My Bad Boy - Verstecktes Verlangen - Karen Robards - E-Book
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My Bad Boy - Verstecktes Verlangen E-Book

Karen Robards

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Beschreibung

Er ist ein gefährlicher Mann – doch sie fühlt sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen … Einst war er der Schwarm aller Highschool-Girls – nun kehrt er nach 11 langen Jahren aus dem Gefängnis zurück. Ihren ehemaligen Schüler Jonny Harris wiederzusehen, ist ein überwältigendes Gefühl für die noch immer junge Rachel Grant. Schon damals hat sie an seine Unschuld geglaubt. Und schon damals war da diese Anziehung, der sie als seine Lehrerin niemals nachgeben durfte. Doch jetzt sind die Umstände anders. Und während Rachel sich noch selbst etwas vormacht, indem sie behauptet, ihm nur helfen zu wollen, ist sie dem charmanten Bad Boy längst verfallen … Aber welche Konsequenzen wird das in einer Kleinstadt haben, in der Jonny von allen gehasst und gefürchtet wird? »Robards ist eine großartige Geschichtenerzählerin!« Chicago Tribune »Spannend bis zur letzten Seite!« Amazon-Leserin Eine Spicy Romance für Fans von Linda Howard und Sylvia Day.

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Seitenzahl: 514

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Einst war er der Schwarm aller Highschool-Girls – nun kehrt er nach 11 langen Jahren aus dem Gefängnis zurück. Ihren ehemaligen Schüler Jonny Harris wiederzusehen, ist ein überwältigendes Gefühl für die noch immer junge Rachel Grant. Schon damals hat sie an seine Unschuld geglaubt. Und schon damals war da diese Anziehung, der sie als seine Lehrerin niemals nachgeben durfte. Doch jetzt sind die Umstände anders. Und während Rachel sich noch selbst etwas vormacht, indem sie behauptet, ihm nur helfen zu wollen, ist sie dem charmanten Bad Boy längst verfallen … Aber welche Konsequenzen wird das in einer Kleinstadt haben, in der Jonny von allen gehasst und gefürchtet wird?

Über die Autorin:

Karen Robards ist die New York Times-, USA Today- und Publishers Weekly-Bestsellerautorin von mehr als fünfzig Büchern. Sie veröffentlichte ihren ersten Roman im Alter von 24 Jahren und wurde im Laufe ihrer Karriere mit zahlreichen Preisen bedacht, unter anderem mit sechs Silver Pens, die sie als beliebteste Autorin auszeichnen. Sie brilliert in der Spannung ebenso sehr wie im Liebesroman.

Die Website der Autorin: karenrobards.com/

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eBook-Neuausgabe April 2025

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1993 unter dem Originaltitel »One Summer«. Die deutsche Erstausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Sommer des Herzens« bei Heyne.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1993 by Karen Robards

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1995 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München. Der Wilhelm Heyne Verlag ist ein Verlag der Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Matcha_09 /Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-940-3

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Karen Robards

My Bad Boy – Verstecktes Verlangen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christa von Hadeln

dotbooks.

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Epilog

Lesetipps

Widmung

Dieses Buch ist meiner Schwester gewidmet, die mich wieder inspiriert bat. Und wie immer, in Liebe, den Männern in meinem Leben – meinem Mann Doug und meinen Söhnen Peter und Chris.

Kapitel 1

Seit jenem alptraumhaften Morgen konnte Rachel Grant den süßen Duft von Clethrablüten nicht mehr ertragen. Sie empfand es als Ironie, dass ausgerechnet dieser Geruch sie jetzt zu ersticken drohte.

Rachel stand auf dem glühendheißen Asphalt an der Greyhound Busstation und wartete auf Johnny Harris. Johnny Harris, der böse Bube, dem sie jahrelang versuchte, ein einigermaßen gutes High-School Englisch beizubringen. Johnny Harris, der großmäulige Sohn eines Tunichtguts, dem alle prophezeiten, er würde keinen Deut besser als sein Vater werden und der diese Erwartungen schließlich noch übertraf.

Johnny Harris wurde vor elf Jahren wegen Mordes und Vergewaltigung einer siebzehnjährigen Schülerin verurteilt. Heute kehrte Johnny Harris, mit ihrer Hilfe, nach Hause zurück.

Rachel hörte bereits das Motorengeräusch, bevor der Bus in Sichtweite kam. Sie fühlte sich unbehaglich. Nervös um sich blickend, hielt sie nach einem möglichen Beobachter Ausschau – Bob Gibson von der Fahrkartenausgabe war nur verschwommen hinter der Glasscheibe seines Schalters zu erkennen, der in einer ehemaligen Tankstelle untergebracht war. Jeff Skaggs, der im vergangenen Mai die High-School absolviert hatte, arbeitete jetzt im ›Seven- Eleven‹ und steckte ein paar Münzen in einen Coke-Automaten. Genau hinter seinem geparkten Pritschenwagen entdeckte sie einen Clethrastrauch mit lederartigen, sattgrünen Blättern und kleinen weißen Blütentrauben.

Rachel fühlte sich sofort etwas wohler, als sie erkannte, dass dieser Duft einer äußerst realen Quelle entstammte. Trotzdem hatte der Zufall etwas Unheimliches für sie.

Marybeth Edwards blutüberströmte Leiche wurde neben einem Clethrastrauch gefunden, fast auf den Tag genau vor elf Jahren, während einer Hitzewelle, wie sie im Augenblick wieder in Tylerville herrschte. Ein weißer Blütenregen, von ihr ausgelöst im Kampf gegen den Angreifer, bedeckte ihren Körper. Der süße Duft der Blüten milderte den scharfen Geruch des Blutes. Es war August – wie heute – und so heiß wie in einem Pizzabackofen.

Rachel, die damals auf dem Weg zur Tylerville High-School gewesen war, um ihr Klassenzimmer für das neue Schuljahr in Ordnung zu bringen, hatte als eine der ersten die grässliche Entdeckung gemacht. Der Schrecken dieses Anblicks hatte sie niemals verlassen. Auch nicht die Gewissheit, dass Johnny Harris, der sich in das blonde Mädchen verliebt hatte, nicht der Mörder war. Er hatte sich heimlich, gegen den Willen der Eltern, mit Marybeth getroffen, und als sie tot aufgefunden wurde, mit seinem Sperma in ihrem Leib, schien der Fall klar zu sein. Innerhalb von einer Woche wurde er verhaftet, verhört, und anschließend wegen Mordes verurteilt. Allein auf Grund der Theorie, dass Marybeth ihm in jener Nacht erklärt hätte, es sei aus zwischen ihnen, sie würde sich nicht mehr mit ihm verabreden. Die Anklage wegen Vergewaltigung wurde fallen gelassen. Es gab zu viele Leute, die wie Rachel bezeugen konnten, welcher Art die Beziehung zwischen Marybeth und Johnny gewesen war. Für Rachel stand fest, dass der Junge, den sie kannte, eine so abscheuliche Tat nicht begangen haben konnte. Sie war immer der Überzeugung gewesen, dass das einzige ihn entlastende Verbrechen war, Johnny Harris zu sein.

