gut gelaunt.
«Nicht grad viel? Das ist voll scheiße! Wie immer!»
«Na und? Wir spielen immerhin in Hamburg, mitten auf der Reeperbahn. Ist doch alles geil!», behauptete Ande.
«Nix is geil!», gab ich deprimiert zurück. Plötzlich lief Ande hinter die Theke, fischte einen Kasten Astra-Bier aus dem Kühlfach, stellte diesen klirrend zwischen uns und öffnete zwei eiskalte Flaschen.
«Prost, Lars! Übrigens: Wenn man alle Buchstaben von Mama ändert, erhält man das Wort Bier. Hast du das gewusst? Das kann doch wohl kein Zufall sein!»
Wir kannten uns seit ein paar Wochen, und dies war der erste gemeinsame Auftritt unserer aus dem Boden gestampften «Hard and Cross over Germany»-Tour.
Heute also Hamburg, Marquee Club, 18. November 1995. Und schon wieder war keine Sau da. Also gut: Acht zahlende Gäste am Ende.
Ande und ich waren Sänger von Frankfurter Hardrock-Bands. Meine hieß «The Automanic» und Andes «The Exotic Blowjob». Das Beste an Andes Band war, dass er sich während der Auftritte immer bis auf die Unterhose auszog. Manchmal zog er sogar blank, denn Ande war im positivsten Sinne wahnsinnig.
Ande nach etlichen Astras im Marquee Club
Ein Bandkollege von Ande schaut mit unverhohlenem Neid auf Lars’ Intimbereich
Meine Band The Automanic waren natürlich Headliner. Headliner ist ein Anglizismus und bedeutet Hauptgruppe, also die Gruppe, die am größten und ganz oben auf dem Plakat steht. Immerhin hatte ich mit meiner frisch gegründeten Künstleragentur Big Brother Promotion die desaströse Tour organisiert. Ein Debakel. Trotz der perfekten Planung und des marktschreierischen Titels. Ein absolutes Debakel. Noch nicht einmal für den Sprit zurück nach Frankfurt würde es langen. Wie immer.
Das ganze Jahr war schon suboptimal verlaufen, nicht nur was die Zuschauerzahl bei den Auftritten meiner Band anging. Dreizehn Leute hier. Sechs Leute da. Unsere Plattenfirma Bellaphon hatte uns gedropt. Gedropt ist ein Anglizismus und bedeutet fallengelassen. Also rausgeschmissen. Außerdem hatte ich den beschissensten Job der Welt, arbeitete als Angestellter in der Marketingabteilung der Frankfurter Ökobank zwischen Menschen, die jeden Morgen erst mal ihren Namen tanzten, mittags bei veganem Essen meditierten und abends zum Bongokurs in die Volkshochschule gingen. Meine Künstleragentur lief auch beschissen. Außerdem wollte meine Freundin mitsamt ihrer Porzellanharlekinsammlung zu mir ziehen und zu allem Überfluss auch noch möglichst bald ein Kind von mir.
Am Tag zuvor war meine Band ohne The Exotic Blowjob mit einer ortansässigen Vorband namens Final Solution in Schwerin aufgetreten. Okay, der Busch Club in Schwerin war proppenvoll, aber leider bestand das Publikum größtenteils aus Glatzen, die uns schon beim Aufbau als «Langhaarige» und «Hippies» beschimpft und uns Schläge angedroht hatten. Als während unseres Auftritts dann Bierflaschen auf die Bühne flogen, brachen wir den Gig nach dreieinhalb Songs ab und fuhren nachts noch nach Hamburg. Schwerin konnte uns am Arsch lecken. In Schwerin hielt uns nichts.
Jedenfalls saß ich jetzt mit Ande an der Bar des Marquee Club, ging auf die 30 zu und hatte keinen Bock mehr. Immerhin gab’s Bier, und wie ein deutsches Sprichwort sagt: Wer Sorgen hat, hat auch Likör.
«Wie war’s denn gestern in Schwerin?», fragte Ande.
«Lass mich bloß in Ruh’!»
«Jetzt sag doch mal! War’s genau so geil wie hier?», bohrte Ande weiter.
«Noch viel geiler als hier, und jetzt halt’s Maul!», gab ich immer noch mürrisch zurück.
Dann sagte Ande: «Hier, Lars, hab ich dir schon erzählt: Ich hab mir ein kombiniertes Fax-Internet-Modem in meine Rosette einbauen lassen.»
Ich musste so spontan und heftig lachen, dass das Bier in einer niagarafallartigen Fontäne aus meinen Nasenlöchern sprudelte und mir die Lachtränen in die Augen schossen. Ande stimmte mit ein, und wir prosteten uns zu, während meine Bandkollegen die Instrumente, die Verstärker und die riesigen Lautsprecherboxen auf die Bühne hievten.
