Mut zum Recht! - Oliver Scheiber - E-Book

Mut zum Recht! E-Book

Oliver Scheiber

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  • Herausgeber: Falter Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Oliver Scheiber zeigt auf, was einer modernen Justiz fehlt. Er berichtet aus seiner Erfahrung in Rechtsprechung und Justizpolitik, wo Schwächen bestehen und wie sie sich ausbessern ließen. Der Horizont seines Buchs reicht von Kunst und Literatur bis zu Journalismus und Geschichte und zur Realität des Gerichtssaals. Ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Justiz, die ihren Anspruch nicht aufgeben darf, moderner, das heißt menschengerechter zu werden.

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Seitenzahl: 282

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Oliver Scheiber zeigt auf, was einer modernen Justiz fehlt. Er berichtet von seinen Erfahrungen in Rechtsprechung und Justizpolitik, wo Schwächen bestehen, und legt dar, wie sie sich beheben ließen. Der Horizont seines Buchs reicht von Kunst und Literatur über Journalismus und Geschichte bis zur Realität des Gerichtssaals.

Ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Justiz, die ihren Anspruch nicht aufgeben darf, moderner, das heißt menschengerechter, zu werden.

Oliver Scheiber

Mut zum Recht!

Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat

FALTERVERLAG

© 2020 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.

1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

T: +43/1/536 60-0, E: [email protected], W: www.falter.at

Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub: 978-3-85439-679-6

ISBN Kindle: 978-3-85439-680-2

ISBN Printausgabe: 978-3-85439-675-8

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2020

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Hinter dem Papier – eine persönliche Einführung

Vorbemerkung

1. Recht und Gerechtigkeit in Literatur und Kunst

These 1: Die Kunst liefert der Justiz wichtige Impulse

2. Recht und Gerechtigkeit: Mission (im)possible?

These 2: Die Justiz muss raus aus dem Elfenbeinturm

3. Courage und Leidenschaft

These 3: Ein gutes Justizsystem braucht Leitfiguren

4. Aus dem Faschismus lernen

These 4: Es ist wichtig, ein Zeichen in Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus zu setzen

5. Das Strafrecht im gesellschaftlichen Auftrag

These 5: Das Strafrecht verfehlt heute seine gesellschaftliche Bestimmung

Zur Halbzeit: Wer denkt da schon an Schikane?

6. Die europäische Perspektive

These 6: Europa verbessert unser Rechtssystem; wir sollten uns stärker einbringen

7. Sprache und Kommunikation der Justiz: Der Zugang zum Recht

These 7: Die Bevölkerung versteht die Sprache der Justiz nicht – also muss die Justiz anders kommunizieren

8. Zum Verhältnis von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht und politischer Verwaltung

These 8: Zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht braucht es mehr Abgrenzung und eine effizientere wechselseitige Kontrolle. Den Gerichten kommt auch die Kontrolle über Verwaltung und Politik zu

9. Justiz und Politik

These 9: Justiz ist (fast) immer politisch; Richterinnen und Richter brauchen daher politisches Bewusstsein

10. Justiz im Wandel

These 10: Um den berechtigten Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen, muss die Justiz eine völlige Änderung ihrer Unternehmens- und Kommunikationskultur anstreben

Epilog

Autor

Hinter dem Papier – eine persönliche Einführung

Ich arbeite seit gut 25 Jahren für die Justiz. Seit mehr als zwanzig Jahren bin ich Richter. Wenn ich gesund bleibe, trete ich nun ins letzte Drittel meines Erwerbslebens. Rechne ich die Zahl der bisher von mir geführten Verfahren hoch, werden bei meiner Pensionierung rund 15.000 Angeklagte auf mich als Richter getroffen sein. Es ist also genug Zeit vergangen, um eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Ich konnte mir als junger Mensch viele Berufe vorstellen, ohne mir einen davon fix in den Kopf gesetzt zu haben. Ich habe Jus studiert, um die Berufsentscheidung aufzuschieben. „Mit Jus hast du alle Möglichkeiten“, sagen viele. Vor allem die Juristen.

Das Studium war langweilig. Es bestand vorwiegend im Auswendiglernen. Eine praktische Anwendung des Vorgetragenen konnte ich mir nicht vorstellen. Das konnten wohl auch viele Universitätslehrende nicht, denn sie erörterten – wie der Rückblick zeigt – allzu oft Irrelevantes ausführlich und vergaßen das im Rechtsleben Relevante. Zwar erfuhr man im ersten Semester, die Rechtswissenschaft gehöre zu den Sozialwissenschaften. Im weiteren Verlauf des Studiums spielten Mensch und Gesellschaft nur noch eine geringe Rolle. Zwanzig Jahre in der Rechtsprechung machen klar, dass die Rechtswissenschaft selbstverständlich zu den Sozialwissenschaften zählt. Bei der Gestaltung und Anwendung des Rechts geht es laufend um Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Ich habe den Richterberuf nicht angestrebt. Er ist mir zugefallen. Ich bin dafür dankbar. Ich habe nach dem Studium das Gerichtsjahr begonnen, um die endgültige Berufswahl weiter hinauszuzögern. Die Arbeit bei Gericht hat mich sofort fasziniert. Der Einblick in menschliche Schicksale. Die Möglichkeit, ausgestattet mit der richterlichen Unabhängigkeit, gestaltend einzugreifen. Die Gesetze räumen Richterinnen und Richtern großen Spielraum ein. Das Gericht kann einen Ladendieb zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilen oder zu einer Psychotherapie während einjähriger Probezeit verpflichten. Eine breite Palette an Sanktionen steht im Strafrecht zur Verfügung. Der Gesetzgeber war so vorausschauend, maßgeschneiderte Lösungen für den Einzelfall zuzulassen.

