Mutig sein - Mariann Edgar Budde - E-Book

Mutig sein E-Book

Mariann Edgar Budde

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Beschreibung

Im Gottesdienst zur Amtseinführung Trumps richtete sich Bischöfin Mariann Budde mit kritischen Worten und der Bitte um Erbarmen direkt an den Präsidenten. Die Mitschnitte ihrer Predigt gingen um die Welt, vielen ist sie zum Vorbild geworden. Hier zeigt sie: Mut und mutiges Handeln sind ein Lebensweg. Anhand zahlreicher Geschichten – von Harry Potter über den Kleinen Prinzen bis zum Lukasevangelium – und persönlicher Erfahrungen beschreibt sie, wie wir uns zuunserem mutigsten Selbst entwickeln können. Mut ist eine Reise, die wir jeden Tag antreten können, davon ist Mariann Budde überzeugt. Im Laufe eines Lebens gibt es entscheidende Momente, in denen wir den einen oder anderen Weg einschlagen. Dabei kann es ebenso um Zivilcourage gehen, wie auch um persönliche, innere Entscheidungen. In sieben Kapiteln zeigt die Bischöfin, wie einzigartig und zugleich universell solche Momente sind und wie wir lernen, mutig zu sein. Es geht um Entscheidungen: zu gehen, zu bleiben, etwas Neues zu beginnen, zu akzeptieren, was wir nicht ändern können, sich Herausforderungen zu stellen, mit Enttäuschungen umzugehen und Durchhaltevermögen aufzubringen.  Mit Vorwort zur deutschen Ausgabe und der kompletten Predigt zur Amtseinführung Trumps  »Man muss kein gläubiger Mensch sein, um auf diese zutiefst menschliche Fähigkeit zu vertrauen, Liebe, Güte und echte Stärke in unser eigenes Leben und in die Welt zu bringen.« Mariann Budde

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Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mariann Edgar Budde

Mutig sein

 

Aus dem Englischen von Anja Lerz, Oliver Lingner, Elsbeth Ranke und Karin Schuler

 

Über dieses Buch

 

 

Im Gottesdienst zur Amtseinführung Trumps richtete sich Bischöfin Mariann Budde mit kritischen Worten und der Bitte um Erbarmen direkt an den Präsidenten. Die Mitschnitte ihrer Predigt gingen um die Welt, vielen ist sie zum Vorbild geworden. Hier zeigt sie, dass Mut keine einmalige Angelegenheit ist, sondern ein Lebensweg. Anhand zahlreicher Geschichten – von Harry Potter über den Kleinen Prinzen bis zum Lukasevangelium – und persönlichen Erfahrungen beschreibt sie, wie wir uns selbst den Weg ebnen können, unser mutigstes Selbst zu werden.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Mariann Budde, geboren 1959, ist – als erste Frau in diesem Amt – Bischöfin und geistliche Leiterin der Episcopal Diocese of Washington, D.C. und der Washington National Cathedral. Als Trump 2020 gewaltsam gegen die Black-Lives-Matter-Demonstrationen vorging, kritisierte sie ihn lautstark. In ihrer Predigt zur zweiten Amtseinführung Donald Trumps fand sie erneut klare Worte gegen seine menschenverachtende Politik, welche die New York Times als »außergewöhnlichen Akt des öffentlichen Widerstands« bezeichnete.

Anja Lerz, Oliver Lingner, Elsbeth Ranke und Karin Schuler übersetzen seit vielen Jahren Sachbücher aus dem Englischen, oft in Teamarbeit, aber ebenso als alleinige Übersetzer. Unter www.verlagsservicemihr.de sind weitere Informationen zu finden.

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

Vorwort

Predigt im Bittgottesdienst für die Nation

Lafayette Square, 1. Juni 2020

Einleitung

Kapitel 1 Die Entscheidung zu gehen

Kapitel 2 Die Entscheidung zu bleiben

Kapitel 3 Die Entscheidung, etwas anzufangen

Kapitel 4 Akzeptieren, was man nicht selbst gewählt hat

Kapitel 5 In den Ring steigen

Kapitel 6 Die unvermeidliche Enttäuschung

Kapitel 7 Die verborgene Tugend der Beharrlichkeit

Epilog

Dank

Bibliographie

Websites

Für meine Mutter, Ann, und meine Schwester, Christine,

zwei der mutigsten Frauen, die ich kenne,

 

und für Paul,

dessen stille Stärke uns allen Halt gibt

Gib uns Weisheit, gib uns Mut, uns dieser Stunde zu stellen.

Harry Emerson Fosdick[1]

Vorwort

Der Anlass für diese Ausgabe von Mutig sein war ein erstaunlich ähnliches Ereignis wie das, das mich ursprünglich dazu brachte, das Buch zu schreiben.

Ich hatte nie die Absicht oder den Wunsch, vor allem für meine Worte an oder über Präsident Donald J. Trump bekannt zu werden. Als Bischöfin verbringe ich meine Zeit hauptsächlich an der Seite der Priester und Gemeinden, für die ich zuständig bin, und das weitab der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch als Christen haben wir auch einen gesellschaftlichen Auftrag, denn bei unserer Taufe geloben wir, »um Gerechtigkeit und Frieden zu ringen und die Würde jedes Menschen zu achten«.[1] Besondere Bedeutung erhält dieser Auftrag in den Gemeinden in der Hauptstadt unseres Landes, in deren Dienst ich stehe. Schauplatz des ersten Ereignisses, das mich in den Blick der Öffentlichkeit rückte, war denn auch die St. John’s Episcopal Church Lafayette Square, direkt gegenüber dem Weißen Haus. Das zweite Ereignis erfolgte in der Washington National Cathedral, in der seit den 1930er Jahren die Gottesdienste zur Amtseinführung der amerikanischen Präsidenten abgehalten werden.

Das Buch Mutig sein schrieb ich, nachdem Präsident Trump sich vor St. John’s Lafayette Square mit einer Bibel in der Hand fotografieren ließ und damit weltweit Aufsehen erregte. Es waren die stürmischen Tage im Juni 2020, als der von einem Polizisten verübte Mord an George Floyd in Minneapolis landesweit Proteste der Black Lives Matter-Bewegung befeuerte. In meiner Reaktion auf Trumps Inszenierung hatte ich mich gegen die unzulässige Aneignung sakraler Symbole – der Bibel und der Kirche – und gegen die Anordnung gewendet, Hunderte friedlicher Protestierender gewaltsam aus dem Lafayette Square Park zu entfernen, um Platz für den Fototermin des Präsidenten zu machen.

