Mut zu mir selbst - Johannes W. Schneider - E-Book

Mut zu mir selbst E-Book

Johannes W. Schneider

4,9

Beschreibung

Wer bin ich, wenn all das von mir abfällt, worauf ich mich bisher gestützt habe? Da bin ich ganz ich selbst. - Nach diesen beiden Seiten hin, dem Verlieren des selbstverständlich Gewordenen und dem Entdecken eines Neuen, stellt Johannes W. Schneider den Weg des Altwerdens dar. Für beides braucht es Mut: für das schmerzvolle Abschiednehmen von so vielem, das den Menschen bisher ausgemacht hat, ebenso wie für das Entwickeln der neuen Qualitäten und Fähigkeiten eines "Ganz ich selbst", die eine gelingende Alterskultur ausmachen. Ein Buch, das Mut macht, den eigenen Weg ins Alter mit all seinen Chancen und Herausforderungen anzunehmen, und das denen, die dabei zur Seite stehen, ein Verständnis eröffnet für die Bedürfnisse und einzigartigen Qualitäten eines alten Menschen.

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Johannes W. Schneider

Mut zu mir selbst

Alt werden ist nichts für Feiglinge

Verlag Freies Geistesleben

Lieber Vater,

während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich auf Dein Altersbild, das auf meinem Schreibtisch steht, das dort steht seit Deinem Tod vor fast dreißig Jahren, das mich begleitet hat, als ich selbst alt wurde, und das mir immer sprechender wurde für Dich selbst und für den Menschen im Alter überhaupt. Noch deutlich höre ich Dich, einen rüstigen Anfang-Siebziger, sagen: «Mit siebzig beginnen die besten Jahre.» Als ich dann selbst siebzig Jahre alt wurde, dachte ich: Er hat mal wieder recht gehabt. In den Achtzigerjahren allerdings klang es dann anders: «Es ist gar nicht leicht, Mensch zu sein, vor allem nicht im Alter.» Den strengen Anforderungen des Berufs gerecht zu werden, an solchen Anforderungen hat es Dir wirklich nicht gemangelt, und Mensch zu sein, immer mehr Mensch zu werden, wenn der Leib nicht mehr trägt, das ist nicht leicht. Aber es ist eine Aufgabe, für die noch zu leben sich lohnt. Von dieser nicht leichten, aber lohnenden Aufgabe soll in dem folgenden Buch die Rede sein.

Davon jedoch sprichst Du noch nicht in Deinem Altersbild, sondern von den «besten Jahren». Das Glück der Lebensreife klingt aus Deinem Lächeln. Du lächelst nicht jemanden an, sondern Du lächelst aus Dir heraus, Du lächelst der Welt entgegen, und jeder kann an dem Lächeln teilhaben, der teilhaben möchte. Das Alter wird als Herbst des Lebens bezeichnet. Das wird wohl oft recht oberflächlich verstanden als Abschied vom schönen Sommer. Aber das Wort hat seine Tiefe. Im Sommer scheint die Sonne vom Himmel, hoffentlich. Im goldenen Herbstlaub ist das Sonnenlicht von der Erde verinnerlicht, es zeigt die Lebensreife des Jahres. Die Erde lächelt für jeden, der ihr Lächeln sehen will. Die besten Jahre, ja, weil der Mensch immer weniger zu tun braucht, um überzeugend zu wirken, er braucht nur zu sein, er selbst zu sein. Die Motive seines gelebten Lebens werden zum goldenen Herbstlaub.

Dein Lächeln ist offen und zugleich verhalten, und das ist auch die eigentümliche Haltung der Hand. Indem sie vor der Brust gehalten wird und das Kinn berührt, grenzt sie den Menschen gegenüber der Welt ab, aber das tut sie so behutsam, dass sie fast dazu auffordert, näher zu kommen. Es ist die scheue Offenheit, die zum alten Menschen gehört. Es ist hier, bei dem Bild aus Deinen Siebzigerjahren, eine zarte und gewollte Abgrenzung, die zugleich Offenheit ist. Im höheren Alter, von der Mitte der Neunzigerjahre an, kann der alte Mensch gar nicht anders, als sich zu zeigen. Und das ist gern hinzunehmen, wenn auch der andere Mensch ganz offen sich zeigt. Aber wie oft verhüllen wir unser Innerstes und finden damit die Stütze in uns selbst? Das kann der sehr alte Mensch nicht mehr. Deshalb braucht er den ungehinderten Atem zwischen Ich und Du. Der Mensch in den Siebzigern lebt noch im Pendel zwischen Zuwendung und Rückbesinnung, er atmet, wie er atmen will. Lächeln und Handhaltung sind eine Einladung zum Gespräch und zugleich ein Abwarten. Das gehört zum Reiz dieser Jahre: die Reife, die verbunden ist mit der Offenheit für Neues.