Jetzt betete sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

Mit quietschenden Bremsen fuhr der Bus in die Haltestelle ein und kam mit einem Ruck zum Stehen. Die Tür ging auf. Rachel blickte in die leere Türöffnung. Ihre Finger umklammerten den Griff ihrer Sommerhandtasche. Ihr Körper verkrampfte sich. Die hohen Absätze ihrer weißen Pumps versanken im weichen Asphalt.

Da stand er in der Tür. Johnny Harris. Er trug abgewetzte braune Cowboystiefel, zerschlissene Jeans und ein weißes Baumwoll-T-Shirt. Das Hemd spannte sich über breite Schultern und muskulöse Oberarme. Seine Haut war erstaunlich frisch und braungebrannt. Er war dünn. Nein, das war nicht das richtige Wort – schlank war treffender. Schlank und fest und zäh wie Leder. Sein Haar war unverändert, kohlrabenschwarz, nur länger als früher. Es reichte ihm fast bis auf die Schultern. Sein Gesicht war das gleiche –, sie hätte ihn überall auf der Welt wieder erkannt. Allerdings ein paar harte Linien um Mund und Kinn waren dazugekommen.

Der etwas abweisend, aber gutaussehende Junge, den sie in Erinnerung hatte, sah zwar immer noch abweisend und gut aus – hatte sich aber zu einem gefährlich wirkenden Mann gemausert.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Johnny Harris fast dreißig Jahre alt sein musste. Wenn sie jemals etwas über ihn gewusst hatte, dann konnte sie es jetzt vergessen.

Johnny Harris hatte die letzten zehn Jahre seines Lebens im Bundesgefängnis verbracht.

Er stieg auf den Asphalt hinunter, blickte sich um. Rachel, die etwas abseits stand, gab sich innerlich einen Ruck, sie musste auf ihn zugehen. Ihre Absätze steckten in den kleinen selbst geschaffenen Kratern im Asphalt. Sie schwankte. Als sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte, waren seine Augen auf sie gerichtet.

»Miss Grant.« Er lächelte nicht, als er ihre Gestalt prüfend von oben bis unten musterte. Sein Blick, der ihre weiblichen Formen unverhohlen abschätzte, wirkte beinahe unverschämt, so dass sie für einen Augenblick ihre Fassung verlor. Das war nicht der Blick, den sie als Lehrerin von einem männlichen, ehemaligen Schüler erwartet hatte. Von Respekt keine Spur.

»J-Johnny. Willkommen zu Hause.« Eigentlich absurd, diesen hart wirkenden Mann wie einen Schüler zu begrüßen, aber der Vorname kam ihr automatisch über die Lippen.

»Zu Hause.« Seine Lippen verformten sich zu einem dünnen Strich als er sich umblicke. »Ja, richtig.«

Sie folgte seinem Blick und sah, dass Jeff Skaggs sie jetzt mit aufgerissenen Augen anstarrte. Die Nachricht von Johnny Harris’ Rückkehr würde sich bis zum Abendessen wie ein Lauffeuer in ganz Tylerville verbreitet haben, das wusste Rachel. Ideell Skaggs, Jeffs Mutter, war die größte Klatschbase der Stadt.

Nicht, dass Rachel aus Johnnys Rückkehr ein Geheimnis machen wollte ... in Tylerville, Kentucky, konnte man nichts geheim halten, jedenfalls nicht für lange. Jeder wusste über jeden Bescheid. Trotzdem hatte sie insgeheim gehofft, dass er die Chance haben würde, unbemerkt anzukommen. Er sollte sich mit der neuen Situation vertraut machen können, bevor der unvermeidliche Proteststurm losbrechen würde. Wäre ein gewisser Teil der Einwohner im Voraus über Johnny Harris’ Rückkehr informiert gewesen, hätte sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das zu verhindern.

Jetzt wusste man es, oder würde es sehr bald wissen. Es würde ein Mordsgeschrei geben, großteils ihretwegen. Sie hatte damit gerechnet, seitdem sie seinen Brief erhalten hatte. Er bat sie darin, ihr einen Job zu beschaffen, damit er auf Bewährung freikäme. Sie hatte zurückgeschrieben und seine Bitte erfüllt.

Sie hasste Auseinandersetzungen, besonders wenn es dabei um ihre Person ging. Damals hatte sie den Standpunkt vertreten, dass der Junge, so wie sie ihn kannte, ein besseres Schicksal verdient hatte. Und dieser Überzeugung war sie bis heute treu geblieben.

Nur, der große, verdrossen aussehende Fremde, der jetzt neben ihr stand, war nicht mehr der Junge, den sie in Erinnerung hatte. Sein fast unverschämter, abschätzender Blick war der beste Beweis dafür.

Der Fahrer stieg aus, um den Gepäckraum des Busses zu öffnen. Rachel riss sich zusammen und meinte obenhin: »Besser, wir holen jetzt dein Gepäck.«

Er lachte. Es klang eher spöttisch als belustigt.

»Miss Grant, das habe ich bei mir.«

Ein schmutziger Matchbeutel, der über der einen Schulter hing, wurde als Beweis hervorgezogen.

»Oh. Also, dann ... dann können wir ja gehen.«

Er sagte nichts. Sie wandte sich um und ging zu ihrem Wagen – auf merkwürdige Weise verwirrt. Natürlich hatte sie nicht erwartet, dass ein achtzehnjähriger Schüler aus dem Bus steigen würde, aber auf einen erwachsenen Mann war sie auch nicht vorbereitet.

›Närrin!‹ schalt sie sich.

Sie versuchte ruhig zu bleiben, als sie die Tür ihres blauen Maxima öffnete. Sie blickte über die Schulter zurück und konnte gerade noch erkennen, wie Johnny Harris sich zu Jeff Skaggs drehte und ihm ein Zeichen machte. Der Anblick des langen, obszön himmelwärts gestreckten Mittelfingers zeigte ihr deutlich, dass sie sich bei Johnny Harris verrechnet hatte. Und das hatte sie sich selbst eingebrockt!

»War das wirklich notwendig?«, fragte sie leise, als er zum Wagen kam.

»Yes.«

Er ging um den Wagen herum, öffnete die hintere Tür, warf seinen Matchbeutel auf die Rückbank und nahm dann auf dem Beifahrersitz Platz. Rachel blieb nichts anderes übrig, als einzusteigen.

Und das tat sie. Erstaunlich, wie klein ihr der normalerweise geräumige Maxima jetzt vorkam, mit Johnny Harris auf dem Schalensitz neben ihr. Seine Schultern waren breiter als das graue Polster der Rückenlehne, so breit, dass sie fast bis zu ihr hinüberreichten. Seine Beine – zu lang, um sie auszustrecken – waren auseinander gespreizt. Ein Jeansknie lehnte an der Gangschaltungskonsole zwischen den Sitzen. Seine Nähe beengte sie. Er wendete seinen Kopf in ihre Richtung, und seine Augen (sie waren von einem tiefen, rauchigen Blau – komisch, dass ihr das entgangen war) musterten sie wieder. Der Ausdruck war unmissverständlich.