Beim Schreiben des Buches ging es mir nicht um diesen einzelnen Moment, sondern ich wollte ihn in einen größeren Zusammenhang stellen und anhand vieler entscheidender Lebenssituationen zeigen, wie wir alle lernen können, mutig zu sein.

Fünf Jahre später, am 21. Januar 2025, predigte ich bei einem interreligiösen Gottesdienst in der Washington National Cathedral, einen Tag nach der Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus als 47. Präsident der Vereinigten Staaten. Nach einem ausgesprochen verletzenden und spaltenden Wahlkampf wollten wir in der Kathedrale für Heilung beten und Gott um seinen Beistand dafür bitten, unser Land zu einen. Bereits im Sommer vor der Wahl war angekündigt worden, dass der Gottesdienst unabhängig vom Wahlausgang in gleicher Form stattfinden würde und dass ich als Bischöfin der Diözese Washington die Predigt halten würde.

Meine Aufgabe war klar definiert, und ich hatte reichlich Zeit zur Vorbereitung. Im Zentrum der Predigt sollte die Einheit stehen. Doch was ist eigentlich Einheit, und wie lässt sie sich schaffen? Als Seelsorgerin stand ich vor einem echten Dilemma: Wie sollte ich über Einheit sprechen und dafür beten, während wir als Nation gerade aktiv die Fundamente aushöhlten, auf denen Einheit beruht?

Politisch gesehen haben Präsident Trump und die Republikaner ein eindeutiges Mandat für den Wandel, denn sie verfügen in allen wichtigen Organen über eine Mehrheit, und mit ihren Stimmen haben Amerikaner unterschiedlichster Ausrichtung ihre Unterstützung für Trumps Agenda zum Ausdruck gebracht. Während der Feierlichkeiten zur Amtseinführung standen an der Seite von Präsident Trump Geistliche, die im Dankgebet sagten, Gott habe »sein Leben gerettet und ihn mit Stärke und Macht erhöht«.[2] In seiner Antrittsrede bekannte der Präsident selbst, er sei »von Gott gerettet worden, um Amerika wieder groß zu machen«, als er während des Wahlkampfs den Schuss eines Attentäters überlebte. Damit beanspruchte er für sich selbst die Position eines Einigers und Friedensstifters.

Meine Entscheidung, über die unverzichtbaren Fundamente der nationalen Einheit zu sprechen – also Achtung der Würde, die jedem Menschen innewohnt, Ehrlichkeit sowie eine aus Selbsterkenntnis gespeiste Demut –, war ein Versuch, mit allem Respekt in Worte zu fassen, woran es zur Zeit eher mangelt. Die zunehmende Kultur der Verachtung führt dazu, dass Herabsetzung, Dehumanisierung und durch Gewalt geprägte Sprache immer normaler werden und die Gesellschaft nicht nur in unserem Land, sondern weltweit zu zerstören drohen. Zudem sind Millionen Menschen von der Vision eines wiederaufstrebenden Amerikas ganz einfach ausgeschlossen. Ich bat den Präsidenten um Erbarmen mit den Menschen in unserem Land, die allen Grund haben, sich zu ängstigen.

Die Reaktionen auf meine Worte ließen nicht lange auf sich warten, sie fielen sehr heftig aus und spiegelten in ihrer Gegensätzlichkeit, wo wir als Nation heute stehen. Die einen verlangten erbost eine Entschuldigung und forderten meinen Rücktritt, ja sogar meine Ausweisung aus dem Land. Andere äußerten überschwänglichen Dank für meinen Mut. Viele beschrieben die Predigt als prophetische Rede, als mutiges Beispiel dafür, die Macht mit der Wahrheit zu konfrontieren.

Aus meiner Sicht war der Kontext zwar fraglos politisch, doch meine Worte waren die einer aufrichtigen Seelsorgerin. Eine der wichtigsten Erkenntnisse von uns Priesterinnen und Priestern lautet, dass es Momente gibt, in denen wir zum Wohle aller nicht umhinkommen, den sprichwörtlichen Elefanten im Raum anzusprechen. Bei Beerdigungen zum Beispiel, wenn die Versuchung groß ist, den Verstorbenen nur im besten Licht darzustellen, gibt eine leise Bemerkung von der Kanzel, die die Komplexität der menschlichen Beziehungen anerkennt, den Menschen Raum für alle Emotionen der Trauer, also auch für Groll oder nicht ausgeräumte Schuld. Auch wenn bei Hochzeiten alle Angehörigen zusammenkommen, herrscht oft enormer Druck; ein freundliches Wort über die Herausforderungen der Liebe kann dann helfen, die unausweichlichen Spannungen und die Sorgen, die ein so freudiges Ereignis begleiten, zu akzeptieren.

Bei der Vorbereitung für meine Worte in diesem Gottesdienst rang ich unter anderem damit, wie ich sagen konnte, was gesagt werden musste. Natürlich überlegte ich, was Gott uns in diesem Moment wohl zu sagen hätte, und ich suchte Rat in der Heiligen Schrift. Wie konnte ich eine leise, aber deutliche Warnung aussprechen, dass Gebete um Einheit bedeutungslos sind, wenn unser Handeln auf Verachtung für die beruht, die die Welt mit anderen Augen sehen? Und genauso wichtig: Wie konnte ich denen, die in pauschalen, abfälligen Verallgemeinerungen herabgesetzt wurden, ein menschliches Gesicht geben und mit aller Ruhe und allem Respekt, den ich aufbringen konnte, um Barmherzigkeit für sie bitten?

