Mut zur Verletzlichkeit - Julia Effertz - E-Book

Mut zur Verletzlichkeit E-Book

Julia Effertz

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Beschreibung

Vertrauen, Geborgenheit, Berührung, Nähe, Nacktheit, Sex: Wir sehnen uns nach Intimität, denn sie ist Voraussetzung für Beziehungen mit Tiefgang, meinen aber alle etwas Anderes damit. Denn haben wir nicht gelernt, was echte Intimität eigentlich bedeutet oder wie wir zu ihr finden – sagt zumindest Julia Effertz. Und als Deutschlands erste Intimitätskoordinatorin muss sie es ja wissen.

Deutschlands erste was? Julia betreut Schauspieler*innen beim Dreh intimer Szenen, die mithilfe von minutiös geplanten Choreografien, der bewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen und Grenzenund Methoden wie Berührungsvereinbarung oder Check-Outs gemeinsam erarbeitet werden. Von den Beteiligten bekommt sie danach oft gesagt: „Julia, das was wir hier lernen, müssten wir in unseren Beziehungen daheim eigentlich genauso praktizieren.“

Ihre Erkenntnisse lassen sich also mühelos aufs echte Leben übertragen und liefern Mehrwert für die Verbindungen, die wir eingehen: Warum führen wir erst eine Beziehung auf Augenhöhe, wenn wir uns seelisch nackt machen, und was bedeutet das? Was haben die medialen Bilder und Narrative, mit denen wir aufwachsen, damit zu tun, dass wir oft unsere eigenen Bedürfnisse aus den Augen verlieren und wir Intimität nicht bewusst gestalten? Wie können wirwirkliche Intimität erreichen und in unserer Partnerschaft wahrhaftig berühren und berührt werden?

Mit ihrem Plädoyer für eine neue Verletzlichkeit und eine achtsame Intimitätspraxis verhilft Julia Effertz den Leser*innen, ihre Beziehung auf die nächste Ebene zu heben – für eine größere Vertrautheit, mehr Selbstakzeptanz und echte Nähe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 275

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Julia Effertz

Mut zur Verletzlichkeit

Intimität neu denken, echte Nähe zulassen, erfülltere Beziehungen führen

Impressum

Alle in diesem Buch veröffentlichten Aussagen und Ratschläge wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden, ebenso ist die Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Für die Inhalte der in dieser Publikation enthaltenen Links auf die Webseiten Dritter übernehmen wir keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer

1. Auflage

Originalausgabe

© 2024 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling

Covergestaltung: Luca Feigs

Redaktion: Iris Rinser, Großkarolinenfeld

Layout und Satz: Luca Feigs

Herstellung: Anne-Katrin Brode

ISBN 978-3-7459-2250-9

www.emf-verlag.de

Inhalt

„Ich bin Intimitäts­koordinatorin“ – „Wie bitte?“

Ein Hashtag, der die Welt verändert hat, oder: Wie ich einen neuen und sehr ungewöhnlichen Beruf kennenlernte …

… und wie ich Deutschlands erste Intimitätskoordinatorin wurde

Hauthunger: Erste Gedanken über unser privates Erleben von Intimität

Eine Landkarte mit Reiseeinladung

Teil I Hinterfragen

Intimität: Annäherungen an eine menschliche Sehnsucht

Vertraut und verborgen: Der spirituelle Ursprung von Intimität

Moderne Konzepte von Intimität

Hinterfragen: Intimität im Spannungsfeld von Sex und Konsumgesellschaft

Sex und Intimität wieder verbinden: Die Lehre des Kamasutra

Differenzieren: Intimität und Liebe

Intimität entsteht aus innerlicher Verbindung

Intimität neu denken: Das Tabu der Verletzlichkeit

Hinterfragen und neu denken: Wie sieht deine IntimitätsLandkarte aus?

TEIL II Verstehen

Die Bilder, die wir fühlen

Medienbilder: Verletzlichkeit im geschützten Raum

Liebe made in Hollywood: Mediale Prägung von Intimität

Intimitätskoordination: Wie man im Film emotionale Nähe herstellen kann

Schlechter Sex, schlechtes (Kopf-)Kino

Vom Leben inspiriert: Guten Filmsex choreografieren

Nur Ja heißt Ja: Von Consent und Grenzüberschreitungen

Sexualisierte Gewalt im Film: Der letzte Tango in Paris

Warum Pornos nichts mit Intimität zu tun haben

TEIL III Erleben

Intimität kultivieren

Die Übungen vorbereiten

Verletzlichkeit und Verbundenheit erleben

Liebevolle Berührungen praktizieren

Das Danach

Nachwort: Wie Intimität über das Private hinauswirkt

Danksagung

Anhang & Quellen

Für alle Menschen, die sich mehr Intimität wünschen.

Sprachliche Vorbemerkungen

Gendern oder nicht gendern – das ist die Frage. Ich selber bin sprachfluid: Ich bin mit drei Sprachen aufgewachsen und fühle mich bis heute in allen dreien zu Hause. Jede Sprache hat ihre Sicht auf die Welt und drückt sie auf ihre Art und Weise aus. Im Englischen, meiner zweiten Muttersprache, stellt sich die Frage nach dem Geschlecht praktischerweise nicht: „Actor“ meint Schauspielerin genauso wie Schauspieler. Und auf Deutsch? „Schauspielende“, „Schauspieler:innen“? Wenn ich spreche, dann gendere ich gerne, ich mag das Spiel mit Worten, und ich wechsle zwischen den Registern, wenn ich spreche. Trotzdem habe ich mich beim Schreiben dieses Buches für eine flüssigere Lesart entschieden, also dafür, nicht zu gendern.