Ande hatte den entscheidenden Vorteil, dass The Exotic Blowjob als Vorband auftrat, er also früher als ich auf die Bühne durfte, oder besser gesagt, gerade noch konnte. Ganz im Gegensatz zu mir, denn ich trank während seines gesamten Auftritts unentwegt weiter und war, als ich eine Stunde später die Bühne betrat, zum Entsetzen meiner Bandkollegen bumsvoll. Dem Alkohol geschuldet, war meine Performance natürlich, sagen wir mal, ein wenig dürftig. Mit dicker Zunge und unverständlichem Englisch kämpfte ich mich von Song zu Song. Anstatt einer Zugabe, die sowieso niemand wollte, kam ich auf die lustige Idee, mit dem mittlerweile auch granatenvollen Ande auf der Bühne ein Motörhead-Medley anzustimmen.
Wir zu Beginn des Motörhead-Klassikers «Aids of Space». Noch gut drauf.
Das kürzeste Motörhead-Medley der Welt, denn es bestand nur aus einem Song («Aids of Space», wie wir es auch heute noch nennen), den wir allerdings nicht zu Ende spielten, weil meine Bandkollegen nun wortlos die Bühne verließen. Ande und ich headbangten noch ein wenig weiter. Headbangen ist ein Anglizismus und bedeutet wild das damals noch lange Haar im Takt der Musik schütteln. Nachdem wir erkannt hatten, dass Headbangen aufgrund nicht vorhandener Musik vollkommen sinnlos war, schnappte ich mir, den Ernst der Lage völlig verkennend, den Bass, Ande setzte sich ans Schlagzeug, und wir spielten zu zweit weiter.
Einige Minuten später kam ich bierselig – die unzähligen Biere hatten meine Stimmung zwischenzeitlich deutlich aufgehellt – in den verschimmelten Backstageraum zu meinen Bandkollegen, und die Rills schrien mich sofort an. Die Rills sind die Gebrüder Frank und Mark Rill, ihres Zeichens Gitarrist und Bassist von The Automanic und damals wie heute Supertypen, allerdings leider beide hochgradige Choleriker. Manchmal erinnerten sie mich an die Gallagher-Brüder von Oasis, wenn sie herumschrien oder mit Instrumenten um sich warfen. Mit hysterisch verzerrten Gesichtern sprangen sie mir brüllend entgegen. Gegenstände flogen durch den Raum.
Irgendwas stimmt hier nicht, dachte ich.
«War doch lustig, oder?», hörte ich mich sagen.
«Nix war lustig! Du Wichser!», schrie mich Gitarrist Frank an.
«Die größte Scheiße war’s …», stimmte sein Bruder Mark nicht minder laut ein. «… du bist so ein unprofessionelles Arschloch!»
So ging das noch eine ganze Weile.
Den Tränen nahe und der ersten euphorisierenden Wirkung des Alkohols beraubt, im wahrsten Sinne ernüchtert, stand ich einige Minuten später mit Ande vor dem Marquee Club im Hamburger Nieselregen. Mir ging es noch schlechter als am Nachmittag. Wäre in diesem Moment eine regennasse und nach Kloake stinkende Hamburger Hafenratte an mir vorbeigelaufen, sie hätte sicherlich mit dem Finger auf mich gedeutet und gedacht: «Was ist das denn für ’ne arme Sau!»
Ich brauchte jetzt Seelenbeistand und außerdem eine möglichst unparteiische dritte Meinung.
«Fandest du den Auftritt irgendwie schlimm? Die Rills sind total ausgerastet!»
«Natürlich nicht! Was soll’n da Schlimmes gewesen sein?» Verständnislosigkeit sprach aus Andes Mimik. Und Betrunkenheit natürlich. «War doch alles top», ergänzte er noch. Fand ich eigentlich auch.
Wir nahmen uns in die Arme, drückten uns und waren von da an Freunde.
In Hamburg mit schneeweißen Zähnen
Später lief ich vollkommen desolat mit den Bandkollegen von Ande über die Reeperbahn. Ande selbst war nicht mit dabei, ich wusste allerdings nicht, warum, und es war mir mittlerweile auch alles völlig egal. Als wir an einem Laden namens Tabu vorbeikamen, machte uns ein Mann in abgewetztem Anzug ein für Menschen in unserem Zustand äußerst verlockendes Angebot: «Ein absolutes Spitzenprogramm», schwärmte er. «Das Beste der ganzen Reeperbahn! Der Untergang von Atlantis! Darüber hinaus gibt es für die werten Herrschaften sogar ein kleines Gedeck, bestehend aus einem Bier und einem Korn und Plätze ganz vorne, und das alles für nur zehn Mark!»