Der Kopf ist leicht nach vorn geneigt. Er zeigt Deine Besinnlichkeit. Besinnlich sein, das ist nicht nur ein Nachdenken über Gehörtes, Erlebtes. Der besinnliche Mensch löst sich nicht von der Welt rund um ihn herum. Er lässt in sich nachklingen, was geschehen ist und was erlebt wurde. In der Besinnlichkeit lasse ich die Gedanken in mir miteinander ins Gespräch kommen. So ist auch der Blick dem Betrachter des Bildes zugewandt, ohne ihn zu fixieren. Der Blick ist offen und er verinnerlicht, was angeschaut wird. Das Leben wird von Dir noch gelebt und beginnt doch schon, in Dir still zu werden. Was erlebt wurde, gerinnt zum Wesen, zum Sein des Menschen. Es wird verwesentlicht. Beim alten Menschen dürfen wir hoffen, dass er ganz er selbst wird. Wer gelebtes Leben in sich zum Klingen bringt, neigt ein wenig den Kopf. Ein wenig. Denn er lebt noch seine «besten Jahre».

Inhalt

Der alte Mensch und seine Welt

Alte Menschen und Kinder

Alte Menschen pflegen

Altersweisheit und Altersgüte

Im Rückblick auf das Leben Frieden

Abschied nehmen

Der Schritt hinüber

Wo sind unsere Toten?

Nachwort

Impressum

Der alte Mensch und seine Welt

Wenn wir, Ich und Du, uns nahe sind, so bleibt oft bis ins höchste Alter hinein die gesunde und intensive Beziehung zur Welt erhalten.

«Könnt ihr nicht ein bisschen lauter und deutlicher sprechen, man versteht euch so schlecht.» «Opa, wir sprechen ganz normal, aber du wirst allmählich schwerhörig, wie andere Leute in deinem Alter auch.» – «Ach was, ich höre noch ganz gut, aber ihr sprecht undeutlich und schlampig, wie heute so viele Menschen schlampig sind. Wir früher …» Die Szene wiederholt sich, und schließlich ist Opa bereit, doch einmal zum Ohrenarzt zu gehen. Der verschreibt ein Hörgerät. Das kann unauffällig, ganz unauffällig getragen werden. «Na ja, wenn man damit wieder besser hört, dann ist es gar nicht so schlecht.»

Wird wirklich das Hören nur schwächer? Müssen wir mit alten Menschen einfach lauter sprechen? Wenn das Gehör nur schwächer würde, dann könnten wir ja im Flüsterton einander mitteilen, was Opa nicht hören soll. Und siehe da, nun bekommt er alles genau mit. Warum? Wenn wir flüstern, sprechen wir etwas langsamer und vor allem plastischer, und in diesen sorgfältig gestalteten Sprachfluss kann das Hören besser einsteigen. – Unterstützt wird das Hören auch, wenn wir im Gespräch den alten Menschen anschauen, wenn wir uns innerlich auf ihn einstellen. Deshalb auch versteht der alte Mensch einen vertrauten Menschen besser als einen fremden. Sprache vollzieht sich ja zwischen Ich und Du. Das nachlassende Gehör ist also oft zunächst noch nicht eine Schwäche des Leibes, sondern erst eine nachlassende Hinwendung zur Welt. Wenn ein besonders geliebtes Musikstück erklingt, so hören alte Menschen oft noch sehr intensiv. Auch in hohem Alter, auch kurz vor dem Tode.

