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Beschreibung

Vom Mut, die Tradition in Frage zu stellen - Herausgegeben von einer der bekanntesten Musliminnen EuropasKann der Islam liberal sein? Und kann man als liberaler Muslim wirklich gläubig sein? Tatsächlich sind liberale Muslim*Innen häufig mit der Annahme konfrontiert: muslimisch und liberal, das geht doch überhaupt nicht. Den Gegenbeweis dafür treten die namhaften Beiträger*Innen in diesem Buch an und stehen für eine Versachlichung der aufgeheizten Islamdebatte ein. Sie nehmen eine Neubetrachtung des Korans und anderer islamischer Quellen vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer, aber auch alltagsnaher Themen vor, und stellen klar, wie ein zeitgemäßes Verständnis des Glaubens lebbar wird. Ein theologisch fundierter und längst überfälliger Aufruf gegen die Vernebelung der Vernunft.

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Einleitung der Herausgeberin

Koranhermeneutische Zugänge

Rückkehr zur Botschaft des Korans durch die spirituelle Wiederauflebung der Schahāda

Fazit

Plädoyer für eine analytische Koranhermeneutik

Analytische Theologie als Grundlage der Koranauslegung

Unterscheidung zwischen Dogmatik und Pragmatik

Unbedingte und bedingte Gebote (taʿlīl)

Bedingte Gebote am Beispiel der Kriegsverse

Bedingte Gebote beziehungsweise Normen am Beispiel der Geschlechterrollen

Die Spezifizierung universeller Aussagen (takhsīs)

Die metaphorische Auslegung (taʾwīl)

Analytische Koranhermeneutik als exegetisch fundierte Kontextualisierungsmethode

Radikale FreiheitDen Islam anders denken

Vom Koran aus denken

Freiheit und »Klärung«

Freiheit in der Schöpfungsgeschichte des Korans

Die Figur des Satans

Menschenwürde und Freiheit im Spiegel des Korans

Die systematische Begründung von Freiheit aus dem Koran heraus

Juden, Christen und Sabäer? Über das Heilsversprechen für Nichtmuslim*innen im Koran

Koran 2:62 als Beispiel koranischer Inklusion

Fazit

Islam und Menschenrechte – ein Widerspruch?

Die verfassungsrechtliche Ebene

Die verfassungspolitische Ebene

Menschenwürde

Freiheit

Gleichheit

Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit

Glaubensfreiheit und religiös-weltanschauliche staatliche Neutralität

Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit

Methodik und potenzielle Einwände

Fazit

Gesellschaftspolitische Zugänge

Der höchste Baum im Walde Liberale Muslime als Allzweckwaffe gegen Extremismus

Fünf Maßnahmen gegen die AfD, die Konsens sein müssten

Zerschlagene Klischees

Schokolade vor Ostern?

Liberale Zielscheibe

Plurales Gegengift gegen den Extremismus: liberale Musliminnen und Muslime

Einsam besteht man nicht

Liberaler Islam – Brückenbauer für unsere Gesellschaft

Der Islam in Deutschland

Muslimische Dachverbände – Vertretungsanspruch und -legitimation

Identitätskonflikt von Muslim*innen in Deutschland

Vielfalt in muslimischen Gemeinschaften in Deutschland: Herausforderung und Chance

Ein liberales Islamverständnis als Vermittler

Fazit

Warum wir eine muslimische Linke brauchen

Säkularismus, liberale Demokratie und deutsche muslimische Identität

Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit

Intersektionalität und Emanzipation

Liberale islamische Theologie und ihre gesellschaftlichen Aufgaben

Muslimische Rechte und Demokratie

Linke muslimische Politik

Ein Plädoyer für eine muslimische Linke

Barmherzigkeit in der Leistungsgesellschaft

Barmherzigkeit und Gottesverständnis

Die Moderne als eine Zeit der Vereinheitlichung

Optimierung – Leistung – Psychopolitik

Das Ende der Liebe und der Liberale Islam

Orthodoxe versus heterodoxe GemeindenMachtaufbau und Machtverlust der etablierten Gemeinden im religiösen Feld

Die historische Entwicklung des islamisch-religiösen Feldes

Das islamisch-religiöse Feld in der Gegenwart: orthodoxe versus heterodoxe Gemeinden

Fazit

Göttliche AnarchieBeobachtungen jenseits von Obrigkeitsdenken und Konformismus

Gottesbild und muslimisches Selbstbild

Die Pluralisierung islamischer Lebensentwürfe

Islamische Transformationsprozesse und kollektives Bewusstsein

Islamische Selbstreflexion und Verortung in der modernen Welt

»Irgendwie anders, aber gut!«Islamischer Religionsunterricht als Motor für die Entwicklung islamischer Theologie in Deutschland

Wie umgehen mit Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen?

Antisemitismus unter Schülern

Antijudaismus in islamischen Schriften

Vom Schimpfwort: »Du Jude!«

Warum es gut zum Islam passt, vegan zu leben

Genderspezifische Zugänge

Das Satanische Prinzip und die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit

Islamische Theologie und die Fragen der Prinzipien

Was ist das Satanische Prinzip?

Das Satanische Prinzip und die Geschlechterfrage

Als Zeugin nur die Hälfte wert?

Eine wieder erstarkte liberale Qurʾānauslegung bringt Gerechtigkeit

Schwules muslimisches Nachdenken über Gotteswort und Prophetenüberlieferung

Die Geschichte von Lot und dem sündigen Volk

Eine Stelle in der Sūrat an-nisāʾ (4:15–16), deren genaue Bedeutung umstritten ist

Hadith und Fiqh

Knaben- und Jünglingsliebe

Liebe und Partnerschaft

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt (LSBTTIQ*) als bestimmender Kernaspekt des weltweiten »Liberalen Islams«

I. Vorbemerkungen

II. Basiskontexte

III. LSBTTIQ* als Indikator des Liberalen Islams

IV. Schlussgedanken

Mehrheit ohne Sichtbarkeit – Ein Plädoyer für den Kulturmuslim

Apostasie im Islam

Eine Frage der Religiosität?

