Mut - Maureen Reitinger - E-Book

Mut E-Book

Maureen Reitinger

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Beschreibung

Wenn wir an Mut denken, haben wir sofort spektakuläre Leistungen oder außergewöhnliches Engagement vor Augen. Aber wie viel Mut braucht es für den ganz normalen Alltag? Wen sehen wir gesellschaftlich als mutig an, und wer beweist tatsächlich tagtäglich den meisten Mut? Und was bedeutet es überhaupt, mutig zu sein? Diesen Fragen geht Maureen Reitinger auf den Grund, wenn sie sich an das Thema Mut in all seinen Facetten herantastet und uns einlädt, unser eigenes Verständnis davon neu zu denken. In ihrem persönlichen, inspirierenden Essay holt sie Alltagsheld:innen vor den Vorhang und erkundet, was unsere Vorstellung von Stärke mit dem Patriarchat und Kapitalismus zu tun hat. Stellen wir den Mut auf die Probe. Erlauben wir uns den Blick auf den alltäglichen, kleinen Mut, der nur allzu häufig übersehen wird.

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Seitenzahl: 90

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mut

Maureen Reitinger

Mut

Maureen Reitinger

Für

Fanny, Nova

&

meine Mutter

Zur besseren Verständlichkeit wird im folgenden Essay auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen nicht nur verzichtet, sondern es wird ganz mutig überwiegend das generische Femininum verwendet. Verständlich ist vielleicht auch nur, wofür wir Verständnis aufbringen. Es ist an manchen Stellen allerdings explizit nur von Männern (männlich gelesen und als solche sozialisiert) die Rede, das ist so gewollt. Wird das generische Femininum verwendet, sind prinzipiell nicht nur zwei Geschlechter gemeint, sondern alle Menschen. Auch hier entwickelt sich Sprache mutig und vielfältig weiter. Daher bitte ich um den Rahmen und Raum zur Experimentierfreude.

Mut brüllt nicht immer nur. Mut kann auch die leise Stimme am Ende des Tages sein, die sagt: Morgen versuche ich es nochmal.

Mary Anne Radmacher1

Inhalt

Am Anfang war das Vorwort

Mut, wo stehen wir?

Mut im Patriarchat und Kapitalismus

Alltagsheldinnen und der Alltagsmut

Mut und ich

Starthilfe Erstickung

Licht an!

Wieder Mut fassen

Mut zur Vulnerabilität

Mut zum Alleinsein

Mut zur Veränderung

Mutfolgerung

Zielgerade

Eine Ode an meine Heldinnen

Mutliste

Anmerkungen

Egal ob queer, BIPoC oder mit Behinderung, Mehrgewicht, Weniggewicht, chronischer Krankheit, physischem oder psychischem Unwohlsein, Feigling oder ewig unverstanden, bitte fühle dich gesehen, gehört und angesprochen.

Das hier ist für uns.

Am Anfang war das Vorwort

Wir alle bewundern sie, diese Menschen, die Außergewöhnliches leisten und über ihre Grenzen gehen. Die Pilgerin, die Aktivistin, die Seglerin auf den Weltmeeren, die Kletterin ohne Seil auf den Felswänden dieser Welt, die Bergsteigerin ohne Sauerstoff im Alleingang den Berg bezwingend, die Ins-Weltall-Fliegerin, die Von-den-Klippen-Springerin, die Geschwindigkeitsbezwingerin, die Apnoetaucherin. Wer sind diese Menschen und warum bewundern wir sie so? Weil sie nicht der Norm entsprechen, weil sie nicht Alltägliches tun? Weil sie Dinge tun, die wir uns nicht trauen?

Vorweg, ich bin keine von ihnen. Ich werde zwar von mir erzählen und wie sich meine Perspektive zum Thema Mut entwickelt, sogar grundlegend verändert hat. Es wird allerdings alles andere als die Perspektive einer Abenteurerin. Auf ein gedankliches Abenteuer möchte ich dennoch gerne mitnehmen und herzlich einladen, sich auf dieses Gedankenexperiment mit mir einzulassen. Ganz im Sinne von Mut zum Perspektivenwechsel.

Warum erzähle also gerade ich hier etwas über Mut, oder versuche vielleicht sogar, Mut zu machen? Ich hatte mir nie nennenswert viele Gedanken über Mut gemacht. Mutig waren die Menschen im Fernsehen, die sich eben etwas trauten, die sportliche Höchstleistungen vollbrachten. Die Heldinnen aus den Filmen. Die grenzgängerischen Adrenalinfreaks, die auf alles und jede pfeifen.