An meinem Verhältnis zum Staat hat sich seit meinem Eintritt in die Justiz wenig geändert. Als Arbeitgeber hat mich der Staat gut behandelt. Er hat mich solide ausgebildet. Er stellt mir eine hervorragende Infrastruktur zur Verfügung. Er erlaubt mir internationale Einsätze und den Wechsel in verschiedene Arbeitsfelder. Dennoch bleibt jeder vernünftige Mensch gegenüber dem Staat misstrauisch. Staatliche Einrichtungen tendieren dazu, Bürgerinnen und Bürger zu kontrollieren. Sicherheitsapparate streben nach immer mehr Eingriffsmöglichkeiten. Traditionellerweise lehnt die Bürokratie Transparenz ab. Manchmal verletzt der Staat seine eigenen Regeln ‒ und neigt in der Folge dazu, diese Verstöße zu vertuschen, so wie auch jeder Betrüger und Dieb seine Tat verbergen will. Konkret: Es gibt im Rechtsstaat nichts Schlimmeres, als wenn ein Mensch durch Organe des Staates zu Tode kommt. Etwa durch Schüsse der Polizei, wie das in Österreich schon mehrmals geschehen ist. Doppelt schlimm ist es, wenn die Aufklärung zögerlich oder gar nicht erfolgt.

Ich habe das Glück, in meinem engsten beruflichen Umfeld seit Jahren mit durchwegs hoch motivierten Menschen zusammenzuarbeiten. Der Einsatz von Familienrichterinnen und Familienrichtern, die mit viel Geduld lange Gespräche mit Eltern führen, um eine Einigung im Sinn der Kinder herbeizuführen, nötigt mir Respekt ab. So wie die professionelle Abwicklung von Anlegerprozessen durch Zivilrichterinnen und Zivilrichter, die im Verhandlungssaal zwei Streitparteien in der Stärke von jeweils einer Fußballmannschaft gegenübersitzen, während sie den Prozessstoff allein bewältigen müssen. Und umgekehrt schmerzt es alle, Staatsangestellte genauso wie Bürgerinnen und Bürger, wenn Wirtschaftsstrafverfahren über Jahre zu keinem Ende kommen, wenn Justizorgane Formalismus vor Inhalt stellen oder schlicht unfreundlich auftreten. Es ist unerträglich, wenn Polizeibeamte einen Asylwerber foltern oder einem jugendlichen Einbrecher in den Rücken schießen, ohne dass solche Vorfälle schnelle und ernsthafte Konsequenzen haben. Und die heutige Republik muss sich eingestehen, dass die Nachkriegsjustiz viele mutmaßliche Kriegsverbrecher in die Demenz statt in den Gerichtssaal begleitet hat. Man wünscht sich, dass staatliche Behörden und Organe lernen, sich bei den Opfern ihrer Fehler zu entschuldigen.

Ich selbst habe meine lang hinausgeschobene Berufsentscheidung nie bereut. Die Überzeugung, an einer Verbesserung der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen mitzuwirken, bildet einen starken Antrieb. Staatliche Strukturen lassen sich von innen und von außen modernisieren. Mich begeistert es, am Entstehen des europäischen Rechtsraums mitzuwirken. Es war spannend, eine Korruptionsstaatsanwaltschaft und Justizombudsstellen zu entwickeln. Die eigentliche richterliche Tätigkeit wiederum ist befriedigend, weil sie gestaltend ist. Während die Arbeit vieler Beamter mangels politischen Umsetzungswillens in der Schublade landet, sehen Richterinnen und Richter täglich die Früchte ihrer Arbeit. Jeder gelungene Vergleich, jedes erfolgreiche Mediationsverfahren, jede gut angenommene, weil gut begründete Entscheidung motiviert. In den von mir geführten Verfahren habe ich jedes Jahr mit rund tausend Menschen zu tun. Diesen Personen in für sie schwierigen Lebenssituationen menschlich zu begegnen und konstruktive Lösungen zu finden ist Herausforderung und Aufgabe.

Unser Justizsystem verdient im internationalen Vergleich ein gutes Zeugnis. Die offenen Wunden indes dürfen über diese positive Bilanz nicht vergessen werden. Die Frage der Klassenjustiz bleibt aktuell. Sie lässt sich nicht vom Tisch wischen mit dem Argument, mit Geld sei man in unserem Gesellschaftssystem eben immer besser dran: Man bekommt die bessere Ausbildung, die bessere Gesundheitsversorgung und die bessere Rechtsvertretung. Es gibt eine Empathie- und Mitleidlosigkeit, mit der unsere Strafrechtspraxis Schwachen begegnet, der mit aller Kraft entgegenzuwirken ist. Woher kommt die oft in der Anwendung von Gesetzen zutage tretende verstörende Bösartigkeit staatlichen Handelns? Schlägt man da auf die ein, die sich nicht wehren können, weil man gegen andere nicht ankommt? Prügelt man die kleinen Gauner, weil man die großen nicht kriegt? Die kleinen Gauner melden keine Berufungen an. Sie drohen nicht. Sie kommen nicht mit Rechtsvertretern, die unzählige Anträge stellen, sodass der Richter oder die Richterin das Wochenende mit der Familie verliert. Die kleinen Gauner schicken einem keine Privatdetektive hinterher und machen einem generell selten das Leben schwer.

Setzt man sich in den Verhandlungssaal eines Wiener Bezirksgerichts und hört sich einen halben Tag lang Strafverhandlungen an, so wird man Angeklagte sehen, die zu einem guten Teil psychisch krank oder sozial verwahrlost sind. Die Delikte liegen zum Großteil im Bagatellbereich. Es geht um den Diebstahl von Parfumtestern aus Drogeriemärkten, um die Beschädigung von Glücksspielautomaten, nachdem man in ein paar Minuten einige hundert Euro verloren hat, und Ähnliches. Wirft man einen näheren Blick auf die Biografien, so zeigen sich die immer gleichen Bilder: früher Verlust eines Elternteils, Tod eines Kindes oder Partners, Gewalterfahrungen. Das ist kein Plädoyer für die Straflosigkeit kleiner Vermögensdelikte, sehr wohl aber für verhältnismäßige Reaktionen darauf.

