"Mut, Mut, ihr Deutschen!" - Friedrich Kabermann - E-Book

"Mut, Mut, ihr Deutschen!" E-Book

Friedrich Kabermann

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Beschreibung

"Mut, Mut, ihr Deutschen! Wir wollen mit Gottes Hilfe unser Vaterland befreien!" lautet das vollständige Zitat, das dem vorliegenden Buch als Titel dient. Der Ausspruch stammt von Ulrich von Hutten, dem humanistisch gebildeten Zeitgenossen Martin Luthers, und steht am Anfang des über dreihundertjährigen Ringens zwischen alter und neuer Staatsform der Deutschen: dem Heiligen Römischen Reich des Mittelalters und der demokratisch bürgerlichen Nation der Neuzeit. Das Buch erzählt anhand der Quellen die Emanzipationsgeschichte der Nation vom Reich, die 1841 ihren literarischen Ausdruck in Hoffmann von Fallerslebens "Lied der Deutschen" fand, dann aber mit dem Scheitern der Revolution1848/49 abbricht. Was folgt, gehört nicht mehr zur Geschichte der Entstehung, sondern der Zerstörung der Nation, die hier nicht Thema war. Die Absicht des Buches ist, Geschichte nicht wissenschafltich als Lehre darzustellen, sondern als unmittelbaren Lebensvollzug. Dazu gehören die zeitgenössischen Lieder und Gedichte, ohne die die Überlieferung unvollkommen wäre. So entsteht eine "erlesene" Historie, die Geschichte so erzählt, wie sie geschieht - "als wär's ein Stück von mir".

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In memoriam

Henri Nannen

Wolfgang Venohr

Sebastian Haffner

Hellmut Diwald

Joachim Fest

Dietrich Pinkerneil

Inhalt

Einleitung „DES GLÜCKES UNTERPFAND“

Kapitel l „MUT, MUT, IHR DEUTSCHEN!”

Der Aufstand der Bauernschaft: (1450-1550)

„Tödlich erkrankt an Haupt und Gliedern” – Das Deutsche Reich im Umbruch

Der „schlafende Kaiser” – Das Kaisertum zwischen Mythos und Wirklichkeit

Die „Wittembergisch Nachtigall” – Luther weckt die deutsche Nation

„Billig genießen” – Jakob Fugger – Bankier von Kaiser und Reich

„Hier stehe ich...” – Luther vor dem Reichstag zu Worms

„Mut, Mut, ihr Deutschen...” – Aufruf zum Widerstand

„Es ist hohe Zeit” – Die Erhebung der Bauern

„Dran, dran, dran!” – Der Große Deutsche Bauernkrieg

„Das Reich muss uns doch bleiben...” – Die lutherische Reformation von oben

„Des Reiches Schutz und Vater...” – Vorläufiger Ausgleich und Friede

Kapitel II „O, WIE HAT GEHAUST DER TOD!”

Der Zerfall der Kaisermacht (1550-1650)

„Doktoren für den Frieden” – Die Gegenreformation und ihre Glaubenskriege

„Die böhmische Methode” – Der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges

„Diese sind die Henkersbuben...” – Der Kaiser auf dem Gipfel der Macht

„Sein Widerpart sich selbst” – Das Deutsche Reich am Wendepunkt

„Man muss Frieden machen” – Wallenstein zwischen Kaiser und Reich

„Lang erhoffte Friedenstaube” – Der Westfälische Frieden

„Ein armes und geringes Volk...” – Das Ende der Glaubenskriege

Kapitel III „ZWEI SCHWERTER IN DER HAND!”

Der Aufstieg des Preußentums (1650-1786)

„Selbstverschuldete Unmündigkeit” – Aberglaube und Aufklärung

„Der große Zauberer” – Frankreich als Hegemonialmacht

„Die „Hohe Schule der Ordnung” – Der Aufstieg Brandenburg-Preußens

„Das Rendez-vous des Ruhms” – Die schlesischen Kriege

„Größe und Anmut, Grenadiere und Musen” – Der aufgeklärte Absolutismus in Preußen

„Groß Wunder ist zu sagen” – Der siebenjährige Existenzkampf

„Für das Wohl der Gesellschaft” – Friedensarbeit und Wiederaufbau

„Ohne Ansehen der Person!” – Preußisches Ethos und Rechtsstaatlichkeit

„Ein recht eingefleischter König” – Herrschen und Dienen

„Heute ist Berlin wie ausgestorben...” – Die Friedrichlegende und die Realität

Kapitel IV „WIR SIND UND BLEIBEN BRÜDER!”

Der nationale Befreiungskampf (1789-1815)

„Verachtung des Königtums” – Von der Monarchie zur französischen Republik

„Kreuzzug für die Freiheit” – Der Kampf gegen die Reaktion

„Die geläuterte Revolution” – Das Ende der französischen Republik

„Des Heiligen Römischen Reiches schwerfälliges Angedenken” – Das Ende der deutschen Kaisermacht

„Der Rost der Zeit” – Der Untergang des Deutschen Reiches

„Ein schöner Untergang” – Der Zusammenbruch Preußens

„Ausplünderung von Europa” – Napoleon auf dem Höhepunkt der Macht

„Frische Tat und Kraft!” – Die Reformen der „preußischen Jakobiner”

„Mit Mann und Roß und Wagen” – Der Untergang der Großen Armee in Russland

„Deutschland steht auf” – Der Große Deutsche Befreiungskrieg

Kapitel V „ZITTERT, ZITTERT, BLÖDE TOREN!”

Die Epoche der Restauration (1815-1840)

„Der tanzende Kongress” – Die europäische Gipfelkonferenz in Wien

„Unabhängige Herren” – Die „Heilige Allianz”

„Thermometer des Hasses” – Der Sieg der Reaktion

„Aller Völker Hohn” – Der deutsche Untertan

„Mit dem Tode bestraft” – Das System Metternich

„Die blitzschnelle Revolution” – Pariser Aufstand und polnische Erhebung

„Der Zukunft eherner Tritt” – Der Aufbruch des „Jungen Deutschland”

„Siamesische Zwillinge!” – Die ökonomisch-technische Revolution

Kapitel VI „DIE FREIHEIT, DAS IST DIE NATION!”

Die bürgerliche Revolution (1848-1850)

„Ausbruch des Vulkanes” – Die Pariser Februar-Revolution

„Ein Gespenst geht um...” – Deutschland am Vorabend der Revolution

„Auktion von dreißig Fürstenhüten” – Der Ausbruch der Revolution in Wien

„Der schwarze Adler sinkt herab” – Die Revolution in Berlin

„Dem König Schach” – Die Frankfurter Nationalversammlung

„Up ewig ungedeelt” – Die schleswig-holsteinische Frage

„Es krachen die Gewehre” – Das Ende der Revolution

„Geschlagen, nicht besiegt” – Der Pyrrhussieg der Reaktion

Anhang

Zeittafel

Quellen

Einleitung

„Des Glückes Unterpfand“

„Mut, Mut, Ihr Deutschen! Wir wollen mit Gottes Hilfe unser Vaterland befreien!“, lautet das vollständige Zitat, das dem vorliegenden Buch als Titel dient. Der Ausspruch stammt von Ulrich von Hutten, dem humanistisch gebildeten Zeitgenossen Martin Luthers, und steht am Anfang des über dreihundert jährigen Ringens zwischen der alten und der neuen Staatsform der Deutschen: dem Heiligen Römischen Reich des Mittelalters und der bürgerlich demokratischen Nation der Neuzeit.

Wir Heutigen können nicht mehr Gottes Hilfe für die Politik in Anspruch nehmen, wir müssen die Verantwortung selber tragen. Auch dazu bedarf es Mut, zumal die permanente Krise unserer Zivilisation nicht in den politischen, sondern den ökonomischen Strukturen ihren Ursprung hat. Das ist insofern wichtig, als unser Weltverständnis mit der Revolution der Medien nicht Schritt gehalten hat, im Gegenteil. Es ist in der Regel nicht global, sondern regional, meist lokal orientiert, von einem „planetarischen Bewusstsein“ (Ernst Jünger) kann selbst bei den Eliten keine Rede sein. Das ist umso bedeutungsvoller, als wir all das, was nicht das persönliche Umfeld betrifft, über die Medien erfahren, das heißt aus zweiter und dritter Hand. Technologisch gesehen leben wir im 21. Jahrhundert, politisch dagegen in der Postkutschenzeit. Denn die Werte, an denen wir uns orientieren, sind rund dreihundert Jahre alt, sie stammen aus der Aufklärung des frühen 18. Jahrhunderts. Zu ihnen gehören auch die „Menschenrechte“, von denen die amerikanische Unabhängigkeitserklärung spricht. Ausdrücklich erwähnt werden in diesem Dokument von 1776 das Recht auf Leben, Freiheit und Glück, wobei unter Glück das Besitzstreben nach materiellen Gütern verstanden wird, das seitdem die eigentliche Legitimation der bürgerlichen Industriegesellschaft ausmacht.