Im Gegenteil zu ihnen wurde mir das Mutigsein schon oft in meinem Leben abgesprochen – von anderen und von mir selbst. Dieses eine Mal allerdings, als mir der Mut von einem mir nahestehenden Gegenüber aberkannt wurde, war anders als all die anderen Male zuvor. Was als Verletzung dienen sollte, startete einen Prozess der Selbstreflexion in mir und was als Kritik gedacht war, eröffnete mir einen Zugang, die Bedeutung von Mut und dessen Platz in meinem Leben zu hinterfragen – etwas, das offensichtlich schon lange in mir gebrodelt hatte, dessen ich mir jedoch nicht bewusst gewesen war. Der klare Unterscheid war, dass ich diesmal dachte: „Ich bin doch mutig, nur warum ist das für andere nicht offensichtlich?“

Wenn wir als feige oder ängstlich wahrgenommen werden, kann das sehr kränkend sein. Allem voran kann es uns in unserem geringen Selbstwert bestätigen, in unserer vermeintlichen Feigheit, ist es doch das Freie und Mutige, das wir bewundern und begehren. Das Waghalsige, das nicht der Norm Entsprechende.

Ich habe jedoch bei meinen Beobachtungen gelernt, dass eben diese vermeintlich mutigen, immer frei wirkenden Menschen manchmal alles andere als frei sind und es bei dem, was sie tun, und vor allem bei dem, was sie motiviert, nicht immer um Mut geht. Nach und nach erkannte ich immer mehr Widersprüche zwischen dem, was wir gemeinhin als mutig betrachten, und dem, was ich aus meiner persönlichen Erfahrung über diese Fähigkeit herausfand. Also begann ich, mich intensiv mit Mut zu beschäftigen, meinem eigenen und dem von anderen Menschen.

Dieser Essay soll Mut aus verschiedenen Perspektiven beleuchten: Was verstehen wir unter Mut? Ist mutig sein immer mit Adrenalin, Risiko, Freigeistigkeit und Aufwand verbunden? Wie prägen Patriarchat und Kapitalismus die Zuschreibungen von Mut in unserer Gesellschaft? Was macht diese stereotype, heteronormative Konnotation mit uns als Gesellschaft und als Individuen? Und welchen Mut brauchen wir, um uns aus der verstaubten, patriarchalen, männlich besetzten Perspektive auf Stärke zu befreien?

Ich habe mich auch gefragt, warum wir mutig sein müssen und nicht nur sein dürfen: Denn wir leben in einer Gesellschaft, die einigen von uns sehr viel mehr Mut abverlangt als anderen. Warum beweisen bestimmte Gesellschaftsgruppen viel mehr Mut, als wir sehen oder uns vorstellen können? Welcher Mut steckt in jenen von uns, die sich selbst als Feiglinge sehen?

Ich befasse mich hier also mit den Alltagsheldinnen, mit denen, die jeden Tag aufstehen und weitermachen. Die immer wieder einen Grund finden, den Tag zu überstehen. Die den Tag überleben. Die das Leben in dieser Gesellschaft ertragen und aus ihrer individuellen Lebensrealität heraus mehr Mut beweisen als so manche vermeintlich mutige Personen. Die nicht den Luxus haben, einen Adrenalinkick nach dem nächsten zu jagen, weil ihr Alltag bereits einer ständigen Mutprobe gleichkommt. Die vermutlich nicht einmal wahrnehmen, wie mutig sie tatsächlich sind und sein müssen. Die es schon als so normal betrachten, sich ständig etwas trauen zu müssen, dass es ihnen absurd erscheint, wenn mensch sie als mutig beschreibt. Die trotzdem versuchen, Bedeutung und Schönheit im Alltag zu erkennen, auch wenn aufgeben so viel einfacher wäre als weitermachen. Die standhalten, auch wenn es nicht jeden Tag schön ist, weil sich lange schon eine gefühlte Bedeutungslosigkeit und Erschöpfung breit gemacht haben. Menschen, die ihren ganz normalen Alltag leben.

Es folgt also kein Rezept für das Misslingen oder Gelingen von „mutig sein“. Alles, was ich kann, ist eine Perspektive anzubieten. Ich möchte einladen, den Scheinwerfer auf uns selbst zu richten und zu verstehen, uns selbst zu erlauben, sogar unbedingt zu erkennen, wie viel Mut in jeder von uns steckt. Gerade dann, wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht erahnbar ist.

Durch meine eigene Geschichte mit Mut habe ich verstanden, dass das „Aussitzen“ und die radikale Akzeptanz der eigenen Geschichte viel harte Arbeit sind. Mutige Geschichten werden oft von ganz einfachen Leuten geschrieben. Von diesen Geschichten, darunter auch meiner eigenen, möchte ich erzählen und damit zeigen, dass Mut nicht unbedingt etwas ist, das uns in die Wiege gelegt wird. Dass Mut nicht zwangsläufig in unserer DNA festgeschrieben sein muss, damit mensch ihn sich aneignen kann. Es sind die klitzekleinen Schritte, diese täglichen Veränderungen um ein bis zwei Prozent, die uns zu Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen und Selbstbestimmtheit führen und die uns dadurch ermöglichen, uns den Herausforderungen des Lebens zu stellen.

Durch dieses tägliche trial and error, dieses konsequente Dranbleiben, kann Mut geübt werden. Wir werden nicht über Nacht zu mutigen Wesen, wir können allerdings eine bewusste Entscheidung für eine neue, mutige Haltung trainieren. Indem wir Veränderungen akzeptieren, Niederlagen und Scheitern anerkennen und uns nicht dafür in Grund und Boden stampfen, Angst ohne Scham annehmen und uns erlauben, die kleinen Erfolge zu feiern, wenn wir den Mutproben des Lebens gegenübergetreten sind und daraus gelernt haben.