Allein das Wort „Strafverfolgung“ ist für viele der betroffenen Menschen unpassend. Das amerikanische Wissenschaftsprojekt „We are all criminals“ dokumentiert, dass die laut Strafregister ihr Leben lang unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger jede Menge Straftaten begangen haben. Unsere Praxis, sehr viel an Energie in die Aufklärung und Verfolgung kleinster Regelverstöße zu stecken, erscheint angesichts dieser Realität doppelt unsinnig. Unsere Gesellschaft, unser Staatssystem, unser Wohlstand sind von Vorgängen wie jenen rund um die Hypo Alpe Adria real bedroht; von einer Schwankung der Ladendiebstahlsstatistik um ein oder zwei Prozent bestimmt nicht.

Mehrere Jahre Haft für einen Wirtschaftskriminellen sind unangemessen, heißt es oft. Es sei doch niemand verletzt worden, wo bleibe denn die Verhältnismäßigkeit zu Körperverletzungsdelikten. Ich antworte dann zumeist mit Geschichten aus meinem Gerichtsalltag, denn das erste Ziel muss sein, vergleichbare Delikte gleich zu behandeln.

Zwei Fälle sollen das veranschaulichen. Da ist zunächst die junge Frau, die in Tschechien aufwächst und nach der Matura drogensüchtig wird, wir nennen sie Lena. Lena konsumiert jahrelang täglich ein Gramm Kokain oder Heroin. Trotz einer medikamentösen Entzugsbehandlung gibt es immer wieder Rückfälle. Ihre Drogensucht finanziert Lena durch kleine Diebstähle. Dafür wird sie in Tschechien 19-mal vorbestraft. Meistens werden Geldstrafen oder bedingte kürzere Freiheitsstrafen verhängt. 2008 fährt die damals 27-jährige Lena mit einer Freundin nach Österreich und begeht weitere Ladendiebstähle. Wieder sollen mit dem Gewinn Drogen für den Eigenkonsum angeschafft werden. Als die beiden Freundinnen erwischt werden, beträgt der Schaden an gestohlenen Kosmetika insgesamt 2900 Euro. Die Strafe dafür: drei Jahre und neun Monate Gefängnis.

Lena hat den Eindruck, dass ihrer Pflichtverteidigerin der Fall egal ist. Die Verteidigerin verzichtet auf eine Berufung gegen das enorme Strafausmaß. Lena verbringt die folgenden Jahre in österreichischen Haftanstalten. Sie, offenkundig hoch begabt, spricht nach Selbststudium heute ein nahezu perfektes Deutsch. Auch in der Haft pflegt sie sich, liest, versucht, den Anschluss an das Leben draußen nicht zu verlieren. Ihre Familie lebt bei Prag. Einmal im Monat kommt ein Angehöriger nach Wien, um Lena zu besuchen. Lena ist sozial angepasst und selbstreflektiert. Und doch ist sie durch die Haft seelisch gebrochen. Das Urteil spricht davon, dass in diesem Fall nur eine drakonische Strafe helfe. Unter dem Strich: knapp vier Jahre Gefängnis für einen Schadensbetrag von weniger als 3000 Euro für eine junge Frau, die so ihre Drogenkrankheit finanziert.

Oder eine Verhandlungssituation kurz vor Weihnachten. Zwei Angeklagte kommen in den Gerichtssaal: ein junger Bursch, nennen wir ihn Marko, und seine ebenfalls angeklagte Tante. Marko ist 16 Jahre alt, er besucht ein Gymnasium in Wien. Der Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe spricht davon, dass Marko mutmaßlich mehrere Jahre lang sexuell missbraucht wurde. Das Gericht möge das Thema nicht ansprechen, sondern eher eine Weisung zur Psychotherapie erteilen.

Im Bericht der Jugendgerichtshilfe heißt es: „Marko ist ein sensibler, reflektierter junger Mann. Die Kontrolle verliert er, wenn überhaupt, nur dann, wenn seine Familie angegriffen wird.“ Die Mutter ist vierzig Jahre alt. Sie hat Krebs mit einer schlechten Prognose. Die nächsten sechs Monate wird sie überwiegend stationär im Krankenhaus verbringen. Die gesamte Familie ist in Psychotherapie, um die Krankheit durchzustehen. „Marko hat fast lauter Einser, trotzdem“, sagt die Tante im Gerichtssaal. Marko weint, als sie das sagt.

Marko und seine Tante sind wegen Körperverletzung angeklagt: Markos kleiner Bruder hat im Park gespielt, die Kinder sind laut. Ein 18-jähriges Mädchen, das sich mit zwei Freundinnen im Park aufhält, ohrfeigt den Kleinen. Der Kleine blutet an der Lippe: Er ist Bluter, Marko und seine Tante geraten in Zorn und Panik, sie laufen in den Park. Es kommt zu einer Rangelei. Die Mädchen rufen immer wieder: „Zigeuner, Zigeuner“, denn Marko und seine Tante haben eine dunkle Hautfarbe. „Das war nicht in Ordnung“, sagt die Tante und fügt hinzu: „Aber ich bin eh stolz darauf.“ Schließlich rangeln rund 15 Personen im Park miteinander. Das Mädchen, das die erste Ohrfeige ausgeteilt hat, hat danach Kratzspuren am Hals und ein paar Haarbüschel weniger.

Marko und seiner Tante bringt das eine Anklage ein. Im Gerichtssaal kichern und lachen die Mädchen pubertär, während Marko noch immer weint. Eine harmlose Parkstreitigkeit, wie sie sich in Wien jeden Tag zigmal abspielt; wie sie von kompetenten Polizeibeamten in den meisten Fällen vor Ort beruhigt und ohne Anzeige geschlichtet wird oder von sensiblen Anklägern mit alternativen Maßnahmen geregelt wird, ohne sie vor Gericht zu bringen. Wer von uns weiß, wie sich die wochenlange Ungewissheit einer bevorstehenden Gerichtsverhandlung auf einen sensiblen 16-Jährigen auswirkt, der für die Familie sorgt und mit der lebensbedrohlichen Erkrankung seiner noch jungen Mutter umgehen muss?