„O Jahrhundert, o Wissenschaft. Es ist eine Lust zu leben!“ Auch dieser enthusiastische Ausruf stammt von Ulrich von Hutten und ist 500 Jahre alt: „Die Studien blühen auf, die Geister regen sich. Barbarei, nimm einen Strick und mach dich auf die Verbannung gefasst!“ Kein anderes Wort aus der Überlieferung jener Zeit drückt so kurz, so prägnant die damalige Hoffnung auf Freiheit aus, wie dieses. Nicht nur ein neues Jahrhundert, ein neues Zeitalter schien für die Deutschen angebrochen zu sein.

Wie steht es damit bei uns nach über sechzig Jahren Bundesrepublik und mehr als zwanzig Jahren Wiedervereinigung? Ist es wahr, dass auch wir in einer neuen Epoche der Geschichte leben, die der US-Präsident Franklin D. Roosevelt einst die „One World“ genannt hat? Wie vereinigen wir Heutigen unsere Erfahrungen der Vergangenheit mit den Hoffnungen der Zukunft? Neben den hinter uns liegenden Jubiläen, zu denen das hundertsechzigjährige Gedenken an die demokratischen Anfänge in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 gehörte, gibt es noch ein speziell literarisches Jubiläum, dem dieses Buch seine Entstehung verdankt: Vor fünfunddreißig Jahren kam es zwischen dem Zweiten Deutschen Fernsehen und „stern tv“, der damaligen Produktionsfirma von Gruner+Jahr, sowie dem Athenäum-Verlag zu einer besonderen Kooperation. Verabredet wurde zwischen dem „stern“ (Henri Nannen/Wolfgang Venohr) und dem ZDF ein historisch-politisches Projekt, das es so noch nicht gegeben hatte: Die sechsteilige Fernsehserie „Dokumente deutschen Daseins“ (DDD) und dazu das entsprechende Buch „Brennpunkte deutscher Geschichte“ (BDG). Die ersten beiden Sendungen waren so erfolgreich, dass die weiteren Teile vom späten auf den frühen Abend vorverlegt wurden. Das lag an der charakteristischen Mischung des Projekts, die ohne Beispiel war:

allgemeinverständliche Informationen

kontroverse Diskussionen (Sebastian Haffner - Hellmut Diwald)

anschauliche Spielszenen (historische Schlüsselsituationen)

authentische Lieder und Gedichte (Hamburger Rock-Gruppe „Ougenweide“)

Das große Echo führte dazu, dass mich der damalige „stern tv“-Chef Wolfgang Venohr fragte, ob ich nicht an den weiteren Drehbüchern mitarbeiten und parallel zu den TV-Sendungen ein entsprechend populäres Geschichtsbuch schreiben wolle. Ich sagte zu und versuchte den Text so abzufassen, dass er nicht bloß die Meinung des Autors wiedergab, sondern sich durch die Quellen gleichsam selber erzählte. Dabei war entscheidend, dass angesichts der damaligen Teilung des Landes der schwarz-rot-goldene Faden der gesamtdeutschen Geschichte sichtbar wurde. Er sollte zeigen, dass die Deutschen nicht bloß ein Volk von Untertanen gewesen waren, wie sie jahrzehntelang geglaubt hatten, sondern ebenso wie andere Völker eine eigene revolutionäre Freiheitsgeschichte hatten, in der es um „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ging. Das kam schon im Vorwort des Buches zum Ausdruck, das im Frühjahr 1978 erschien: „Es ist an der Zeit“, hieß es da, „Geschichte als Identifikationsmittel zu entdecken, nämlich als einzig brauchbare Auskunft, einer ,kaputten‘ Nation ihre Personalität, ihre Identität wieder zu geben“. Dazu gehörte, dass das Buch die über vier Jahrhunderte währende Grundspannung der deutschen Geschichte deutlich zu machen versuchte:

Reformation und Bauernkriege (16. Jahrhundert)

Glaubensfreiheit und Dreißigjähriger Krieg (17. Jahrhundert)

Aufklärung und Absolutismus (18. Jahrhundert)

Revolution und Restauration (19. Jahrhundert)

Dabei zeigte sich, dass die schwarz-rot-goldenen Farben der deutschen Flagge bereits in den Bauernkriegen von 1525 als nationales Symbol auftauchten. Schon damals standen sie für „Einigkeit und Recht und Freiheit“, doch spielten sie wegen des Scheiterns der Bauern bis zur bürgerlichen Revolution von 1848/49 keine bedeutende Rolle mehr. Erst hundert Jahre später setzten sie sich mit der Gründung der Bundesrepublik endgültig durch. Vierzig Jahre darauf erschienen sie sogar als die Farben einer weltpolitischen Wende, nämlich der in Frieden und Freiheit wieder gewonnenen Einheit Deutschlands.

Damit repräsentiert Schwarz-Rot-Gold heute nicht nur das deutsche Schicksal, sondern steht zugleich für die einzige friedliche Revolution, die die Weltgeschichte kennt: die Wende von 1989/90. Damals wurde nicht allein Deutschland, sondern auch das geteilte Europa wieder vereinigt, der Jahrzehnte lange Kalte Krieg, der die Welt gespalten hatte, war vorbei. So führt das Buch nicht nur durch die freiheitliche Tradition der deutschen Geschichte, es führt auch mitten hinein in die politischen Probleme der Gegenwart. Was fünfhundert Jahre hindurch von Generationen erkämpft wurde, bedeutet nicht nur historische Vergangenheit, sondern ebenso verpflichtende Zukunft. Denn auch für die Welt im Ganzen geht es heute um Einheit in Frieden und Freiheit. Zwar hat das Buch „Mut, Mut, ihr Deutschen!“ nicht Weltgeschichte geschrieben, dafür aber die unumkehrbare Tendenz zur globalen Einheit um mehr als ein Jahrzehnt vorweggenommen. Die grundlegende Erfahrung lautete damals wie heute: Grenzen haben keine Zukunft, weil die Zukunft keine Grenzen hat.

Der Text wurde durchgesehen und überarbeitet, im Charakter aber nicht verändert. Dabei verzichtete ich auf die zahlreichen Bilder und Karten, die das Buch bei Erscheinen enthalten hatte. Die Neuausgabe sollte als „Reader“, als „erlesener“ Text, erscheinen und nicht mit einem der historischen Bilderbücher verwechselt werden, die alljährlich neu auf den Markt gebracht werden. Hinzu kam, dass die deutsche und europäische Wiedervereinigung, die das Projekt vor dreißig Jahren als Hoffnung getragen hatte, seit langem zu unserem Alltag gehört, so unvollkommen die Einheit auch sein mag. Entsprechend wurde der Titel geändert – ein Ruf, der uns aus der Vergangenheit erreicht, zugleich aber in die Zukunft weist. Im Übrigen gehört es zum Schicksal des Buches, dass es in den vergangenen dreißig Jahren selber zu einem Teil jener Freiheitsgeschichte wurde, deren schwarz-rot-goldenen Faden es sichtbar zu machen versucht. Damit zählt es zu jenen Werken, die Geschichte nicht nur geschrieben, sondern auch gemacht haben. Längst geht es ja nicht mehr um historische Bildung, es geht um die sich stets neu bildende Historie, um die so gefährdete Humangeschichte überhaupt.

Allerdings plagen uns inzwischen Sorgen, die das Pathos der Freiheit in anderem Licht erscheinen lassen als dem der vergangenen Jahrhunderte. Die Teilung Europas war das Resultat des Zweiten Weltkriegs, sie erfolgte aufgrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Heute leben wir seit Jahrzehnten in Frieden und Freiheit, zu deren Gefahren politische Trägheit und Indifferenz gehören. Mitunter bilden wir uns sogar ein, dass das, was die Geschichte herbeiführte, ausschließlich unser Verdienst, die eigene Leistung sei. Da verändern dann die Tatsachen die Umstände, die zu ihnen führten, und was ehemals offene Zukunft war, erscheint im Rückblick als faktische Notwendigkeit. Hinzu kommt, dass das, was wir den Markt nennen, inzwischen als einzige Klammer gilt, die unsere fragile Hightech-Welt noch zusammenhält.

Sollte dem Chaos globaler Verteilungskämpfe am Ende auch die soziale Marktwirtschaft zum Opfer fallen, würden selbst jene Vertrauensressourcen verspielt, die wir nicht uns, sondern den vorausgegangenen Generationen verdanken. Auch diesen gegenüber gibt es eine Verantwortung, die vor der Zukunft für die Zukunft gilt, nicht anders als gegenüber den kommenden Geschlechtern auch. Der Fluchtpunkt der Geschichte liegt nicht in der Vergangenheit, die nicht veränderbar ist, er liegt in der Zukunft, im Überleben der Spezies humana insgesamt. Die entscheidende Frage lautet daher nicht, wie es gestern um sie stand, sondern ob es für sie noch ein Morgen gibt. Die Existenz der menschlichen Gattung ist kein „Datum“, sondern ein „Faktum“, keine natürliche Vorgabe, sondern eine politische Aufgabe, die ständig weltweiter politischer Anstrengungen bedarf.