Die Reaktionen auf diese Predigt gingen über das gewöhnliche Maß weit hinaus, obwohl ihr Inhalt im Grunde relativ schlicht war – der Versuch nämlich, biblische Wahrheiten auf einen bestimmten Moment anzuwenden, wobei die angesprochenen Glaubensfragen sich nicht erheblich von dem unterschieden, was weltweit jeden Sonntag in der Kirche gepredigt wird. Dass ich mich entschieden habe, auch nach dem 22. Januar 2025 weiterhin in der Öffentlichkeit zu bleiben, hat vor allem einen Grund: Ich möchte Zeugnis ablegen für eine Form des Christseins, die anerkennt, dass alle Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, und die sich darum bemüht, Jesus nachzufolgen auf seinem Weg der Liebe, der Demut und des Mitgefühls.

Für manche markierte die Predigt einen entscheidenden Moment für uns Menschen, hier in den Vereinigten Staaten, aber auch darüber hinaus. Ob das stimmt, wird sich zeigen. Für mich als Christin ist es aber nie eine Option, die Hoffnung aufzugeben. Ich wage zu glauben, dass Gott auch uns nie aufgeben wird und dass wir mit Gottes Hilfe den Herausforderungen, vor denen wir stehen, gerecht werden können. Gemeinsam können wir mit Gottes Hilfe für das Gute in dieser Welt arbeiten. Gemeinsam können wir mit Gottes Hilfe lernen, mutig zu sein.

Predigt im Bittgottesdienst für die Nation

21. Januar 2025

Washington National Cathedral, Bischöfin Mariann Edgar Budde

Jesus sprach: »Wer diese meine Worte hört und sich nach ihnen richtet, wird am Ende dastehen wie ein kluger Mann, der sein Haus auf felsigen Grund baute. Als dann die Regenflut kam, die Flüsse über die Ufer traten und der Sturm tobte und an dem Haus rüttelte, stürzte es nicht ein, weil es auf Fels gebaut war. Wer dagegen diese meine Worte hört und sich nicht nach ihnen richtet, wird am Ende wie ein Dummkopf dastehen, der sein Haus auf Sand baute. Als dann die Regenflut kam, die Flüsse über die Ufer traten, der Sturm tobte und an dem Haus rüttelte, fiel es in sich zusammen und alles lag in Trümmern.«

Als Jesus seine Rede beendet hatte, waren alle von seinen Worten tief beeindruckt. Denn er lehrte wie einer, der Vollmacht von Gott hat – ganz anders als ihre Gesetzeslehrer.[1]

Gemeinsam mit vielen Menschen in den Vereinigten Staaten sind wir heute Morgen versammelt, um als Nation um Einheit zu beten – nicht um politisches oder sonstiges Einvernehmen, sondern um jene Art von Einheit, die über Differenz und Spaltung hinweg Gemeinschaft stiftet, eine Einheit, die dem gemeinsamen Wohl der Gesellschaft dient.

In diesem Sinn ist Einheit die Mindestvoraussetzung, damit Menschen in einer freien Gesellschaft zusammenleben können, sie ist, wie Jesus sagt, der felsige Grund, auf dem in diesem Fall eine Nation gebaut ist. Diese Einheit ist nicht Konformität. Sie ist nicht der Sieg der einen über die anderen. Sie ist nicht lustlose Höflichkeit oder resignierte Passivität. Einheit ist nicht parteiisch.

Nein, Einheit ist eine Form des Zusammenlebens, die Unterschiede einschließt und respektiert, die uns lehrt, unterschiedlichen Einschätzungen und Lebenserfahrungen Gültigkeit und Respekt zu gewähren; die uns in unseren Gemeinden und in den Sphären der Macht befähigt, wirklich füreinander da zu sein, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Diejenigen von unseren Landsleuten, die von Berufs wegen oder als Freiwillige in Zeiten von Naturkatastrophen anderen helfen und sich dabei häufig selbst in große Gefahr bringen, fragen nie, für wen die, denen sie helfen, bei der letzten Wahl gestimmt haben oder was sie über ein bestimmtes Problem denken. Wir zeigen uns von unserer besten Seite, wenn wir ihrem Beispiel folgen.

Manchmal verlangt Einheit Opfer, so wie auch die Liebe verlangt, dass wir uns zum Wohl eines anderen ein gutes Stück opfern. In der Bergpredigt ruft Jesus von Nazareth uns auf, nicht nur unsere Mitmenschen zu lieben, sondern auch unsere Feinde zu lieben und für die zu beten, die uns verfolgen; barmherzig zu sein, so wie Gott barmherzig ist, und anderen zu vergeben, so wie Gott uns vergibt. Jesus setzte sich offen dafür ein, die willkommen zu heißen, die in seiner Gesellschaft als Geächtete galten.

Zugegeben, Einheit in diesem umfassenden Sinn ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, und die Bitte darum ist keine Kleinigkeit – eine große Bitte an unseren Gott, die auch uns unser Bestes abverlangt. Allerdings werden unsere Gebete nicht viel bewirken, wenn unser Handeln die Gräben zwischen uns immer weiter vertieft. Die Heilige Schrift gibt klar zu verstehen, dass Gott sich von Gebeten niemals beeindrucken lässt, wenn die Taten nicht von ihnen durchdrungen sind. Auch verschont Gott uns nicht mit den Folgen unserer Taten: Auf sie kommt es letzten Endes mehr an als auf die Worte, die wir beten.

 

Alle, die wir in dieser Kathedrale versammelt sind, machen uns keine Illusionen über die Realitäten der Politik. Wenn Macht, Reichtum und konkurrierende Interessen im Spiel sind; wenn Meinungen über die Vision für Amerika miteinander in Konflikt stehen; wenn es angesichts einer Vielfalt von Möglichkeiten kompromisslose Überzeugungen und sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber gibt, welches Vorgehen das richtige ist, dann gibt es auch Gewinner und Verlierer, wenn Stimmen ausgezählt oder Entscheidungen getroffen werden, die über den Lauf der Politik und die Priorisierung von Ressourcen bestimmen. Es versteht sich von selbst, dass in einer Demokratie die persönlichen Hoffnungen und Träume jedes Einzelnen nicht in einer Legislaturperiode, im Lauf einer Präsidentschaft, ja nicht einmal innerhalb einer Generation erfüllt werden. Und die persönlichen Gebete jedes Einzelnen – für die von uns, die beten – werden nicht alle so erhört werden, wie wir es uns wünschen. Doch es gibt Menschen, für die der Verlust ihrer Hoffnungen und Träume weit mehr darstellt als eine politische Niederlage, nämlich den Verlust von Gleichheit, Würde und Existenzgrundlage.