Vor Gericht selbst lässt sich die Sache nach einer Entschuldigung und einer Schmerzensgeldzahlung von fünfzig Euro schnell mit einer Verfahrenseinstellung regeln. Die Mädchen, auch erschrocken von Markos Geschichte, wollen am Ende das Geld gar nicht recht annehmen.

Der oft sorglose Umgang mit Menschen und ihren Schicksalen in der Strafpraxis wird unseren Strafgesetzen nicht gerecht. Sie sind von aufgeklärtem Geist getragen und haben den Menschen im Fokus, egal ob es um Täter oder Opfer geht. Man braucht bloß auf die Strafzumessungsgründe zu sehen: Das Strafgesetzbuch nennt viel mehr Milderungs- als Erschwerungsgründe. Die Herausforderung liegt also in der sorgsamen Anwendung der Gesetze und im Verzicht auf Floskeln und Formalismen, die die Menschen hinter dem Papier vergessen.

Die große Herausforderung, vor der die Justiz steht, ist, für eine durchgehende Modernisierung, das heißt Humanisierung von Kommunikation und Justizabläufen zu sorgen. Wer sich darauf einlässt, Menschen zuzuhören, allen gleich viel Zeit und Chancen zu geben, sich wenigstens kurz in Schicksale hineinzudenken und möglichst viel davon in die Entscheidungen einfließen zu lassen, der wird in den Rechtsberufen Erfüllung finden. Und zugleich einen kleinen Beitrag zu einem besseren Zusammenleben leisten und feststellen, wie faszinierend die Lebenswege, denen man begegnet, in ihrer Buntheit, Skurrilität, aber auch in ihrer Traurigkeit sind.

Vorbemerkung

Eine funktionierende Justiz trägt dazu bei, einen Ort lebenswert zu machen. So wie das Bildungs- oder Gesundheitssystem bildet die Gerichtsbarkeit einen Eckpfeiler des demokratischen Rechtsstaats. Kompetente Familiengerichte schützen Kinderrechte, ein gutes Grundbuch- und Firmenbuchsystem stärkt den Wirtschaftsstandort, ein effizientes Strafrechtssystem schafft Sicherheit im Land.

Das Recht ist ein weites Feld, es reicht vom Strafrecht über das Urheberrecht bis hin zum Beihilfen- oder Ausschreibungsrecht. Wie auch anderswo, ist die Spezialisierung weit fortgeschritten. Dieses Buch versucht einen Überblick über Bereiche der Justiz zu geben, die deshalb so sensibel sind, weil sie starke Eingriffe in Biografien vorsehen: also etwa Strafrecht, Familienrecht oder Erwachsenenschutzrecht. Anhand dieser Felder wird aufgezeigt, unter welchen Rahmenbedingungen die Gerichtsbarkeit ausgeübt wird. Österreich zählt zu den reichsten, bestorganisierten Staaten der Welt; auch die Justiz ist auf einem entsprechend guten Niveau. Recht und Gerichtsbarkeit entwickeln sich heute aber so dynamisch, dass größte Anstrengungen nötig sind, um nicht den Anschluss an internationale Standards zu verlieren. In zehn Abschnitten geht dieser Band zentralen Fragen unseres Rechtssystems nach: etwa der Frage nach der Existenz einer Klassenjustiz, dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, der europäischen Perspektive oder dem demokratiepolitisch wichtigen Verhältnis von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht. Bei der Analyse wird auf bekannte Strafverfahren ebenso Bezug genommen wie auf den Alltag der Bezirksgerichte.

Alle Überlegungen haben die aktuellen Entwicklungen in vielen Ländern der Erde als Hintergrund – es zeigt sich, dass auf einmal vieles wieder infrage steht, das uns abgesichert schien. Die Unabhängigkeit der Justiz gerät zunehmend unter Druck. In Ungarn, Polen oder der Türkei haben die politischen Machthaber bereits einen maßgeblichen Einfluss auf die Justiz gewonnen und das Prinzip der Trennung der Gewalten – Gesetzgebung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit – teilweise aufgehoben. Verbal wird die Justiz in vielen Staaten attackiert; wir können das in den USA oder in Italien, zuletzt aber auch in Österreich beobachten. Dazu kommt, dass die österreichische Justiz durch Einsparungen und Stellenabbau in ihrer Funktionsfähigkeit gefährdet ist. Das macht es notwendig, darüber nachzudenken, wie die Unabhängigkeit der Justiz bestmöglich abgesichert werden kann. Wie organisiert man das Justizsystem so, dass es über eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung verfügt und die Unabhängigkeit der Justiz einen Wert für eine breite Schicht darstellt?

Recht und Justiz haben dem Menschen zu dienen. Die Qualität der Justiz bemisst sich unter anderem danach, wie menschengerecht und menschlich Recht und Gerichte organisiert sind. Die Untersuchungen der zehn Kapitel dieses Buches zu Fragen, wie unser Strafrechtssystem Ressourcen einsetzt, wie die Unternehmenskultur der Justiz aussieht oder wie das Verhältnis von Medien, Politik und Justiz ausgestaltet ist, zeigen: Bei aller Anerkennung des Erreichten, es ist noch viel Platz für Verbesserungen. Vor allem aber fehlt es an jenen Visionen, die großen Innovationsschüben in der Regel vorangehen. Solche Visionen sollen in diesem Buch skizziert werden.

Es fasst Überlegungen zusammen, die im Laufe einer langjährigen Tätigkeit in der Justiz gewachsen sind und sich verdichtet haben. Um konkret zu werden und der Politik Handlungsanleitungen zu bieten, stehen am Ende jedes Kapitels mehrere Vorschläge, die als Thesen formuliert sind.