Eine der wichtigsten Überlebensressourcen ist die Fähigkeit, sich an die Vergangenheit zu erinnern, an die eigene, wie die allgemeine, die geschichtliche Biografie. So versucht die Psychopathologie in Fällen starker Identitätsschwankungen das Bewusstsein eines Patienten durch biografische Anamnese zu stabilisieren. Ähnlich der Historiker, sofern er sich als Arzt seiner Zeit für das kollektive Gedächtnis verantwortlich fühlt. Bei „Mut, Mut, ihr Deutschen!“ kommt noch die Hommage an jene Persönlichkeiten hinzu, die das Gesamtprojekt vor fünfunddreißig Jahren ins Leben gerufen und mit gestaltet haben, inzwischen aber verstorben sind: Henri Nannen, Wolfgang Venohr, Sebastian Haffner, Hellmut Diwald, Joachim Fest und Dietrich Pinkerneil, der damalige Leiter des Athenäum-Verlags. Dankbar denke ich an die Gespräche mit ihnen zurück, an die Zusammenarbeit bei dem Projekt überhaupt.

Die Geschichte vom Reich zur Nation bricht mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 ab. Was folgt, ist die hundertjährige Geschichte der Zerstörung der Nation, die hier nicht mehr zu thematisieren war. An ihren Untergang müsste sich die Geschichte von der Nation zur Region, zur transnationalen Welt-Region, anschließen, die für uns Deutsche Europa heißt. Aber das wäre ein Vorhaben, bei dem zuvor geklärt werden müsste, was denn unter dem „European way of life“ zu verstehen ist. Nach zwei Weltkriegen kann die Botschaft der deutschen, der europäischen Politik, nur der Frieden sein. Das gilt vor allem seit dem „9.11.“ (1989), der zum Symbol der ersten friedlichen Weltrevolution wurde. Dem folgte zwölf Jahre später der „11.9.“ (2001), der in der Sache die Umkehr vom Frieden zum Krieg bedeutete und im Kampf gegen den Terrorismus eine neue Form des militärischen Konflikts erprobte: den verdeckten Welt-Bürger-Krieg in Permanenz.

Sollte der Unterschied zwischen Europa und den USA tatsächlich in der Umkehrung des 9.11. zum 11.9. liegen? Dann wäre er insofern von „Gestern“, das heißt Historie, als der Krieg als solcher keine Zukunft mehr hat. Allerdings lässt sich noch ein anderes Charakteristikum des „European way of life“ ausmachen: Einigkeit und Recht und Freiheit gelten nicht nur für Deutschland als des „Glückes Unterpfand“, sondern für das Vater- und Mutterland aller Menschen, für den Planeten Erde insgesamt. „Glück“ bedeutet aber in Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ nicht wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung allein das Streben nach Besitz materieller Güter, sondern jenen Frieden, der „höher ist als alle Vernunft“, da er jeder möglichen Gestalt von Vernunft schon zugrunde liegt. Mithin stellt im Zeitalter des globalen Overkills der Friede nicht nur die Voraussetzung für Einigkeit und Recht und Freiheit dar, sondern die Bedingung der Politik in der „One World“ überhaupt.

Im selben Maße, wie „Mut, Mut, ihr Deutschen!“ den Freiheitskampf von Gestern zur Sprache bringt, zielt das Buch auf das Ringen um den Frieden von Morgen. Der schmale Entscheidungsspielraum, den wir Gegenwart nennen, besteht aus den jeweiligen Vorgaben der Vergangenheit und den entsprechenden Aufgaben der Zukunft. Zu ihnen gehört die Überwindung jenes Begriffs von Politik, dem das atavistische Freund-Feind-Verhältnis zugrunde liegt. Dieses widerspricht nicht nur dem Stand humaner Evolution, es widerspricht auch dem gewaltigen Aufgabenkomplex, der sich hinter dem Titel „Terranautik“ verbirgt. Geht es doch darum, sich mit der Vergangenheit so auseinander zu setzen, dass menschliche Zukunft in und mit der Natur auch Morgen noch möglich ist. Die Welt von Gestern heißt Ökonomopolis, die Welt von Morgen Ökumenopolis.

F. K. (2012)

I

„MUT, MUT, IHR DEUTSCHEN!“

Der Aufstand der Bauern

1. „Tödlich erkrankt an Haupt und Gliedern“ Das Deutsche Reich im Umbruch

„Wenn jemand die Wahrheit sagen will“, schrieb im Jahre 1438 der Kardinal Äneas Silvius, „so gibt es kein Volk in Europa, dessen Städte schmucker oder dem Anblick nach erfreulicher sind als deutsche.“

Das war ein hohes Lob für die Deutschen zu Beginn ihrer modernen Geschichte. Dabei befand sich das Gebiet, das man Deutschland nannte, mitten in einer Zeit des gärenden Umbruchs: an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit.

Ein Jahr zuvor, 1437, war Kaiser Sigismund gestorben, ohne einen männlichen Erben zu hinterlassen. Ihm folgte 1440 sein Vetter Friedrich. Von nun an blieb die deutsche Kaiserkrone über dreieinhalb Jahrhunderte bis zum Ende des ersten Deutschen Reiches im Jahre 1806 beim Hause Habsburg.

Kaiser Friedrich III. regierte von 1440 - 1493 über ein halbes Jahrhundert lang. Es war eine Zeit tiefer Spannungen und innerer Widersprüche:

In Italien stand die Renaissance in voller Blüte, und in Deutschland bewirkte die humanistische Bewegung ebenfalls eine Erneuerung der antiken Bildung und Kunst. Die Wissenschaften nahmen einen bis dahin ungeahnten Aufschwung. Angeregt durch das Studium der griechischen Philosophie revolutionierte der deutsche Domherr Nikolaus Kopernikus aus Thorn das gesamte mittelalterliche Weltbild. Er hatte entdeckt, dass sich nicht, wie man bisher geglaubt hatte, die Sonne um die Erde drehe, sondern umgekehrt: dass die Sonne „wie auf einem königlichen Stuhl thronend, das sie umkreisende Geschlecht der Sterne“ beherrsche. Die Erfindung der Buchdruckerkunst durch den Deutschen Johannes Gutenberg sorgte für die rasche Verbreitung von Informationen aus allen Bereichen des Lebens.

Unterdessen befuhren die Schiffe der Spanier und Portugiesen die Weltmeere, und eines von ihnen umrundete zu Beginn des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte den Erdball. Der Genueser Christoph Kolumbus entdeckte Amerika, Vasco da Gama den Seeweg nach Indien, der Spanier Cortes eroberte in grausamen Feldzügen das Reich der Azteken in Mexiko, sein Landsmann Pizarro das der Inkas in Peru. Unvorstellbare Mengen an erbeutetem Gold und Silber wurden nach Europa geschafft, und mit diesen Beuteschiffen kamen zugleich auch bis dahin unbekannte Gewürze und Früchte aus Übersee. Mais und Kartoffeln sowie die vielbegehrten Produkte Tabak, Kakao, Vanille wurden von nun an in den europäischen Häfen umgeschlagen. Wirtschaft und Handel blühten auf, das Geldwesen begann die älteren Zahl- und Tauschformen zu verdrängen. Durfte man dem Reisebericht eines Italieners aus dem Jahre 1517 Glauben schenken, dann kannten die Deutschen an der Schwelle des 16. Jahrhunderts weder soziale noch geistig-religiöse Probleme:

„Es gibt kein noch so kleines Dorf“, hieß es, „das nicht wenigstens eine schöne Kirche hätte mit so schönen und kunstreichen Glasfenstern, als man sich nur denken kann ... Dem Gottesdienst wenden sie soviel Aufmerksamkeit zu, und so viele Kirchen werden neu erbaut, dass ich, wenn ich die Pflege des Gottesdienstes in Italien damit vergleiche und daran denke, wieviele arme Kirchen hier ganz in Verfall geraten, die deutschen Länder nicht wenig beneide und im innersten Herzen Schmerz empfinde über das geringe Maß an Religion, das man bei uns Italienern findet.“

Doch der schöne Schein trog. Das zurückliegende 15. Jahrhundert war nicht nur ein Zeitalter der großen Entdeckungen in Wissenschaft und Wirtschaft gewesen, sondern auch das der verhinderten Reformen in Kirche und Staat. Im Südosten des Deutschen Reiches wuchs die Türkengefahr; im Westen gab es ständigen Streit mit Frankreich. Als 1414 das große Reformkonzil in Konstanz zusammentrat, gab es gleichzeitig drei Päpste, die ständig gegeneinander regierten und die verworrene Situation innerhalb der allumfassenden katholischen Kirche für die europäische Öffentlichkeit sichtbar demonstrierten. Das Konzil, auf dem zum ersten Male in nationalen Fraktionen abgestimmt wurde, drohte sich angesichts der Reformforderungen des tschechischen Theologieprofessors Johannes Hus aus Prag sogleich wieder aufzulösen, falls König Sigismund sich nicht bereit fand, den Rebellen Hus zum „Ketzer“ zu erklären und dem Feuergericht zu überantworten.

Der König gab dem Druck des reformfeindlichen Klerus widerwillig nach, und Hus wurde hingerichtet. Die direkte Folge seines Märtyrertodes waren die böhmischen Hussitenkriege, in denen sich religiöse und nationaltschechische Motive miteinander vermischten. Sie konnten erst durch das zweite große Reformkonzil von Basel (1431-1449) beendigt werden, hinterließen jedoch in der Erinnerung der Zeitgenossen tiefe Spuren. Denn Hus war nach dem englischen Professor Wiclif aus Oxford bereits der zweite Theologe, der es gewagt hatte, an der unumschränkten Macht der kirchlichen Hierarchie zu rütteln.