Divide et impera – das Erfolgsrezept Wahhabismus

Islamische Realitäten – das Bild vom Muslim im Abgleich mit der Realität

Mehr Kulturmuslim wagen

»Islam, Tradition und Kultur« – ein biografisches Gegenplädoyer zu einem Klischee des liberalen Islams

Warum das islamische Kopftuch obsolet geworden istEine theologische Untersuchung anhand einschlägiger Quellen

Ein Zeichen von Ehre

Nächtliche Gefahren auf den Straßen

Ein echter Schutz

Ein Stück Stoff mit langer Geschichte

Sonne, Wind, Sand und böse Blicke

Ein steiniger Weg zur allgemeinen Schleierpflicht

Schleier gleich Sittlichkeit?

Das große Rätsel um den hijāb

»Und putzt euch nicht heraus«

Ein fast vergessener Koranvers

Das Verständnis des Korans

Kopftuch oder Rechtsstaatlichkeit – welcher Schutz ist effektiver?

Kopfhaar allein löst kein unsittliches Verhalten mehr aus

Ausblick

Anhang

Die Beiträger

Weiterführende bibliografische Hinweise

Motto

Die Wahrheit war einst ein Spiegel in der Hand Gottes. Sie fiel und zerbrach in Stücke. Jeder nahm ein Stück davon und sie schauten es an und dachten, sie hätten die Wahrheit.

Dschalaladdin Muhammad ar-Rumi

Rückkehr zur Botschaft des Korans durch die spirituelle Wiederauflebung der Schahāda

Kerem Adıgüzel

لا

Lā. Keinerlei. Nein. Nicht.

إِلٰه

ilāha. Gottheit. Autorität. Souveränität.

إلا

illā. Außer. Ausgenommen. Exklusive.

الله

allāh. Dem Gott. Der Autorität. Der Souveränität.

Diese Bezeugung (schahāda) aus dem Koran (3:18) dient dazu, sich zu der Überzeugung zu bekennen, dass keine andere Gottheit außer Gott akzeptiert wird.[1] Die schahāda ist nicht nur der Ausgangspunkt für einen monotheistischen Glauben, sondern auch die theologische Grundlage für die Möglichkeit, unterschiedlichen Lesarten, Interpretationen und eigenen Gedanken den nötigen Freiraum zu geben. Diese Grundlage möchte ich näher betrachten. Meine hermeneutische Vorgehensweise verwendet die Grundsätze aus meinem Buch Schlüssel zum Verständnis des Koran. Ich habe versucht, die hier aufgeführten theologischen Schlussfolgerungen aus der koranischen Bezeugung (3:18) auch ohne Kenntnis des Buches verständlich zu machen.

Die Art und Weise der Bezeugung des strikten Monotheismus ist sehr aufschlussreich und vielsagend: Sie beginnt mit einer Verneinung oder auch Ablehnung: lā. Wir befreien uns sozusagen von allem, was vorher war. Wir müssen uns dazu spirituell von jeglicher Bindung und sämtlichen religiösen Vorstellungen komplett lösen. Dem gegenüber stünde dann sturer Dogmatismus. Der erste Schritt in der Bezeugung stellt somit eine wahrhaftig freiheitliche Haltung dar.

Dann folgt wohl der wesentlichste Begriff in diesem Ausdruck: ilāh (إِلٰه / إِلَاه ) oder zu Deutsch Gottheit, Gott, Göttlichkeit, Souveränität oder Autorität. Die Wurzel dieses Wortes bildet sich aus den Buchstaben alif-lām-hā (ه ل ا ). Das Wort ilāh hat die Form fiʿāl (فِعال ) und erhält die Bedeutung aus dem passiven Partizip der Form mafʿūl (مَفْعُول ), so wie die Bedeutung von kitāb (Buch) von maktūb (geschrieben) abgeleitet wird, das Buch also das Objekt des Geschriebenen darstellt. Das heißt, dass ilāh die Bedeutung von maʾlūh (مألوه ) überträgt. Maʾlūh bezeichnet hierbei allgemein etwas oder jemanden, das oder der in irgendeiner Form vergöttert wird. Dies umschreibt alles, was als Fokus der Verehrung und insbesondere der Anbetung infrage kommt. Mit dem bestimmten Artikel al (ال ) zusammen erhält ilāh die Form allāh (ٱللّٰه ), Kurzform für al-ilāh, das letzte und wichtigste Wort in der Bezeugung und zugleich die einzige Ausnahme für die Akzeptanz von irgendeiner Autorität nach der Ausnahmepartikel illā.

Allāh wird im Koran grammatikalisch nicht als Name verwendet, sondern bezeichnet einen ganz bestimmten Gott, nämlich den Gott. Durch den bestimmten Artikel und die stete Verknüpfung mit weiteren »Eigenschaften Gottes« wie zum Beispiel »der Schöpfer« (al-khāliq, al-fātir) sowie »der Erbarmer« (al-rahmān) und der »Barmherzige« (al-rahīm) in der sogenannten »Basmala« (bismi llāhi r-rahmāni r-rahīm) wird das Wort präzisiert und eindeutig verwendet. Viele weitere Verse bestätigen, dass allāh die bestimmte Form von ilāh darstellt, wie zum Beispiel in 2:133, wo vom »Gott Abrahams« als einem einzigen Gott die Rede ist und stets ilāh verwendet wird (vgl. auch 6:19).