Wir hören, wenn die Welt für uns klingt. Als ich nach dem Studium für ein Jahr zu einem Praktikum in einem heilpädagogischen Heim in Schweden war, kam ein vierzehnjähriger Junge zu uns, ein sehr naturverbundener Lappländer. Er war vorher drei Monate lang in einem Heim für Taubstumme gewesen, und die Ärzte dort hatten nicht bemerkt, dass er weder taub noch stumm war. Er hörte nur nicht und sprach nicht. Nun fiel uns auf, dass er gerne zu einem Wasserfall in der Nähe des Heimes ging und dort gurgelte wie das Wasser draußen. Also hörte er doch wohl? Einmal stand ich im Zimmer wenige Meter hinter ihm und nannte, gar nicht laut, seinen Namen. Lächelnd wandte er sich um, und der Bann war gebrochen. Er verstand, was man, ihm innerlich zugewandt, langsam sagte. Und er sprach, nicht nur einzelne Worte, sondern ganze Sätze mit einer allerdings einfachen Grammatik, etwas verwaschen und schwer verständlich, aber er sprach, ohne dass er das jetzt erst lernen musste. Die Beziehung zu einem einzigen Menschen hatte für ihn die Welt zum Klingen gebracht, und so konnte er hören.

Oft wird gesagt, der alte Mensch ziehe sich allmählich von der Welt zurück, bis im Tode die Verbindung ganz aufhöre. Das kann wohl so sein, aber das gilt nicht allgemein. Ebenso kann es sein, dass der sterbende Mensch seinen Leib verlässt, indem er in die Welt verströmt, in den Klang einer Stimme oder in eine Musik, in den Anblick eines Menschen oder einer Landschaft, in einen Händedruck. Wenn wir im Gespräch mit einem alten Menschen sind, wenn wir, Ich und Du, uns nahe sind, so bleibt oft bis ins höchste Alter hinein die gesunde und intensive Beziehung zur Welt erhalten, und der Mensch kann dann, hoffentlich, auch friedlich in die Welt hinein sterben.

Wie man von einer Altersschwäche beim Hören spricht, so auch von einer nachlassenden Sehfähigkeit. Aber während beim Hören die Welt ferner rückt, wird bei der nachlassenden Sehfähigkeit das genaue Erfassen des Nahen beeinträchtigt, zum Beispiel der Buchstaben beim Lesen. Es ist zwar unangenehm, wenn man durch die Jahrzehnte nie eine Brille getragen hat, sich an diese künstlichere Beziehung zur Welt zu gewöhnen. Aber ihre Brille können die meisten Menschen ungenierter zeigen als ihr Hörgerät.

Bei einer Beratung schilderte mir eine Frau, die in jungen Jahren durch eine Explosion augenblicklich völlig taub geworden war, sie sei am meisten dadurch belastet, dass ihr die Welt nun gespenstisch erscheine. Sie sieht ein Auto fahren, hört es aber nicht, das fahrende Auto wird fast zu einem Scheingebilde. Taube und auch schon schwerhörige Menschen brauchen daher eine besonders intensive Realitätserfahrung auf allen Lebensgebieten, vor allem in der zwischenmenschlichen Beziehung, vielleicht auch in der künstlerischen Tätigkeit des Plastizierens, die sie nun lernen, in der Freude am Essen und so weiter. Wer erblindet, leidet weniger darunter, dass ihm die Welt irreal wird; er leidet eher unter einer fehlenden Distanz zur Welt. Dass wir uns selbst als räumlichen Mittelpunkt in einem weiten Umkreis erleben, dass wir die Dinge, die auf uns zukommen, schon in der Ferne wahrnehmen, dass wir uns auf deren allmähliches Näherkommen einstellen können, das verdanken wir vor allem dem Gesichtssinn. Wir leben im Atem zwischen uns und der Welt, zwischen dem Ruhen in uns selbst und dem Mitschwingen mit der Welt. Immer wieder habe ich es als angenehm empfunden, wie Thailänder einander begrüßen: indem sie den Kopf leicht nach vorn neigen, die Hände vor dem Gesicht zusammenlegen und dabei freundlich lächeln. Ich fühle mich von meinem Gegenüber wahrgenommen und bleibe doch ganz in mir. Das ist viel zarter als das Händeschütteln bei der Begrüßung. Das verhaltene Mitschwingen mit der Welt ist wie ein Grundmotiv für die optische Beziehung zur Welt – und für die Hilfe, die der Mensch braucht, wenn die Sehfähigkeit nachlässt.