Auch Wiclif hatte bereits die dogmatische Sakramentslehre der Kirche verworfen und die Bibel zur alleinigen Grundlage des Glaubens erklärt, ohne jedoch die Heilsbedeutung der Kirche selbst grundsätzlich in Frage zu stellen. Als sich aber ein Bauernaufstand auf die von ihm verkündete Gleichheit aller Christen vor Gott berief, wurden Wiclifs Lehren verworfen und er selber seines Amtes enthoben. Selbst die reformerischen Kräfte innerhalb der Kirche standen dem neuartigen Phänomen der Verbindung von theologischem und politischem Protest hilflos gegenüber, weil auch sie noch in den universalen Kategorien der mittelalterlichen Kirche dachten und die ersten Anzeichen eines erwachenden nationalen Bewusstseins in Europa falsch deuteten, indem sie sie lediglich unter der Perspektive theologischer Ketzerei betrachteten.

Ähnlich der Kirchenreform erging es auch der Reichsreform, um die sich schon Kaiser Friedrich III. vergeblich bemüht hatte, bevor sein Sohn Maximilian I. im Jahre 1495 einen Kompromiss durchzusetzen vermochte. Denn am Ende des Jahrhunderts war die Einsicht gewachsen, dass „eine tödliche Krankheit das Deutsche Reich befallen hat, der der Tod folgt, wenn ihr nicht durch ein plötzliches heilsames Gegengift begegnet wird“, wie der bedeutendste Philosoph seiner Zeit, Nikolaus von Kues, schon Jahrzehnte zuvor formuliert hatte.

Vor allem der innere Friede im Reich war zu einem Problem geworden. Die Reichsritter, deren wirtschaftliche und soziale Stellung durch das Aufkommen der Söldner- und Landsknechtsheere geschwächt war, suchten sich in ständigen Fehden und Raubzügen gegen die erstarkenden Städte und Landesfürsten für die Minderung ihres politischen Einflusses zu entschädigen. Aber auch die Interessengegensätze der geistlichen und weltlichen Reichsstände untereinander, der Fürsten und Bischöfe gegen den Kaiser, der Städte gegen die Fürsten, der Ritter wiederum gegen die Städte, waren viel zu krass, als dass in diesem kaum gebändigten Chaos auf Dauer ein wirksamer „Landfriede“ zustande kommen konnte. Den Reformwünschen nach einer zentralen Reichsregierung mit eigenen Beamten und einer allgemeinen Steuer, dem „gemeynen Pfennig“, erging es nicht anders; sie blieben Papier. Die einzigen konkreten Ergebnisse der Reichsreform bestanden in der Erneuerung der Verwaltung, in der Einteilung des Reiches in sogenannte Kreise, die in etwa den Gebieten der Landesfürsten entsprachen, sowie in der Errichtung des Reichskammergerichts, ein von der Person des Kaisers unabhängiger oberster Gerichtshof, der je zur Hälfte mit gelehrten Richtern und mit Laien besetzt war.

Konnte man glauben, dass ein derart morsches Gebäude den Stürmen einer Zeitenwende standhalten würde?

2. Der „schlafende Kaiser“ Das Kaisertum zwischen Mythos und Wirklichkeit

Alle Hoffnungen auf eine durchgreifende Reform von Kirche und Reich richteten sich in den breiten unteren Bevölkerungsschichten Deutschlands auf den Kaiser. Da der einfache Mann das Gegeneinander der geistlichen und weltlichen Reichsstände im diplomatischen Ränkespiel zwischen Kaiser, Papst und ausländischen Mächten nicht durchschauen konnte, entstand angesichts der ausweglosen Realität der Mythos vom künftigen, vom kommenden Kaiser, der die wahre Wiedergeburt des alten deutschen Reiches heraufführen sollte.

„Ich habe gelesen vor vielen Jahren“, reimte 1521 ein Bauer aus Weißenburg, „ein König soll werden geboren, sollte machen eine neue Reformation...“

Dieser Mythos von Kaiser und Reich verband sich im Laufe der Zeit mit der drei Jahrhunderte alten Friedrichsage aus der Zeit des Staufers Barbarossa und kündete vom „schlafenden Kaiser“, der in der höchsten Not zurückkehren und die alte Herrlichkeit des Reiches ein für allemal wiederherstellen werde. Er entzündete sich vor allem an Friedrich III., den die Zeitgenossen weit besser beurteilt haben als die Historiker unserer Tage. Aber Kaiser „Friedrich starb und mit ihm gingen die Weissagungen unter“, hieß es 1493 resigniert im Todesjahr des Kaisers; doch hier irrte der Chronist. Denn das Volk übertrug seine Hoffnungen auf die Nachfolger Maximilian I. und Karl V., und nur kurze Zeit später schon verlautete daher:

„Es wird aufgehen ein König, züchtig von Angesichte. Viele sagen, dass es sei der König Friedrich III.; ich will aber haben, dass es Maximilian sei.“

Ein Flugblatt von 1537 hielt dagegen an Friedrich III. fest und erklärte, „benannter Kaiser Friedrich“ werde wiederkommen, und zwar noch „bei dieses hochlöblichen Kaisers Zeiten, der sich schreibt Karolus V., und soll ihm helfen gewinnen das Kaiserthum zu Konstantinopel, Jerusalem und das heilige Grab ... Dann werden alle Christen erfreuet werden, Te deum laudamus – Lobgesang singen, mit lauter Stimme rufend: Kaiser Friedrich ist kommen! Dann wird sich alle Welt zu unserem hochlöblichen Kaiser gesellen und Freundschaft mit ihm machen ... Dann wird das gülden Alter und die gülden Zeit erfüllt und herfürkommen. Also und dergestalt wird Kaiser Friedenreich kommen, dass Fried und Einigkeit wird sein in aller Welt...“

Nach einem goldenen Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit sehnten sich in Deutschland vor allem die Bauern. Denn der Druck der geistlichen und weltlichen Fürsten, die für das alte überkommene deutsche Recht das neue, auf den Universitäten gelehrte römische Recht zu setzen begannen, hatte von Jahr zu Jahr zugenommen und vornehmlich den „gemeynen Mann“ auf dem Lande getroffen. Im Jahre 1476 schon hatte Hans Böheim, genannt das „Pfeiferhänslein“, 34000 Bauern im Namen der Jungfrau Maria zur Erhebung aufgerufen. Um die Jahrhundertwende begann es überall auf den Dörfern zu rumoren. Bauernverschwörungen entstanden. Der „Bundschuh“, das typische Kleidungsstück, das nur der Bauer trug, schmückte die Sturmfahnen bäuerlicher Aufstandsbewegungen. Es kam zu lokalen Empörungen und Erhebungen. Gefechte und Scharmützel fanden statt. Der sozialrevolutionäre Aspekt der Aufstände war unübersehbar. Während die Städte blühten, eine Akkumulation aller Güter im Zeichen des Frühkapitalismus stattfand, forderten die Bauern die primitivsten Lebensrechte für sich:

Befreiung von der Leibeigenschaft, Freiheit der Wald-, Jagd- und Fischereinutzung sowie die Wiederherstellung oder Erhaltung des guten alten Rechts der bäuerlichen Selbstverwaltung: „Die göttliche Gerechtigkeit soll ihren Lauf han.“

3. Die „Wittembergisch Nachtigall“ Luther weckt die deutsche Nation

„O Jahrhundert, o Wissenschaft. Es ist eine Lust zu leben“, rief der junge humanistisch gebildete Ritter Ulrich von Hutten im Jahre 1518 begeistert aus: „die Studien blühen auf, die Geister regen sich. Barbarei, nimm einen Strick und mach dich auf die Verbannung gefasst!“

Kein anderes Wort aus der umfangreichen Überlieferung jener Zeit drückt so kurz, so prägnant die Stimmung und die Hoffnung aus, die die Deutschen zu Beginn der neuen Zeit beseelten. Nicht nur ein neues Jahrhundert – ein neues Zeitalter schien angebrochen zu sein!

Ein Jahr zuvor, am 31. Oktober 1517, hatte der Augustinermönch und Professor der Theologie, Dr. Martin Luther, an der Schlosskirche zu Wittenberg seine 95 Thesen angeschlagen, die mit den Mißständen der Kirche unbarmherzig ins Gericht gingen. Sie wirkten in Deutschland wie eine Explosion! Luther war, ohne dass er dies geahnt oder gar beabsichtigt hätte, zum Sprachrohr all jener geworden, die spürten, dass es so wie bisher auf keinen Fall weitergehen konnte. Hans Sachs, der singende und dichtende Schustermeister aus Nürnberg, nannte Luther die „Wittembergisch Nachtigall, die man itzt höret überall“:

„Wacht auff! es nahent gen den tag.

Ich hör singen im grünen hag

Ein wunnigkliche nachtigall,

Ir stim durchklinget berg und thal.

Die nacht neigt sich gen occident,

Der tag geht auff von orient,

Die rotprünstige morgenröt

Her durch die trüben wolcken göt,

Darauß die liechte sonn thut blicken...