Diese Verbindung ist für ein tieferes Verständnis wichtig, da es sich nicht nur um eine innere Sicherheit handelt, dass es nur einen einzigen Gott gibt. Das Wort ilāh meint jegliche Autorität oder Souveränität, die ich geistig, intellektuell oder körperlich als wichtigsten Zufluchtsort und Objekt der Verehrung betrachte. Die meisten Menschen glauben an Gott, widmen sich aber laut Vers (āyah) 106 in Sure 12 nicht ganz allein Ihm. Damit sind sie dann keine wahrhaftigen Monotheisten im Sinne des Korans, was durchaus auch Muslim*innen mit einschließt.

Im Koran wird mitgeteilt, dass unser wahrer Gott unsere Kinder, Eltern, Familie, Partner*innen, unser materielles Eigentum, unser Ego oder unsere Arbeit sein können (7:190, 9:24, 18:35, 25:43). Auf religiös-institutioneller Ebene sind Gelehrte oder mönchsähnliche Persönlichkeiten mögliche Kandidat*innen, die vergöttert oder verehrt werden können (9:31). Die Apotheose oder Vergöttlichung von Propheten, bestimmten Familien oder bestimmten Personen, wie zum Beispiel und insbesondere sogenannten Mullahs, Maulānās, Muftīs, Gelehrten, Gefährten des Propheten, Imamen oder Scheichs gehört ebenso in diese Kategorie. Hierbei ist die Erkenntnis wichtig, dass nicht nur gemeint ist, zu diesen Objekten oder Idolen Gott zu sagen oder sie kultisch anzubeten. Die Vergöttlichung beginnt nämlich dann, wenn diese und ihre Meinungen unser Denken und Handeln bestimmen. Gerade wenn die sogenannten Religionsgelehrten, die im Namen Gottes Gesetze erlassen und religiöse Wege vordefinieren oder in anderen Worten eine scharī’a festlegen, in ihren Meinungen unhinterfragt als Autoritäten und ohne eine koranische Bestätigung akzeptiert werden, gelten sie als Beigesellte (schurakā’) oder Idole, also als weitere Gottheiten neben Gott (42:21).

»Es sind nichts außer Namen, die ihr und eure Väter benanntet und für die Gott keine Ermächtigung herabsandte. Denn sie folgen nichts außer der Vermutung und dem, wozu die Seelen neigen, obwohl ihnen von ihrem Herrn die Rechtleitung zukam.« (53:23)

Die »Beigeseller« (muschrikūn), also jene, die weitere Autoritäten neben dem Schöpfergott haben, denken weiterhin, dass sie Monotheisten seien (6:23, 16:35). Diese Autoritäten werden im Koran dann als »ohne Gottes Ermächtigung genannt« abgelehnt. Wegen dieser Autoritäten gehen die Beigeseller lediglich Vermutungen nach, obwohl sie Gottes Rechtleitung besitzen (53:23). Die Ermächtigung muss göttlich legitimiert sein, in diesem Fall mit den Worten Gottes. Laut Koran praktizieren und beachten auch die »Beigeseller« religiöse Gebote wie Fasten, Pilgern oder Spendenabgaben (2:183, 8:35, 9:19, 9:54, 2:199). Es muss sich also um eine ideelle Form des Polytheismus in der Aussage aus 53:23 handeln, wonach kritisiert wird, dass man weiteren Autoritäten zusätzlich zu Gott und Seinen Worten folgt, ohne dass sie eine theologische Grundlage hätten. Demzufolge können auch Muslim*innen schirk (Beigesellung) betreiben und vom strikten Monotheismus abweichen.

Kehren wir nun mit diesem Verständnis zurück zur Bezeugung, die sinngemäß der folgende Ausdruck ist:

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Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer dem Gott gibt.

In anderen Worten: Mein Denken, Fühlen und Handeln darf von niemand anderem als Gott bestimmt werden.

Die arabische Entsprechung der Bezeugung und ihre fünf Varianten kommen koranisch in 35 Versen 36 Mal vor[2]:

Lā ilāha illā hū

: Es gibt keinen Gott außer Ihm.

Lā ilāha illā lladhī āmanat bihi banū isrāʾīl

: Es gibt keinen Gott außer dem, an den die Kinder Israels glaubten.

Lā ilāha illā anā

: Es gibt keinen Gott außer Mir.

Lā ilāha illā anta

: Es gibt keinen Gott außer Dir.

Lā ilāha illā llāh

: Es gibt keinen Gott außer dem Gott.

Zwei leicht abgewandelte Formen kommen drei Mal vor:

mā min ilāhin illā llāh

: Es ist kein Gott außer dem Gott. (3:62, 38:65)

mā min ilāhin illā ilāhun wāḥid

: Es ist kein Gott außer einem einzigen Gott. (5:73)

Somit beinhalten 38 Verse die Bezeugung in allen Varianten 39 Mal. Der folgende Vers, der die Bezeugung vollständig festlegt, ist zugleich der einzige, der sie im selben Vers wiederholt:

»Gott bezeugte, dass es keine Gottheit gibt außer Ihm, auch die Engel und die im Wissen Herausragenden, stehend für die Gerechtigkeit. Es gibt keine Gottheit außer Ihm, dem Ehrenvollen, dem Weisen.« (3:18)

Dies ist das Paradigma aller monotheistischen Glaubensrichtungen. Dieser Vers erhält im interreligiösen Rahmen eine besondere Bedeutung, denn hier werden »die im Wissen Herausragenden« (ʾūlū l-ʿilm) angesprochen und nicht nur »Muslim*innen«. Es ist kein Zufall, dass im selben Kapitel der Aufruf vorkommt, doch zu einem gemeinsamen Wort zu finden:

»Sage: ›Ihr Leute der Schrift, kommt her zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch, dass wir nichts dienen außer Gott, Ihm nichts beigesellen und dass wir einander nicht als Herren nehmen anstelle Gottes.‹ Doch wenn sie sich abkehrten, so sage: ›Bezeugt, dass wir Ergebene sind.‹« (3:64)

Gerade die nachfolgenden Verse, in denen betont wird, dass Abraham weder Jude noch Christ war, sondern vielmehr eine gottergebene (Deutsch für »muslimisch«) monotheistische Haltung hatte (3:67), zeigen uns auf, dass wir nicht denselben Fehler begehen dürfen. Religionszugehörigkeiten sind nebensächlich. Den Gesprächspartner*innen ist auf Augenhöhe zu begegnen (»einander nicht als Herren nehmen«). Gerade dies wird auch aus den Versen 43–48 in Sure 5 deutlich, nach denen jede Gemeinschaft nach ihrer eigenen Offenbarung zu urteilen hat und ihre eigene scharīʿa (schirʿa, vgl. 5:48) besitzt. Somit ist die religiöse Vielfalt nicht nur geduldet, sondern sie wird geschützt und föderalistisch gefördert. Dies steht im Gegensatz zu gewissen konservativen Strömungen, die sich mit ihrem eigenen religiösen Verständnis als erhaben betrachten. Um es mit den Worten der Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur abzurunden: »Wer ebenso an die Vernunft des Menschen wie an die Größe Gottes glaubt, kann nicht seine eigene Religion für die einzig wahre und alle anderen für falsch halten. Die einzige logische Erklärung ist, dass Gott die religiöse Vielfalt wollte.«[3]

Die Bezeugung, sich zu Gott allein zu bekennen, ist somit gleichzeitig auch ein Aufruf zum neugierigen intra- und interreligiösen Austausch mit dem Ziel, gemeinschaftliche Lösungen zu erarbeiten. Dieser Dialog kann auf unterschiedlichen Stufen stattfinden, im privaten oder im öffentlichen Bereich, im Alltag oder im theologisch-wissenschaftlichen Rahmen. So sollten wir uns gottergeben (»islamisch«) motiviert in komparativer Theologie und Scriptural Reasoning (Methode aus der Dialogarbeit, um über Textarbeit einander näher zu kommen) aktiv einbringen. Ein Anknüpfungspunkt könnte die Inklusionsfrage in Bezug auf das Seelenheil Angehöriger anderer Religionen sein.

Diese Weltsicht, die auf der Bezeugung aufbaut, erfordert, dass man sein Seelenheil und sein Herz vollständig und allein in die Hand Gottes legt und sie nicht irgendwelchen Gemeinschaften, Gelehrten oder Rechtsschulen ausliefert. Ein bloßes Aussprechen der Bezeugung beinhaltet noch keine Absicht (nīya), die für die Gültigkeit einer Handlung in der Regel obligatorisch ist. Im Gegensatz dazu ist das Lippenbekenntnis einfach und im schlimmsten Fall eine Selbsttäuschung (2:8–9). Es geht bei der Absichtserklärung beziehungsweise der nīya, mit Abrahams Geschichte im Hinterkopf, um eine innere Haltung dem Schöpfer und der Schöpfung gegenüber. Erst das Verstehen, Fühlen und Umsetzen, also das Ausleben und das Bezeugen dieses Satzes im Herzen und mit jeder Faser des Körpers führt dazu, dass man sich von der selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit (33:39, 48:11, 49:3). Erst wenn wir gegenüber Gott die nötige Ehrfurcht empfinden, wie es Ihm gebührt, werden wir unsere Seelen befreien können (39:67, 36:60, 39:17). Das Einstehen für die Gerechtigkeit muss mit der Bezeugung Hand in Hand gehen (3:18, 5:8).

Die selbst verschuldete Unmündigkeit entspringt aus dem teilweise blinden Vertrauen gegenüber religiösen Autoritäten neben der lichtvollen Gottheit. Die Absichtserklärung ist somit auch ein Versprechen, intellektuell und religiös mündig zu werden. Dazu müssen wir uns von sämtlichen anderen religiösen Autoritäten befreien und uns auf Gott allein verlassen:

»Wer sich auf Gott verlässt, dem genügt Er.« (65:3)

»Genügt Gott Seinem Diener nicht? Und sie wollen dir mit denen neben Ihm Angst machen.« (39:36)

Hier sind die weiteren religiösen Autoritäten gemeint, die neben Gott zu Seinen Worten widersprüchliche oder zusätzliche Lehren verbreiten. Die spirituelle Bedeutung der Bezeugung beabsichtigt somit die Befreiung des eigenen Selbst wie auch von anderen von jeglichen körperlichen, politischen oder spirituellen Fesseln: Gott ist das einzige Ziel, der Dienst gilt nur Ihm (1:5, 3:64, 51:56), wobei keine intellektuelle, spirituelle oder sonstige Quelle als nicht hinterfragbar gelten kann. Gott allein ist der Absolute im Zentrum, und Gott allein ist die nicht hinterfragbare Autorität. Da wir aber nicht mit Gott in direkten Kontakt treten können, müssen wir in ständigem, offenem Austausch stehen, was sämtliche Fragestellungen betrifft, um Gottes Worte noch besser und zeitgemäß zu verstehen (34:46, 39:18).