Kurz darauf saßen wir am Schnüffelbalken, wie die vordersten Plätze in diesen Etablissements fachsprachlich genannt werden, und genossen unser kleines Gedeck. «So, meine Damen und Herren», tönte es blechern aus den Lautsprechern, «jetzt bitte mal einen kleinen Applaus für unsere Ingrid und den Peter und viel Spaß bei unserer Show. Der Untergang … von … Atlantis!» Zwei spärlich bekleidete Menschen mittleren Alters betraten die mit blauen, zerschlissenen Vorhängen geschmückte Bühne. Peter wirkte vollkommen unmotiviert. Und Ingrid wirkte noch viel unmotivierter.
Nachdem Ingrid wirklich erbärmlich lieblos versucht hatte, bei Peter mittels Mundstimulation eine Erektion herbeizuführen, versuchte dieser nun viel zu früh in Ingrid einzudringen, was ihm mangels ausreichender Versteifung seines Gliedes nur unter Zuhilfenahme seines Daumens gelang. Durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass der gute Peter heute schon zwei Mal den Untergang von Atlantis gefickt hatte.
Wie der Abend endete, weiß ich nicht mehr, wie der nächste Morgen anfing, dafür umso besser: frierend in einem verschimmelten Stockbett im nasskalten Keller des Marquee Clubs. Meine Band war nach wie vor stinksauer und die Blowjobs schon abgereist, auch Ande. Als ich den Besitzer des Marquee auf unsere Gage ansprach, verwies dieser mich auf einen Paragraphen in unserem Gastspielvertrag, nach dem wir alle alkoholischen Getränke selber zahlen müssten. Da die Eintrittseinnahmen hierfür nicht ausreichten, bezahlte ich ihm widerwillig aus eigener Tasche 63 D-Mark und 40 Pfennige, und wir fuhren schweigend und frustriert in unserem verrosteten Bus nach Hause.
Alle anderen Termine der gemeinsamen Tour waren von den Zuschauerzahlen denen in Hamburg nicht unähnlich. Wir legten immer drauf. Aber immerhin machte die Tournee jetzt Spaß, denn ich hatte an jenem Abend einen Bruder im Geiste gefunden, der ebenfalls einfach nicht erwachsen werden wollte, ständig nur Schwachsinn im Kopf und immer einen dummen Spruch auf den Lippen hatte.
In München benannten wir die Tour um. Es war ohnehin egal, wie sie hieß, es kam ja sowieso kein Mensch. Unser politisches Engagement entdeckend, versuchten wir, eine bundesweite Bewegung ins Leben zu rufen, deren Speerspitze wir sein wollten. Es ging um Konstantin Wecker, der skandalöserweise gerade wegen des Missbrauchs von Kokain – eventuell war es auch schon sein selbstgebackenes Crack – im Knast saß und sich nun vollkommen überzogenen und medial aufgebauschten Vorwürfen ausgesetzt sah. Die Bewegung und fortan auch die Tour hieß nun also «Free Konstantin Wecker!». Ein Aufruf, der leider ungehört verhallte und selbst bei unseren Bandkollegen keine Anhängerschaft fand.
Eine andere Bewegung allerdings fand in Deutschland immer mehr Anhänger: Der Comedy-D-Zug ratterte unaufhaltsam durch die Republik, und mit an Bord waren junge und neue Komiker wie Michael Mittermeier, Rüdiger Hoffmann, Tom Gerhardt, Olli Dittrich oder Wigald Boning, allesamt vereint in RTLs genialem «RTL Samstag Nacht», damals meine absolute Lieblingssendung. So was hatte das Land noch nicht erlebt. Unglaublich! Es konnten außer dem fantastischen Heinz Erhardt, dem unvergesslichen Loriot und dem großen Otto tatsächlich noch andere Menschen in Deutschland lustig sein.
Ich wollte allerdings nach wie vor Rockmusiker werden, der in ausverkauften Stadien auftritt, heute in London, morgen in New York, dem Hunderte von kreischenden Mädchen aus der ersten Reihe feuchte Slips auf die Bühne werfen und der nach der Show von diesen willigen Mädchen vor dem Nightliner erwartet wird. Nightliner ist ein Anglizismus und ein Bus mit Betten drin.
Doch keine sechs Wochen nach Ende der Tour dämmerte es mir.
Ich rief bei Ande an.
«Hier, Ande, lass uns Comedy machen.»
Leider war nur der Anrufbeantworter dran.
Von Ande
Ich hatte erst seit vier Wochen einen Festnetzanschluss. Das ist nur deshalb erwähnenswert, weil ich sieben Jahre lang keinen Telefonanschluss hatte und auch keinen wollte, was wiederum meinem Verfolgungswahn geschuldet war. Meine Paranoia entwickelte ich, als ich Anfang der neunziger Jahre mit 27 wildfremden Personen auf dem Flur eines Frankfurter Studentenwohnheims zusammengepfercht war. Privatsphäre Fehlanzeige! Dies führte so weit, dass ich mit meinem Opel Corsa A mehrmals abbog, wenn mir ein Auto länger als fünf Minuten hinterherfuhr, um erstens zu sehen, ob ich tatsächlich verfolgt würde, und zweitens, um den potenziellen Verfolger abzuschütteln. Letzteres gelang mir immer, weil ich natürlich nie wirklich verfolgt wurde, aber wie ich immer sage: Nur weil ich paranoid bin, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht hinter mir her sind!