»Schnall dich bitte an. Das ist Vorschrift.«

Rachel verspürte plötzlich das Bedürfnis, ihre Schultern einzuziehen, ihren Busen vor seinen Blicken zu verbergen. Normalerweise war sie Männern gegenüber völlig unbefangen.

Ehrlich gesagt, in den letzten Jahren hatte sie kaum Notiz von ihnen genommen. Vor langer Zeit hatte ihr törichtes Herz mit voller Hingabe geliebt, so wie sie einen Mann immer lieben wollte. Er hatte ihre Liebe und ihre junge, ungezügelte Leidenschaft genommen, und sie dann wie ein wertloses Geschenk beiseitegeschoben. Sie hatte überlebt, aber daraus gelernt, dass es besser war, die Männer aus ihrem Leben auszuschließen.

Aber Johnny Harris konnte man nicht ausschließen. Seine Augen – nein, das bildete sie sich nicht ein –, ruhten wieder auf ihren Brüsten. Instinktiv blickte Rachel an sich herunter. Ihr ärmelloses Kleid aus weißem Baumwolltrikot war hochgeschlossen, der Rock streifte beim Gehen ihre Knöchel und schmeichelte ihrer schlanken Figur. Es war damenhaft elegant geschnitten und völlig unprovozierend. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie von seinen Blicken ausgezogen wurde. Und das mochte sie ganz und gar nicht. Es kostete sie einige Anstrengung, sein Verhalten zu ignorieren, aber etwas Besseres fiel ihr im Augenblick nicht ein. Also beachtete sie ihn nicht.

»Tja, dann will ich nicht gegen die Vorschrift verstoßen.« Rachel war der spöttische Unterton seiner Worte nicht entgangen, aber zumindest legte er den Sicherheitsgurt um und befestigte ihn. Zu ihrer Erleichterung lenkte ihn dies von ihr ab.

Rachel war mittlerweile so nervös, dass sie mit zitternden Fingern vergeblich versuchte, den Schlüssel in das Zündschloß zu stecken. Beim dritten Mal klappte es. Der Motor sprang an. Erstickend heiße Luft strömte ihr aus den geöffneten Ventilen der Klimaanlage entgegen. Ungeduldig drückte sie auf ein paar Tasten und Knöpfe, bis die vorderen Seitenfenster surrend heruntergingen. Die Luft draußen war keineswegs kühler, und sie spürte, wie sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten.

»Es ist heiß, findest du nicht auch?« Ein gutes, unverfängliches Gesprächsthema, dachte sie.

Er gab eine Art Grunzen von sich.

So weit so gut. Sie legte den Gang ein, nahm den Fuß von der Bremse und drückte den Gashebel hinunter. Aber anstatt vorwärts aus der Parklücke zu fahren, schoß der Maxima rückwärts, bis er von einem Betonpfosten vor Callies Waschsalon aufgehalten wurde.

Sie hatte aus Versehen den Rückwärtsgang eingelegt. Rachel fluchte im Stillen.

Nach dem Aufprall blieben beide einen Augenblick regungslos sitzen. Rachel war noch nicht ganz zu sich gekommen, als Johnny sich in seinem Sitz umdrehte, um den Schaden zu begutachten.

»Nächstes Mal würde ich es mit dem ersten Gang versuchen«, sagte er.

Rachel antwortete nicht. Was sollte sie auch groß sagen? Sie legte den ersten Gang ein und fuhr an. Die Stoßstange war mit Sicherheit verbeult, sie würde den Schaden aber erst untersuchen, wenn Johnny Harris sich nicht mehr in ihrem Wagen befand.

»Mache ich Sie nervös, Miss Grant?« fragte ihr Passagier, als es Rachel irgendwie gelang, unbeschadet auf die zweispurige, dicht befahrene Ringstraße einzubiegen. Die feuchte Luft wirbelte Strähnen des kinnlangen Haars vor ihre Augen und beeinträchtigte die Sicht. Etwas fahrig strich sie ihr Haar mehrmals aus dem Gesicht, bis sie es schließlich mit einer Hand festhielt. Sich mit einem Beifahrer zu unterhalten, gleichzeitig einen Wagen zu steuern, sei etwas ganz Alltägliches, sagte sie sich. Mit etwas Konzentration konnte man beidem gerecht werden.

»Natürlich nicht«, antwortete sie und zwang sich zu einem Lächeln. Nicht umsonst unterrichtete sie seit dreizehn Jahren an einer High-School. Kühl und beherrscht zu erscheinen, auch im größten Chaos, war ihr zur zweiten Natur geworden.

»Sind Sie sicher? Sie sehen aus, als ob Sie sich fragen, wann ich mich auf Ihr Gerippe stürze.«

»W-wie bitte?« Rachel war so überrascht, dass sie kaum sprechen konnte. Die Hand, die bis jetzt das Haar aus ihrem Gesicht gehalten hatte, fiel auf das Steuerrad zurück, als sie ihm einen schockierten Blick zuwarf. Natürlich wusste sie, dass dies im Teenager-Jargon bedeutete, ›mit jemandem zu schlafen‹. Sie konnte es einfach nicht fassen, dass er ihr gegenüber eine solche Bemerkung machte. Sie war fünf Jahre älter als er, und auch in ihrer Backfischzeit wäre kein junger Mann auf die Idee gekommen, so etwas zu ihr zu sagen. Außerdem war sie seine Lehrerin gewesen, zum Teufel noch mal, und jetzt tat sie ihr Möglichstes, um ihm zu helfen und ihm als Freund zur Seite zu stehen.

Aber dieses Vorhaben erwies sich schwieriger als erwartet.

»Schließlich sind es zehn Jahre her, seitdem ich das Vergnügen hatte, eine Frau ... oh, Verzeihung, in ihrem Fall muss ich wohl sagen ... in Gesellschaft einer Dame zu sein. Beunruhigt es Sie, wenn ich so geil bin?«

»Was?!« Wieder starrte sie ihn fassungslos an.

»Verdammt noch mal, passen Sie auf die Straße auf!« Der unerwartete Befehlston ließ sie zusammenfahren und sie gehorchte sofort, obwohl seine Hand das Steuerrad bereits ergriffen hatte. Ein schwer beladener Lastzug donnerte haarscharf an ihnen vorbei und ließ den kleinen Wagen erzittern.

»Sie hätten uns beinahe umgebracht! Jesus Maria!«

Die Hitze und Anspannung waren zu viel für sie. Rachel wurde übel. Mit einem Knopfdruck schloss sie die Fenster. Die Klimaanlage verbreitete sofort wohltuende Kühle, und sie genoss die kalte Luft auf ihrem überhitzten Gesicht.

»Um Gottes willen, wer zum Teufel hat Ihnen das Fahren beigebracht? Das ist ja lebensgefährlich, was Sie da machen!«

Als sie nicht antwortete, lehnte er sich wieder in seinen Sitz zurück. Nur seine Hände, die zu Fäusten geballt auf seinem Schoß lagen, verrieten die innere Anspannung. Seine Augen konzentrierten sich jetzt nur noch auf die Straße.

Wenigstens hatte sie damit ein Problem gelöst und sich seinen unmissverständlichen Blicken entzogen, ob das ein Fehler war? Denn mit dem jungen Johnny Harris konnte man nur fertig werden, wenn man ihm die Stirn bot. Wenn er glaubte, jemanden an die Wand drücken zu können, dann tat er es auch.