 

Ist unter diesen Umständen wahre Einheit unter uns überhaupt möglich? Und warum eigentlich sollte sie uns am Herzen liegen?

 

Nun, ich hoffe, dass sie uns am Herzen liegt, denn die Kultur der Verachtung, die in unserem Land zur Normalität geworden ist, droht uns zu zerstören.[2] Täglich werden wir alle bombardiert mit Nachrichten aus einem Komplex, den Soziologen neuerdings als »Empörungsindustrie«[3] bezeichnen; diese wird zum Teil von Kräften befördert, denen eine Spaltung Amerikas sehr gelegen kommt. Verachtung befeuert unsere politischen Kampagnen und die Sozialen Medien, und davon profitieren viele. Doch es ist gefährlich, auf dieser Grundlage ein Land zu führen.

Ich bin ein gläubiger Mensch, und ich glaube, dass Einheit in diesem Land mit Gottes Hilfe möglich ist – nicht etwa vollkommene Einheit, denn wir sind unvollkommene Menschen und eine unvollkommene Gemeinschaft –, aber genügend Einheit, damit wir weiterhin an die Ideale der Vereinigten Staaten von Amerika glauben und an ihrer Verwirklichung arbeiten können. Nachzulesen sind diese Ideale in der Unabhängigkeitserklärung, die von der von Geburt an gegebenen Gleichheit und Würde der Menschen spricht.

Und wir tun gut daran, auf der Suche nach Einheit um Gottes Hilfe zu bitten, denn die brauchen wir – vorausgesetzt freilich, wir sind selbst bereit, die Fundamente zu pflegen, von denen Einheit abhängt. Jesus spricht im Gleichnis davon, ein Haus des Glaubens auf dem felsigen Grund seiner Lehre zu bauen und nicht etwa auf Sand; genauso muss das Fundament, das wir für die Einheit brauchen, stabil genug sein, damit sie den vielen Unwettern standhalten kann, denen sie ausgesetzt ist.

 

Doch welches sind die Fundamente der Einheit? Mit Bezug auf unsere geistlichen Traditionen und Texte sehe ich mindestens drei.

Das erste Fundament der Einheit ist die Achtung der Würde, die jedem Menschen innewohnt, das heißt, und darin sind sich alle hier vertretenen Glaubensrichtungen einig, des Geburtsrechts aller Menschen als Kinder des einen Gottes. Im öffentlichen Diskurs bedeutet Achtung der Menschenwürde, dass man sich weigert, Andersdenkende zu verhöhnen, abzuwerten oder zu dämonisieren, und stattdessen ganz bewusst über unsere Differenzen hinweg respektvoll das Gespräch und wo immer möglich Übereinstimmung sucht. Wo Übereinstimmung nicht möglich ist, verlangt die Würde, dass wir unseren Überzeugungen treu bleiben, ohne die zu verachten, die an ihren eigenen Überzeugungen festhalten.

Ein zweites Fundament für Einheit ist Ehrlichkeit sowohl im privaten Gespräch als auch im öffentlichen Diskurs. Wenn wir zu Ehrlichkeit nicht bereit sind, ist es zwecklos, um Einheit zu bitten, weil unsere Taten dann der Bitte selbst zuwiderhandeln. Eine Zeitlang mögen wir dann den fälschlichen Eindruck von Einheit in einer Gruppe haben, nicht aber die stabile, umfassende Einheit, die wir brauchen, um uns den Herausforderungen, vor denen wir stehen, zu stellen.

Offen gesagt, wir wissen nicht immer, wo die Wahrheit liegt, und heutzutage stellen sich der Wahrheit bestürzend viele Widerstände entgegen. Wenn wir aber wissen, was wahr ist, dann müssen wir diese Wahrheit auch aussprechen, selbst wenn – und besonders wenn – es uns Überwindung kostet.

Eine dritte Grundlage für Einheit ist Demut, die wir alle brauchen, weil wir alle fehlbare Menschen sind. Wir machen Fehler. Wir sagen und tun Dinge, die wir später bereuen. Wir haben unsere blinden Flecken und Vorurteile, und am gefährlichsten für uns selbst und andere sind wir vielleicht, wenn wir ohne einen Hauch von Zweifel überzeugt sind, dass wir absolut recht haben und jemand anderes absolut unrecht. Dann nämlich stehen wir ganz kurz davor, uns selbst als die Guten zu bezeichnen und die anderen als die Bösen.

Denn wir sind alle Menschen und damit zum Guten genauso befähigt wie zum Bösen. Alexander Solschenizyn beobachtete messerscharf, dass »die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz«.[4]

Je klarer wir uns das machen, desto mehr schaffen wir in uns einen Raum für Demut und Offenheit über unsere Differenzen hinweg; denn im Grunde sind wir einander ähnlicher, als wir es uns klarmachen, und wir brauchen einander.

 

Es ist vergleichsweise einfach, zu feierlichen Anlässen um Einheit zu bitten. Sehr viel schwieriger ist, sie zu verwirklichen, wenn wir in der Öffentlichkeit mit wirklichen Differenzen zu tun haben. Doch ohne Einheit bauen wir das Haus unserer Nation auf Sand.

Mit einem Engagement für die Einheit, die Differenzen überbrückt und Spaltung überwindet, mit den stabilen Fundamenten von Würde, Ehrlichkeit und Demut, die solche Einheit erfordert, können wir in unseren Zeiten unseren Beitrag dazu leisten, dass die Ideale und der Traum Amerikas Wirklichkeit werden.

 

Lassen Sie mich, Herr Präsident, eine letzte Bitte formulieren. Millionen haben jüngst ihr Vertrauen auf Sie gesetzt. Wie Sie der Nation gestern sagten, haben Sie die schützende Hand eines liebenden Gottes über sich gespürt. Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie um Erbarmen für die Menschen in unserem Land, die jetzt in Furcht leben. Es leben schwule, lesbische und transgeschlechtliche Kinder in republikanischen, demokratischen und unabhängigen Familien, und manche von ihnen fürchten um ihr Leben.