Meine Telefone jedenfalls waren gelb und auf der Straße festgeschraubt, und ein Anruf kostete zwanzig Pfennig. Im März des Jahres 1996 gab ich schließlich dem gesellschaftlichen Druck nach – selbst meine Eltern mussten mir, wenn sie mich erreichen wollten, bis dato Telegramme schicken – und beantragte einen Telefonanschluss. Jetzt hatte ich also ein Telefon, sogar eines mit integriertem Anrufbeantworter.
Lars war einer der ersten Anrufer auf meinem integrierten Anrufbeantworter und faselte etwas von «zusammen Comedy machen». Also rief ich ihn zurück, konnte allerdings kaum «Ei Gude wie» sagen, da polterte er schon los: «Hier, Ande, mir langt’s! Ich habe echt keinen Bock mehr, zweihundert Kilo schwere Ampek-Bass-Boxen durch die Gegend zu schleppen, mit Bier besudelte XLR-Kabel aufzurollen und die ganze Scheiße ständig in den durchgerosteten Bandbus zu wuchten, der nur 80 fährt und mit dem man acht Stunden nach Hamburg braucht. Ich hab auch keine Böcke mehr, mir wegen acht zahlender Gäste von meiner Band den Arsch aufreißen zu lassen, bloß weil ich mal ein paar Bier getrunken habe. Mir langt’s!»
Lars hatte offensichtlich Sprechmunition für mehrere Stunden, also fiel ich ihm irgendwann ins Wort. «Du rennst bei mir offene Türen ein, Lars! Du hast völlig recht. Lass uns Comedy machen.»
«Lass mich doch mal ausreden! Es kommt ja noch besser! Weißt du, was die ganzen Jungs verdienen? Der Wahnsinn! Ich hab gehört, der Michael Mittermeier verdient 17 000 Mark pro Auftritt. Stell dir das mal vor! Siebzehn Mille! Das ist doch unglaublich!»
«Also Lars, ohne Scheiß, so witzig wie die sind wir schon lange. Lass uns so schnell wie möglich treffen.»
Es war Frühjahr 1996.
Montag war der einzige Tag, an dem ich Zeit hatte, weil ich neben meinem Germanistikstudium mittlerweile als Requisitenhilfe für «Ein Fall für Zwei» und den «ZDF Fernsehgarten» arbeitete, um endlich mal etwas anderes außer Senfbrot essen zu können, zum Beispiel Pizza.
Also war Montag unser Probetag.
Bei unserem ersten Treffen gingen wir bei Lars um die Ecke in den Joker, unsere Gründungskneipe und Bad Homburgs bestes Bierlokal.
«Lass uns doch erst mal was essen, ich hab ziemlichen Hunger. Hast du auch Bock auf ’ne Frikadelle?», fragte ich, nachdem wir uns in einer der gemütlichen Sitzecken zwei Bier bestellt hatten.
«Nee, das ist nichts für mich! Ich bestell mit lieber ein Käsebrot. Ich ess doch kein Fleisch!»
«Wie? Bist du Vegetarier?», fragte ich ungläubig.
«Logisch. Hast du das nicht gewusst? Schon seit über fünf Jahren. Ich habe da so ’ne Philosophie. Ich esse nur, was ich auch selber töten könnte. Und ich könnte halt so ’ner armen Kuh nicht in den Kopf schießen, verstehst du? Deswegen bin ich Vegetarier.»
«Na ja. Wenn du meinst. Ich hab da auch so ’ne Philosophie. Ich esse nur, was mal ein Gesicht hatte!», antwortete ich und bestellte eine Frikadelle mit Senf.
Von nun an war der Joker unser Proberaum.
Ich war unser Schriftführer, da man Lars’ Handschrift unmöglich lesen kann.
Im Laufe der nächsten Wochen und Monate beschrieb ich also unzählige Zettel, Bierdeckel und Kneipenblöcke mit allem, was uns einfiel. Sketche, Sprüche, Songideen, Charaktere, Marketingkonzepte, einfach alles, was wir lustig fanden und für unsere Karriere als unerlässlich erachteten. Die meisten Ideen lagen ohnehin auf der Straße herum, wir mussten sie nur noch aufheben.
Als Quell unendlicher Inspiration erwies sich ein weiterer Studentenjob in einem Offenbacher Kampfsportstudio, in dem ich Eiweiß- und Elektrolytgetränke zusammenmischte.