Wo immer ich im Folgenden eine generische Form verwende, meine ich damit explizit alle Menschen: Frauen, Männer und non-binäre Menschen. Gleichzeitig ist mir wichtig, darauf hinzuweisen: Intimität hat kein Geschlecht, sie ist menschlich.

Dass Intimität universell ist, bezieht sich auch auf die Filmbeispiele in diesem Buch, die mehrheitlich eine heterosexuelle Intimität zwischen Frau und Mann darstellen. Dies war lange Zeit die Norm in Film und Fernsehen. Auch meine Arbeitspraxis findet zu großen Teilen in diesem Bereich statt – wenngleich sich unsere Geschichten langsam, aber sicher ändern. Und das ist auch gut so. Für meine Betrachtung von Intimität und der intimen Szenen in diesem Buch gilt daher immer auch: Ganz gleich, wie sich die Paarkonstellation nach außen darstellt, es geht immer um den menschlichen Kern, um die Intimität. Um menschliche Gefühle. Und die kennen weder Alter noch Geschlecht noch sexuelle Orientierung. Beispiele aus meiner beruflichen Praxis schildere ich anonymisiert.

„Ich bin Intimitäts­koordinatorin“ – „Wie bitte?“

„Sex sells“, so möchte man heutzutage meinen. Er verkauft sich gut und ist ein einfach darzustellendes Symbol für Intimität. Wir alle haben dazu sofort Bilder im Kopf. Sex ist griffig, knackig und kann verbal und körperlich (vermeintlich) einfach gefasst werden. Wir „haben“ Sex und „machen“ Liebe – oder entscheiden uns dagegen. Wir erleben Lust, Ekstase und damit einhergehend die Dopaminkicks im Gehirn. Früh erfahren wir in unserer Sozialisation, dass es Sex gibt, tasten uns heran, lernen, wie das mit dem Sex und seinen körperlichen Abläufen geht, und verbringen in der Regel unser Leben damit, Sex zu praktizieren und zu konsumieren – oder auch nicht. Im Konsum unbegrenzter sexueller Möglichkeiten wird uns sexuelle Befreiung suggeriert. Aber sind wir das wirklich, frei? Oder suchen wir nicht in Wahrheit etwas anderes: echte Intimität?

Sex und Intimität sind nicht das Gleiche: Intimität hat einiges mit Sex zu tun und geht oft einher mit einer gelebten Sexualität, dennoch ist Intimität in ihrem Kern etwas anderes.

Sex kann uns geistig, emotional und körperlich „satt“ machen – aber er kann uns auch einsam und hungrig zurücklassen; er kann uns eine zwischenmenschliche Verbindung über den Körper suggerieren, aber uns dabei genau die Nähe vorenthalten, nach der wir uns eigentlich sehnen. Und damit meine ich die Nähe, die Intimität, die Bindung schafft und den Kern unseres Menschseins und unserer seelischen und emotionalen Bedürfnisse nährt.

Mehr noch als Sex ist Intimität ein psychosoziales Grundnahrungsmittel, ein menschlicher Sehnsuchtsort – den wir brauchen und uns wünschen, aber den wir oftmals schwer greifen oder in Worte fassen können. Wir scheinen in unserer heutigen Zeit verbundener denn je durch moderne Formen der Vernetzung mittels Internet, Onlinedating, digitaler Kommunikation und einer selbstverständlichen Dauer-­Erreichbarkeit. Sex ist nur einen Klick oder Swipe entfernt und besticht durch vermeintliche Dauerverfügbarkeit und unendliche Variabilität. Gleichzeitig kann man nicht umhin, festzustellen, dass gerade diese virtuellen Verbindungen echte Nähe und Bindung nicht unbedingt fördern. Intimität in ihrer eigentlichen Bedeutung kann man weder klicken noch konsumieren, anders als Sex umweht sie der Hauch des Mysteriösen, des Nichtgreifbaren, des vielleicht auch Angstmachenden – und des Versprechens echter, tiefer Verbindungen, die uns mehr nähren als der beste Sex.

Wie wir Intimität verstehen, wie wir sie erleben und wie wir sie, vielleicht, für uns erfüllender und tiefer gestalten können – davon handelt dieses Buch. Es ist ein etwas anderes Buch über Intimität, denn ich betrachte das Thema aus meinem Blickwinkel als „Intimitätspraktikerin“. Ich gehöre selbst zu denjenigen, die mediale Bilder von Liebe, Sex und Nähe inszenieren, welche wiederum unsere privaten Vorstellungen und Praktiken von Intimität beeinflussen: Seit 2019 choreografiere ich als Deutschlands erste Intimitätskoordinatorin für Film, Fernsehen und Theater intime Szenen. Als erste Intim… wie bitte? Genau, Sie haben richtig gelesen: In-ti-mi-täts-ko-or-di-na-to-rin. Was für ein sperriger Begriff für einen noch recht neuen und nicht ganz alltäglichen Beruf! Die Bezeichnung sorgte damals, als ich 2019 diesen neuen Beruf nach Deutschland brachte, übrigens für den ersten Einwand meiner Gesprächspartner: „Aber Julia, das Wort klingt echt sperrig … so technisch … und irgendwie unsexy! Gibt es dafür nicht eine einfachere Bezeichnung? Oder irgendwie was … Kürzeres? So was wie Sex-Coach?“

Nun, einen Vorteil hat der sperrige Name: Er schafft interessante Gesprächssituationen mit fremden Menschen und hat bei mir sowohl im Privaten wie auch im beruflichen Kontext schon so manche spannende, tiefgründige, berührende Diskussion in Gang gebracht. Der Wunsch, über Intimität zu reden, ist bei vielen Menschen, unabhängig vom Geschlecht, vorhanden, und wir sollten öfter und mehr über sie sprechen.