Und die Menschen, die unsere Ernten einholen und unsere Büros putzen, die in unseren Geflügelfarmen und in der fleischverarbeitenden Industrie arbeiten, die das Geschirr spülen, von dem wir im Restaurant gegessen haben, und im Krankenhaus die Nachtschicht übernehmen – sie sind vielleicht keine Staatsbürger oder besitzen nicht die richtigen Papiere, aber die große Mehrheit der Immigranten sind keine Kriminellen. Sie zahlen Steuern, sind gute Nachbarn. Sie sind gläubige Mitglieder unserer Kirchen, Moscheen und Synagogen, Gurdwaras und Tempel.

Haben Sie Erbarmen, Herr Präsident, mit den Menschen in unseren Städten, deren Kinder fürchten, dass ihnen die Eltern genommen werden. Helfen Sie denen, die aus Kriegsgebieten und vor Verfolgung in ihren Heimatländern fliehen, um hier Mitgefühl und Aufnahme zu finden. Unser Gott lehrt uns, dass wir den Fremden Barmherzigkeit erweisen sollen, denn einst waren wir alle Fremde in diesem Land.

 

Möge Gott uns die Kraft und den Mut geben, die Würde jedes Menschen zu respektieren, in Liebe die Wahrheit zu sprechen und in Demut zu leben, miteinander und mit unserem Gott, zum Wohl aller Menschen in diesem Land und in aller Welt.

Lafayette Square, 1. Juni 2020

Ich bin der Präsident von Recht und Ordnung.

Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika[1]

Am Montag, den 1. Juni 2020 um 19:06 Uhr schritt der Präsident der Vereinigten Staaten trotzig durch den Lafayette Park in Washington, D.C., ein Gefolge aus Assistenten, Secret-Service-Agenten, seiner Tochter Ivanka, dem Justizminister und Amerikas führenden Militärs, darunter der Verteidigungsminister und der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff[2] im Schlepptau, um sich mit einer Bibel in der Hand vor der St. John’s Church fotografieren zu lassen. Das Gemeindehaus der Kirche, Ashburton House, war bei den Protesten am Vorabend leicht beschädigt worden.

Zuvor hatte der Präsident im Rosengarten des Weißen Hauses eine Pressekonferenz über den Stellenwert von »Recht und Ordnung« gegeben. Dabei drohte er damit, militärische Gewalt gegen amerikanische Bürgerinnen und Bürger einzusetzen, die sich nach der Tötung von George Floyd durch die Polizei in Minneapolis den Protesten im ganzen Land angeschlossen hatten.

Um dem Präsidenten den Weg durch den Lafayette Park freizumachen, ordnete der Generalstaatsanwalt an, noch vor der für 19 Uhr angekündigten stadtweiten Ausgangssperre alle Demonstrierenden gewaltsam daraus zu entfernen. Während die Bundespolizei die Demonstrierenden mit Tränengas und Schlagstöcken auseinandertrieb, betrat der Leader of the Free World den Platz vor der historischen Episkopalkirche. Diese war nach dem Krieg von 1812 erbaut worden, in dessen Verlauf das Weiße Haus selbst in Brand gesteckt worden war.[3]

Vor dem Eingang der »Church of the Presidents«[4], die seit James Madison von allen Obersten Richtern und Richterinnen besucht wurde, wandte sich der Präsident den Fernsehkameras zu und hielt eine Bibel verkehrt herum in die Höhe. »Dies ist ein großartiges Land«, erklärte er. Nach einigen Fotos drehte er sich um und ging, ohne mit jemandem gesprochen zu haben.

Den ganzen Abend über bemühte ich in Interviews mit Print- und Fernsehjournalisten jedes Quäntchen Autorität, das ich als Bischöfin der Episkopalkirche von Washington beanspruchen konnte. »Präsident Trump spricht nicht im Namen von St. John’s«, teilte ich der Washington Post mit. »Wir distanzieren uns von den Botschaften dieses Präsidenten und stellen uns auf die Seite derjenigen, die sich um Gerechtigkeit für George Floyd und unzählige andere bemühen.«

Auf CNN sagte ich:

Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Der Präsident benutzte soeben die Bibel, den heiligsten Text der jüdisch-christlichen Tradition, und eine der Kirchen in meiner Diözese ohne Erlaubnis als Requisit und Kulisse für eine Botschaft, die völlig im Gegensatz zu den Lehren Jesu steht. Was er gesagt und getan hat, zielt samt und sonders auf Gewalt ab. Was wir eigentlich brauchen, ist moralische Führung, er dagegen setzt alles daran, uns zu spalten.[5]

In den darauffolgenden Tagen wurden wiederholt Mikrophone und Kameras auf mich gerichtet, und ich wiederholte immer wieder: Das Verhalten des Präsidenten war frevelhaft. Weil in dieser Stunde der landesweiten Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus so viele Menschen enormes Entsetzen und große Trauer verspürten, fanden meine Worte für kurze Zeit weite Verbreitung. Bedeutend waren sie aber nicht wegen der St. John’s Church oder meinetwegen, sondern weil in ihnen zum Ausdruck kam, was in diesem für unser Land entscheidenden Moment Tausende Menschen brauchten.

Einleitung

Für jeden Menschen und jede Nation kommt einst der Moment, sich zu entscheiden …

James Russell Lowell, 1845[1]

Jeder will mutig sein, wenn es zählt, also die Person sein, die aufsteht, sich einsetzt und das Richtige tut, wenn es darauf ankommt. Wenn die Reihe an uns kommt, wollen wir uns von unserer besten Seite zeigen und in einer entscheidenden Situation klar und überzeugend auftreten.

In diesem Buch geht es um solche entscheidenden Momente, Wendepunkte, in denen es an uns ist, mutig zu handeln, und in denen wir das zu unserem eigenen Erstaunen auch tun.

Auch wenn es uns häufig so vorkommt, als würden wir von besonders spektakulären Situationen überrascht, zeigt der Blick auf die Lebensgeschichte insgesamt, dass die mutigen Taten, über die wir nicht selten selbst staunen, nicht isoliert auftreten. In diesem Buch betrachte ich das Leben aus dieser weiteren Perspektive, in der Hoffnung, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, erkennen, dass Ihnen das ganze nötige Rüstzeug zur Verfügung steht, um in den Entscheidungsmomenten, die sich Ihnen bieten, mutig und entschlossen zu handeln.