Kampfsportler: «Machst du korreggd Eiweiß!»
Ich: «Was willst’n für’n Geschmack?»
Kampfsportler: «Hier Alder, willst du mich verarsche? Isch trink immer krass Vanille!»
Analog hierzu verliefen die Bestellungen von Elektrolytgetränken.
Kampfsportler: «Machst du krass Elektrolyt!»
Ich: «Was willst’n für’n Geschmack?»
Kampfsportler: «Hier Alder, willst du mich verarsche? Isch trink immer korreggd Kirrsch!»
Gut. Wissenschaftlicher Leiter der nächsten Marsexpedition zu sein, ist bestimmt anspruchsvoller als menschlicher Sportgetränkemixer. Andererseits wurde ich beim Eiweißmixen auch reich beschenkt, indem ich Zeuge bahnbrechender Theorien und abstrusester Sichtweisen auf die globalen Zusammenhänge dieser Welt werden durfte.
Zum Beispiel die Theorie eines Kickboxers über die Herkunft der alljährlichen Herbststürme: «Wo komme sen her, die Störm?» (auf Hochdeutsch: «Wo kommen sie denn her, die Stürme?»), fragte er in tiefstem Hessisch und blickte die um ihn stehenden Kickboxkollegen fragend an, nur um sich direkt selbst die Antwort zu geben: «Aus Australien!» Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die Stille wurde nur durch das Strohhalmschlürfgeräusch unterbrochen. «Weil die da die ganzen Wälder abholzen, und da hat der Wind kein Widerstand mehr, und da kommt der bis hierher!»
Brillant! Das leuchtete selbst mir ein. Und wer kennt sie nicht, die legendären Regenwälder im Herzen Australien, von denen täglich mehrere fußballfeldergroße Flächen gerodet werden. Lars und ich lachten uns kaputt, fügten noch ein paar Hirnrissigkeiten dazu, und ein neuer Sketch war geboren: «Die Stürme!»
So einfach war das. Sketche im Joker zu erfinden war viel einfacher als Songs im stickigen Proberaum zu schreiben! Und auch viel lustiger!
Von Lars
Es war absolut unmöglich, bei Ande zu proben. Ein einziges Mal hatten wir es versucht und wollten den ewigen Kreislauf zwischen Biergarten und Joker in Bad Homburg durchbrechen. Wir mussten die Probe bei Ande aber nach wenigen Minuten abbrechen, nachdem ich zum Zwecke des Urinierens die Toilette aufgesucht und mich daraufhin über das Geländer ins Treppenhaus übergeben hatte.
Ande hatte eine indische Toilette, jenseits des Ganges.
«So was hab ich ja noch nie gesehen!», brachte ich würgend hervor. Die ehemals rosafarbenen Kacheln waren vollständig von einem Schmutz- und Kalkfilm überzogen. Im Zuge einer vollkommen sinnlosen Verschönerungsmaßnahme hatte irgendjemand vor sicherlich zwanzig Jahren in unregelmäßigen Abständen einige Prilblumen aufgeklebt. Noch älter war der Duschvorhang aus Vollplastik, der aus Altersgründen und wegen totaler Verkalkung jedwede Elastizität verloren hatte und nun einer Falttür glich. In der Duschwanne stand brackiges Wasser. Am schlimmsten aber war die ehemals weiße Toilette, natürlich ohne Klobrille, die im Laufe vieler Jahre den zarten Farbton eines locker aufgeschäumten und mit Schokoraspeln bestreuten Latte macchiato angenommen hatte.
«So sieht’s halt aus, wenn sich vier Parteien ein Klo teilen und keiner sauber macht! Jetzt hab dich mal nicht so!», rechtfertigte sich Ande.
Die Probe wurde augenblicklich zurück nach Bad Homburg verlegt. Meine Heimatstadt hat ihren Ruf als vertrotteltes Provinznest und Schlafstätte für korrupte Bankvorstände im Übrigen völlig zu Unrecht. Bis auf die immerzu schnapstrinkenden Kurgäste, die in Jogginganzügen auf allen öffentlichen Plätzen herumlungern und ihre schuppige Haut oder ihre Raucherbeine zur Schau stellen, ist es eigentlich ein nettes Städtchen.
«Ein amtlicher Name muss her!», konstatierte Ande, als wir wieder im Joker waren. «Es macht keinen Sinn, sich das Niedereichholz-Werner-Duo oder das Werner-Niedereichholz-Projekt zu nennen.»
Auch andere Vorschläge wie «Das Creutzfeld-Jakob-Duo» oder – in Anlehnung an das damals erfolgreiche Rödelheim Hartreim Projekt – «Das Riedstadt Hadamar Projekt» schieden allein schon wegen ihrer Länge aus.
In Riedstadt und in Hadamar stehen Hessens größte Irrenanstalten.