Nun das ir klärer möcht verstan,

Wer die lieblich nachtigall sey,

Die uns den hellen tag außschrei:

Ist doctor Martinus Luther,

Zu Wittenberg Augustiner,

Der uns auffwecket von der nacht... “

Luther hatte seine Thesen in lateinischer Sprache verfasst und gehofft, einen gelehrten Disput über die Situation der Kirche provozieren zu können. Vor allem lag ihm am Kampf gegen den schwunghaften Ablasshandel, durch den die Kirche unter Ausnutzung der Sündenangst ihrer Gläubigen glänzende Geschäfte machte. Denn die römische Kurie war in ständiger Geldnot, und der Papst hatte daher zu Beginn des Jahrhunderts einen großen allgemeinen Ablass ausgeschrieben, durch den der Neubau der Peterskirche in Rom finanziert werden sollte. Für unterschiedliche Geldsummen konnte jedermann einen solchen Ablassbrief erwerben, der ihm garantierte, dass er von allen Sündenstrafen der Kirche befreit war. Aus keinem Land Europas pressten Roms Ablassprediger so gewaltige Summen heraus wie aus Deutschland! So artikulierte Martin Luther die allgemeine Stimmung im deutschen Volke, als er in seinen Thesen erklärte:

„Die werden samt ihren Meistern zum Teufel fahren, die meinen, durch Ablassbriefe ihrer Seeligkeit gewiss zu sein;“ so die 32. These. Im folgenden ging Luther aber entschieden weiter:

„Jeder wahre Christ, gleichviel ob lebendig oder tot, hat an allen Gütern Christi und der Kirche teil; Gott hat sie ihm auch ohne Ablassbrief gegeben“, lautete der 37. Satz; und die 62. These besagte:

„Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“

Das war eine Sprache, wie man sie bis dahin im Deutschen Reich nicht vernommen hatte! Schnell waren die Thesen ins Deutsche übersetzt und machten überall die Runde. Luther erschrak über seine eigene Wirkung, der Papst jedoch wertete die Angelegenheit zunächst lediglich als reines „Mönchsgezänk“ – ein eklatanter Beweis dafür, dass in der Kirche die Zeichen der Zeit noch immer nicht verstanden wurden.

„Luther mag Recht haben, soviel er will, aber er soll mir meine Einkünfte nicht schmälern“, sagte der Papst in entwaffnender Offenheit. Bald aber musste selbst er erkennen, dass es sich um weitaus mehr handelte als um bloßes „Mönchsgezänk“.

Die Kirche ergriff ihre Maßnahmen. Zunächst wurde Luther in gelehrte Diskussionen verwickelt, in denen er nach allen Regeln dialektischer Kunst dahin gebracht werden sollte, sich selbst zu widersprechen, um dann seine Thesen offiziell zu widerrufen. Für solche Verfahren gab es in der katholischen Kirche ausgebildete Spezialisten, die über das gesamte theologische Repertoire spätscholastischer Rabulistik verfügten. Bei Luther verfing diese Methode nicht; im Gegenteil. Im Streitgespräch mit dem hochberühmten Theologen, Professor Dr. Johann Eck, verschärfte er 1519 seine Kritik und erklärte auf den Vorwurf, er wiederhole nur die kritischen Fragen des Engländers Wiclif und des Böhmen Johann Hus, mit Bestimmtheit:

„Es kümmert mich nicht, ob dieser Zweifel von Wiclif oder Hus stammt ... Kein gläubiger Christ kann gezwungen werden, etwas über die Heilige Schrift hinaus anzunehmen; denn sie ist in Wahrheit das göttliche Recht, es sei denn, es käme eine neue beglaubigte Offenbarung.“

Dieser Angriff traf das Fundament, auf dem die Autorität der damaligen Kirche ruhte. Er trug dem Theologieprofessor aus Wittenberg die Androhung des römischen Bannes ein. Luther zog mit Kollegen und Studenten vor das Elstertor von Wittenberg und verbrannte dort die päpstliche Schrift.

1520 predigte Luther in deutscher Sprache und verkündete die „Freiheit eines Christenmenschen“. Der größte Teil der öffentlichen Meinung in Deutschland, ja selbst mancher der Reichsfürsten, stellte sich auf die Seite des Wittenbergischen Protestanten. Dafür waren nicht nur religiöse, sondern nicht zuletzt politische und wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend.

Luther selber war dafür keineswegs blind, sondern unterstrich 1520 in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ zustimmend die allgemeine antirömische Motivation:

„Ich bin der Ansicht, dass Deutschland jetzt weit mehr gen Rom gibt dem Papst denn vor Zeiten den Kaisern. Ja, es meinen etliche, dass jährlich mehr denn dreimal hunderttausend Gulden aus Deutschland gen Rom kommen, rein vergebens und umsonst, wofür wir nichts denn Spott und Schmach erlangen; und wir verwundern uns noch, dass Fürsten, Adel, Städte, Stifte, Land und Leute arm werden; wir sollten uns verwundern, dass wir noch zu essen haben.“

Luther verband in dieser Schrift seine theologischen Auffassungen mit den politischen Interessen der Fürsten – ein Schritt von geschichtlicher Tragweite. Denn die Landesherren, die rasch begriffen, dass sie in ihm einen mächtigen Verbündeten besaßen, reagierten sofort. Als im Jahre 1521 der in Aachen gekrönte Kaiser Karl V. zum ersten Male deutschen Boden betrat, forderten sie, Luther solle auf dem bevorstehenden Reichstag zu Worms erscheinen:

„...der deutschen Nation, unserem christlichen Glauben und allen Ständen zu Not, Nutz und Gutem.“

4. „Billig genießen“ Jakob Fugger - Bankier von Kaiser und Reich

Kaiser Karl V., Enkel Maximilians I., war erst zwei Jahre zuvor in Frankfurt von den deutschen Kurfürsten zum Kaiser gewählt worden. Nicht nur Luther, sondern die breiten Volksschichten im ganzen Reich richteten große Hoffnungen auf das „jung, edel Blut“ (Luther). Denn es wurde im damaligen Deutschland zwar gut verdient, jedoch nur bei wenigen, nämlich bei der sich neu bildenden städtischen Bürgerschicht, dem Patriziertum. Neben der Masse der Bauern aber ging es vor allem den Handwerkern und Kleinbürgern in den Städten schlecht. Sie kamen gegen die ungeheure Wirtschafts- und Finanzkraft der großen Bank- und Handelshäuser, wie etwa der Fugger und Welser in Augsburg, nicht an. In einer Klage an Kaiser Karl hieß es kurz vor Ausbruch des Bauernkrieges:

„Darum, edler König, nimm von mir an die Klag' an statt deutscher Nation, dass der Kramer nit kann verkaufen, nach Gewinn, das ihm tut frommen. Seit die Gesellschaften sind aufkummen, ist gemeiner Nutz ganz gestorben. Treu und Glaub' selten sind g'worden.“

Auch damals arbeiteten die hohe Politik und das große Geld Hand in Hand. Karl V. hatte den Wahlkampf um die Stimmen der Kurfürsten gegen seinen Konkurrenten Franz I., König von Frankreich, nur dadurch gewinnen können, dass er sich bei den Fuggern hoch verschuldete. Das Haus der Fugger stellte damals ein Welthandelsunternehmen dar. Es gab innerhalb und außerhalb des Reiches kaum ein Geschäft, an dem es nicht direkt oder indirekt beteiligt war. Es war dies ein Frühkapitalismus von weitblickender Art. So schufen die Fugger mit der sogenannten Fuggerei in Augsburg den ersten sozialen Wohnungsbau in Deutschland, der es den Familien der Arbeiter und Angestellten ermöglichte, von einer Generation zur anderen durch die Jahrhunderte hindurch billig wohnen und für ihre Herrschaft dankbar beten zu können.

Kaiser Karl kostete die Krone etwa eine Million Gulden an Wahlgeschenken und sonstigen Bestechungsgeldern; das waren umgerechnet etwa 45 Millionen Mark – eine für die damalige Zeit geradezu phantastische Summe! Davon stammte über die Hälfte aus dem Hause der Fugger; exakt 543.585 Gulden. In einem Brief erinnerte Jakob Fugger 1523 den Kaiser ungeniert an seine von ihm geleisteten Dienste:

„Es ist auch bekannt und liegt am Tage, dass Eure Kaiserliche Majestät die Römische Krone ohne meine Hilfe nicht hätten erlangen können, wie ich denn solches mit eigenhändigen Schreiben der Kommissare Eurer Majestät beweisen kann. So habe ich hierin auch meinen eigenen Nutzen nicht gesehen. Denn wenn ich hätte vom Hause Habsburg abstehen und Frankreich fördern wollen, so hätte ich viel Geld und Gut erlanget, wie mir ein solches auch angeboten worden ist. Welcher Nachteil aber hieraus Eurer Kaiserlichen Majestät und dem Hause Österreich erwachsen wäre, das haben Eure Majestät aus hohem Verstande wohl zu erwägen.“

Aber so uneigennützig, wie der Fugger vor dem Kaiser und der Öffentlichkeit erscheinen wollte, war er keineswegs. Wenig später schrieb er an Karl V.:

„Ich habe Seiner Gnaden gedient in Sachen, die niemand sonst tun konnte. Lasst es mich billig genießen.“

Der Kaiser trug seine Schulden dadurch ab, dass er dem Augsburger Konzern Privilegien einräumte, die ihm in zahlreichen Handels- und Wirtschaftszweigen eine Monopolstellung einbrachten – so im Erzhandel, den die Fugger bald im ganzen Reich konkurrenzlos beherrschten. Im Privileg von 1525, das ihnen als einzigem Unternehmen das Recht zusicherte, das begehrte Tiroler Silber aufzukaufen und dann mit hohen Gewinnen weiter zu veräußern, hieß es:

„Es gibt viele Vorkehrungen und Mittel, durch welche der Betrieb und die Unterhaltung der Bergwerke gefördert und gehoben werden kann. Am meisten hat sich bewährt, wenn Gold, Silber, Kupfer, Quecksilber und andere Metalle durch feste Regelungen zu bleibenden Preisen gekauft und verkauft werden; d. h. also, dass der Metallhandel nicht in viele Hände gerät, sondern sich in einer oder doch wenigen Händen befindet...“

Auch der Papst war Schuldner der Fugger. Die Firma überwies aus zahlreichen Kirchenprovinzen Abgaben nach Rom und unterhielt dort ein eigenes Büro, das den Verkauf der Pfründen an die deutschen Kirchenfürsten vermittelte. Die Leibgarde des Papstes, die Schweizer Landsknechtstruppe, wurde ebenfalls von den Fuggern bezahlt, und selbst das Recht, die päpstlichen Münzen zu prägen, hatten die Augsburger Kaufleute einige Jahre inne.