Entscheidungsmomente sind einprägsame Ereignisse. Sie bleiben uns im Gedächtnis, und auch andere erinnern sich oft vor allem genau daran, wenn sie an uns denken. Wir empfinden einen Adrenalinstoß, durch den uns bewusst wird, dass da gerade etwas Besonderes passiert. Wir fühlen uns lebendig – so sehr, dass uns unser restliches Leben im Vergleich dazu womöglich langweilig und einfallslos vorkommt. Doch Entscheidungsmomenten gehen fast immer Zeiten der Vorbereitung voraus, und danach gibt es eine ebenso wichtige Phase der Neuausrichtung, in der wir lernen, das, was sie in Gang gesetzt haben, in unser Leben zu integrieren. Unsere Fähigkeit, Entscheidungsmomente zu meistern, richtet sich danach, wie wir uns auf sie vorbereiten, und ihre Bedeutsamkeit wird letztendlich dadurch bestimmt, wie wir in ihrem Lichte weiterleben.

In meinem Leben hat es schon viele entscheidende Momente gegeben, aber nur wenige waren in dem Maße öffentlich wie die Ereignisse des 1. Juni 2020. Offen gesagt, blieb mir gar keine Zeit zum Nachdenken. Angespornt von entsetzten Amtskollegen, die den Gang des Präsidenten zur St. John’s Church live im Fernsehen verfolgt hatten und mir so viele SMS schickten, dass mein Telefon leuchtete wie ein Weihnachtsbaum, gelang es mir, meine Stimme zu finden und mich zu äußern.

Das Vorgehen des Präsidenten traf einen gesellschaftlichen Nerv, genauso wie meine Äußerungen dagegen. Anderen kam es vor, als sei ich sehr mutig gewesen. Tatsächlich hatte ich selbst eher den Eindruck, dazu aufgefordert worden zu sein, meinen Platz neben anderen Mutigen einzunehmen. Es musste einfach etwas gesagt werden, und zwar nicht nur zu diesem Ereignis, sondern auch zu der Situation, in der wir uns als Nation befanden. Wir beklagten die Ermordung von George Floyd, erlebten, wie landesweit Menschenmassen auf die Straßen strömten, und sahen uns wieder einmal mit der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus konfrontiert. Aufgrund meiner Position hatte ich die Möglichkeit, mich zu äußern und Gehör zu finden.

Die Fähigkeit, in einer solchen Situation spontan zu handeln, kommt nicht von ungefähr, und ihre Bedeutung lässt sich auch nicht an der Medienberichterstattung einer Woche messen. Ihnen voraus gehen Zeiten, in denen wir uns vorbereiten, üben und absichtsvoll handeln, in denen wir täglich zahllose Entscheidungen treffen, die uns schließlich befähigen, mutig zu reagieren, wenn wir uns dazu berufen fühlen oder unfreiwillig dazu herangezogen werden. Welche Bedeutung ein solcher Moment letztlich hat, hängt davon ab, wie wir danach weiterleben.

Der für mich persönlich noch entscheidendere Moment in dieser dramatischen Woche ereignete sich ein paar Tage nach Präsident Trumps berühmt-berüchtigtem Fototermin. Wieder stand ich auf dem inzwischen Black Lives Matter Plaza genannten Vorplatz der St. John’s Church und lauschte den Worten von Reverend Dr. William J. Barber II. Bischof Barber ist Co-Vorsitzender der Poor People’s Campaign, einer breit angelegten Initiative, die Menschen mit geringem Einkommen aller Ethnien und deren Unterstützer mobilisieren will, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Bischof Barber ließ seinen Blick über die wunderbar vielfältige, mehrere Ethnien und Generationen umfassende Menge schweifen, die sich an diesem Sonntagnachmittag versammelt hatte, und sagte:

Lassen Sie sich von niemandem einreden, dies sei das erste Mal, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Schichten und Bildungsbiographien zusammenkommen, um für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Schon immer war es ein solcher Zusammenschluss von Gläubigen, der in diesem Land Veränderungen herbeigeführt hat – Schwarze, Weiße und Braune, Reiche und Arme, Junge und Alte. Jeder wird gebraucht, jeder hat eine Rolle zu spielen und etwas beizusteuern.[2]

Bei seinen Worten fiel mir die Last von den Schultern, die ich die ganze Woche über mit mir herumgeschleppt hatte. In diesem Moment wurde mir klar, wo mein Platz in diesem Kampf für Gerechtigkeit sein sollte. Und ich hörte mich selbst zu Gott und dem Universum sagen: »Zu diesem Zusammenschluss der Gläubigen will ich auch gehören. Ich will zu denen gehören, die sich für den nötigen Wandel einsetzen.« An dieser Entscheidung muss ich mein Leben jeden Tag ausrichten. Neu war dieser Gedanke für mich zwar nicht, aber ich habe ihn auf eine neue Weise empfunden. Nicht immer wird er sich so in mein Herz brennen wie in jener Woche, aber ich will ihn nicht vergessen. Wie alle anderen auch, brauche ich Gnade, Mut und Ausdauer, um meinem Entscheidungsmoment treu zu bleiben, wenn die Leidenschaft nachlässt.

Doch so entscheidend diese Woche für viele Menschen in den USA und so prägend diese Ereignisse für uns als Nation auch waren: Es wäre falsch, deswegen anzunehmen, alle Entscheidungsmomente seien derart öffentlich. Die meisten wirklich einschneidenden Erlebnisse machen nämlich nie Schlagzeilen. Deshalb ist es extrem wichtig, sich in solchen Fällen nicht an die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewöhnen und die kurzlebige Beachtung nicht mit dem Wandel zu verwechseln, zu dem unsere Entscheidungsmomente uns einladen. Die meisten Entscheidungsmomente sind persönlich, manche vertraulich, doch sie alle geben unserem Leben seine besondere Gestalt und machen uns zu dem Menschen, der wir sind und der wir Gottes Berufung nach werden sollen.