«Kurz, einprägsam und griffig muss der Name sein», fuhr Ande fort. «So wie bei KISS oder AC/DC. Oder auch S. O. D., den Stormtroopers of Death. Da ist der Name Programm, und jeder weiß, worum es geht. Oder Slayer!»
«So viel steht fest! Ein guter Name ist das A und O», pflichtete ich Ande bei und bestellte noch zwei Kölsch, denn im Joker gab es auch Kölsch.
Wie gesagt, es war und ist Bad Homburgs bestes Bierlokal.
Nun begab es sich, dass ich kurz zuvor mit ein paar Freunden aus der Studienzeit ein langes Wochenende zum Karlskrone-Dosenbier-Trinken im Tessin verbracht hatte. Die guten Zeiten vor dem Dosenpfand. Karlskrone. Das Aldi-Bier in kleinen Dosen. 33 cl. Schnell gekühlt. Gut haltbar. Ideal für Haus und Reise. Bereits am ersten Urlaubstag saßen wir rammdösig beim Frühstück, und irgendjemand sagte: «Mann, hab ich ein Mundstuhl!» Ich lachte. «Genau! Morgenstund’ hat Stuhl im Mund!»
Jetzt, bei unserer Namenssuche, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: «Hier, Ande, was hältst du denn von Mundstuhl!?»
Ande war sofort begeistert: «Der Hammer!»
MUNDSTUHL! Ein Name wie Donnerhall. Zwei Silben wie jeder gute Spitzname und noch dazu zwei gleichlautende Vokale. Besser geht’s nicht.
«Stell dir mal vor, wenn wir dann im Waldstadion auftreten und 60 000 Leute skandieren unseren Namen …», phantasierte Ande weiter.
MUNDSTUHL! MUNDSTUHL! MUNDSTUHL!
«… aber weil’s so viele sind, hören wir nur die Vokale …!»
U! U!
U! U!
U! U!
«… der Wahnsinn, oder?»
Einen Namen hatten wir also. Nach zwei weiteren Kölsch, die wir angesichts der Bewältigung dieser ersten großen Hürde euphorisch in uns hineingestürzt hatten, fragte Ande unvermittelt: «Und was machen wir inhaltlich?»
«Wie, inhaltlich?», gab ich verständnislos zurück.
«Na ja, inhaltlich halt. Was machen wir für Sketche? Wie sieht denn unsere Comedy aus?»
«Ja, wie sollen wir inhaltlich schon sein? So wie es halt immer ist, wenn wir zusammen sind. Wir erzählen was, und alle lachen sich tot.»
«Stimmt. Und das Ganze halt etwas heftiger!»
Und tatsächlich war unsere Gangart in Sachen Volks- bespaßung von vorneherein klar, quasi alternativlos. Im Gegensatz zu der glattgebügelten Hochglanzcomedy der bunten Fernsehwelt wollten wir unserem uns innewohnen- den Humor entsprechend einfach härter sein als alle ande- ren.
«Und schwachsinniger!», rief Ande.
«Und politisch vollkommen unkorrekt!», ergänzte ich.
Dieser Entscheidung folgend entwickelten wir dann auch schnell unser grammatikalisch sicherlich nicht einhundertprozentig richtiges, dafür aber bis heute gültiges Mundstuhl-Credo: Wem’s net gefällt sind Vollidioten!
Man beachte: Wir spielten immer «Zusatzkonzerte»
Wie kompromisslos wir unser Ding durchzogen, sieht man sehr deutlich an unserem ersten Plakat. Ein Meisterwerk, welches ich in einem Anflug kreativer Genialität eines Nachmittags binnen vier Minuten mit einem schwarzen Edding auf herkömmliches DIN-A4-Papier bannte. Ich zeichnete mit ein paar Strichen eine auf das Wesentlichste reduzierte Szene aus einem Natursekterotikfilm nach, den ich selbstverständlich nicht selber angeschaut hatte, von dem mir aber in den schillerndsten Farben berichtet wurde. Es war die lustigste Stelle des Films. Ein Mann mit stark rheinländischem Dialekt urinierte einer vor ihm knienden Dame ins Gesicht und wiederholte dabei gebetsmühlenartig drei Worte: «Nur vom Feinsten! Nur vom Feinsten!»
Unwiderstehlich! Somit stand das Plakat und der Titel unseres ersten Bühnenprogramms fest.
«Guck mal, was ich gemalt hab!», sagte ich und zog mein Meisterwerk hervor.
Ande war vollkommen begeistert. «Nur vom Feinsten!», prustete er und gab mir ein Bier aus.
Somit war unser Plakat dann auch preisgekrönt.
«Und ich will endlich davon leben können!», träumte Ande später am Abend. «Mehr will ich doch gar nicht!»