Da es keine absolute Autorität außer dem Schöpfer gibt, kann es keinen Menschen, keine Gemeinschaft oder Nation geben, die endgültig festlegen kann, was die Gottergebenheit (islām) ausmacht und wie die Worte Gottes zu interpretieren sind. Dies bedeutet auch, dass Theologie stärker denn je die Worte Gottes in den Fokus rücken muss. Die Dringlichkeit ist besonders dann groß, wenn die Aussagen der Tradition dem Koran widersprechen, wie im Falle der Steinigung, der Todesstrafe für Glaubensabfällige (Apostasie) oder der angeblichen Unterlegenheit der Frauen. Gerade Letzteres wurde leider durch unzählige patriarchalisch eingestellte Gelehrte gepflegt. Der traditionalistische Islam kann laut Dr. Adis Duderija, Dozent an der Griffith University, als hochgradig patriarchal gegendert beschrieben werden, wonach dem Mann eine ontologische, religiöse, politische und intellektuelle Überlegenheit zugeschrieben wird. Die männliche Sexualität sei zudem verbunden mit männlicher Ehre (ʿird), sexueller Eifersucht (ghayrāt) und Sittlichkeitsgesetzen für Frauen wie die Verschleierung und Geschlechtertrennung. Frauen seien nach diesem traditionalistischen Weltbild grundsätzlich unterlegen, eignen sich daher nicht für religiöse oder politische Führungspositionen und würden in ihrer Sexualität mit Konzepten wie fitna (soziomoralisches Chaos) und kaid (sexuelle Manipulation) verbunden. Diese Beschreibungen stellen eine Antithese zu meinem Verständnis des Korans dar.

Zeitgenössische Theolog*innen wie Adis Duderija, Amina Wadud oder Asma Barlas argumentieren deshalb meist koranisch orientiert. Die Pakistanerin Asma Barlas vom Ithaca College in New York gelangt etwa mit ihrem »Foundationalism« zu der Ansicht, dass die Geschlechtergerechtigkeit im Koran verwurzelt ist. So liefert sie konkrete Ansätze für eine feminin motivierte Befreiungstheologie, wodurch gottergebene Frauen aus patriarchalischen Strukturen vor allem koranisch begründet ausbrechen können. Die Entstehungsgeschichte der Überlieferungen, die Hadithe (ahādīth), die nachträglich dem Propheten als Aussprüche zugeschrieben wurden, muss kritisch betrachtet werden. Man muss vor allem koranisch legitimiert argumentieren. Besonders Asma Barlas formuliert dies deutlich, da es »mehr Probleme für Frauen schafft, als dass es welche löst, wenn man die Sunna und die Hadithe heranzieht, um den Koran zu interpretieren«.[4]

Die traditionellen Quellen zur Sunna und zu den Hadithen, die nicht nur in Bezug auf Frauen, sondern auch hinsichtlich vielerlei anderer Themen problematisch sind, dienten oft als Quellen, welche die Bedeutungsvielfalt zu einem gegebenen Vers oder Thema einschränken. Auch hier eröffnet die Bezeugung einen neuen Blickwinkel, wenn Gott allein die Autorität zugesprochen wird, den Koran über alle Zeiten hinweg zu lehren. So heißt es:

»Der Erbarmer lehrt (ʿallama) den Koran.« (55:1–2)

Zwar kommt das Verb ʿallama in der Vergangenheitsform vor. Doch viele Ausdrücke werden in Bezug auf Gott in der Vergangenheitsform formuliert, zum Beispiel am Ende von Sure 4, Vers 11:

»Gewiss, Gott war wissend, weise (inna llāha kāna ʿalīmān ḥakīmān).«

Das ist ein literarisches Stilmittel, und die Zeit hat auf den Schöpfer, Der sie ja erschuf, keine Wirkung. Der Vers ist also auch so zu verstehen, dass der Gnädige weiterhin den Koran lehrt. Die Bezeugung kann nun auch wie folgt verstanden werden:

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Keine Gottheit außer Dem Gott, dem einzigen und wahren Lehrer des Korans!

Die koranische Definition der Bezeugung gibt uns die Freiheit, sämtliche Autoritäten und auch Traditionen zu verwerfen und die Worte Gottes eigenverantwortlich umzusetzen. So heißt es im Koran beispielsweise:

»Und verfolge nicht das, wovon du kein Wissen hast. Gewiss,

das Hör-, Seh- und Verstehvermögen – sie alle sollen zur

Rechenschaft gezogen werden.« (17:36)

Oder es heißt:

»Wir haben den Koran zum Nachdenken leicht gemacht.

So gibt es welche, die sich besinnen?« (54:17,22,32,40)

Natürlich sollten Wissende fachkundig Auskunft erteilen (16:43). Jedoch sollten wir die religiöse Belesenheit mit kritischem Hinterfragen der gegebenen Antworten fördern. Der Koran wurde nicht nur für eine Elite herabgesandt (54:17), und selbst zu denken ist eine unabdingbare Voraussetzung (17:36). Alles, was nicht im Koran angesprochen wird, ist des Weiteren uns überlassen (5:101).

Eine weitere Grundlage stellt die freie Ausübung der Religion, in 2:256 als Lebensordnung (dīn) übersetzt, dar (vgl. auch 18:29, 10:99, 25:57, 50:45, 73:19, 74:37, 76:29, 78:39, 80:12, 88:22, 109:6):

»Kein Erzwingen in der Lebensordnung. Nun ist die Vernunft gegenüber der Täuschung klar geworden. Wer sich dann von den Gewaltherrschern lossagt und an Gott glaubt, der hielt sich an die sichere Bindung, die keine Auflösung hat. Und Gott ist hörend, wissend.«

Eine Lebensweise darf nicht erzwungen werden, und da die Gottergebenen verpflichtet sind, nur dem zu folgen, was sie wirklich verstehen (17:36), darf auch der Koran nicht als politische Verfassung missbraucht werden. Eine gottergeben motivierte Gesellschaft muss dies vor dem Hintergrund des Verses 32 in Sure 5, der jeder Seele einen großen Wert zuspricht, dahingehend reflektieren können, dass alle Bürger*innen einer Gesellschaft ein selbstbestimmtes, freiheitliches und erfülltes Leben führen können. Die Läuterung (zakāh) beziehungsweise Verbesserung sozialer Umstände zum Beispiel in Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit und die Eliminierung sämtlicher Diskriminierungsformen müssen gottergeben motiviert angestrebt werden.