»So kannst du nicht mit mir reden«, unterbrach sie ihr Schweigen. »Das erlaube ich nicht.«

Während sie sprach, lagen ihre beiden Hände auf dem Steuerrad; ihre Augen waren auf die Straße fixiert. Sei ruhig, kühl und gefasst, sagte sie zu sich. Nur so wird man mit ihm fertig. Von der Bushaltestelle zum anderen Ende der Stadt würde die Fahrt mindestens noch zehn Minuten dauern.

An diesem Donnerstagnachmittag herrschte überraschend dichter Verkehr. Auch bei besten Verkehrsverhältnissen neigte sie bedauerlicherweise dazu, mit ihren Gedanken von der Straße abzuschweifen. Sie lebe in Wolkenkuckucksheim, schalt ihre Mutter oft, anstatt mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen und sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Die Folge davon waren unzählige Auffahrunfälle mit Blechschaden.

Und die Straße war sehr befahren.

»Inwiefern? Oh, Sie meinen, das mit dem geil sein? Ich wollte Sie nur beruhigen. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass Sie angefallen werden ... oder was immer. Jedenfalls nicht von mir.«

Bei dieser unschuldig klingenden Erklärung streiften seine Augen sie wieder und gaben unverhohlen zu verstehen, dass er ihren Körper bewunderte. Ihr schien es fast so, als würde er absichtlich versuchen, sie durch seine Gegenwart zu verunsichern. Sollte das zutreffen, sagte sich Rachel, so konnte sie nicht verstehen, warum. Schließlich war sie die einzige Verbündete, die er in der Stadt hatte.

»Du hast wohl vor, für dich alles noch schwieriger zu machen, Johnny?« fragte sie ruhig.

Seine Augen verengten sich. »Kommen Sie mir nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, Miss Grant. Ich bin nicht mehr auf der High-School.«

»Jedenfalls war dein Benehmen damals besser.«

»Und meine Aussichten auch. Die sind jetzt im Eimer, und soll ich Ihnen was sagen? Mir ist es scheißegal.«

Sie verstummte. Und genau das hatte er wahrscheinlich auch beabsichtigt.

Schweigend fuhren sie an Wal-Mart, dem Burger King Lokal vorbei, an Kroger und mehreren kleinen Antiquitätenläden. Sie waren jetzt bald am Ziel und Rachel wurde innerlich etwas ruhiger. Nur noch wenige Minuten und sie würde ihn los sein. Vorsichtig lenkte sie den Wagen in eine Parklücke auf dem Parkplatz hinter Grants Eisenwarenhandlung, die ihr Großvater um die Jahrhundertwende gegründet hatte.

»Über dem Lager ist eine kleine Wohnung. Sie ist für dich. Du gehst hier nur um die Seite herum und dann die Treppe hinauf.«

Während sie sprach, zog Rachel die Handbremse an und ließ den Motor laufen. Sie reichte ihm einen Schlüssel, der an einem Metall ring baumelte.

»Hier ist der Schlüssel. Die Miete wird jede Woche von deinem Gehalt abgezogen. Wie ich in meinem Brief geschrieben habe, arbeitest du von acht bis achtzehn Uhr mit einer Stunde Mittagspause. Montag bis Samstag. Ich erwarte, dass du morgen früh um acht Uhr erscheinst.«

»Ich werde pünktlich da sein.«

»Gut.«

Er blieb unbeweglich sitzen, ließ den Schlüssel von seinem Zeigefinger hängen und sah sie mit einem Ausdruck an, den sie nicht beschreiben konnte.

»Warum haben Sie mir überhaupt diesen Job beschafft? Haben Sie nicht Angst vor einem Mann, der eine Schülerin vergewaltigt und ermordet hat?«

»Wir wissen beide, dass du Marybeth Edwards nicht vergewaltigt hast«, antwortete Rachel kurz. Sie versuchte ruhig zu erscheinen und hielt sich mit ihren Händen am Steuerrad fest. »Ich, zum Beispiel, glaube dir, dass ihr in beider Einvernehmen miteinander geschlafen habt. Und dass sie am Leben war, als du sie verlassen hast. Würdest du jetzt bitte aus meinem Wagen steigen? Ich habe noch einiges zu tun.«

Zu Rachels Erleichterung öffnete er wortlos die Tür und stieg aus. Wenn er Schwierigkeiten gemacht hätte, wäre sie mit ihrem Latein am Ende gewesen. Langsam legte sie den Rückwärtsgang ein. Als sie sich umsah, stand er mit einem Arm auf dem Wagendach neben ihr und klopfte an das Seitenfenster.

Rachel presste die Lippen aufeinander und ließ das Fenster widerwillig herunter. Die Hitze drang in den Wagen und machte ihr erneut zu schaffen.

»Ich habe Ihnen etwas verschwiegen«, begann er in vertraulichem Ton und beugte sich zu ihr hinunter. Sein Gesicht war dem ihren nahe, zu nahe. Das Gefühl der Unsicherheit stieg wieder in ihr hoch. Und diese Ankündigung ließ sie erstarren.

»Was?« konnte sie nur fragen.

»Damals auf der High-School war ich ziemlich heiß in Sie verknallt. Das bin ich immer noch.«

Rachels Mund öffnete sich fassungslos. Er grinste sie unverschämt an und richtete sich auf. Erst als er davonschlenderte, merkte sie, dass ihr Mund immer noch offenstand.

Kapitel 2

Vom Fahrersitz eines dunkelfarbigen Wagens, der etwas oberhalb der Straße vor der Eisenwarenhandlung geparkt hatte, wurden sie unbemerkt beobachtet. Die Augen des Beobachters bekamen einen glasigen Schimmer, als sie die Gestalt des jungen Mannes in sich aufsogen, die den Parkplatz mit einer fast arrogant wirkenden Lässigkeit überquerte und hinter dem Haus verschwand. Der blaue Maxima stieß mit quietschenden Reifen zurück, bog viel zu schnell in die Hauptstraße ein und fuhr in Richtung des parkenden Wagens davon. Aber der Beobachter nahm kaum Notiz davon.

Er war zurück. Johnny Harris war zurück. Der Beobachter hatte lange darauf gewartet – wie es schien, hatte er eine Ewigkeit auf diesen Augenblick gewartet. Dieses Mal hatten sich die Gerüchte als wahr erwiesen: Er war aus dem Bus gestiegen, obwohl der Beobachter kaum daran zu glauben gewagt hatte. Johnny Harris. Er war endlich zu rückgekehrt. Jetzt war es an der Zeit, das zu beenden, was vor elf Jahren angefangen hatte.

Der Beobachter lächelte bei diesem Gedanken.