«Deswegen treten wir auch nicht mehr für beschissene 100 Mark auf», fügte ich hinzu. «Ein Ticket für uns kostet mindestens 15 Mark, und wir wollen eine garantierte Festgage von ’nem Tausender!»
«So sieht’s aus, Lars! Was nix kostet, ist nix! Wir spielen ab jetzt lieber einen Gig à 1000 als zehn Gigs à 100 Mark!»
Gig ist ein Anglizismus und bedeutet Auftritt.
Des Weiteren wollten wir von Anfang an mit der Wurst nach dem Speck werfen. Aufstampfen, als wären wir die Größten von allen! Nicht kleckern, sondern klotzen, war unsere Devise. Klappern gehört zum Handwerk.
Ein reißerischer Infotext musste her! Ausschließlich Superlative durften dort stehen, auch wenn sie jeder Realität und Substanz entbehrten. Dementsprechend las sich die erste Mundstuhl-Broschüre, die wir wohlgemerkt verfassten, noch bevor wir einen einzigen Gig gespielt hatten, geschweige denn überhaupt jemals öffentlich in Erscheinung getreten waren, dann auch. Von «den neuen Superstars am Comedyhimmel» war da die Rede und von unserem «preisgekröntem Plakat». Auch Zeitungszitate dichteten wir hinzu:
«Absolut fantastisch!» Süddeutsche Zeitung
«Das Lustigste, was Deutschland zu bieten hat!» Hamburger Abendblatt
«Großartig! Einfach großartig!» Münchner Merkur
Eine in der Branche ohnehin durchaus übliche Praxis, die auch wir bis heute beibehalten haben.
Von Ande
Es war ein sonniger Dienstagvormittag im Sommer 1996. Ein Tag, an dem Comedygeschichte geschrieben werden sollte, was mir allerdings noch nicht klar war, als ich aufwachte. Ich hatte bei Lars übernachtet, vielmehr übernachten müssen, weil er mir am Abend zuvor meinen Autoschlüssel weggenommen hatte und ihn auch unter Androhung der Kündigung unserer Freundschaft nicht wieder herausgerückt hatte.
«Du fährst heute keinen Meter mehr, Ande!»
Ich wurde durch das laute Aufheulen eines Staubsaugers äußerst unsanft geweckt, denn Lars saugte voller Tatendrang und bestens gelaunt seine Wohnung. Ich hatte mehrere Minuten lang erfolglos versucht, das grauenhafte Geräusch zu ignorieren, gab mich allerdings geschlagen, als er übertrieben pflichtbewusst die Teppichstelle direkt neben meinem Kopf bearbeitete. Zu allem Überfluss trällerte er dabei sogar «Das bisschen Haushalt geht doch von allein».
«Lars! Bitte!», grummelte ich. «Kannst du mal aufhören? Es ist zehn Uhr morgens. Ich würde gerne noch schlafen! Du nervst! Ehrlich!»
«… ist unbegreiflich … sagt mein Mann!», sang er lachend weiter.
«Sag mal, Lars, wie machst’n du das eigentlich? Wir trinken abends genau das Gleiche, mir geht’s am nächsten Morgen beschissen, und du siehst immer aus wie’s blühende Leben …», fragte ich, während ich mich aufsetzte. Die Nacht war ja wohl vorbei.
«Körpergewicht!», erwiderte Lars betont fachmännisch. «Körpergewicht und eine positive Lebenseinstellung!»
«Komm, wir gehen wenigstens frühstücken!», murmelte ich auf dem Weg zur Toilette.
Kurz darauf saßen wir wortkarg im vollbesetzten Altstadtcafé in der Bad Homburger Innenstadt bei Kaffee, Brötchen und Eiern im Glas mit Ketchup und Senf. Jeder war in sein Frühstück vertieft, und Lars legte plötzlich sein Mobiltelefon auf den Tisch, seine neueste Anschaffung und sein ganzer Stolz. Zu dieser Zeit wurde man noch von jungen, hübschen Mädchen angesprochen, wenn man im Café sein Handy auf den Tisch legte, was an diesem Vormittag allerdings nicht passierte. Außerdem war die ständige Erreichbarkeit seiner Meinung nach unerlässlich für das erfolgreiche Betreiben seiner Künstleragentur. Das Gerät war ein Sony CM-DX1000. Ein Riesenknochen, unmöglich in der Hosentasche zu transportieren, es sei denn, man wollte – so wie Lars – eine ungeheure, immerwährende Erektion vortäuschen. Das Telefonieren selbst war unfassbar teuer. Eine Minute Konversation kostete eine Mark 99.
Ich blickte auf das Telefon und sagte im Slang eines typischen Großstadtausländers:
«Hier, Alder! Mein Handy is stärrker wie dein Fax!» Genau wie ich es im Kampfsportstudio gelernt hatte. Möglichst bescheuert, mit aggressivem Unterton.