Eine offene Haltung gegenüber jeder Position, auch gegenüber der Tradition, ist eine weitere wichtige Voraussetzung für eine monotheistische Haltung, die sich der Wahrheit (al-haqq), ein weiterer Name für Gott, verpflichtet:

»Nein, sie verleugneten das, dessen Wissen sie sich nicht aneigneten und dessen Exegese ihnen noch nicht zuteilwurde. So verleugneten auch diejenigen vor ihnen.« (10:39)

Oder:

»Diejenigen, die der Aussage zuhören und dem Besten davon folgen: Sie sind es, die Gott rechtleitet, und sie sind die Einsichtigen.« (39:18)

Sich tiefes Wissen anzueignen, um Deutungen zu verstehen (10:39), und vorbehaltlos jeder konstruktiven Ansicht aktiv und ernsthaft zuzuhören, egal woher sie stammen mag, ob nun von Gläubigen oder Atheisten, sind die Eigenschaften von einsichtigen Gottergebenen (39:18). Sie zeigen sich aufgeschlossen und entwickeln Geduld, um keine voreilige Meinung zu bilden und um die Wahrheit von Vermutungen abzugrenzen (10:36, 49:12). Des Weiteren ist es wichtig, dass die Meinungsfindung nicht einseitig stattfinden darf, nur um eine gewisse Ansicht zu unterstützen oder abzulehnen.

Fazit

Diese Theologie beabsichtigt somit nicht, dass die Religion nach der eigenen Vorstellung oder nach den Wünschen einer Gesellschaft definiert wird. Diese Wünsche können sich sozio-kulturell erheblich unterscheiden und führen auch deshalb zu dermaßen unterschiedlichen Ausprägungen der gelebten Religion. Gottes Buch zu öffnen und mit mehr Verstand zu lesen ist der gemeinsame Aufruf (4:123). So erlangt man* die Freiheit des Denkens und der Selbstbestimmung. Denn jede Seele ist für sich verantwortlich (39:7). Die Gelehrten (»Autoritäten«) können niemanden vom Irrweg fernhalten (5:63, 9:34).

Diese Hermeneutik nimmt die Worte Gottes aus dem Koran also sehr ernst und lässt sich nicht von irgendwelchen »Autoritäten« vorschreiben, wie sie zu verstehen sind:

»Und wenn ihnen gesagt wird: ›Folgt dem, was Gott herabsandte.‹ Dann sagen sie: ›Vielmehr folgen wir dem, was wir bei unseren Vätern vorfanden.‹ ›Auch dann, wenn ihre Väter weder etwas verstanden noch Rechtleitung fanden?« (2:170)

Propheten sind revolutionäre Reformisten, und die Ableugner beschuldigen sie des Verrats und der Untreue gegenüber den Ahnentraditionen und weisen jegliche Vernunft und jegliche Logik ab, weil es ihrem Weltbild widerspricht. Die Mentalität »Wir haben so was noch nie gehört!« oder sinngemäß auch »So was wurde uns noch nie beigebracht!« wird koranisch an zahlreichen Stellen kritisiert und darf deshalb nicht die Meinungsfindung beeinflussen (vgl. 23:24, 7:70, 11:62, 11:87, 26:74, 28:36, 34:43).

Verse wie in 2:170 oder in 31:20–21 sind auch deshalb wichtig, da sie die Entwicklung von zeitgenössischen Positionen zum Beispiel wegen neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse ermöglichen. Wenn unsere Traditionen aufgrund von mangelndem Wissen in einem Bereich nicht mehr hilfreich sind, können wir sie den neuen Erkenntnissen anpassen oder ganz verwerfen. Auf diese Weise können Themen wie LSBTTIQ* neu aufgegriffen werden, wenn die theologischen, politologischen oder wissenschaftlichen Erkenntnisse dies erfordern oder ermöglichen. Der in 2:170 betonte Verstand ( ʿaql) ist demzufolge eine wichtige Grundlage.

Zusammengefasst kann diese Art der Theologie wie folgt umrissen werden:

Kontextualisierte und vernunftbasierte Lesart des Korans

Förderung der (interreligiösen) Vielfalt und Offenheit auf Augenhöhe

Kritische Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Hadithe

Freiheitliche Selbst- und Mitbestimmung, gerade von Frauen in der religiösen Praxis

Der Koran im Mittelpunkt der Theologie losgelöst von den Hadithen

Einsatz für die Menschenrechte und die stetige Verminderung von Ungerechtigkeit

Ohne Wissenschaft kein vernünftiger Glaube: Wissenschaftliche Erkenntnisse als Basis für eine zeitgenössische Theologie

All diese und weitere Prinzipien können koranisch motiviert aus dem Bekenntnis aller Gottergebenen abgeleitet werden:

Kein Gott außer dem Gott.

[1]Der zweite Teil der sunnitischen oder schiitischen Schahāda wurde bewusst ausgelassen, weil die islamisch-koranische Schahāda an keiner Stelle mit der Erwähnung irgendeines Gesandten ergänzt wird wie in der traditionellen Schahāda. Die gottergebene Bezeugung wird in 3:18 definiert. Sie verliert ihre Universalität, wenn Muhammad erwähnt werden muss. Diese Universalität ist ausschlaggebend, was ich nicht genug betonen kann, und wird koranisch von Gottergebenen gefordert, die keinen Unterschied zwischen irgendeinem der Gesandten, Frieden sei auf allen, machen dürfen (lā nufarriqu bayna ahad). Siehe hierzu Schlüssel zum Verständnis des Koran, Kapitel »Die Bezeugung als Heilmittel«. [2]Vgl. Kerem Adıgüzel, Schlüssel zum Verständnis des Koran, Fußnote 76. [3]Forum am Freitag vom 17.05.2013, https://www.zdf.de/kultur/forum-am-freitag/den-koran-neu-denken-102.html; abgerufen am 17.08.2019. [4]Asma Barlas, Re-understanding Islam: A Double Critique, 2008, S. 14.