Kapitel 3

»Haben Sie schon gehört? Ideell sagt, ihr Junge hätte gesehen, wie Rachel Grant heute nachmittag jemanden von der Bushaltestelle abgeholt hat. Sie werden nie im Leben darauf kommen, wer es war!«

»Wer?«

»Johnny Harris.«

»Johnny Harris! Wieso, der sitzt doch noch! Ideell hat das falsch verstanden.«

»Nein, sie beschwört, was Jeff ihr gesagt hat. Muss auf Bewährung freigekommen sein, oder so.«

»Machen die das auch bei Mord?«

»Anscheinend. Jedenfalls sagt Ideell, Jeff hätte ihn gesehen, höchstpersönlich ... mit Rachel Grant. Ist das zu fassen?«

»Unmöglich!«

»Es ist wahr, Mrs. Ashton«, unterbrach Rachel die Unterhaltung. »Johnny Harris ist auf Bewährung entlassen worden. Er wird in der Eisenwarenhandlung Grant arbeiten.«

Sie hatte sich von ihrer Begegnung mit besagtem Johnny Harris noch nicht erholt, versuchte aber in der Nachbarschaft unbekümmert und gelassen zu erscheinen, was ihr ganz gut gelang.

Mrs. Ashton, Mitte Sechzig, war eine Freundin von Rachels Mutter, von der sie die Neuigkeit erfahren hatte. Pam Collier war jünger, so um die fünfundvierzig, und wurde von ihrem sechzehnjährigen Sohn terrorisiert. Im Herbst würde er aller Wahrscheinlichkeit nach in Rachels Klasse kommen. Rachel hatte im Stillen gehofft, dass Pam bei ihrem missratenen Sprössling etwas mehr Verständnis für Johnnys Situation aufbringen würde, aber offensichtlich war das nicht der Fall.

»Oh, Rachel, was werden die Edwards dazu sagen? Wie entsetzlich für sie, wenn sie das erfahren.« Mrs. Ashtons Mitgefühl für die Eltern des ermordeten Mädchens war in ihren Augen zu lesen.

»Es tut mir leid für sie, das wissen Sie«, sagte Rachel, »aber ich hatte nie geglaubt, dass Johnny Harris der Mörder von Marybeth Edwards war und das tue ich auch heute nicht. Wie Sie ja wissen, habe ich ihn in der High-School unterrichtet. Er war kein schlechter Junge. Jedenfalls nicht so schlecht.« Ihr Gewissen zwang sie, den letzten Satz hinzuzufügen. Johnny Harris forderte damals mit seiner aufsässigen, trotzigen Art in schwarzer-Lederjacken-Manier die Entrüstung der braven Bürger von Tylerville geradezu heraus. Er trank, war in Streitereien verwickelt, schlug Laternen und Fenster ein, beschimpfte die Leute. Und er fuhr ein Motorrad. Die Jungen, mit denen er sich zusammentat, taugten genauso wenig wie er, und wenn man dem Gerede Glauben schenkte, dann wurden von ihnen wüste Partys gefeiert, wie sie Tylerville noch nie erlebt hatte. In der Schule hatte er ständig Schwierigkeiten und sein freches Mundwerk schadete ihm noch obendrein. Dieser Eindruck wurde aber in Rachels Augen gemildert, weil er sehr gerne gelesen hatte. Das war auch der Grund, der sie auf den Gedanken gebracht hatte, in ihm müsse noch etwas anderes stecken.

Sie erinnerte sich noch an jenen Herbsttag, als sie als frischgebackene Lehrerin die Pausenaufsicht übernommen hatte. Der sechzehnjährige Johnny Harris verschwand wie selbstverständlich durch den Seitenausgang des Schulgebäudes. Sie folgte ihm, weil sie vermutete, er würde heimlich eine Zigarette oder Schlimmeres rauchen. Schließlich entdeckte sie ihn am Parkplatz, auf dem Rücksitz im Wagen eines Mitschülers. Seine knöchelhohen Turnschuhe mit einem Loch in der linken Sohle ragten aus dem Fenster heraus. Seine langen Beine waren überkreuzt, einen Arm hatte er als Stütze hinter seinen Kopf gelegt und über seinem Brustkorb hielt er ein aufgeschlagenes Buch.

Ihr Erstaunen und sein Ärger, beim Lesen überrascht worden zu sein, waren in jenem Moment gleich groß gewesen.

»Die ganze Familie Harris ist schlecht – jeder einzelne! Sie wissen doch, wie Buck Harris plötzlich auf reglos machte, eine Glaubensgemeinschaft gründete und Geld für die hungernden Kinder in Appalachia sammelte? Und dass er das Geld dann verprasst hat, für Glücksspiele und Alkohol? Dafür bekam er ein Jahr Gefängnis, und da gibt es wahrscheinlich noch viel Schlimmeres.« Mrs. Ashton kniff ihre Lippen zusammen, als sie daran dachte.

Rachel fragte sich, ob sie vielleicht zu denjenigen gehörte, die für Buck Harris ›Kirche‹ gespendet hatten. In der Stadt wurde damals bekannt, dass nur die leichtgläubigen Bürger darauf hereingefallen waren. So erwiderte sie freundlich: »Sie können Johnny doch nicht die Schuld für etwas geben, was sein Bruder getan hat.«

»Hmmmpf«, machte Mrs. Ashton und ließ sich nicht belehren.

Rachel sah mit Erleichterung, dass Betty Nichols, das Mädchen an der Kasse, ihre Lebensmittel in zwei braune Papiertüten verstaute und mit aufgerissenen Augen den Klatschgeschichten lauschte. Das Blut pochte in Rachels Schläfen und kündete einen Migräneanfall an. Sie litt daran, seitdem ihr bewusst geworden war, dass sie nie mehr aus Tylerville herauskommen würde. Niemals. Die Fessel der Liebe und Verpflichtung hatte sich um sie geschlossen und hielt sie jetzt mit eisernem Griff fest. Sie hatte es akzeptiert, sich damit abgefunden, und betrachtete ihr Schicksal sogar mit einer Art grimmigen Humor. Ihr waren die Flügel gestutzt worden, ihr, die immer davon geträumt hatte, einmal abzuheben, im Höhenflug in ein anderes Leben zu starten.

Jener schicksalhafte Sommer vor elf Jahren hatte auch sie zu einem der Opfer gemacht.

Ihr Leben verlief auf einer eingefahrenen Spur und daran würde sich auch in den nächsten fünfzig Jahren nichts ändern: Sie war Lehrerin in einer Kleinstadt. Sie hatte sich zu der oft frustrierenden Aufgabe berufen gefühlt, Neugier und Wissensdurst der Jugend von Tylerville zu wecken und anzufachen. Eine Aufgabe, die sie anfangs begeistert und herausgefordert hatte. Mit den Jahren musste sie aber erkennen, dass sie den Funken der Fantasie und Kreativität in den Köpfen ihrer Schüler nicht wachhalten konnte. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, so als ob sie am Meeresboden in Austernbänken nach Perlen suchen würde. Nur gelegentliche Erfolge versöhnten sie mit ihrer Arbeit.

Johnny Harris war eine dieser Perlen. Vielleicht sogar die letzte, die sie finden würde.

Bei dem Gedanken an ihn setzten ihre Kopfschmerzen erbarmungslos ein. Mit schmerzverzogenem Gesicht suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Scheckbuch. Sie musste hier so schnell wie möglich raus. Im Augenblick war sie wirklich nicht dazu fähig, ein Plädoyer für Johnny Harris zu halten ... Im Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zehn Minuten allein zu sein. Mrs. Ashtons Waren wurden bereits in einen Wagen gepackt, und Pam Collier hielt den Kassenzettel in der Hand. Ihre Qual würde bald ein Ende haben, dem Himmel sei Dank! In wenigen Minuten würde sie dem Laden entfliehen können.