The best protection a woman can have… is courage.

Elizabeth Cady Stanton

Mut, wo stehen wir?

Der Frühling war gerade ins Land gezogen und ein paar Tage jung. Und ich postete auf meinem Social-Media-Kanal das Bild von dem schweren, weißen, wunderschönen Tor, durch das ich vor und nach jeder Sitzung bei meiner Therapeutin hindurchging. Ich war ein letztes Mal auf dem Weg hinaus, hinaus in eine neue Zukunft, in ein sortierteres, perspektivenreicheres, ein bejahendes Leben, und schrieb unter das Foto diese Worte:

Drei Jahre Selbsterfahrung, ein letztes Mal durch diese Tür, sich selbst zu stellen, zu begegnen, ist das Schlimmste und Tollste zu gleichen Teilen.

Was ist Mut? Alles eine Frage der Perspektive und Definition. Danke fürs Bleiben, als es am schwerstenwar zu bleiben. Ich bin auch geblieben. Gewonnen. Ich weiß jetzt, was Freiheit ist.

In diesem Moment und auch darüber hinaus fühlte ich mich unbesiegbar, wagemutig, stark, als Siegerin. Ich hatte mich selbst hinterfragt und besser kennengelernt. Ich hatte mich jahrelang Woche für Woche meinen Traumata, Depressionen und Ängsten gestellt. Ich hatte mehrere Diagnosen überstanden oder zumindest gelernt, damit umzugehen.

Für dieses überwältigende Gefühl verwendete ich intuitiv das kleine Wort „Mut“. Trotzdem fragte ich mich beim Schreiben sofort: Gilt das eigentlich als Mut, wie wir ihn benennen und kennen, in unserer Gesellschaft? Darf ich mich überhaupt als mutig bezeichnen? Und warum fällt es uns anscheinend leichter, die Teilnehmerinnen von gut gesponserten Extremsportveranstaltungen als mutig zu bezeichnen als uns selbst, wenn wir die Schwierigkeiten unseres Alltags, unsere Ängste oder Schicksalsschläge meistern?

Fakt ist, diese Art von Mut ist oft unsichtbar. Im Vergleich mit dem lauten Mut, der uns aus den Blockbustern und buchbaren Adrenalin-Veranstaltungen anschreit, ist dieser Mut leicht zu übersehen. Wahrscheinlich stutzte ich auch deshalb bei der Verwendung des Begriffs.

Warum ist das so? Woher kommt nun dieses Wort mit so großer Bedeutung?

Der Duden2 beschreibt den Begriff „Mut“ einerseits als „Fähigkeit, in einer gefährlichen, riskanten Situation seine Angst zu überwinden“ und als „Furchtlosigkeit angesichts einer Situation, in der man Angst haben könnte.“ Andererseits kann Mut auch eine „grundsätzliche Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält“ bedeuten.

Im Mittelenglischen bezeichnete das Wort „was in den Gedanken ist“, „Tapferkeit“, aber auch „Zorn“, „Stolz“, „Vertrauen“, „Lebhaftigkeit“ oder jede Art von Neigung und Hingabe. Im Englischen heißt Mut „courage“, was wie im Französischen, Italienischen und Spanischen zurückzuführen ist auf das lateinische Substantiv „cor“, das Herz.3 Den Bezug zum Herzen finde ich besonders spannend, da in der heutigen Zeit Herzensangelegenheiten und Emotionen überwiegend nicht mit Männern in Verbindung gebracht werden – im Gegensatz zu früher anscheinend. Ich bin allerdings stark der Ansicht, dass Mut ohne absolute Beherztheit unmöglich ist.

Mut wird seit jeher den Männern zugeschrieben. Da gibt es die Drachentöter, die kühnen Ritter aus den Überlieferungen. Die Tochter des Königs wurde eben nur an den Wagemutigsten verschenkt. Das heutige Äquivalent dazu sind die muskelüberladenen Helden in den Blockbustern, welche die übersexualisiert dargestellte und meist reizend hilflose, „Und was jetzt?“ sagende Frau retten, und unsere binäre, patriarchal strukturierte, sexistisch institutionalisierte, misogyne Welt gleich mit.

Mut war und ist also prinzipiell männlich konnotiert. Im Heute geht es da eher um die Todesmutigen, die sich beim Base-Jumping im Wingsuit irgendwo hinunterstürzen. Mut wird oft mit Leistungsdemonstration gleichgesetzt, in Form von Abenteuern oder sportlichen Herausforderungen. Es muss zumindest ein Berg erklommen werden, am besten noch mit Steigeisen inklusive exponierter Stellen. Wer sich den Mount Everest nicht leisten kann, ist in jedem Fall am Großglockner zu finden. Ob wir mit dem Mountainbike den Berg hinunterjagen oder absurd teuren Autos und ihren mutigen Fahrern zusehen, wie sie bei über 300 km/h im Kreis fahren: Was gibt es Schöneres als