Ich bin tatsächlich Intimitätskoordinatorin. Der Beruf entstand Anfang der Nullerjahre in den USA als „Intimacy Coordinator“, dort hatte er sich ursprünglich aus der Bewegungsarbeit der „Stunt Coordinators“ entwickelt, und daher kommt auch die Bezeichnung „Koordinator“. So wie die Stuntkoordination körperlich waghalsige Aktionen oder Szenen, in denen Gewalt dargestellt wird, choreografiert und bei einem Dreh absichert, so choreografiere ich Intimität und sichere den Dreh von intimen Szenen ab. Warum? Weil sowohl Stunt als auch Intimität Risikobereiche sind. Bei Stunt- und Kampfszenen können sich Schauspieler körperlich verletzen. Bei intimen Szenen können sich Schauspieler psychisch verletzen, es können persönliche Grenzen überschritten und die Intimsphäre verletzt werden. Das soll ich verhindern, denn unsere Intimsphäre ist ein sensibler Bereich, der zu Recht geschützt ist.

Film ist Illusion, und vieles sieht für uns als Publikum sehr echt aus, begeistert uns; wir glauben das, was wir sehen. Wenn Tom Cruise seine waghalsigen Stunts für Mission Impossible ausführt, dann sorgt ein Stunt Coordinator durch gute Planung, Choreografie und Absicherung dafür, dass er sich nicht verletzt und die Szene am Ende fantastisch aussieht. Auch wenn sich zwei Schauspieler in ihren jeweiligen Rollen für eine Szene schlagen müssen, sorgt eine Choreografie der ausgeführten Bewegungen dafür, dass sie sich nicht in echt schlagen. Die Schläge müssen für die Kamera echt aussehen, das Publikum soll später überzeugt werden. Aber das Blut ist nicht echt, es ist Kunstblut. So wie auch der Schweiß bei einer Sexszene nicht echt ist, sondern sorgfältig von Visagisten aufgetragen wird. Und auch wenn im Internet oft kolportiert wird, dass bestimmte Sexszenen in Film und Fernsehen echt seien, muss ich an dieser Stelle enttäuschen: Glaubwürdige Leidenschaft? Ja. Echter Sex? Nein. Schauspiel ist ein Handwerk und Film eine wunderschöne Illusion, die uns inspiriert, berührt und begeistert.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, eine stimmige, glaubwürdige, fesselnde Intimität darzustellen und gleichzeitig die persönlichen Grenzen der Darsteller zu schützen. Meine Hauptwerkzeuge dafür sind die drei „Cs“: Communication (Kommunikation), Consent (Einvernehmlichkeit) und Choreography (Choreografie).

Ich sorge bei allen Beteiligten für eine klare Kommunikation über die intime Szene, die gedreht werden soll: Was wird erzählt und wie wird es erzählt? Hierüber muss Einvernehmlichkeit bei allen Mitwirkenden herrschen, das heißt, ich sorge dafür, dass die Schauspieler klar ihre Grenzen benennen und ihren Consent geben können. Einvernehmlichkeit ist die Basis meiner Arbeit, sie ist unverzichtbar, um das psychische Verletzungsrisiko in der Darstellung intimer Szenen abzumildern. Kein Schauspieler muss über seine persönliche Grenze gehen, um einen bestimmten Inhalt darzustellen. Hier kommt als dritte Säule meiner Arbeit die Choreografie der intimen Szene ins Spiel, das Herzstück meiner Arbeit. So wie ein Stunt ist auch Intimität körperliches Geschichtenerzählen – „Storytelling“, wie wir das im kreativen Jargon nennen: die Geschichte, die Gefühle, Stimmungen, Intention erzählt und sich dabei über die Körper ausdrückt. Das, was uns Zuschauer berührt. Intimität hat sehr viel von einem „Körpertanz“. Wie sinnlich, erotisch oder leidenschaftlich der Tanz zweier Figuren sein kann – diese Körperlichkeit choreografiere ich, so wie man einen Tango oder ein Ballett choreografieren würde.

Meine Arbeit deckt ein breites Spektrum an Szenen ab: vom romantischen Kuss über intime Berührungen am Körper bis hin zu leidenschaftlichen Liebes- und Sexszenen, bei denen die Darsteller teilweise oder auch ganz nackt sein können. Auch Szenen, in denen sexualisierte Gewalt gezeigt wird, gehören dazu.

Intime Szenen sind für Schauspieler riskant, denn die Darstellung von Intimität exponiert einen Menschen ungemein und birgt ein reales psychosomatisches Verletzungsrisiko. Bei einem Stunt kann der Schauspieler sich Knochen brechen – bei einer intimen Szene kann die Psyche brechen. Diese Szenen verlangen einem Schauspieler mental und emotional sehr viel ab, außerdem sind Grenzüberschreitungen nicht immer sofort als solche erkennbar. Hier kommen wir zu einem wichtigen Begriff, der ganz eng mit dem Thema Intimität verwoben ist: Verletzlichkeit. Früher hat man grundlegend anders auf diese Dinge geblickt, und lange Zeit nahm man die Verletzlichkeit und die Verletzungen vor allem von Schauspielerinnen bei intimen Szenen billigend in Kauf. Dies änderte sich schlagartig mit einem Hashtag: #metoo.1

Ein Hashtag, der die Welt verändert hat, oder: Wie ich einen neuen und sehr ungewöhnlichen Beruf kennenlernte …