Lars blickte mich vollkommen begeistert an und entgegnete dann im selben Duktus: «Was erzählst du für Scheißendreck. Hast du kein Respekt, oder was?»
«Alder, isch kann dir mal direkt konkret in der Fresse hauen!»
«Hier, du kannst mir korreggd meine Arschöscher mal kurz lecke!»
«Kannst du vergesse, Alder!», echauffierte ich mich weiter, «isch hab vier Handy, weiß du, isch hab alle Netze. D 1, D 2, E plus und de andere auch noch!»
«Und?», erwiderte Lars. «Mein Fax ist trotzdem stärker wie dein Handy!»
An den Tischen um uns herum wurde es merklich stiller.
«So ein Scheißendreck, Alder. Aber weiß du, der Arsch hat misch voll abgerippt wo mir hat verkauft die Handy, weiß du …»
«Was hat de gemacht?», fragte Lars.
«Da waren gar keine Karten drin!»
«Hast du dich adrippen lassen, oder was?», bohrte Lars weiter.
Die ersten Cafébesucher fingen an zu kichern. Die Leute hatten Spaß. Und ich auch.
«Ich hab mich naturlisch net abrippen lassen! Da gibt ein Spruch, weiß du. Fick nie Ficker, weiß du. Und da hab dem konkrete Handgranate direkt in sein Cabrio geworfe!»
«Du bist krass, Dragan!»
«Isch bin krass! Deswegen sind mein Handy stärker wie dein Fax. Sind stärker wie Cabrio.»
Die Menschen im Altstadtcafé fingen lauthals an zu lachen. Die Bedienung musste ihr vollbepacktes Tablett auf dem Tisch abstellen, sonst wäre es ihr vor Lachen heruntergefallen.
Wie Lars auf den Namen Dragan kam, war mir sofort klar, denn kurz zuvor hatte ein knochenharter Jugoslawe namens Dragan in der Frankfurter Diskothek Cooky’s mit seinem 45er Colt in bester Dirty-Harry-Manier in die Decke geschossen. Dragan. Ein geiler Name für mich.
«Und du heißt natürlich einfach Alder!», rief ich begeistert.
«Aber Alder ist doch gar kein richtiger Name», erwiderte Lars.
«Na und! Die heißen doch alle Alder!»
Dragan und Alder waren geboren, und wir hatten gerade die Kanakcomedy erfunden.
Von Ande
«Ich hab übrigens ein spitzenmäßiges Tonstudio an der Hand», behauptete Lars, «alles am Start, Supertechnik und alles auf dem neuesten Stand. Da können wir auf jeden Fall unser Demo aufnehmen.»
«Sehr gut …», antwortete ich. Wie jeder Frankfurter Musiker kannte ich natürlich auch Leute mit Tonstudios, aber wenn Lars das angeblich beste Tonstudio der Welt klarmachen konnte: «… von mir aus gerne.»
Eine Sache weniger, um die ich mich kümmern musste.
Nach wie vor diskutierten wir die Frage des Tonträgers: Hochmoderne CD oder herkömmliche Musikkassette. Letzteres wäre natürlich viel billiger gewesen, aber wir wollten uns schließlich ultraprofessionell präsentieren.
«Dir ist aber schon klar, dass fünfhundert CDs locker 2500 Mark kosten, und da ham wir nicht mal ein farbiges Booklet!», gab ich zu bedenken.
«Ja und? Was nix kostet, ist nix, und dafür wollen die Jungs vom Studio auch nur ein Doppel-CD-Player, der kostet 800. Insgesamt also 3300 Steine», erwiderte Lars.
«Du hast völlig recht. Was nix kostet, ist nix!»
Tatsächlich hatten zwei Freunde von Lars ein Tonstudio direkt an der Konstablerwache, drei Stockwerke unter dem angesagten Musikclub Sinkkasten im Keller des gleichen Gebäudes.
So trafen wir uns trotz unserer äußerst dünnen Finanzdecke an einem Vormittag im März 1997 in der Frankfurter Innenstadt, um die Tonaufnahme im Klanghouse zu beginnen. Ich parkte meinen Opel Corsa im absoluten Halteverbot zwischen den verrosteten Müllcontainern des gegenüberliegenden Woolworth-Kaufhauses in der Hoffnung, keinen Strafzettel zu bekommen.
Gefühlte 4000 Treppenstufen ging es nach unten, vorbei an unverputzten Wänden, die teilweise mit gebrauchtem braunen Teppich beklebt waren, und ich hatte das Gefühl, in eine tief im Erdinnern verborgene Grabkammer im Tal der Könige hinabzusteigen. Es roch auch ein wenig nach Fledermauskot, und die Temperatur schien mit jeder Treppenstufe anzusteigen.
Nach fünf Minuten hatte das Klanghouse seinen Namen weg: Das Loch.