Plädoyer für eine analytische Koranhermeneutik

Hakan Turan

Analytische Theologie als Grundlage der Koranauslegung

Der sunnitische Traditionalismus vertritt die Auffassung, dass der Sinn des Korans in der islamischen Überlieferung unter prophetischer Autorität authentisch gewahrt und aufgehoben ist. Modernistische Neuauslegungen wiederum suchen nach einem Verständnis des Korans, das die gewandelten Lebensbedingungen berücksichtigt und auch ohne Umweg über die klassische Gelehrtentradition ein rationales und freiheitliches Islamverständnis ermöglicht. Die historische Hermeneutik wiederum verweist auf die gängigen Narrative und Denkfiguren der Erstadressaten des Korans und versteht diese als die wichtigsten Bezugspunkte für dessen richtiges Verstehen und somit als Voraussetzung für eine hermeneutische Übersetzungstätigkeit der koranischen Botschaft in unsere heutige Welt[5].

Die in diesem Beitrag vertretene analytische Koranhermeneutik verläuft quer zu den genannten Positionen und ist als Bestandteil einer allgemeineren analytischen islamischen Theologie zu verstehen. Der analytische Zugang ist bestrebt, Vorhandenes begrifflich zu erschließen, logisch aufzuarbeiten, Annahmen und Folgerungen von Argumenten zu identifizieren und sie somit intersubjektiv verstehbar und beurteilbar zu machen. Insofern kann er auch als Ausgangspunkt eines Vergleichs der erwähnten Ansätze dienen. Ferner bemüht sich analytische Theologie um Explikation, Prüfung von Wahrheitsansprüchen, Beurteilung logischer Kohärenz und um Fragen der Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung. Sie schränkt ihren Fokus bewusst auf entsprechend formalisierbare Fragestellungen ein und beansprucht nicht, alle Phänomene des Glaubens zu erfassen oder die anderen Ansätze vollständig zu ersetzen. Vielmehr ist sie eine Art des Fragens und Argumentierens, die in den anderen Ansätzen oft zu kurz kommt.

Die koranische Basis für einen analytischen Ansatz ist vielfältig. So ruft 38:29 die Vernunftbegabten dazu auf, über die Verse des Korans nachzudenken. Diese Verse stehen laut 15:9 unter dem Schutz Gottes, was ihnen eine Sonderstellung innerhalb der islamischen Quellen zusichert. Zentral ist ferner die Aussage aus 4:82, dass der Koran als Gotteswort auf der inhaltlichen Ebene widerspruchsfrei ist. Im Lichte des analytischen Ansatzes gelesen, bedeutet dies, dass die Orientierung des Exegeten an logischer Widerspruchsfreiheit ein koranisches Prinzip ist.

Die Bezugspunkte einer analytischen Koranhermeneutik in der islamischen Gelehrtentradition liegen vor allem in der klassisch-islamischen Rechtshermeneutik (usūl al-fiqh), die die erkenntnistheoretischen und sprachwissenschaftlichen Prinzipien der Koranauslegung thematisiert sowie ein System von Auslegungstechniken bereitstellt. Wichtig sind auch die logischen Untersuchungen der islamischen kalām-Theologen (Vertreter der systematischen Theologie) und Philosophen aus den ersten Jahrhunderten des Islams. Eine prominente Rolle spielt dabei der Theologe al-Ghazālī (gestorben 1111), der bis ans Ende seines Lebens daran festhielt, dass innerislamische Differenzen durch eine strikte Orientierung an den Regeln der Logik bei der Auslegung von Koran und Hadith aufgelöst werden könnten.[6] Uns soll es dabei weniger um die praktischen Schlussfolgerungen dieser Gelehrten gehen, die immer auch die Lebenswirklichkeit ihrer Zeit widerspiegeln, sondern um die von ihnen begründeten Denkfiguren, die über ihre Zeit hinausweisen. Al-Ghazālīs letztes großes Werk ist ein Kompendium der oben erwähnten Rechtshermeneutik. Es beginnt mit einem langen Vorwort zur Logik, bestehend aus der Lehre von der Begriffsdefinition (hadd) und vom wissenschaftlichen Beweis (burhān), die er als die Erkenntnisweisen der Vernunft (madārik al-ʿuqūl) bezeichnet. Zur Lehre vom Beweis gehören nach al-Ghazālī die logisch gültigen Schlussformen im Geiste der ersten und zweiten Analytiken des Aristoteles sowie eine Kategorisierung der Arten von gesichertem Vernunftwissen.[7] Al-Ghazālī schreibt, dieses Vorwort zur Logik sei zu verstehen als ein Vorwort »… zu allen Wissenschaften. Wer seinen Inhalt nicht begreift, dessen Wissen ist auf keinen Fall zu trauen.«[8]

Als modernes Namensvorbild für eine analytische islamische Theologe ist die christlich geprägte analytische Theologie im angelsächsischen Sprachraum zu nennen, wie sie unter theologischer Adaptation der Methoden der neueren analytischen Philosophie entstanden ist[9] und neuerdings auch in Deutschland diskutiert wird.[10] Zum anderen sind darin auch Themen und Motive der modernen Wissenschaftstheorie wiederzufinden. Im Folgenden soll nun anhand einiger kontrovers diskutierter Beispiele skizzenhaft gezeigt werden, wie ein analytischer Ansatz in der Koranhermeneutik fruchtbar gemacht werden kann und worin seine Besonderheiten liegen. Dabei werden wir uns auf den Korantext selbst konzentrieren, der weitgehend zusammenhängend überliefert ist und einen einheitlichen Authentizitätsgrad besitzt – eine wichtige Voraussetzung analytischer Arbeit. Diese Koranzentrierung soll anderen islamischen Quellen keinesfalls ihre Relevanz absprechen. Vielmehr geht es ihr darum, den markanten Wortlaut des Korans vollständig auszureizen und logisch zu analysieren, und erst danach auf andere Quellen und Methoden zurückzugreifen, die naturgemäß spekulativer sind.