»Sue Ann Harris war nichts anderes als ein kleines Flittchen, wenn Sie diesen Ausdruck entschuldigen. Sie wohnt jetzt oben in Detroit, und wie ich gehört habe, lebt sie mit ihren drei Kindern von der Sozialhilfe. Jedes ist von einem anderen Mann. Und keinen von ihnen hat sie geheiratet.«

»Ist das zu fassen!«, erwiderte Mrs. Ashton kopfschüttelnd.

Pam nickte. »Das habe ich gehört. Und jeder weiß ja, dass Grady Harris der größte Dealer im Staat war, als er vor drei Jahren ertrank. Und das wäre nicht passiert, wenn er sich nicht mit Drogen vollgepumpt hätte.«

Rachel atmete tief ein um sich zu beruhigen. In ihren Schläfen pochte es, aber sie achtete nicht mehr auf den Schmerz. »Soweit ich gehört habe, hatte er mit ein paar Freunden auf einem Boot gefeiert. Er fiel über Bord und schlug sich dabei den Kopf auf. Es wurde nachgewiesen, dass er nur Bourbon getrunken hatte. Und wenn es ein Verbrechen ist, Bourbon zu trinken, dann wimmelt es in dieser Stadt von Kriminellen.« Obwohl ihre Bedenken, zumindest was den letzten der Harris Sprösslinge betrat wieder zugenommen hatten, fühlte sich Rachel verpflichtet, auf die Tatsachen hinzuweisen. Wie jedem in der Stadt, kamen ihr Klatsch und Gerüchte zu Ohren, aber weder sie noch die anderen wussten, wie viel daran wirklich wahr war. Das hielt natürlich niemanden davon ab, das Gehörte weiterzugeben. Klatsch war Tylervilles Lebenselixier. Wenn er verstummen würde, so meinte Rachel, würde wahrscheinlich ein Großteil der Bevölkerung den Geist aufgeben.

Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass an Mrs. Ashtons und Pams Berichten mehr als ein Körnchen Wahrheit war. Die Familie Harris zählte nicht gerade zu Tylervilles vorbildlichen Bürgern. Das bestritt Rachel nicht. Sie wollte einem Jungen – nein, jetzt einem Mann – eine zweite Chance geben, nachdem ihm das Schicksal so übel mitgespielt hatte. Ihrer Meinung nach hatte er sie verdient. Sie wollte Johnny Harris beileibe nicht zu einem Heiligen machen. Sie wusste nur, dass er zu Unrecht wegen Mordes an Marybeth Edwards verurteilt worden war.

»Willie Harris hat überall Kinder in die Welt gesetzt, sogar in Perrytown soll er ein paar haben ... erzählt man.« Bei diesem Leckerbissen senkte Pam ihre Stimme zu einem Flüstern. Dazu musste man wissen, dass Perrytown eine schwarze Enklave am Stadtrand war. Obwohl die Gleichberechtigung der Rassen Gesetz war, und jeder in Tylerville gegen den Rassismus wetterte, sah die Wirklichkeit anders aus. Die meisten Schwarzen lebten in ihrer eigenen kleinen Gemeinde.

»Oh, das glaube ich nicht!« Jetzt war Mrs. Ashton doch etwas schockiert, als man Johnnys Vater auch noch das in die Schuhe schob.

»Das habe ich gehört.«

»Das macht siebenunddreißig und zweiundsechzig, Miss Grant.«

»Wie bitte?«

Geduldig wiederholte Betty Nichols den Betrag. Rachel stellte erleichtert eilig den Scheck aus und reichte ihn dem Mädchen an der Kasse.

In Tylerville kannte jeder jeden. Betty war eine ehemalige Schülerin von ihr, und sie brauchte sich nicht durch den Führerschein oder die Kennkarte auszuweisen. In der Stadt wusste man, dass Grantschecks so gut wie Gold waren und dass man einen Scheck der Familie Harris nicht annehmen konnte.

So war das Leben in Tylerville.

»Bye, Mrs. Ashton. Bye, Pam.« Rachel packte unter jeden Arm eine Tüte und eilte zum Parkplatz.

»Warten Sie, Rachel!«, rief Mrs. Ashton ihr nach. Pam fügte noch etwas hinzu, aber Rachel hatte bereits die automatische Tür passiert und hörte nicht, um was es ging. Und sie bedauerte es nicht.

Mit stechenden Kopfschmerzen stieg sie in den Wagen. Rachel fand, dass sie sich in ihrem Leben noch nie so erschöpft und ausgelaugt gefühlt hatte. Vielleicht war es die Hitze. Oder die belastende Verantwortung, Johnny Harris unter ihre Fittiche genommen zu haben.

Ihre Handtasche lag auf dem Beifahrersitz. Sie zog sie zu sich heran und suchte mit einer Hand nach den Aspirintabletten, die sie stets bei sich hatte. Das Öffnen der kleinen Blechdose während des Fahrens erforderte einiges Geschick. Sie schluckte zwei Tabletten trocken hinunter.

›Das ist mein Brief an die Welt, die mir nie geantwortet hat ...‹

Emily Dickinsons Zeilen gingen ihr durch den Kopf. Sie hatte Gedichte immer geliebt, und diese Worte schienen ihr Dasein treffend zu beschreiben. Für sie symbolisierten sie die Sehnsucht eines Menschen, der im Stumpfsinn des Alltags vor sich hinlebte. Wie Emily Dickinson verspürte sie neuerdings das Bedürfnis, mehr aus ihrem Leben zu machen, obwohl sie nicht sagen konnte, wonach sie sich sehnte. Sie wurde sich ihrer Einsamkeit jetzt oft schmerzhaft bewusst, auch wenn sie die Geselligkeit eines Freundeskreises weder vermisst noch gesucht hatte. Die Suche nach einem ihr verwandten Geist hatte sie längst aufgegeben.

Seit Jahren war ihr bewusst geworden, dass sie nicht nach Tylerville passte. Sie war anders als ihre Familie, anders als ihre Nachbarn, anders als ihre Kollegen und Studenten. Sie las alles, was sie in die Hand bekam – Romane und Theaterstücke, Biografien und Poesie. Zeitungen, Magazine, Aufdrucke von Müsliverpackungen einfach alles. Ihre Mutter und ihre Schwester lasen Kochbücher und Modezeitschriften. Ihr Vater las die Geschäftswoche und das Sportjournal. Sie war sich selbst Gesellschaft genug. Und sie war zufrieden damit.

Sie schrieb selbst Gedichte und träumte davon, dass sie eines Tages veröffentlicht werden würden.

Ihre Familie hatte für die Schreibereien nur ein nachsichtiges Lächeln.

Trotzdem liebte sie ihre Familie und wurde von ihr geliebt.