Was im Alter nachlässt, ist nicht nur die Kraft, die Intensität der einzelnen Sinneswahrnehmung, sondern auch die Verbindung der einzelnen Sinnesgebiete zu einem Bild von der Welt. Auf dieser Verbindung beruht unser Wachbewusstsein. Ich sitze, übermüdet, in einem langweiligen Vortrag. Anfangs folge ich noch beständig, aber ohne Interesse der Darstellung, dann steigt mein Mit-Denken nicht mehr in das Gehörte ein. Ich höre wohl, aber ich lokalisiere nicht mehr das Geräusch beim Redner. Das Gehör löst sich vom Raum-Erleben. Und wenn auch noch die Beziehung zum Körpergefühl gelockert wird, dann sehen alle Anwesenden an meinem nach vorn nickenden Kopf, dass ich einschlafe. Bis ein Wort des Redners, etwa der Name meiner Geburtsstadt, plötzlich wieder als Reiz wirkt. Was hat er über meinen Geburtsort gesagt? Etwas Negatives? Wohl nicht, also schlafe ich wieder ein.

Wir können nur wach sein, wenn wir die Eindrücke aus mehreren Sinnesgebieten miteinander zum Bild der Welt verbinden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Verbindung des Sehens oder Hörens mit dem Gleichgewichtserleben. Dass ich einen Gegenstand über oder unter meiner Augenhöhe, rechts oder links erlebe, ist die Voraussetzung dafür, dass mir die Welt im Bild, also objektiv da draußen, in einer gewissen Distanz erscheint. Wer es manchmal schwer hat mit dem Einschlafen, kennt vielleicht die Grenzerfahrung: Nicht mehr ich bestimme die Verknüpfung der einzelnen Gedankeninhalte, sondern der Ablauf verselbstständigt sich. Nun weiß ich, dass es schlafwärts geht. In der starken Ermüdung wird die Verknüpfung der einzelnen Sinneseindrücke verunsichert. Andere wundern sich dann über meine «Tollpatschigkeit», die genaue Selbstbeobachtung aber zeigt eine Lösung des Ich aus der Verbindung der einzelnen Sinnesgebiete. Die verknüpfen sich dann selbst, oft nicht «richtig», nicht mehr sinnvoll auf ein Ziel hin orientiert.

Beim alten Menschen ist oft besonders der Zugriff auf die Gleichgewichtseindrücke gestört. Er verliert das Gleichgewicht, nicht weil ein Hindernis im Wege steht, sondern weil das Ich nicht mehr selbstverständlich durch die eigene Haltung und Bewegung hindurch in den Raum hineingreifen kann. Wie das Kind im ersten und zweiten Lebensjahr oft schon recht gut ausgebildete Bewegungen hat, diese aber noch nicht sicher in den Raum eingliedern kann, so ist beim alten Menschen oft nicht der Bewegungsfluss, sondern dessen Eingliederung in den Raum gestört. Der Stock, die Krücke, der Rollator können hier hilfreich sein; vielleicht ist es auch einmal notwendig, den wankenden alten Menschen zu stützen, das Gleichgewicht jedoch kann der Mensch nur selbst herstellen im aktiven Zugehen auf die räumliche Umwelt.

Wenn davon gesprochen wird, das Kind lerne Schritt für Schritt sich mit seinem Leib zu verbinden, sich zu «inkarnieren», so wird die Bedeutung der Welt oft nicht genügend gesehen. Nicht der Leib, sondern die Welt lockt das Kind in das Leben hinein. Das Kind «inkarniert» sich in die Welt hinein, nicht nur in den Leib. Der alte Mensch löst sich oft noch gar nicht vom Leib, sondern erst aus der Welt. Vielleicht sogar verkrampft er sich in den Leib, erstarrt im Leib, verliert aber das Interesse für die Welt, das Heimatgefühl in ihr. Im Alter kommt es darauf an, die Harmonie mit der Welt zu bewahren, auch wenn der Leib das erschwert.

Nicht nur die Sinneswahrnehmungen werden im Alter schwächer, sondern auch die Bewegung. Allein schon deshalb,