Ich danke dem Falter Verlag dafür, dass er die Idee einer Publikation frühzeitig unterstützt hat. Namentlich gilt mein Dank Florian Klenk, Armin Thurnher und Siegmar Schlager. Armin Thurnher danke ich für die durchgehende persönliche Betreuung des Projekts, für viele Einwürfe und Anregungen und die Genauigkeit in formaler und sprachlicher Hinsicht. Besonderer Dank gilt Susanne Schwameis vom Falter Verlag für ihre Umsicht und Unterstützung. Anna Portenschlager und Tamara Rubey danke ich nicht nur für die redaktionelle Unterstützung, sondern auch für wertvolle inhaltliche Hinweise. Ich bin meinen Eltern, beide Juristen, dafür verbunden, dass sie mir einen von Solidarität und Mitgefühl geprägten Zugang zur Gesellschaft, aber auch zum Recht vorgelebt haben. Ich danke den vielen Menschen, die mich zu den hier niedergeschriebenen Ideen und Gedanken angeregt, mich unterstützt und durch ihre Freundschaft gestärkt haben. Und ich danke einem Menschen, für den all das gilt und dessen Liebe mich trägt: Danke, Mira.

1. Recht und Gerechtigkeit in Literatur und Kunst

Nähern wir uns dem Thema von Recht und Gerechtigkeit über einen Seiteneingang: die Kunst. Kann sie uns helfen, unser Rechtssystem besser zu verstehen und zu entwickeln? Die Kunst hat der Justiz einiges zu bieten. Die Justiz kann sich Kunst zum Beispiel zunutze machen, indem sie sie direkt in das Modell ihrer Aus- und Fortbildung integriert.

Literatur und Recht sind seit jeher in vielfältiger Weise miteinander verknüpft. Neben der Liebe und dem Tod gehören Recht und Gerechtigkeit zu den wesentlichen Fragen des Lebens, mit denen sich die Literatur seit der Antike beschäftigt und die sie zu ihren großen Themen gemacht hat. Somit kommt auch der Person des Richters als literarischer Figur eine gewisse Bedeutung zu. Wir können hier ruhig die männliche Form verwenden, da Richterinnen erst im 20. Jahrhundert auftreten und in der Literatur kaum präsent sind. Der Richter ist, ähnlich dem Priester, in allen Gesellschaftsformen seit der Antike weitgehend unverändert eine die Gesellschaft tragende Figur. Die Verbindung zwischen Recht und Literatur wird dadurch verstärkt, dass viele große Schriftsteller ausgebildete Juristen waren und sind.

Man denke nur an Goethe, Kleist, Grillparzer, Storm, Kafka oder Tucholsky. Die Tradition des schreibenden Richters wird heute etwa von Janko Ferk oder Bernhard Schlink fortgeführt. Nicht selten steht, wie etwa bei Thomas Bernhard, die Beschäftigung mit der Gerichtsreportage am Beginn einer Schriftstellerkarriere oder wird, wie bei Karl Kraus, zu einer zentralen schriftstellerischen Betätigung.

Zu dieser Verbindung von Literatur und Recht trägt auch die Nähe jeder Gerichtsverhandlung zum Schauspiel bei. Theater und Gerichtssaal sind weitgehend austauschbare Spielstätten. So wie das Theater ist die Gerichtsverhandlung mit Ritualen und Symbolen aufgeladen. Die eigentümliche Sprache, die Talare der Richterinnen und Richter, die Roben der Verteidigerinnen und Verteidiger, der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die feierliche Verkündung des Urteils – das alles sind Elemente des öffentlichen Regelungs- und Reinigungsprozesses, wie ihn vor allem die Strafverhandlung darstellt.

Die Sprache ist das Hauptinstrument der Dichterinnen und Dichter und eines der wichtigsten, wenn nicht das elementare Mittel der Rechtsberufe – eine weitere Verbindung von Recht und Literatur. Wenige Berufe sind so auf die Sprache und auf Ausdrucksfähigkeit angewiesen wie das Richteramt, produziert doch jedes einzelne Rechtsprechungsorgan jährlich hunderte bis tausende Seiten zum Teil doch recht individueller Texte. In Zivilsachen tätige Bezirksrichterinnen und -richter haben in Österreich rund hundert Urteile pro Jahr auszufertigen, die im Schnitt zwischen zehn und fünfzehn Seiten lang sind.

Die vielfältigen Verflechtungen von Recht und Literatur wurden von der Wissenschaft interessanterweise erst in neuerer Zeit systematisch bearbeitet, und zwar in der sogenannten Law and Literature-Bewegung, die in den 1980er-Jahren in den USA entstanden ist. Diese Bewegung hat heute im amerikanischen rechtswissenschaftlichen Diskurs einen fixen Platz. Law and Literature beschäftigt sich unter anderem mit der Analyse von literarischen Werken, dem Einsatz von Literatur in der juristischen Ausbildung und der Anwendung literaturwissenschaftlicher Methoden sowie der Rolle des Narrativen im Rechtsdiskurs.

Die Funktion der Richterinnen und Richter, die die Streitigkeiten der Bürgerinnen und Bürger beilegen und den Rechtsfrieden herstellen sollen, finden wir in allen Gesellschaften und Epochen. Aufgaben und Grenzen der richterlichen Tätigkeit werden in Rechtswissenschaft und Philosophie, je nach eigenem weltanschaulichem Standpunkt, mit gewissen Abweichungen beschrieben – so spielt es etwa eine Rolle, ob jemand dem Naturrecht oder dem Rechtspositivismus anhängt. Ungeachtet der verschiedenen Definitionen des Berufsbilds ist die Rolle der Richterinnen und Richter für jede Gesellschaft zentral. Die Entwicklung der Rechtsprechung in Arbeits- und Sozialrechtssachen, in Asyl- und Mietangelegenheiten, die Entscheidung, ob Straftätern Bewährungshilfe gewährt oder eine Therapie bewilligt wird, der Umgang mit den Opfern von Straftaten – all dies sind gesellschaftlich relevante Fragen und Beiträge zur Entwicklung jeder Gemeinschaft. Das Rechtsprechen wird hier zu einer in höchstem Maße politischen, wenn auch im zu wünschenden Regelfall nicht parteipolitischen Aufgabe. Und die Bedeutung der Gerichte wächst, zumal die Politik immer öfter heikle Fragen offenlässt. An die Stelle des unentschlossenen Gesetzgebers treten die (Verfassungs-)Gerichte. Die Vorstellung von Montesquieu, Richter sollten nur willenlose Wesen sein, nicht mehr als der „Mund des Gesetzes“, ist damit heute nicht haltbar.