Im Oktober 2017 ging eine Nachricht um die Welt und erschütterte die internationale Filmbranche. Damals veröffentlichten zwei amerikanische Zeitungen, die New York Times und der New Yorker, sehr umfangreich recherchierte Berichte über den langjährigen und systematischen Machtmissbrauch des amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein. Weinstein, der „Gott Hollywoods“, hatte über Jahre die Geschicke der amerikanischen Filmbranche geprägt. Die von seiner Firma produzierten Filme wie Der englische Patient, Shakespeare in Love oder Kultklassiker wie Pulp Fiction schrieben Geschichte. Weinstein selbst hatte die Macht, Menschen zu Stars zu machen. Er konnte Karrieren fördern – oder sie zerstören, was im Zuge der Ermittlungen gegen ihn erschütternde Gewissheit wurde. Zahlreiche Frauen beschuldigten ihn der sexuellen Gewalt und der Ausübung von Zwang und Nötigung unter teils verdeckter, teils offener Androhung negativer Konsequenzen für ihre weiteren Karrieren, sollten die Frauen ihm nicht gefügig sein. In vielen Fällen konnte nachverfolgt werden, wie Karrieren zum Erliegen kamen, wie Schauspielerinnen auf Geheiß Weinsteins mit dem Argument, dass sie schwierig seien, nicht mehr für Rollen besetzt wurden, nachdem sie sich ihm verweigert hatten. Je mehr Fakten zutage traten, desto erschütternder wurde das Bild des jahrzehntelangen systematischen Machtmissbrauchs. Weinstein musste sich ab Januar 2020 vor Gericht verantworten und wurde in zwei aufeinanderfolgenden Gerichtsprozessen zu jeweils 23 und 16 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Aber es ging nicht nur um die Einzelperson, es ging um ein gesamtes System, welches all dies ermöglicht und dazu geschwiegen hatte. Hollywood hatte ein Problem – und Hollywood erkannte, dass es seine Strukturen hinterfragen und ändern musste.

Ich kenne die Geschichten meiner Kolleginnen und Kollegen gut. Zwar ist mir selbst in meinem Schauspielberuf nie etwas Schlimmes passiert. Aber viele, weibliche wie männliche, Schauspieler können von persönlichen Grenzüberschreitungen berichten, von Momenten, wo es nicht gut gelaufen ist: von anzüglichen Bemerkungen und abwertenden oder sexualisierenden Sprüchen über unerwünschte Berührungen des Körpers bis hin zu justiziablen Handlungen.

Weinstein ist kein Einzelfall, und Machtmissbrauch hat kein Geschlecht. Machtmissbrauch beim Film ist ein systemisches Problem, welches sich innerhalb bestimmter Hierarchien und Umgangsformen entwickelt – in diesem Fall in einer Branche, die seit Anbeginn der Filmgeschichte von starken Machtgefällen und Abhängigkeitsverhältnissen zuungunsten vor allem der weiblichen Darsteller geprägt war. Die sogenannten intimen Szenen waren und sind in diesem Kontext ein besonders sensibler Bereich. Die Geschichten von simulierten Sex- oder Nacktszenen erzählen sich Schauspieler im Privaten unter der Hand. Da man in diesem Beruf meist kurzfristig und projektbezogen arbeitet und sich sozusagen von Job zu Job hangelt, ist immer die Angst da, nicht mehr engagiert zu werden, falls man Kritik an übergriffigem Verhalten äußert. Oder wenn man weniger nackte Haut zeigen möchte, als im Drehbuch vorgesehen beziehungsweise von Produktion und Regie gewünscht ist. Es ist meiner Erfahrung nach so: Wenn man als Schauspieler eine Grenze setzt oder gar ein Problem damit hat, sich vor der Kamera auszuziehen, dann gilt man schnell als „schwierig“, und mit „schwierigen“ Schauspielern möchte niemand arbeiten.

Hier geht ein fehlgeleiteter Mythos von grenzenloser Kunstpraxis einher mit dem Missbrauch von Kunstfreiheit im Sinne der Überschreitung persönlicher Grenzen. Wa­rum? Jede Geschichte, die mir, auch heute noch, im Privaten erzählt wird, macht mich wütend und tut mir in der Seele weh. Dass so etwas überhaupt passiert, ist unnötig und unprofessionell, denn es geht anders und es geht viel besser! Es ärgert und schmerzt mich ungemein, wenn ich höre, wie ein Mensch emotional sowie psychisch zu Schaden gekommen ist. Warum? Die Darstellung von glaubwürdiger Intimität ist ein Handwerk. Ich weiß, wie man die größte Leidenschaft, die heißeste Erotik professionell kreiert, wie man selbst sexualisierte Gewalt oder andere hochgradig sensible, potenziell belastende Inhalte authentisch darstellen kann, ohne dass ein Mensch dabei über private Grenzen gehen muss oder dazu gezwungen und in seiner intimen Würde und Selbstbestimmung verletzt wird.

… und wie ich Deutschlands erste Intimitätskoordinatorin wurde

Als ich im Mai 2018 wie jedes Jahr zum Filmfestival in Cannes fuhr, sprach die gesamte Branche über #metoo. Bei einem Diskussionspanel zum Thema „Machtmissbrauch“ fiel mir ein Flyer über Intimacy Coordination in die Hände. Ich weiß noch, wie mein erster Gedanke beim Lesen dieses Flyers war: Wow – genau so muss es sein. Ich war sofort begeistert, weil mir die Logik dieses Berufes einleuchtete: Bei intimen Szenen sind Körperteile der Schauspieler in Aktion, die intim und privat sind – dass da immer auch Verletzlichkeit im Spiel ist, leuchtete mir sofort ein.

Als dann im Sommer 2019 erstmals eine Ausbildung zum Intimacy Coordinator in London angeboten wurde, bewarb ich mich auf der Stelle und flog nach London. Von 2019 bis 2020 lernte ich in England, 2021 absolvierte ich eine zweite Ausbildung bei der Intimacy Professionals Association (IPA) in Los Angeles, die eng mit der amerikanischen Künstlergewerkschaft SAG-AFTRA zusammenarbeitet.