„Viele, wie der Welt Lauf, sind mir feind“, schrieb Jakob Fugger in einem Brief an den Herzog von Sachsen; „sagen, ich sei reich, und ich bin reich von Gottes Gnaden.“ Und er fügte hinzu: „Jedermann ohne Schaden.“

So das Selbstverständnis des reichsten Mannes seiner Zeit.

5. „Hier stehe ich...“ Luther vor dem Reichstag zu Worms

Die Beschwerde, die die Fürsten auf dem Reichstag zu Worms dem Kaiser vorlegten, war bis in die einzelnen Formulierungen hinein auf das Anliegen Luthers abgestimmt und sollte ihrer Forderung, den Reformator selber vor dem Reichstag zu Worte kommen zu lassen, Nachdruck verleihen:

„Es wird auch für hochbeschwerlich geachtet, dass päpstliche Heiligkeit täglich soviel Indulgenz und Ablass in Teutsche Nation schickt, dadurch die armen Einfältigen verführt und durch Behendigkeit um ihre Barschaft betört werden ... Wie notwendig wäre eine Reformation zu machen! Dieweil vielfältige Verdammnis der armen einfältigen Seelen erwächst, auch Teutsche Nation an Geld hoch und schwer erschöpft wird aus Ärgernis, so man bei dem geistlichen höchsten Haupt täglich sieht, achtet man es für nötig, dass eine Besserung und allgemeine Reformation geschehe, weiterem Unrat und Verderben unserer Nation zuvorzukommen.“

Es war ein ganz unerhörter Vorgang, dass ein einfacher Mönch vor die erlauchte Reichsversammlung zitiert wurde, zumal dieser Mönch vom Papst bereits gebannt war und dem Bann die kaiserliche Reichsacht zu folgen pflegte. Der Kaiser hatte sich darauf nur eingelassen, weil er hoffte, Luther zum öffentlichen Widerruf zwingen zu können. Doch Luther widerrief nicht! Obwohl ihm seine Freunde von der Reise dringend abgeraten hatten, begab er sich dennoch nach Worms und wurde unterwegs überall in Stadt und Land begeistert begrüßt.

Mit äußerster Sorge berichtete der päpstliche Gesandte nach Rom:

„Ganz Deutschland ist in hellem Aufruhr! Neun Zehntel sind für Luther; das letzte Zehntel droht zumindest Tod dem römischen Hofe.“

Davon war in Luthers unvergleichlichem Auftritt vor Kaiser und Reich keine Rede. Nicht ein politischer Revolutionär, sondern ein religiöser Reformator artikulierte zu Worms sein Credo:

„Sofern ich nicht durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder vernünftige Gründe überwunden werde“, sagte Luther, „so bin ich gebunden durch die Stellen der Heiligen Schrift, auf die ich mich stütze, und ist mein Gewissen in Gottes Wort gefangen. Widerrufen kann und will ich nicht, da gegen das Gewissen zu handeln weder ungefährlich noch redlich ist. Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir. Amen.“

Der Kaiser war empört.

„Ein einfacher Mönch, geleitet von seinem privaten Urteil, hat sich erhoben gegen den Glauben, den alle Christen seit mehr als tausend Jahren bewahrt haben, und er behauptet dreist, dass sich alle Christen bisher geirrt hätten“, schrieb Karl V. unmittelbar nach Luthers Auftritt eigenhändig nieder. „Ich habe also beschlossen, in dieser Sache alle meine Staaten, meine Freunde, meinen Leib und mein Blut, mein Leben und meine Seele einzusetzen. Und ich erkläre Euch, es gereut mich, dass ich es solange aufschob, gegen Luther und seine falsche Lehre vorzugehen. Ich will ihn nicht mehr hören.“

Der Kaiser brach trotz Ärger und Enttäuschung sein Wort nicht. Luther erhielt noch am selben Abend seinen Abschied und freies Geleit für die Rückreise. Der päpstliche Legat, Hieronymus Aleander, der ihn unbehelligt ziehen lassen musste, notierte zornbebend:

„So ist denn der ehrwürdige Schurke gestern drei Stunden vor Mittag mit zwei Wagen abgereist, nachdem er sich eigenhändig in Gegenwart vieler Personen viele Brotschnitten geröstet und manches Glas Malvasier, den er außerordentlich liebt, getrunken hatte.“

Am Schluss des Reichstages aber verhängte Kaiser Karl die Acht:

„Wir gebieten Euch Allen, dass Ihr den Martin Luther nicht hauset, hofet, speiset, tränket, noch ihm mit Wort und Werk irgendwelche Hilfe erweiset, sondern wo ihr ihn treffen möget, ihn gefangen nehmt und ihn Uns wohlbewahrt zusendet.“

Auf dem Rückweg wurde Luther im Auftrag seines Landesherrn, des Kurfürsten Friedrich der Weise von Sachsen, zum Schein überfallen und aus Sicherheitsgründen auf die Wartburg entführt. Hier begann er unter dem Pseudonym „Junker Jörg“ mit der Bibelübersetzung ins Deutsche, die aber erst 1534 vollendet wurde, da Luther nur in großen Abständen daran arbeiten konnte. Das Neue Testament in deutscher Sprache stellte er allerdings innerhalb eines Jahres fertig. Es erschien 1522 und fand eine ungeheure Verbreitung in ganz Deutschland!

Als der Ausgang des Reichstages und die Acht-Erklärung des Kaisers bekannt wurden, herrschte Angst und Sorge um das Schicksal des Reformators. Viele mochten ähnliche verzweifelte Gedanken hegen wie Albrecht Dürer, der auf einer Reise in die Niederlande am 17. Mai 1521, fünf Tage nach Luthers Abreise aus Worms, in sein Tagebuch notierte:

„Lebt er noch, oder haben sie ihn ermordet, das weiß ich nicht. O Gott, ist Luther tot, wer wird uns hinfort das heilig Evangelium so klar vortragen? O alle frommen Christen, helft mir beweinen diesen gott-geistigen Mann!“

6. „Mut, Mut, ihr Deutschen...“ Aufruf zum Widerstand

Nachdem das Wormser Edikt des Kaisers veröffentlicht worden war, kam es überall in Deutschland zu Unruhen. In Erfurt brach der „Pfaffensturm“ los, in Wittenberg traten die „Bilderstürmer“ auf. Unter dem Einfluss des Volkspredigers Thomas Müntzer, den Luther selber nach Zwickau empfohlen hatte, formierten sich die „Zwickauer Propheten“ – aus der Stadt vertriebene Handwerker, verarmte Kleinhändler und schwärmerische Intellektuelle. Sie lehnten selbst die Autorität der Bibel ab und beriefen sich auf das „innere Licht“ übersinnlicher Erfahrung, durch das Gott ihrer Ansicht nach allein wahrhaft erkannt werden konnte. Wer die Erleuchtung durch den Heiligen Geist erhalten hatte, gehörte zum Kreis der „Auserwählten“, die anderen zu den „Gottlosen“. Viele der Schwärmer erwarteten den Anbruch eines neuen Reiches, in dem alle Standesunterschiede beseitigt werden und eine Art kommunistischer Gütergemeinschaft herrschen sollte. Dieses Gottesreich auf Erden wollten sie notfalls unter Anwendung von Gewalt herbeizwingen helfen.