Unterscheidung zwischen Dogmatik und Pragmatik

Die erste und wichtigste analytische Feststellung lautet, dass in Fragstellungen zum Islam Perspektiven der Islam-Dogmatik und Islam-Pragmatik unterschieden werden müssen. Dogmatik thematisiert die systematisch erschließbaren Inhalte, Aussagen und Gebote islamischer Quellen und Rechtstraditionen, also den »eigentlichen« Islam. In ihrem Zentrum stehen Texte und Lehren. Pragmatik hingegen fragt nach den psychologischen und soziologischen Bedingungen muslimischer Lebenswirklichkeiten, nach historisch gewachsenen Lebenspraktiken und Milieustrukturen, sofern sie auch nur entfernt Bezüge zum Islam oder zu muslimischer Identität beinhalten. In ihrem Zentrum stehen individuelle Biografien und soziale Kontexte. Diese Welt der Praxis wird irreführenderweise auch oft als »Islam« bezeichnet, obwohl es sich dabei um soziale Strukturen und damit verbundene Sprach- und Handlungsgewohnheiten handelt, in denen der Islam nur eine von sehr vielen Komponenten darstellt. Zudem ist der Islam hier hochgradig selektiv und nicht methodisch geleitet eingebunden. Es gilt: Pragmatik und Dogmatik beeinflussen sich gegenseitig. Jedoch folgt selbst in den meisten religiösen Kreisen die Pragmatik einer völlig anderen Logik und Dynamik als die Dogmatik und muss daher auch anders analysiert werden. Es ist daher ein Kategorienfehler, Erscheinungen in der Lebenswirklichkeit von Muslim*innen ohne nachweisbaren Zusammenhang direkt auf vermeintliche Ursachen in der Dogmatik wie zum Beispiel bestimmte Koranverse oder Gelehrtenmeinungen zurückzuführen. Dem Koran kommt in der Lebenswirklichkeit der meisten Muslim*innen nur eine symbolische und liturgische Rolle zu. Religiöse Bildung ist darüber hinaus oftmals vorhanden, aber wird meist durch Sozialisation und Vorbilder und selten durch Texte und noch seltener durch Koranauslegung im engeren Sinne vermittelt. Die Lebenswirklichkeit ist die Schablone, mit deren Hilfe die meisten Muslim*innen ihr Islam- und Koranbild konstruieren, völlig unabhängig davon, wie individualistisch oder kollektivistisch sie selbst geprägt sind. Deswegen ist die Praxis religiöser Muslim*innen in säkularen Demokratien meist jeglicher theologischen Theorie weit vorausgeeilt.

Analytische Koranhermeneutik interessiert sich nun weniger für solch komplexe Fragen der Pragmatik und strebt auch keine Widerlegung des allgegenwärtigen pragmatischen Zugangs zum Islam an. Vielmehr dient sie der inhaltlichen Durchdringung und Analyse theologischer Positionen, insbesondere im Umfeld des Korans, und überlässt Fragen der Praxisrelevanz der Domäne der Pragmatik. Insbesondere können Ergebnisse der Dogmatik in der Pragmatik durchaus auch selektiv übernommen oder neu priorisiert werden, abhängig von der Lebenswirklichkeit, die einer anderen Logik folgt. Dennoch ist und bleibt es aus islamischer Sicht wünschenswert, dass Pragmatik und Dogmatik im Leben der gläubigen Muslim*innen konstruktiv aufeinander bezogen werden können, wofür analytische Koranhermeneutik einen Beitrag leisten kann. Nach dieser Unterscheidung von Dogmatik und Pragmatik können wir uns nun einige Themen der Koranauslegung aus Sicht der analytischen Koranhermeneutik näher anschauen.

Unbedingte und bedingte Gebote (taʿlīl)

Als sehr hilfreich erweist sich die klassisch-islamische Aufteilung islamischer Gebote in unbedingte Gebote, die im Geiste des Gehorsams (taʿabbud) gegenüber Gott befolgt werden, und bedingte Gebote, die von einer rational erkennbaren Bedingung abhängen (taʿlīl), die wiederum einem praktischen Zweck (bzw. einer ratio legis) dient.[11] So gilt nach mehrheitlicher Gelehrtenmeinung beispielsweise das koranische Weinverbot nicht mehr, sobald der Wein zu Essig gegoren ist, da für das Weinverbot als Begründung beziehungsweise Ursache (ʿilla) die berauschende Eigenschaft des Weins angenommen wird. Beim erlaubten Weinessig ist diese Ursache jedoch nicht mehr vorhanden. Die äußeren Formen des rituellen Gebets hingegen werden vom Gläubigen als gottesdienstlicher Akt umgesetzt, ohne einen unmittelbaren praktischen Nutzen hinter dessen Einzelheiten zu kennen, etwa wenn es um die Anzahl der Gebetseinheiten oder die Gebetsrichtung geht.[12] Damit bleiben diese Formen auch weitgehend unveränderlich, von Ausnahmeregelungen bei Krankheit et cetera abgesehen.

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