Seit Anfang 2020 betreue ich die komplette Bandbreite intimer Szenen für Film, Fernsehen, Bühne – vom Krimi-Klassiker bis hin zur Streaming-Serie, vom Arthouse-Film bis zur Theaterproduktion, von zärtlichsten Handberührungen bis hin zum leidenschaftlichsten Sex, immer mit dem Anspruch, neben der Sicherheit von Cast und Crew eine aufrichtige, authentische menschliche Intimität auszuloten, die das Publikum wahrhaftig berühren kann. Neben positiver Resonanz gab es von Anfang an auch Widerstände – von Unverständnis hinsichtlich der Notwendigkeit dieses Berufes bis hin zu Ängsten, ich würde der Regie bei solchen Szenen ins Handwerk grätschen oder gar die künstlerische Freiheit einschränken. Ängste, mit denen sich ein Stuntkoordinator vermutlich nicht konfrontiert sieht, denn im Bereich von Gewalt und Kampf ist es klar, dass Qualität Sicherheit braucht. Heute sieht die Situation erfreulicherweise ganz anders aus und immer mehr Regisseure vertrauen auf mein Handwerk.

Es hat lange gedauert, bis ein Bewusstsein für belastende Situationen an Filmsets entstanden ist. Das lag zum einen an der generellen Sprachlosigkeit bei einem scham- und tabubehafteten Thema: Sex, Liebe, Zärtlichkeit. Schon im Privaten tun wir uns mitunter schwer, offen, liebevoll und frei von Scham und Unwohlsein über unsere gelebte Sexualität zu sprechen, über unser intimes Miteinander. Und bei der Arbeit ist es nicht anders: Auch beim Dreh von Intimität, Liebe und Sex herrschte lange Sprachlosigkeit. Es waren unbewusste Bilder, die man da reproduzierte – und die wir in unserer privaten Intimität wiederum als Bilder in unseren Köpfen abspeicherten. So schließt sich der Kreis. Natürlich, Film ist dazu da, sich in andere Welten zu träumen. Aber die breite Masse der Sexszenen folgt unbewusst reproduzierten Klischees, wie etwa diesem: Der Mann würde immer wollen und müsse die sich zierende Frau verführen. Lust würde in Minutenschnelle entstehen und der Sex funktioniere tipptopp. Erfüllende Intimität sei gleichbedeutend mit sexueller Performance … Sehr wenig ist uns noch bewusst, dass all diese Klischees unsere Vorstellungen von Intimität nicht unbedingt positiv beeinflussen. Und auch, dass dieses Prinzip des „Sex sells“ nicht der Schlüssel zu echter, erfüllender Intimität ist. Weder für Frauen noch für Männer.

Vor ein paar Jahren wurde ich auf einen Artikel des amerikanischen Psychologen und Paartherapeuten Jed Diamond aufmerksam, der den Titel trug: „The One Thing Men Want More Than Sex“, also „Die eine Sache, die Männer noch mehr wollen als Sex“.2 Jed Diamond erzählt in dem Text aus seiner langjährigen Praxis und stellt dabei eine grundlegende Erkenntnis seiner Arbeit vor: Zwar werde Frauen und Männern suggeriert, dass Männer immer Sex wollten – und dass unter dieser Prämisse in unseren westlichen Gesellschaften männliche Sozialisierung stattfinde. Aber das, was sich Männer eigentlich im intimen Kontakt mit einer Frau wünschten, sei etwas anderes, so Diamond, etwas, das sich hinter dem Klischee „Männer wollen immer nur das eine“ verstecke: Es sei die Sehnsucht nach einem sicheren Hafen. Es sei das Gefühl, sich in den Armen einer Frau fallen lassen zu können und dabei gehalten zu werden, ausruhen zu können, gesehen und „genährt“ zu werden, sowohl körperlich-sexuell als auch emotional, in der Geborgenheit der weiblichen Umarmung. Diamond spricht in diesem Kontext über heterosexuelle Verbindungen, da sich seine Berufspraxis auf diese Konstellation bezieht. Er erwähnt in seinem Artikel allerdings, dass diese Sehnsucht nach Nähe auch in homosexuellen Verbindungen präsent sei.

Dass Männer immer nur auf Sex aus seien, sei ein soziokultureller Mythos von Männlichkeit. Die eigentliche tiefe Sehnsucht hinter der sexuellen Handlung, so Diamond, sei die Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe, Akzeptanz und Halt: „Dann, wenn wir in ihrem Körper sind, können wir loslassen, wir selbst sein und von Liebe erfüllt sein. Das ist unser heimliches Verlangen beim Sex.“

Eine faszinierende Aussage, wie ich finde. Was mich an diesem Artikel außerdem faszinierte, war die Erkenntnis, dass es Männern, so Diamond, tendenziell schwerfalle, ihre tiefe Sehnsucht, ja ihre Bedürftigkeit gegenüber einer Frau zu kommunizieren – und dass es im Gegenzug Frauen häufig auch schwerfalle, Männern diese Sehnsucht zu erfüllen.

Aber am Ende geht es, auch im körperlichen Kontakt, immer um unser Grundbedürfnis nach Bindung und Nähe, und dies ist urmenschlich, egal ob Frau oder Mann, unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung. Und genau davon handelt dieses Buch – von der für mich persönlich schönsten Nebensache der Welt: Intimität. Und die ist so viel mehr, und so viel erfüllender als das heutzutage als trügerische Freiheit beworbene Prinzip einer vielfältig konsumierbaren Lust im kapitalistischen Korsett, welches uns weder frei macht noch satt. Wir müssen wieder lernen, echte Intimität von Sex zu differenzieren, und ich hoffe, dass wir dahin kommen, unsere menschliche Intimität wieder vollumfänglich zu verstehen und sie ganzheitlich zu leben. Erst dann sind wir wirklich sexuell (be)frei(t).