Zu solchen Wendepunkten gehört eine bewusste Wahl. Ihre Bedeutung wird uns unmittelbar bewusst, weil wir mit voller Absicht einen bestimmten Weg samt seinen möglichen Konsequenzen einschlagen. Egal, wie wir an diesen Punkt gelangt sind: In einem Entscheidungsmoment erleben wir uns nicht mehr als Opfer des Schicksals, sondern als handelnde Personen. Wir laufen nicht auf Autopilot, und wir handeln nicht halbherzig. Wir sind, wie man so schön sagt, »all in«, unseres Schicksals Schmied und Mitschöpfer an Gottes Seite. Denn wie das Wort selbst schon sagt, treffen wir in einem Entscheidungsmoment eine Entscheidung.

In diesem Buch wollen wir mehrere Entscheidungsmomente im Leben miteinander betrachten, um ihre Bedeutung besser zu verstehen, zu lernen, was sie uns lehren können, und zu erkennen, wie wir im Lichte dessen leben können, was sie uns vermitteln. Als gläubiger Mensch bin ich überzeugt, dass Gott in solchen Situationen am Werk ist – und auch davor und danach. Anhand von Beispielen aus meinem eigenen Leben, aus der Heiligen Schrift und aus Geschichte und Kultur will ich sowohl die Universalität dieser Erfahrungen als auch den besonderen Ruf hervorheben, auf den jeder von uns reagieren muss, wenn es so weit ist.

Ich bin überzeugt, dass wir alle unabhängig von unseren Lebensumständen über die Fähigkeit verfügen, Heldin oder Held einer großen Abenteuergeschichte zu sein. Um sich den Mut anzueignen, wenn es darauf ankommt, couragiert zu handeln, sind viele kleine Entscheidungen im Laufe des Lebens erforderlich. Diese führen uns auf einen Weg der Selbsterkenntnis, der Aufmerksamkeit und der Bereitschaft, Misserfolge für unsere Überzeugungen zu riskieren. Dabei handelt es sich auch um eine zutiefst spirituelle Erfahrung, bei der wir uns als Teil von etwas fühlen, das über uns persönlich hinausgeht, und gewissermaßen von einem größeren Geist geleitet werden, der in der Welt und in uns am Werk ist. Entscheidungsmomente machen aus jedem Menschen einen Gläubigen, denn egal, wie wir das Ganze nennen: Die unerklärliche, unverdiente Erfahrung, dass da eine Macht durch uns wirkt, die über uns selbst hinausgeht, ist echt. Die kühne Wahrheit ist doch: Wir tragen ganz wesentlich zur Verwirklichung dessen bei, was gut, edel und wahr ist. Und ich möchte unser Verständnis davon erweitern, was Entscheidungsmomente ausmacht, weil sie ganz unterschiedlich daherkommen und eine breite Palette an Entscheidungen voraussetzen, die gleichermaßen wichtig sind, auch wenn sie in puncto Energie und Ergebnis variieren.

Auf diesen Seiten würdige ich auch die Zeiten im Leben, in denen scheinbar nichts Entscheidendes passiert, und beschäftige mich damit, wie das Leben nach einem Entscheidungsmoment aussieht, wenn wir mit den Folgen zurechtkommen müssen. Dazu gehört die Akzeptanz der völlig vorhersehbaren, erschütternden Erfahrung der Leere danach. In dieser Zeit lernen wir, die Intensität einer bestimmten Situation im Rahmen eines ganzen Lebens einzuordnen und darauf zu vertrauen, dass sich das Leben zum Großteil aus kleineren integren Handlungen zusammensetzt. Nur so gelingt es uns, die verborgene Tugend der Beharrlichkeit zu kultivieren und auch in schwierigen Zeiten nicht aufzugeben.

In gewisser Weise ist jeder Augenblick von entscheidender Bedeutung, Teil des einen Lebens, das uns geschenkt wurde. Ebbe und Flut des Lebens zu erkennen, hilft uns, uns auf diejenigen Momente vorzubereiten, in denen etwas Wichtiges auf dem Spiel steht. »Alles, was auf der Erde geschieht, hat seine von Gott bestimmte Zeit«, lehrt uns die Bibel.[3] Um das Leben, das uns gegeben wurde, anzunehmen und ganz auszukosten, braucht es Mut.

Im ersten Kapitel untersuche ich den wohl spektakulärsten und am besten zu beobachtenden Entscheidungsmoment: den Moment, in dem wir uns entscheiden zu gehen, einen bestimmten Ort oder unsere bisherige Lebensweise aufzugeben und uns neu zu orientieren. Das ist der Stoff, aus dem Heldenreisen und Selbstdifferenzierung gemacht sind. Im zweiten Kapitel wende ich mich dem entgegengesetzten Ende des Erfahrungsspektrums zu und beschäftige mich mit dem ebenso heldenhaften, aber unbemerkten Moment, in dem wir uns entscheiden zu bleiben, in dem wir beschließen, unseren Verpflichtungen noch besser nachkommen zu wollen. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht der Moment, in dem wir uns entscheiden, etwas anzufangen – einen langen Prozess zu beginnen oder auf eine Vision hinzuarbeiten, deren Verwirklichung Jahre dauern wird. Die Vision ist der Ansporn für uns, anzufangen, die ersten Schritte zu wagen, und sie hilft uns, weiter an der Verwirklichung eines Traums zu arbeiten.

Im vierten Kapitel befasse ich mich mit Entscheidungsmomenten, die aus dem Leiden geboren werden. Es geht darum, dass wir uns entscheiden, das zu akzeptieren, was wir nicht selbst gewählt haben, und durch aufopfernde Liebe persönliche Veränderung erfahren. Im fünften Kapitel geht es um Momente, die sich uns scheinbar aus dem Blauen heraus als eine Gelegenheit oder Berufung präsentieren und in denen wir uns entschließen, in den Ring zu steigen, egal, ob wir uns darauf vorbereitet fühlen oder nicht. Die Kapitel sechs und sieben befassen sich mit dem emotionalen Terrain, in das Entscheidungsmomente eingebettet sind: Es geht um die unvermeidliche Enttäuschung danach und die Wichtigkeit des Durchhaltevermögens. Ohne Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit würde ihnen nämlich keine große Kraft zur Veränderung innewohnen.