Auch unter den Reichsrittern gärte es, kam es zu Bündnissen und Fraktionen, die mit dem üblichen Fehde-Unwesen nichts mehr zu tun hatten. Auch sie erklärten sich für „lutherisch“, doch ging es ihnen nicht zuletzt um handfeste politische und wirtschaftliche Interessen. Sie suchten aus den Zeiten allgemeiner Unsicherheit Nutzen zu ziehen und ihre Besitzungen auf Kosten der geistlichen Territorien zu vergrößern. Franz von Sickingen, der kühnste von ihnen, bot Luther Zuflucht auf seinem Stammsitz, der Ebernburg, an. Sein Freund, Ulrich von Hutten, löste sofort seine Bindungen zum kaiserlichen Hof, als er von der Reichsacht Luthers hörte und eröffnete den „Pfaffenkrieg“. Von ihm erhoffte er sich eine allgemeine nationale Erhebung gegen die politische und religiöse Unfreiheit im Reich. Hutten wurde zum ersten politisch bewussten Befreiungskämpfer des deutschen Volkes! Mit flammenden Worten wandte er sich an die Nation:

„Mut, Mut, ihr Deutschen! Wir wollen mit Gottes Hilfe unser Vaterland befreien!“

So war es kein Wunder, dass Luthers revolutionäre Gedanken bei den bäuerlichen Massen des deutschen Volkes den stärksten Widerhall fanden. Das Deutsche Reich war zu jener Zeit politisch dreigeteilt: in die Gruppe der Landesfürsten, die sich mit dem Kaiser um die Vergrößerung und Festigung ihrer Territorien stritt, in die der Bischöfe und anderen geistlichen Herren, die sich gegen die Fürsten und den Kaiser zugleich wandten, und in die der Ritter sowie der reichsunmittelbaren Städte, die sich gegen die beiden anderen Stände behaupten mussten, aber auch untereinander stets verfeindet waren.

Insgesamt gab es etwa 16 Millionen Menschen im damaligen Deutschen Reich. 12 Millionen, also dreiviertel davon, waren Bauern, von denen die meisten in Leibeigenschaft oder Zinsknechtschaft lebten.

Ein anschauliches Bild von der Lage der Bauern zeichnete ein Bericht aus dem Jahre 1520:

„Den Herren fronen sie oftmals im Jahre, bauen das Feld, besäen es, ernten die Früchte, bringen sie in die Scheunen, bauen Holz, bauen Häuser, bauen Gräben. Es gibt nichts, was dieses sklavische und elende Volk den Herren nicht schuldig sein soll. Nichts, was ihnen befohlen wird, können die Bauern verweigern, ohne dass ihnen von den Herren Gefahr droht. Der Schuldige wird streng bestraft. Aber am härtesten ist es für die Leute, dass der größte Teil der Güter, die sie besitzen, nicht ihnen, sondern den Herren gehört, und dass sie sich durch einen bestimmten Teil der Ernte jedes Jahr von ihnen loskaufen müssen.“

Hinzu kam aber noch etwas anderes. Waren die Bauern bisher nur ihrem unmittelbaren Grundherrn dienstbar gewesen, so meldeten nun auch die Landesherren ihre Ansprüche an. Was die Fürsten erreichen wollten, war ein einheitlicher Untertanenverband, in dem es für die alten überkommenen Rechte keinen Platz mehr gab. Fürstliche Amtmänner erschienen in den Dörfern und erhoben bisher unbekannte Zölle und Steuern. Der Bauer, der bislang seine Rechtsstreitigkeiten selber geschlichtet hatte, wurde aufgrund der Einführung des römischen Rechtes in die Stadt vor eine ihm fremde Obrigkeit zitiert und mit Rechtsgrundsätzen konfrontiert, die ihm nach Tradition und Herkunft völlig fremd waren. Gerade in diesem Punkte, der Wiederherstellung des alten Rechts, waren sich die Bauern überall einig. Deshalb begannen auch die sogenannten „Artikel“, ihre Aufrufe zum Widerstand, überall mit der Forderung nach Erhaltung der bäuerlichen Selbstverwaltung.

Im Südwesten Deutschlands artikulierte sich der Widerstand am klarsten. Im Frühjahr 1525 verfasste der Kürschnergeselle Sebastian Lotzer aus Memmingen „die gründlichen und rechtlichen Hauptartikel aller Bauernschaft und Hintersassen der geistlichen und weltlichen Obrigkeit, von welcher sie sich beschwert vermeinen.“ Aus ihnen sprach die Klage des ganzen deutschen Bauernstandes:

„Der erste Artikel: Zum ersten ist unsere demütige Bitte und Begehr, auch unser aller Wille und Meinung, dass wir nun fürderhin Gewalt und Macht haben wollen, dass eine ganze Gemeinde soll einen Pfarrer selbst erwählen und kiesen, auch Gewalt haben, denselbigen wieder zu entsetzen, wenn er sich ungebührlich halte...

Der andere Artikel: Zum andern, nachdem der Zehnte aufgesetzt ist im Alten Testament, und im Neuen erfüllt, so wollen wir nichtsdestoweniger den rechten Kornzehnten gern geben, doch wie sich's gebührt...

Der dritte Artikel: Zum dritten ist es bisher Brauch gewesen, dass man uns für Eigenleute gehalten hat, welches zu erbarmen ist angesichts dessen, dass uns Christus alle mit seinem kostbaren Blut erlöst und erkauft hat, den Hirten sowohl wie den Höchsten und keinen ausgenommen. Darum ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und frei sein wollen.

Der vierte Artikel: Zum vierten ist es bisher Brauch gewesen, dass ein armer Mann nicht Gewalt gehabt hat, Wildbret, Geflügel oder Fische in fließendem Wasser zu fangen, welches uns ganz unziemlich und unbrüderlich dünkt...

Der fünfte Artikel: Zum fünften sind wir auch beschwert der Beholzung halber, denn unsere Herrschaften haben sich die Hölzer alle allein angeeignet, und wenn der arme Mann etwas bedarf, muss er's um doppeltes Geld kaufen.

Der sechste Artikel: Zum sechsten ist unsere harte Beschwerung der Dienste halber, welche von Tag zu Tag gemehrt werden und täglich zunehmen. Wir begehren, dass man ein ziemliches Einsehen damit habe und uns nicht dermaßen so hart beschwere, sondern uns gnädig hierin ansehe, wie unsere Eltern gedient haben allein nach Laut des Wortes Gottes.

Der siebente Artikel: Zum siebenten, dass wir uns von einer Herrschaft nicht noch weiter wollen lassen beschweren, sondern wie eine Herrschaft ziemlicherweise einem sein Gut verleiht, so soll er's besitzen laut der Vereinigung des Herrn und Bauern.

Der achte Artikel: Zum achten sind wir beschwert, dass von vielen, die Güter inne haben, dieselbigen Güter die Pacht nicht tragen können und die Bauern das Ihrige darauf einbüßen und verderben...

Der neunte Artikel: Zum neunten sind wir beschwert, des großen Frevels, dass man stets neue Satzungen macht und dass man uns nicht straft nach Gestalt der Sache, sondern zu Zeiten aus großem Neid und zu Zeiten aus großer Gunst...

Der zehnte Artikel: Zum zehnten sind wir beschwert, dass etliche sich Wiesen und Äcker zugeeignet haben, die der Gemeinde gehören. Dieselben werden wir wieder in Besitz der Gemeinde nehmen.

Der elfte Artikel: Zum elften wollen wir den Brauch, genannt der Todfall, ganz und gar abgetan haben und ihn nimmer leiden noch gestatten, dass man Witwen und Waisen das Ihrige also schändlich wider Gott und Ehren nehmen und rauben soll...

Beschluss: Zum zwölften ist unser Beschluss und endliche Meinung: wenn einer oder mehr Artikel, wie sie hier aufgestellt sind, dem Wort Gottes nicht gemäß seien, so vermeinen wir nicht, dieselbigen Artikel aufrecht zu erhalten. Wo man sie mit dem Worte Gottes als unziemlich nachweist, so wollen wir davon abstehen ... und uns in aller christlichen Lehre üben und brauchen. Darum wir Gott den Herrn bitten wollen, der uns dasselbige geben kann, und sonst niemand. Der Friede Christi sei mit uns allen.“

An diesen zwölf Artikeln war nicht nur die klare, selbstbewusste Sprache, sondern auch die theologische Argumentation völlig neu. Die Bauern beriefen sich mit Luther zum ersten Male auf das Evangelium, weil sie mit dem dort verbürgten gleichen Recht aller Christen endlich ernst gemacht sehen wollten. Die Freiheit eines Christenmenschen fassten sie nicht nur religiös-innerlich, sondern – zur großen Überraschung der herrschenden Stände, nicht zuletzt aber auch Martin Luthers – ganz konkret politisch auf! Über diese sozialen und politischen Forderungen wollte der gemeine Mann zunächst verhandeln; notfalls aber auch für sie kämpfen.

Die ungeheure Überraschung des großen deutschen Bauernaufstandes von 1525 hat der Nördlinger Feintuchweber Hans Conz in ein Lied gefasst:

„Die Bauern sind aufrürig g'worden

in deutscher Nation!

Es tun's die Schinder und Schaber,

die treiben Obermut.

Hüt' euch ihr Wucherknaben,

es tut auf die Läng' kein Gut!

Bauern sind in's Feld gezogen,

keiner wollte lassen ab.

Es ist wahr und nicht erlogen,

gar mancher Bauernknab.

Sie haben einen Sinn gefunden.

Wer hätte das gedacht?!“

7. „Es ist hohe Zeit...“ Die Erhebung der Bauern

Die Herrschenden in Deutschland verkannten zu Beginn des Jahres 1525 die politische Situation des Reiches. An Bauernunruhen hatte man sich bereits seit 50 Jahren gewöhnt. War man denn nicht mit dem „Pfeiferhänslein“ schnell fertig geworden? Hatte man nicht die Bauernverschwörungen unter dem provozierenden Namen des „Armen Konrad“ im Keime erstickt? Es lebte sich gut auf dem gebeugten Rücken der 12 Millionen Bauern, die immer mehr in den Zustand absoluter Rechtlosigkeit gerieten. Die Bauern wurden zum Freiwild der Edelleute – und diese spotteten in einem zeitgenössischen Lied:

„Willst Du Dich ernähren,

Du junger Edelmann,

so folg Du meinen Lehren,

sitz auf und trab zum Bann.