Hauthunger: Erste Gedanken über unser privates Erleben von Intimität

Auch bei mir ist es noch gar nicht so lange her, als ich mir zum ersten Mal richtig Gedanken über unsere alltäglichen Vorstellungen von Intimität machte. Das ging los im großen Lockdown im März 2020. Mit den Lockdowns gingen massive Einbußen im menschlichen Hautkontakt und in körperlicher Nähe einher: Wir alle bekamen eine soziale sowie haptisch-sinnliche Distanzierung verordnet, die mir persönlich körperlich wie seelisch wehtat. Ich selbst spürte diesen Schmerz wie so viele Menschen ganz besonders, denn ich lebte zu diesem Zeitpunkt alleine in meiner Wohnung und in einer anderen Stadt als meine engste Familie; trotz moderner Kommunikationsformen, trotz Bildschirmen und Möglichkeiten, sich entweder digital zu treffen oder zumindest auf Abstand an der frischen Luft – von einem Tag zum nächsten wurde mir ein für mein Wohlbefinden und für meine psychische Gesundheit essenzieller Hautkontakt untersagt. Mehr noch als die Worte „Covid“ oder „FFP2-Maske“ steht für mich ein anderer Begriff sinnbildlich für diese kontaktarme und mental schwer zu ertragende Zeit: „Hauthunger“. Dieser Begriff, der in anderen Sprachen wie im Englischen als „skin hunger“ oder im Dänischen als „hudsult“ bereits vor Corona etabliert war, bezeichnet nichts anderes als das unschuldige, zutiefst menschliche Bedürfnis nach Berührung im nicht sexuellen Sinn. Vielleicht liegt es an der Reserviertheit, die man uns Deutschen nachsagt – wir gelten gemeinhin nicht als taktile Menschen –, jedenfalls war der „Hauthunger“ im Deutschen lange kein Begriff. Dies änderte sich mit den Kontaktbeschränkungen der Pandemie.3

Der aus Kontaktsperre und Abstandsregelungen resultierende „Hauthunger“ hatte nachweisliche Konsequenzen für die psychische Gesundheit vieler Menschen während dieser Zeit. Es bleibt abzuwarten, inwiefern unsere Sehnsucht nach Berührung auch nach überstandener Pandemie weiter auf unsere mentale Gesundheit einwirkt und was die Langzeitfolgen hiervon sein werden.

Ich erinnere mich noch, wie ich damals, in Zeiten der Kontaktsperren und des akuten Berührungsentzugs, sehnsüchtig, fast neidisch auf Menschen in meinem Familien- und Bekanntenkreis blickte, die in Partnerschaften lebten, die Kinder hatten und damit auch Möglichkeiten für Hautkontakt und Berührungen. Auf der anderen Seite erlebte ich, wie Partnerschaften während der Pandemie zerbrachen: Die plötzliche, ständige Nähe, das „Aufeinanderhocken“, gekoppelt mit den zahlreichen anderen Stressoren dieser Zeit – Jobverlust, existenzielle Ängste, Gefühle der Hilflosigkeit, die massiven Einschränkungen im persönlichen Freiheitsempfinden – forderten ihren Tribut. Die Coronaregeln waren ein massiver Einschnitt mit Blick auf unsere zwischenmenschlichen Interaktionen, Beziehungen und auf unser Erleben von Berührung und Intimität.

Kurioserweise begann ich in der berührungslosen Zeit des ersten Lockdowns mit meiner Arbeit als Intimitäts­koordinatorin. Es war ziemlich surreal, denn natürlich waren zu Beginn auch die Film- und Fernsehproduktionen stark von den Einschränkungen betroffen. Die Bundesliga spielte vor leeren Rängen, aber sie spielte; Theater, Konzert­hallen und Kulturstätten dagegen wurden geschlossen, Drehs kamen zum Erliegen, was viele Künstler vor existenzielle Notsituationen stellte. Glücklicherweise erarbeitete die Kreativbranche zügig Hygienekonzepte, was die Wiederaufnahme von Produktionen beschleunigte. Aber die Frage stand für uns im Raum: Welche Geschichten von Intimität können und dürfen wir aktuell eigentlich noch erzählen? Welche Bilder von Intimität? Können wir überhaupt noch Sexszenen drehen? Müssen wir Küsse ab sofort auslassen? Können wir generell noch Geschichten menschlicher Nähe erzählen, oder müssen wir ab sofort transportieren, dass alle Menschen immer auf 1,5 Meter Abstand bleiben oder eine FFP2-Maske tragen sollten?

Der Gedanke, einen so essenziellen Teil unseres Menschseins, die Nähe, die Intimität, den realen Kontakt zwischen Händen, Lippen, Körpern, einfach so aus unseren Geschichten und unseren Bildern zu entfernen, lässt mich heute erschaudern. Aber damals stand dies als legitimer Gedanke im Raum, bedingt durch die Restriktionen der Zeit. Ich bin froh, dass es nie dazu kam. Neben rigorosen Testungen an Sets und anderen Maßnahmen wurde eine Zeit lang bei Drehs mit Sicherheitsabstand gearbeitet – ich selbst stand im Herbst 2020 für eine Krimiserie vor der Kamera und erinnere mich, dass wir unsere Szenen teils nach draußen an die frische Luft verlagerten oder, in geschlossenen Räumen, entsprechend mit Abstand spielten und zwischen den Takes gemäß den damals geltenden Hygienevorschriften unsere FFP2-Masken trugen. Wenn man heute bei manchen Produktionen aus der damaligen Zeit etwas genauer hinschaut, dann fällt einem hier und da der kleine Sicherheitsabstand auf.