Richterinnen und Richter sind aber auch selbst unmittelbare Zeuginnen und Zeugen gesellschaftlicher Entwicklungen: Zum einen schlägt sich etwa eine Verarmung oder zunehmende Verschuldung bestimmter Personengruppen sehr rasch in steigender Kriminalität oder in einer Zunahme der Zahl der Exekutionsverfahren nieder. Zum anderen legen die Personen, die vor Gericht aussagen, in der Regel ihren Alltag und ihr Denken sehr bereitwillig offen. Wenige Berufe gewinnen daher einen so umfassenden Eindruck von den Lebensverhältnissen der Menschen wie Richterinnen und Richter. Ihre Berichte – wie das „Tagebuch“ des Richters Dante Troisi („Diario di un giudice“, 1955) – sind deshalb spannende zeitgeschichtliche Dokumente.

Vor allem die Fragen nach Gerechtigkeit und Wahrheit sind es wohl, die das Richteramt für die Literatur so spannend machen. Es herrscht Unsicherheit über die Existenz von Wahrheit und Willensfreiheit. Die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was wahr und was gerecht denn bedeuten, zeigen: Wer Recht spricht, begibt sich auf gefährliches Terrain.

Um Ordnung und Rechtssicherheit zu gewährleisten, verleiht der Staat dem Richterspruch Autorität. Urteile, und seien sie auch noch so irrig, werden mit staatlicher Hilfe durchgesetzt. Philosophische Rechtfertigungen für richterliche Entscheidungen bleiben ungewiss. Vielleicht ist es heute zweckmäßiger, mit Begriffen wie Wahrheit und Gerechtigkeit sparsam umzugehen und besser von Spielregeln zu sprechen, die sich in den Gesetzen ausdrücken und allen bekannt sein sollten.

Eine weitere zentrale Fragestellung der richterlichen Berufsausübung ist die Willensfreiheit des Menschen. Das gesamte Strafrecht, letztlich aber auch das Zivilrecht, baut auf der Grundthese auf, dass sich der Mensch aufgrund seiner Willensfreiheit für oder gegen bestimmte Taten und Handlungsweisen entscheiden kann. Im Strafverfahren wird bestraft, wer Schuld hat. Die zentrale Frage, ob der Mensch in seinen Handlungen determiniert oder nicht determiniert ist, ob man also jemandem die Entscheidung für das Unrecht zum Vorwurf machen kann oder ob jeder in seinen Entscheidungen vorherbestimmt ist, ist in der Philosophie strittig und wird sich wohl nie lösen lassen. Die richterliche Tätigkeit leidet daher in diesem Punkt in gewisser Weise immer an einem Legitimitätsproblem, das nur durch pragmatische Erklärungskrücken gelindert werden kann. Selbst neueste Erkenntnisse der Hirnforschung helfen in der Frage der Willensfreiheit nicht weiter. So meint der langjährige Präsident des Wiener Jugendgerichtshofs, Udo Jesionek, tatsächlich fühle sich der Mensch in seinen Handlungen frei, weshalb die Menschen Strafen für Unrecht auch als gerecht akzeptieren würden. Dieser Ansatz findet Unterstützung in der Tatsache, dass nur ein geringer Prozentsatz von Verurteilungen im Strafverfahren bekämpft wird.

Bei Richterfiguren in der Literatur denkt man zuerst an Werke wie Kafkas „Prozess“, die Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“ oder an den „Zerbrochnen Krug“ von Kleist. Richter begegnen uns in der Literatur von den griechischen Dramen der Antike und alten religiösen Schriften (der Richter Salomon im Alten Testament oder Pontius Pilatus) bis zur Kriminalliteratur der Gegenwart. Allerdings treten Richterfiguren nur eher selten in literarischen Werken hervor oder tragen gar die Handlung. Häufiger sind es Fragen von Recht und Gerechtigkeit, von – nicht nur bei Dostojewskij – Schuld und Sühne, die im Mittelpunkt stehen, und weniger die Figur eines konkreten Richters. Nur in Ausnahmefällen wie dem „Zerbrochnen Krug“ können wir also einem Richter in der Literatur bei der Arbeit zusehen. Wo das der Fall ist, konzentriert sich das Interesse der Kunst auf den Strafrichter. Nicht anders ist es bei der Prozessberichterstattung in den Medien. Auch hier gilt fast die gesamte Aufmerksamkeit den Strafverhandlungen, die jedoch nur einen vergleichsweise geringen Anteil an allen Rechtsprechungstätigkeiten ausmachen. Aber das Strafrecht ist eben näher an den Grundfragen des Lebens und an den entscheidenden philosophischen Fragen. Dies mag seinen Reiz ausmachen.

Manche Probleme, wie die Ausübung besonderer Formen der Gerichtsbarkeit, etwa der sogenannten Besatzungs- oder Siegerjustiz, die sich im letzten Jahrhundert zu einer internationalen Gerichtsbarkeit entwickelt hat, ziehen sich durch die Epochen, von der Beschreibung der Gerichtsverhandlung des Pontius Pilatus im Neuen Testament bis zu Peter Handkes „Rund um das Große Tribunal“.