Manchmal verglich sie sich mit dem kleinen Schwan aus dem Märchen von dem hässlichen Entlein. So sehr sie sich auch bemühte, wie die anderen zu sein – und das hatte sie jahrelang versucht – es gelang ihr nicht. Schließlich hatte sie zu einer List gegriffen und so getan, als wäre sie wie die anderen. Es vereinfachte das Leben und fiel ihr nicht schwer. Sie brauchte nur ungefähr achtzig Prozent ihrer Gefühle und Gedanken für sich zu behalten.

Rachel fuhr zwischen den beiden hohen Steinsäulen hindurch, die den Eingang zu dem Anwesen markierten. Die zehntausend Ar große Walnut-Grove Farm befand sich seit Generationen im Besitz der Familie Grant. Sie spürte, wie die Spannung langsam aus ihrem Körper wich und war dankbar, dass das Pochen in ihren Schläfen nachließ. Nach Hause zu kommen hatte immer beruhigend auf sie gewirkt.

Sie liebte das weiträumige, jahrhundertealte Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie liebte die lange Auffahrt, die sich zwischen turmhohen Eichen und Ahornbäumen zum Haus schlängelte. Sie liebte den duftenden Jasmin, die blühenden Hartriegelsträucher und die leuchtend gelben Forsythien, die das Land im Frühjahr verzauberten. Sie liebte die Pfirsichbäume im rückwärtigen Garten und ihre saftigen Früchte sowie die alten Walnussbäume, die im Herbst harte, grüne Bälle abwarfen und sie im Winter mit Nüssen versorgten. Sie liebte den Anblick der Pferde, die jetzt nur noch gehalten wurden, um das Gras auf den Koppeln hinter dem Haus abzuweiden. Sie liebte die Scheune, die ihr Großvater mit seinem Schwiegervater gebaut hatte, und die drei Teiche und die alten ehrwürdigen Bäume, die sie umstanden. Sie liebte die alte Remise, die sich an der linken Seite des Hauses entlang zog und unter der sie immer ihren Wagen parkte. Sie liebte den mattweißen Anstrich, der an manchen Stellen abblätterte und das Hellrot der Ziegelsteine freigab, aus denen das Haus gebaut war und das leuchtende Rot des Blechdachs über ein dreistöckigen Haus, das mit kleinen Gauben und Türmchen verziert war. Sie liebte die breite Veranda mit den dicken weißen Säulen, die der Vorderfront des Hauses eine gewisse Eleganz gaben. Und sie liebte den mit alten Steinplatten belegten Pfad, der zum rückwärtigen Teil des Hauses führte.

Mit ihren Tüten beladen betrat sie diesen Pfad und nahm Duft und Geräusche um sich herum auf, um ihre geplagten Nerven zu beruhigen. Es ist schön, nach Hause zu kommen, dachte sie voller Dankbarkeit.

»Hast du die Schweinerippen? Du weißt, Daddy wollte Schweinerippen.« Elisabeth Grant, Rachels Mutter, kam ihr durch die Küchentür entgegen. Ihre Stimme nahm in letzter Zeit oft einen vorwurfsvollen Ton an. Elisabeth trug eine kurze Lockenfrisur. Ihr pechschwarzes Haar war nachgefärbt, ihr olivfarbener Teint vom vielen Sonnenbaden pergamentartig dünn und faltig geworden, was sie durch ein sorgfältig aufgetragenes Make-up geschickt auszugleichen verstand. Auch wenn sie nicht ausging und den Tag im Hause verbrachte, war Elisabeth perfekt und elegant gekleidet. An diesem Tag trug sie ein smaragdgrünes Leinenkleid mit dezentem Schmuck und den dazu passenden Pumps. Elisabeth war einmal eine schöne Frau gewesen, die auch im Alter ihren Reiz nicht verloren hatte.

Rachel selbst war nicht als Schönheit zu bezeichnen. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, ihre Mutter in dieser Hinsicht enttäuscht zu haben. Sie ging mehr nach ihrem Vater.

»Ja, Mutter, habe ich.« Rachel reichte ihre Einkäufe an Tilda weiter, die neben Elisabeth stand, um sie in Empfang zu nehmen. Tilda trug trotz ihrer zweiundfünfzig Jahre modische Stretchhosen und ein überweites T-Shirt. Seit Rachel sich erinnern konnte, war sie bei Grants Haushälterin.

Sie und ihr Mann, J.D., der als Gärtner und Hausmeister fungierte, gehörten fast zur Familie, obwohl sie jeden Abend in ihr kleines Holzhaus in Perrytown zurückkehrten.

»Ich wäre einkaufen gegangen, Mrs. Grant, wenn Sie es mir aufgetragen hätten.« Tildas Stimme klang etwas beleidigt, als sie die beiden Tüten auf dem Spültisch abstellte.

Rachel war ihr Baby, oder besser, eines ihrer Babys. Sie hatte sechs eigene Kinder und mochte es nicht, wenn man sie ›ausnutzte‹, wie sie es nannte.

»Sie wissen, dass ich Sie und J.D. heute dringend bei Stan gebraucht habe, Tilda. So wie es ihm heute geht, wäre ich nicht allein mit ihm fertig geworden.«

»Er muss einen guten Tag haben, wenn er Schweinerippen essen möchte.« Rachel nahm eine Banane aus der Tüte, die Tilda gerade auspackte und schälte sie. Stan war ihr geliebter Vater. Obwohl er hoch in den Siebzigern war, sah man ihm sein Alter nicht an. Aber er litt an der Alzheimer Krankheit, die ihn während der letzten acht Jahre körperlich, und bis zu einem gewissen Grade auch geistig, verfallen ließ. Nur von Zeit zu Zeit tauchte er aus dem Nebel der Zusammenhangslosigkeit auf, erkannte einen von ihnen und äußerte einen Wunsch.

»Das stimmt. Er hat mich heute morgen erkannt. Er fragte sogar, wo Becky geblieben wäre. Dass sie verheiratet ist und drei Töchter hat, weiß er natürlich nicht mehr.« Elisabeth bückte sich und zog eine große Eisenbratpfanne aus dem Fach unter dem Ofen hervor.

Becky war Rachels jüngere Schwester, die mit ihrem Mann, Michael Hennessey, und ihren drei kleinen Töchtern in Louisville lebte. Sie war das Abbild ihrer Mutter, äußerlich wie charakterlich und das erklärte auch, so tröstete sich Rachel, warum sie immer Mutters Liebling gewesen war. Elisabeth verstand Beckys geheimste Regungen und Gefühle. Becky war während ihrer Collegezeit stets begehrt und umschwärmt gewesen und teilte Elisabeths Interesse für Mode und Männer.

Rachel hingegen steckte ihre Nase am liebsten in Bücher und lebte in einer Fantasiewelt. Eine Träumerin, so nannte sie Elisabeth, was nicht unbedingt ein Kompliment war. Rachel störte es jetzt nicht mehr, dass Elisabeth ihre Schwester vorzog, obwohl sie als Kind sehr darunter gelitten hatte und oft mit rotgeweinten Augen einschlief.