In einer Zeit, in der viele Menschen Hauthunger erlebten, beschäftigte ich mich beruflich mit dem genauen Gegenteil: Berührung. In diesem surrealen Spannungsfeld wurde mir umso stärker bewusst, wie wichtig, ja unverzichtbar Intimität für unsere Geschichten und medialen Bilder ist. Und durch das Erarbeiten von intimen Darstellungen verstand ich, wie sträflich man diesen Bereich früher vernachlässigt hatte: Man hatte sie nie erarbeitet, hatte ihnen, anders als jeder Dialogszene, keine erzählerische Tiefe, Bedeutung oder kreative Funktion beigemessen, ja, man hatte sich bei solchen Szenen im Grunde gar keine Gedanken gemacht über die Intimität an sich, was sie ist und wie sie sich in diesem Moment ausdrückte, warum und in welcher Form. Die Intimität war historisch eine narrative Leerstelle. Das war für mich eine ebenso verblüffende wie wegweisende Erkenntnis.

Ich merkte mit jeder intimen Szene, die ich koordinierte, wie toll das Ergebnis wurde, wenn man Nähe bewusst gestaltet, sie mit Sinn füllt. Wenn wir Klarheit darüber schaffen, was für eine Intimität hier erzählt wird, was sie für die Figur emotional bedeutet und wie wir diese Gefühle in Bewegung und körperlichen Berührungen ausdrücken können, machen wir das Geschehen auf der Leinwand glaubwürdiger. Die Liebesszenen, die dabei entstehen, sind tiefer, voller, berührender und menschlicher.

Die Resultate sah und sehe ich bei jedem Dreh einer Szene, und ich sehe die Verantwortung, die wir tragen, für die Bilder, die wir für ein Publikum produzieren. Denn sie werden nicht einfach nur konsumiert, sondern sie berühren Menschen und regen zum Nachdenken und Träumen an. Filme, Medien beeinflussen massiv unsere Vorstellungen von Nähe, von Liebe, Sex und Berührungen und davon, was Intimität genau sein kann oder eben auch nicht. Je mehr intime Szenen ich betreute, desto deutlicher wurde für mich, dass eine bewusste Intimitätspraxis beim Dreh der Schlüssel zu einer bewussteren Intimitätspraxis im Privaten sein kann. Oder, einfacher ausgedrückt: Wir Filmschaffenden sollten unserer Verantwortung, wie wir Liebe und Sex erzählen, endlich gerecht werden.

Intimität ist immer auch ein Storytelling von uns Menschen für uns Menschen – die Bilder, die wir erzählen und die wir rezipieren, brauchen einen Gehalt, eine Bedeutung. In ihnen liegt immer auch ein Teil von uns, von unseren Gefühlen, unserer Weltsicht, unserem Verständnis von Menschsein.

Auch darum geht es in diesem Buch und auf unserer Reise durch die Welt der Intimität: um die Bilder in unserem Kopf, um unsere Sehnsucht und unsere Verletzlichkeit und um die Geschichten, die wir davon erzählen. Für mich gehören diese Bereiche zusammen, bedingen einander, seitdem wir Menschen die Welt um uns herum wahrnehmen und über uns nachdenken. Die Intimität war immer da, stets im Wechselspiel zwischen unserem Leben und unseren Geschichten vom Leben.

Eine Landkarte mit Reiseeinladung

Auch wenn Paare davon profitieren dürften: Mein Buch ist kein Beziehungsratgeber, sondern eine Bestandsaufnahme von Intimität heute. Sie ist ein unglaublich facettenreiches Thema, ein psychosoziales Grundbedürfnis, ein emotionaler Sehnsuchtsort, Ausdruck unserer Prägungen und Geschichten. Für mich ist Intimität, bildlich gesprochen, wie eine Landkarte, auf der wir uns bewegen, auf der verschiedene Betrachtungs- und Ausdrucksweisen von Nähe und menschlichen Beziehungen miteinander agieren, sich gegenseitig befruchten und manchmal auch widersprechen. Mit diesem Buch möchte ich versuchen, ein paar grundlegende Antworten auf die häufigsten Fragen zu geben, die mir im Kontext von Intimität oft gestellt werden. Aber noch viel mehr möchte ich bei euch, liebe Leserinnen und Leser, mit meinen Gedanken ein persönliches Interesse erwecken, sich mit dem Thema für sich im Privaten auseinanderzusetzen, die Intimität für euch selbst bewusst und vielleicht neu zu denken und insbesondere als etwas zu verstehen, was man nicht als diffuses Gefühl dem Zufall überlassen sollte.

Intimität ist Handwerk, Handlung, eine aktive Praxis, ein Tun. Wir können sie hinterfragen und besser verstehen, können und sollten sie für uns bewusst gestalten. Denn in einer bewussten Intimitätspraxis liegt der Schlüssel für eine erfüllendere Verbindung mit uns selbst und mit anderen Menschen, die uns wirklich nähren kann.

Intimität ist die übergeordnete Kraft im Raum und unser Kern, unabhängig davon, welche Beziehungsmodelle wir leben, unabhängig davon, ob wir single oder verheiratet sind, frisch verliebt oder langjährig verpartnert – und sie ist unabhängig von unserer sexuellen Orientierung und unserer geschlechtlichen Identität. Intimität ist kein „Sein“ oder ein „Das ist es jetzt“ im Sinne eines erreichten Zieles oder Zustandes. Intimität ist kein „Endgame“, sie ist ein fortlaufendes „Tun“ – von Moment zu Moment, solange wir leben.