Halt Dich an den Wald heran!

Wenn der Bau'r ins Holze fährt,

so renn' ihn tapfer an.

Erwisch ihn bei dem Kragen,

erfreu' das Herze Dein,

und nimm Dir, was sie haben,

spann aus die Pferdlein fein.

Sei frisch und auch unverzagt!

Wenn er keinen Pfennig hat,

reiß' ihm die Gurgel ab.“

Dieser Spott sollte den Herren im Frühjahr 1525 vergehen. Als die Bauern gewahr wurden, dass mit friedlichen Verhandlungen nichts zu erreichen war, brach der bewaffnete Aufstand los. In ganz Schwaben, im Elsass, in Franken und in Thüringen kam es zum Aufruhr; die Bauern marschierten!

Im Süden und Südwesten, in Mitteldeutschland und in Österreich erhob sich die deutsche Bauernschaft. Eine Flut von Protestschriften und Flugblättern überschwemmte das Land. Überall schossen spontan revolutionäre Bauernarmeen aus dem Boden! Neben dem „Baltringer Haufen“ entstanden der „Oberallgäuer“ und der „Unterallgäuer Haufen“, am Bodensee der „Seehaufen“, um Leipheim im Donautal herum der „Leipheimer Haufen“, von Rothenburg ausgehend der „Taubertaler Haufen“. Die stärkste Einheit stellte der „Neckartaler-Odenwälder Haufen“ dar, dessen Hauptmann Georg Metzler und dessen Kanzler Wendel Hipler waren. Insgesamt umfassten die Bauernarmeen etwa 60.000 Mann – eine revolutionäre Kraft, die unbesiegbar gewesen wäre, wenn die Bauern sich erfahrenen militärischen Führern (wie dem Ritter Florian Geyer) untergeordnet und wenn sie Disziplin gehalten hätten.

Als die Bauern, von ihren Feinden auch die „Lutherischen“ genannt, in der Grafschaft Stühlingen die schwarz-rot-goldene Fahne mit den Farben des alten Reichswappens aufpflanzten, wurde aus der sozialen Revolte unversehens eine nationale Revolution!

Den marschierenden Bauern des Jahres 1525 ging es nicht nur um geistliche und auch nicht mehr nur um soziale Fragen. Denn das war die größte Überraschung dieses historischen Revolutionsjahres: dass der deutsche Bauer – einmal aufgestanden – sogleich ein politisches, ein nationales Bewusstsein gewann, das dem der anderen Stände weit überlegen war! Den Bauern ging es jetzt um „das Ding“, wie der Bürgermeister Johann Ottensaß zu Hersfeld am 29. April 1525 beim Verhör formulieren sollte: um die große allgemeine Reformation des Reiches überhaupt! Und darin glaubten sich die deutschen Bauern durchaus mit dem Kaiser einig:

„Es hat gelautet, der Kaiser ziehe mit und wolle das Ding haben“; und der Kaiser wolle, „dass die ganze Christenheit und sonderlich die Obrigkeit geistlich und weltlich reformiert werden soll. Gott schick's zum besten!“

Die Bauern glaubten nicht nur den Kaiser, sondern auch Martin Luther auf ihrer Seite. Aber Luther schwieg, und als er sich in seinen „Ermahnungen zum Frieden auf die zwölf Artikel“ zu Wort meldete, wurde den überraschten Bauern klar, dass sie mit ihm nicht rechnen konnten, im Gegenteil:

„Die zwölf Artikel handeln alle“, schrieb Luther, „von weltlichen, zeitlichen Sachen, dass Ihr Gewalt und Gut haben wollt, nichts Unrechtes zu leiden, so doch das Evangelium sich weltlicher Sachen gar nicht annimmt und das äußerliche Leben allein in Leiden, Unrecht, Kreuz, Geduld und Verachtung zeitlicher Güter und Lebens setzt ... Ihr Bauern habt auch wider Euch Schrift und Erfahrung, dass nie eine Rotterei ein gutes Ende genommen hat, und Gott hat allwege streng über diesem Worte gehalten: ,Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen.' (Matth. 26,52)... “

Die Bauern fühlten sich geprellt und verraten. Wenn Luther sie fragte: „Wie reimt sich denn nun das Evangelium mit Euch?“, so konnten sie diese Frage an ihn zurückgeben, denn nur vier Jahre zuvor hatte er auf dem Reichstag zu Worms ausgerufen:

„Ja, mir ist das liebste zu sehen, dass wegen des Wortes Gottes Eifer und Streit entstehen. Denn das ist der Lauf des göttlichen Wortes, wie der Herr sagt: ,Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.‘ (Matth. 10,34).“

Nun aber hielt er ihnen eine Predigt, dass sie nicht mehr wussten, woran sie eigentlich mit dem Wittenberger Professor waren:

„Ihr habt Euch mit schweren Sünden beladen und Gottes schrecklichen, unerträglichen Zorn erweckt. Darum, liebe Bauern, lasst ab und lasst Euch sagen: Ihr seid nach der Seele von Gott schon verdammt. Denn Euer Unrecht ist zu groß, Gott kann es nit die Länge leiden. Gebt Euch zum Frieden und Vertrag, obs auch gleich mit leiblichem Schaden geschehen müsste, dass doch die Sünde und Verderben der Seele aufhöre! Amen.“

Aber Luther fühlte sich offensichtlich selber nicht wohl in seiner neuen Rolle. Sonst wäre er nicht dazu übergegangen, sich zu verteidigen und zu rechtfertigen:

„Etliche geben dem Evangelium die Schuld und sprechen, dies sei die Frucht meiner Lehre ... Jedermann muss mir Zeugnis geben, dass ich in aller Stille gelehrt habe, heftig wider Aufruhr gestritten ... Die Untertanen vermahnt mit höchstem Fleiß, so dass dieser Aufruhr nicht kann aus mir kommen, sondern die Mordpropheten ... sind unter diesen Pöbel gekommen...“

Mit den „Mordpropheten“ meinte Luther vor allem seinen großen Gegenspieler Thomas Müntzer, der in der freien thüringischen Reichsstadt Mühlhausen sämtlichen Ständen den Aufruhr gepredigt hatte:

„Vielgeliebte Brüder! Wie lange schlaft ihr? Schmeichelt nicht länger den verkehrten Phantasten. Es ist hohe Zeit. Ganz Deutschland ist in Bewegung!“

8. „Dran, dran, dran...!“ Der Große Deutsche Bauernkrieg

In der Tat, ganz Deutschland geriet in Bewegung! Vom Elsass bis nach Sachsen, von der Pfalz bis ins Tirolerische und Salzburgische erhoben sich „die Erniedrigten und Entrechteten“, wagten Deutschlands Bauern den Aufbruch aus dem Mittelalter in die Neuzeit.

Zehntausende griffen zu den Waffen. Hunderttausende sympathisierten mit ihnen. Innerhalb weniger Wochen breitete sich der soziale Aufstand aus, artikulierte sich zum ersten Mal in der modernen Geschichte die deutsche Nation!

Die Aufständischen zerstörten über 1000 Klöster und Schlösser; besetzten 150 Städte und Ortschaften. Ganze Landstriche wurden zu „befreiten Territorien“ und waren fest in der Hand der bäuerlichen Armeen. In weiten Teilen Deutschlands loderte der Aufstand, der immer mehr den Charakter einer sozialen und nationalen Revolution annahm.

Doch die Zeit arbeitete für die Herrschenden, denn die einzelnen, schlecht bewaffneten bäuerlichen Haufen waren in sich uneinig und entbehrten einer sachkundigen militärischen Führung. Ihr Erfolg lag allein in der Spontaneität und Schnelligkeit ihrer Aktionen. Thomas Müntzer wusste, warum er so drängte:

„Seid nicht verzagt! ... Dran, dran, dran, es ist Zeit! ... Lasst Euch nicht erbarmen ... Lasset Euer Schwert nicht kalt werden vom Blut! Es ist nicht Euer, sondern des Herrn Streit!“

Hatten die Fürsten zunächst jede Verhandlung abgelehnt, so spielten sie nun angesichts der bewaffneten Bauernarmeen auf Zeit und boten zum Schein Verträge an. Die Bauern, in diplomatischen Geschäften ungeübt, gingen in die Falle. Am 17. April stand der Truchseß Graf von Waldburg in der Nähe des Klosters Weingarten einem 14000 Mann starken Bauernheer gegenüber. Seine Söldner waren vorzüglich bewaffnet, doch an Zahl weit unterlegen. Der Truchseß bot den Bauern einen Vertrag an, den sogenannten Weingartner Vertrag; die Bauern begriffen ihre militärische Chance nicht und unterschrieben:

„Sie geloben und schwören, dergleichen Bündnis und Aufruhr hinfort zu vermeiden. Ihrem obersten Kriegsherrn, von dem sie sich abgeworfen haben, wiederum treu und gehorsam Pflicht zu tun.“