In manchen Entscheidungsmomenten ist Handeln gefragt, in anderen Akzeptanz. Manche sind spektakulär und für alle Welt sichtbar, andere vollziehen sich im Inneren, und nur wir selbst und Gott wissen davon. Im Grunde genommen möchte ich in diesem Buch vermitteln, dass jedem Menschen Heldenhaftes möglich ist, dass die unerklärliche, unverdiente Erfahrung des Wirkens von Gottes Macht durch uns Realität ist und dass wir bei der Verwirklichung von allem, was gut, edel und wahr ist, eine wichtige Rolle spielen. Wir können lernen, mutig zu sein.

Kapitel 1Die Entscheidung zu gehen

Da sagte der HERR zu Abram: »Verlass deine Heimat, deine Sippe und die Familie deines Vaters und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde!«

1. Mose 12,1

Wer wir sind und wo in der Welt unser Platz ist, lernen wir aus Geschichten. Und keine Geschichte ist vertrauter oder beliebter als die Heldenreise, die Erzählung von einem, der Mut fasst und sich aufmacht ins Unbekannte. Diese universelle Erzählung umspannt Zeiten und Kulturen.[1] Doch wie beobachtete einst der geistliche Schriftsteller Henri Nouwen: »Das Persönlichste ist das Universellste, das Verborgenste ist das Öffentlichste, und das Einsamste ist das Einendste.«[2] Wenn wir von der mutigen Reise eines anderen hören, können wir nicht anders, als unsere eigene in den Blick zu nehmen.

Wenn wir selbst uns zum Gehen aufgefordert fühlen, brennt sich diese Erfahrung in unser Bewusstsein ein und markiert einen entscheidenden Moment in unserer Lebensgeschichte. Verständlich, wenn wir zögern, denn die Entscheidung zum Gehen impliziert zwangsläufig, dass wir einen Ort verlassen zugunsten eines anderen, dass wir vertraute Beziehungen lösen zugunsten von unbekannten neuen, und das alles im Dienst einer überwältigenden Aufgabe, die nur wir allein zu erfüllen haben. Es gibt viele Risiken, und der Preis ist hoch. Doch aus irgendeinem Grund sind wir überzeugt, dass dieses persönliche Opfer notwendig ist, um eine Bestimmung zu erfüllen, auch wenn wir sie nicht absehen können.

Die Reise beginnt, lange bevor wir den ersten Schritt gehen, mit einer inneren Erregung, einem auslösenden Ereignis oder einer Einladung, die uns völlig unvorbereitet trifft. Wir fühlen uns aufgefordert, über die Grenzen unseres altbekannten Lebens hinauszugehen. Fast immer gibt es dabei Widerstand, wenn nicht aus uns selbst, dann von denen, die wollen, dass wir bleiben. Uneingeschränkte Aufbruchsbereitschaft ist selten. Wie Jungvögel, die aus dem Nest geschubst werden müssen, wissen auch wir oft nicht, dass wir Flügel haben, bis wir zum Fliegen gezwungen werden.

 

In meinem vorletzten Highschool-Jahr zerbrach meine Familie. Besonders stabil war sie nie gewesen, und innerlich wusste ich schon, dass ihr Zerfall bevorstand. Aber ich hatte gelernt, mit meinen Gefühlen zu haushalten und das alles durchziehende Gefühl der Angst unter Kontrolle zu halten. Ich war vertraut mit der ständigen Sorge um Geld, fehlender Zuneigung und wiederkehrendem Streit, gefolgt von Phasen gespannter Ruhe, in denen ich meine Energie auf anderes richten konnte.

Dann kam der Tag, an dem mein Vater mich zur Seite nahm und mir eröffnete, er werde meine Stiefmutter verlassen. Er sagte, ich könne mit ihm kommen, und bestimmt erwartete er, dass ich Ja sagte. Meinen jüngeren Halbbruder Jim, der damals acht Jahre alt war, erwähnte er mit keinem Wort. Mich wunderte das nicht. In dem meist stummen Krieg zwischen unseren Eltern sah mein Vater mich als seine Verbündete, während meine Stiefmutter sich entschlossen an ihren Sohn klammerte. Er ging von meinem Einverständnis aus und bat mich, seinen Plan für mich zu behalten. Widerstrebend stimmte ich zu, ohne zu wissen, dass er bereits die Möbelpacker bestellt hatte. Meine Stiefmutter erfuhr von seiner Entscheidung erst Tage später, als sie nach der Arbeit in ein halb leeres Haus kam.

Ich weiß nicht mehr, wie ich es ihm gesagt habe, aber es kam für mich nicht in Frage, mit meinem Vater allein irgendwo hinzugehen. Ich wusste damals nichts über Depression oder Alkoholismus, aber ich hatte die Symptome von beidem an ihm erlebt. Die von ihm angenommene Vertrautheit mit mir war ein Hirngespinst und ziemlich beängstigend. Bei meiner Stiefmutter zu bleiben, war für mich auch nicht denkbar, obwohl ich glaube, dass sie davon ausging. Doch ich hatte fast mein Leben lang in Angst vor ihrer Ablehnung gelebt. Mit 17 hatte ich den Versuch aufgegeben, ihr zu gefallen, was ihre Zuneigung zu mir nicht steigerte. Als ich ihr sagte, dass ich nicht bei ihr bleiben würde, bestand sie darauf, dass ich auf der Stelle auszog, was ich gerne tat. Die Aussicht, nicht mehr unter ihrem Dach leben zu müssen, überstrahlte meinen Kummer darüber, dass ich meinen Bruder zurücklassen würde.

Ich wusste, dass ich gehen musste, und ich wusste, wohin.

Meine Mutter lebte in New Jersey, wo sie meine ältere Schwester Christine und mich aufgezogen hatte, bis wir zu unserem Vater und unserer Stiefmutter nach Colorado zogen. Die Geschichte der Scheidung unserer Eltern, als ich ein Kleinkind war, und der darauffolgende Krieg um das Sorgerecht, als ich elf war, ist schmerzvoll und chaotisch, woran ich nicht ganz unschuldig war. Als unser Vater kurz davor