Also, machen wir uns auf die Reise und schauen uns diese Landkarte etwas genauer an. Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert, die sinnhaft aufeinander aufbauen: Im ersten Teil hinterfrage ich unser Konzept von Intimität – und biete neue Denkansätze an. Was ist Intimität? Was ist sie nicht? Hier gehen wir assoziativ und explorativ vor, werfen den Blick auf verschiedene Aspekte von Intimität, auf ihre Begrifflichkeit – und auf die wichtigste Grundvoraussetzung, damit wir echte Intimität erleben können. Im zweiten Teil geht es konkret um unsere mediale Prägung von Intimität: Dort erkläre ich, wie wir die filmischen Bilder von Intimität verstehen können, was sie uns erzählen, was nicht – und woran man richtig guten Filmsex erkennt. Im dritten Teil wird es dann praktisch, und ich übergebe an dich, lieber Leser: In Form von konkreten Übungen lernst du, achtsame und bewusste Intimität in deiner Beziehung zu leben.

Teil I Hinterfragen

Intimität: Annäherungen an eine menschliche Sehnsucht

Was ist für uns „intim“? Wie definieren wir „Intimität“ für uns und unser Leben? Wie erleben wir sie, sei es allein mit uns selbst oder mit anderen Menschen? Wann kommen wir zum ersten Mal mit ihr in Kontakt, und wie lernen wir eigentlich Intimität? In der Familie, in unseren Peergroups, im Aufklärungsunterricht?

Wenn ich an den Biologieunterricht meiner Schulzeit zurückdenke, dann erinnere ich mich vor allem an die Scham der Erwachsenen: an Lehrer, die uns zwar die anatomischen Prinzipien des menschlichen Geschlechtsverkehrs und der Fortpflanzung erklärten, aber sie taten dies kurz, betont technisch und so dermaßen schambehaftet, dass wir Schüler uns für die Erwachsenen fremdschämten. Das Ganze war eine peinliche Pflichtveranstaltung, die schnell und lieblos durchgepaukt wurde, da mussten wir eben durch. Schnell durch die Scham durch. Wie interessant hätte dieser Unterricht gestaltet werden können! Vielleicht hätte eine liebevollere Behandlung des gesamten Themas der Sache gutgetan – vielleicht hätte es geholfen, wenn unsere Lehrer uns damals mit Empathie und Selbstverständlichkeit abgeholt hätten und uns kommuniziert hätten, dass es sich um ein Thema handelt, das Wertschätzung und, ja, eine liebevolle Betrachtung verdient. Schon damals fragte ich mich: „Warum reden wir nicht über das, was uns junge Menschen wirklich interessiert? Warum fühle ich das, was ich zwischenmenschlich fühle? Was bedeutet Liebe, was bedeutet Anziehung, wie geht das eigentlich, Beziehung?“

Ich hätte mir gewünscht, dass wir neben der Anatomie die viel wichtigeren Fragen zu zwischenmenschlicher Bindung, in deren Kontext sich Sexualität überhaupt erst entwickelt, thematisiert hätten. Dass wir über unseren Wunsch nach Nähe und Verbundenheit, nach Liebe und Erotik gesprochen hätten. Wenn ich mir eine Verbesserung im schulischen Aufklärungsunterricht wünschen könnte, dann wäre es, nicht nur dem Sex, sondern der Intimität die gebührende Aufmerksamkeit zu geben. Jede Aufklärung sollte immer Herzensbildung enthalten und ganzheitlich im Kontext von Bindungskompetenz, Empathievermögen sowie einem Verständnis von Liebe und von Intimität gelehrt werden. Aber vielleicht wussten es unsere Lehrer selbst nicht besser, oder sie hatten sich über diese Dinge nie Gedanken gemacht.

Für mich war als junger Mensch klar, dass da mehr sein muss, dass Sex nur ein Teilaspekt von etwas Größerem ist, was uns Menschen im Kern berührt. Der griechische Philosoph Aristoteles schrieb in seiner Metaphysik sehr treffend: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“4 So ging und geht es mir mit der Intimität: Sie ist die Klammer für zwischenmenschliche Nähe, Verbindung und Berührung. Wir können uns ihre Teilaspekte und einzelne Ausdrucksformen anschauen, wie zum Beispiel Sex, Liebe, Verletzlichkeit, Berührung – in der Summe ergeben sie Intimität, die in sich immer mehr ist. Ein Sehnsuchtsort, ein Sehnsuchtswort.

Weniger ist mehr: Der Pferdeflüsterer

Als Intimitätskoordinatorin werde ich oft gefragt, welche intimen Szenen denn meine Lieblingsszenen seien. Gibt es Liebes- oder Sexszenen, die ich besonders gelungen finde, die mich besonders berühren, oder Szenen, die für mich mehr als andere ein Sinnbild für menschliche Intimität sind? Die diesen Sehnsuchtsort besonders gut erzählen? Nun, da gibt es einige, und ich werde in diesem Buch zur Annäherung an und Veranschaulichung von Intimität immer wieder auf Filmbeispiele und mediale Bilder eingehen. Die schönsten intimen Momente im Film sind für mich nicht immer die Sexszenen oder Szenen, in denen besonders explizit, mit viel Nacktheit erzählt wird. Sondern es sind die intimen Szenen, die genuin die Tiefe und Komplexität der zwischenmenschlichen Verbindung ausloten.

Eine gelungene intime Szene erzählt uns etwas über das Menschsein, wir erkennen uns in ihr wieder – sie erzählt uns von unserer Sehnsucht nach Nähe und von dem, was uns im Kern wirklich bewegt: tiefe Verbindung.