Nach Richterinnen suchen wir in der Literatur vergeblich. Zwar beträgt der Frauenanteil in der österreichischen Richterschaft heute mehr als fünfzig Prozent. Aber historisch waren Frauen die längste Zeit nicht nur vom Richteramt, sondern von den rechtswissenschaftlichen Studien überhaupt ausgeschlossen. Es ist heute schwer vorstellbar, dass erst im Jahr 1887 mit Emily Kempin-Spyri die erste Juristin in Europa, an der Universität Zürich, promovierte. Es dauerte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass Frauen in Österreich in die Rechtsprechung gelangten. Erst 2007 erhielt Österreichs Oberster Gerichtshof zum ersten Mal eine Präsidentin.

Welches Bild der Richter finden wir in der Literatur gezeichnet? Die positiven und negativen Darstellungen halten sich, und zwar in allen literaturgeschichtlichen Epochen, die Waage. Die Beschreibungen der Richter schwanken zwischen den beiden folgenden Extremen:

„Darum nimmt man auch beim Streite seine Zuflucht zum Richter. Zu ihm zu gehen bedeutet zur Gerechtigkeit zu gehen. Denn der Richter soll so etwas wie eine beseelte Gerechtigkeit sein, und man sucht einen maßvollen Richter, und einige nennen sie ‚Mittelsmänner‘ …“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik) „Immer war der Richter ein Lump, jetzt soll der Lump ein Richter sein.“ (Brecht, Der kaukasische Kreidekreis)

Wir stoßen auf das Phänomen, dass der Beruf des Richters bzw. der Richterin bei Umfragen in der breiten Bevölkerung nach wie vor hohes Ansehen genießt. Gleichzeitig gibt es gerade in der deutschsprachigen Literatur eine Tradition harter Kritik an der Justiz und ihrem Umgang mit den vor dem Richtertisch stehenden Menschen. Diese Kritik stützt sich mitunter auf – wie im Falle von Karl Kraus – sehr intensive Prozessbeobachtung. Sie setzt frühzeitig ein, etwa mit dem in Vergessenheit geratenen Franz Xaver Huber im 18. Jahrhundert. Gut hundert Jahre später, knapp nach 1900, treffen wir auf die harsche, satirische Justizkritik von Karl Kraus, die sich allerdings nicht nur gegen die Prozessführung der Richter, sondern gleichermaßen gegen den Gesetzgeber mit dessen „grauenvollen Strafgeboten“ richtet. Das liest sich etwa folgendermaßen:

„Johann Feigl, Hofrat und Vizepräsident des Wiener Landesgerichts, hat als Vorsitzender einer Schwurgerichtsverhandlung am 10. März 1904 einen dreiundzwanzigjährigen Burschen, der in Not und Trunkenheit eine Frau auf der Ringstraße attackiert und ihr die Handtasche zu entreißen versucht hatte, zu lebenslänglichem schweren Kerker verurteilt.“

Um nichts weniger hart fällt die Kritik Kurt Tucholskys an der deutschen Justiz aus:

„Eine der unangenehmsten Peinlichkeiten in deutschen Gerichtssälen ist die Überheblichkeit der Vorsitzenden im Ton den Angeklagten gegenüber. Diese Sechser-Ironie, verübt an Wehrlosen, diese banalen Belehrungen, diese Flut von provozierenden, beleidigenden und höhnischen Trivialitäten ist unerträglich.“

Nicht selten knüpft die Literatur an die politischen Vorgänge an, an Justizsysteme, die sich von den Machthabern instrumentalisieren lassen. Werke von Leonardo Sciascia, „Der Zusammenhang“, und Anatole France, „Crainquebille“, sind Beispiele dafür. Das Thema „Justiz und Nationalsozialismus“ hat in der deutschsprachigen Literatur unter anderem Thomas Bernhard in seinem Stück „Vor dem Ruhestand“ aufgegriffen. Bernhard nahm für dieses Stück Anleihen beim Fall des deutschen Ministerpräsidenten Hans Filbinger und führte das Thema Justiz, Politik und Nationalsozialismus in den Dramoletten „Der deutsche Mittagstisch“ (1978), „Freispruch“ (1981) und „Eis“ (1981) weiter.

Der Gerichtssaal, selbst in seiner modernen architektonischen Ausgestaltung, ist ein dramaturgischer Ort. Die Rituale des Strafprozesses mit der Verlesung der Anklage, dem Abfragen der Personalien, der Frage nach dem Schuldbekenntnis und den Plädoyers schaffen eine eigene Welt, in der sich die Eingeweihten sicher bewegen und einfache Bürgerinnen und Bürger sich von Beginn an auf einer schiefen Ebene wähnen.

Wie immer man dieses Szenario bewertet, eine gewisse Faszination ist mit den Themen Strafprozess, Schuld, Sühne, Wiedergutmachung, Strafe und Ausgleich durchaus gegeben. Das Kino hat mit dem Gerichtsfilm früh ein eigenes Genre geschaffen. Sidney Lumets „Zwölf Geschworenen“ und Billy Wilders „Zeugin der Anklage“ mit Marlene Dietrich sind zwei bekannte Beispiele dafür, beide 1957 entstanden. Heute findet die Beschäftigung mit dem Gerichtssaal, unserer Zeit entsprechend, vor allem im Fernsehen statt. Richterpersönlichkeit und Strafprozess werden mal mit mehr Esprit, etwa in amerikanischen Fernsehserien wie „Ally McBeal“ oder „Boston legal“, mal weniger geistreich, wie in den vor Jahren gehypten Gerichtsshows der deutschen Privatfernsehsender, abgehandelt. Als Verbindung zur Welt des Theaters finden wir in Letzteren regelmäßig den Überraschungszeugen als Deus ex Machina, der das Blatt wendet.

Freilich, die Rituale und die Sprache des Gerichtssaals sind heute zu hinterfragen. Die Kommunikation des Gerichts ist traditionell von jener des Alltags entfernt, eine Notwendigkeit dafür nicht immer erkennbar. Die Wahrheitsfindung als hochgehaltener Zweck des Gerichtsverfahrens lässt sich in natürlicher Umgebung wohl leichter herstellen als im Rahmen überholter Riten. Diese Erkenntnis setzt sich allmählich durch, jahrhundertealte Gepflogenheiten des Gerichtslebens fallen daher. Mussten früher alle Zeugen und Parteien vor der Richterbank stehen, selbst bei stundenlangen Befragungen, so verfügen sie seit rund zwanzig Jahren über einen Sitzplatz hinter einem kleinen Tischchen. Die Beeidigung wird nach und nach aus den Prozessordnungen gestrichen, die Erhöhung der Richterbänke wird reduziert oder fällt in modernen Gerichtsbauten ganz weg. Die Architektur ebnet den Weg zur gleichberechtigten Kommunikation.

Anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wo das Gericht die Parteien agieren lässt und Distanz die höchste Tugend der Richterinnen und Richter ist, stehen Österreich und Deutschland mit ihren Strafprozessen nach wie vor in der Tradition des Inquisitionsverfahrens, mit einer starken Rolle der Richterinnen und Richter, die die Strafverhandlung über die Maßen zu dominieren scheinen. Dialoge und fruchtbringende Gesprächssituationen sind die Ausnahme. Dieses Festhalten an einem überholten Verfahrenskonzept mag die traditionell heftige Richterschelte in der deutschsprachigen Literatur erklären.

Die Gegenwartsliteratur scheint den Gerichtssaal etwas aus den Augen verloren zu haben. Das mag man bedauern, denn die literarische Beschreibung und Intervention dokumentiert nicht nur den Justizalltag einer bestimmten Zeit, sie kann auch Fehlentwicklungen aufzeigen und korrigieren helfen. Zolas Beschäftigung mit der Affäre Dreyfus oder Anatole France’ Erzählung „Crainquebille“ sind gute Beispiele dafür. Aus der jüngeren Justizgeschichte böten etwa die Polizei- und Justizverfahren der Operation Spring (1999/2000) ausreichend Stoff, fragwürdige gesellschaftliche und justizielle Entwicklungen zu bearbeiten. Im Jahr 1999 wurden in einem anlaufenden Wahlkampf in Wien mehr als hundert afrikanische Flüchtlinge festgenommen und in der Folge zu exemplarischen Gefängnisstrafen wegen Drogenhandels verurteilt. Die Verfahren wurden vielfach kritisiert, der schwerwiegendste Vorwurf war jener des rassistischen Behördenvorgehens. Noch immer harrt dieser Fragenkomplex einer bereinigenden Aufarbeitung.

Das spätere Tierschützerverfahren (die Ermittlungen begannen 2007, die letzten Freisprüche wurden 2014 rechtskräftig) und der Wiener Prozess gegen den Demonstranten Josef S. im Jahr 2014 werden wohl in Zukunft in einem Atemzug mit der Operation Spring genannt werden. Die sogenannte BVT-Affäre (2018) um die Hausdurchsuchung in einer Spezialbehörde ist demokratiepolitisch der wahrscheinlich dramatischste Sachverhalt. Alle diese Verfahren sind dadurch gekennzeichnet, dass sie von polizeilicher Seite mit Vehemenz vorangetrieben und im Falle der Operation Spring sowie des Tierschützerverfahrens auch noch im Stadium des Gerichtsverfahrens polizeilich dominiert wurden – unter Ausnutzung aller dramaturgischen Effekte, die der Verhandlungssaal zulässt. Das beginnt bei einem Spalier von Sicherheitsbeamten, durch den sich Besucherinnen und Besucher der Verhandlungen den Weg bahnen mussten, und endet bei Polizeischülern, die einen guten Teil der Zuhörerplätze im Verhandlungssaal füllten, sodass interessierten Bürgerinnen und Bürgern nur wenige Restplätze zur Verfügung standen. Die Verbindung von Gerichtssaal und Bühne wurde noch augenfälliger, als eine Polizeibeamtin hinter einem Vorhang aussagte, sodass nur ihr Schattenbild zu sehen war.

Während die überhöhte Rolle der Richterinnen und Richter im Gerichtssaal zunehmend in der Kritik steht und auf den Boden heutiger Realität geholt wird, nutzen umgekehrt die anderen Verfahrensbeteiligten den Verhandlungssaal immer mehr als Bühne. Der gesellschaftliche Trend zur permanenten Inszenierung des Banalen, zur täglichen Ausrufung des Spektakels macht vor den Toren der Gerichte nicht halt. Staatsanwältinnen und Staatsanwälte trachten danach, sich als coole, moderne Ermittler im Sinne amerikanischer Fernsehserien in Szene zu setzen. Angeklagte versuchen, ihre Aussichten vor Gericht durch dramaturgische Effekte zu verbessern, und werden dabei von ihren Verteidigern tatkräftig unterstützt. Wir sehen Beschuldigte, die auf der Anklagebank wochenlang ihr krankes Bein hochlagern, Verdächtige, die ungeachtet ihres beträchtlichen Vermögens mit dem kleinsten am Markt befindlichen Wagen zur Vernehmung vorfahren, andere Angeklagte, die, bevor sie sich in der Gefängniszelle das Leben nehmen, ihre nationalsozialistischen Parolen ein letztes Mal im Gerichtssaal herausbrüllen. Auch den Angeklagten schadet letztlich die Überinszenierung. Die Öffentlichkeit liebt das Spektakel, doch übertriebene Selbstdarstellung ruft Missgunst auf den Plan und provoziert einen tiefen Fall.

Viele Rituale und Symbole des Gerichtssaals haben ihre Berechtigung, auch in der aufgeklärten Moderne. Die Robe macht Richterinnen und Richter als Vertreter der Staatsmacht, die ihre Gesetze umsetzt, erkennbar. Der Mensch tritt hinter der Rolle zurück. Die Überinszenierung freilich schadet auch im Fall des Gerichts. Es beschädigt das Ansehen des Staates, wenn sich Justizorgane überhöhen. In gewisser Weise jedoch werden die Verfahrensbeteiligten, die vor Gericht ihre Position durchbringen möchten und lange Aufgestautes erstmals vor einer staatlichen Autorität darlegen können, den Verhandlungssaal immer als Bühne, ja als ihre