Als die Geschwister heranwuchsen, wurde sie Dadds Liebling und begleitete ihren Vater bei Angel- und Jagdausflügen. Um ihm zu gefallen, lernte sie alles Wissenswerte über Eisen- und Haushaltswaren. Ihn störte es nicht, dass sie keine Schönheit war und ihren Tagträumen nachhing. Die innige Beziehung zu ihrem Vater wurde mit der Zeit immer kostbarer für sie und heilte die Wunden aus ihrer Kinderzeit.

»Ist dieser Harris gekommen?« In Elisabeths Stimme schwang Missfallen mit, als sie die Schweinerippen auspackte, die Tilda auf den Küchentisch gelegt hatte. Rachel, die sich jetzt fast allein um die Firma kümmerte, hatte Johnny Harris diesen Job ohne Wissen ihrer Mutter vermittelt.

Sie hatte es ihrer Mutter erst vor kurzem mitgeteilt, als es sich nicht länger vermeiden ließ. Wie Rachel erwartet hatte, war Elisabeth allein bei der Vorstellung in Panik ausgebrochen, dass Johnny Harris nach Tylerville zurückkehrte. Sie hätte lieber den Teufel persönlich eingestellt als ihn, meinte sie.

Elisabeth kochte innerlich vor Wut und Rachel wusste, dass sie ihre Eigenmächtigkeit mit kleinen, messerscharfen Hieben bestrafen würde. So wie vorhin, als sie ihr sagte, dass ihr Vater nach Becky gefragt hätte und nicht nach ihr.

»Ja, Mutter, er ist angekommen.« Rachel biss ein großes Stück von der Banane ab, verlor aber den Appetit und warf sie halb angebissen weg. »Er ist uns sehr dankbar, dass wir ihm die Stellung angeboten haben.« Das war natürlich gelogen.

Ihre Mutter zog die Brauen hoch. »Wir haben ihm keine Stellung angeboten. So etwas hätte ich nie getan. Das ist auf deinem Mist gewachsen, Missy, und du allein wirst die Konsequenzen tragen. Er wird über ein Mädchen herfallen ... merke dir meine Worte ... oder irgendetwas anderes Furchtbares tun. Er war immer schon so.«

»Er wird uns keine Schwierigkeiten machen, Mutter, glaube mir. Tilda, wo ist Daddy?«

»Er ist im Ballsaal. J.D. spielt ihm sein Lieblingsband von Elvis vor und das hören sie sich jetzt oben gemeinsam an.«

»Danke, Tilda. Dann werde ich zu ihm hinaufgehen. Ruf mich, wenn ich dir helfen kann, Mutter.«

»Du weißt, dass ich beim Kochen allein zurechtkomme.« Elisabeth war eine begeisterte Köchin und auf ihr Können stolz. Rachels Angebot war eher als kleine Revanche auf den Seitenhieb von vorhin gemeint.

»Ich weiß, Mutter.« Rachels Stimme wurde etwas sanfter. Sie lächelte ihre Mutter an, bevor sie die Küche verließ und die enge, rückwärtige Treppe hinaufstieg. In ihrer Beziehung zu Elisabeth gab es mehr Dornen als Streicheleinheiten, trotzdem liebte sie ihre Mutter.

Stans Schicksal lastete schwer auf ihrer Mutter. Obwohl sie ihre Tochter Becky über alles liebte, galt ihre ganze Liebe ihrem Ehemann.

Bevor sie den dritten Stock erreichte, tönten ihr lautstark schwungvolle Rock’n’Roll Klänge entgegen. Die Bezeichnung Ballsaal war für die verglaste Terrasse, die das halbe Dach des Hauses einnahm, wohl etwas übertrieben. Der Saal war unmöbliert, die Eichenholzdielen ohne geräuschdämpfende Teppiche. Der kahle, leere Raum wirkte wie ein Verstärker. Rachel merkte, dass sie – obwohl sie kein Elvis Fan war – im Takt des mitreißenden Beats den Korridor entlangging. Der Song war ansteckend. Stan war ein begeisterter Anhänger von Elvis und trauerte bei seinem Tod wie um einen Angehörigen.

Die Tür zum Fahrstuhl, der für Stan und seinen Rollstuhl eingebaut wurde, stand offen als sie daran vorbeiging. Später würde ihn J.D. in das Erdgeschoss zum Essen hinunterbringen, dann würde er seine täglichen Spazierrunden im Park drehen. Anschließend würde er ihn in den zweiten Stock hinauffahren, wo er gebadet wurde, ein Schlafmittel verabreicht bekam und zu Bett gebracht wurde. Das war seit Jahren der routinemäßige Ablauf seiner Tage. Wenn Rachel daran dachte, dass das Leben ihres tatkräftigen, aktiven Vaters auf diese endlose Monotonie reduziert worden war, kamen ihr die Tränen. Also versuchte sie, nicht daran zu denken.

So wie sie es beim Betreten des Ballsaals erwartet hatte, saß ihr Vater in seinem Rollstuhl, die Augen geschlossen, mit dem Kopf im Takt der Musik nickend. Elvis’ Songs zu hören war eines der wenigen Vergnügen, die ihm noch geblieben waren. Nur sie konnten ihn noch erreichen, wenn alles andere versagte.

J.D. saß mit überkreuzten Beinen neben Stan am Fußboden. Sein Bauch quoll über den Gürtel seiner grauen Arbeitshosen, sein hellblaues Flanellhemd war offen und zeigte ein weißes Unterhemd. Er war dunkelhäutiger und lebhafter als seine Frau und hatte für jeden, der ihm über den Weg kam, ein freundliches Wort oder Lächeln übrig. Er summte die Melodie mit und schlug mit seinen Fingern den Takt auf den gewachsten Holzfußboden. Rachel musste irgendein Geräusch gemacht haben, denn er blickte auf und strahlte, als er sie sah. Rachel winkte ihm zu. Eine Unterhaltung wäre bei der Lautstärke der Musik zwecklos gewesen.

Sie ging zu ihrem Vater hinüber und berührte seine Hand.

»Hallo, Daddy.«

Er öffnete seine Augen nicht, ja, er schien nicht einmal zu registrieren, dass ihre Hand auf der seinen lag. Rachel ließ sie einen Augenblick liegen und zog sie dann wieder zurück. Sie seufzte. Sie hatte keine andere Reaktion erwartet. Sie war zufrieden, dass sie ihn sehen konnte und gut versorgt wusste.

Ihr und den anderen blieb nichts anderes übrig, als sich um sein körperliches Wohl zu sorgen. Ohne J.D., der nur allein mit ihm umzugehen wusste, wenn er unruhig und widerspenstig wurde, und ohne Tildas Hilfe, hätte man ihn als Pflegefall in eine Privatklinik einweisen müssen.

Allein bei dieser Vorstellung krampfte sich Rachels Magen zusammen. Dr. Johnson, Stans Arzt, hatte die Familie darauf vorbereitet, dass es im letzten Stadium der Krankheit wahrscheinlich unumgänglich wäre, ihn stationärer Pflege anzuvertrauen. Elisabeth bekam einen hysterischen Weinkrampf, als das Thema zur Sprache kam. Sie war seit einundvierzig Jahren mit ihm verheiratet.

Stan war einmal ein hochgewachsener, schlanker, sehniger Mann gewesen. Er war immer noch groß, obwohl er durch seine Krankheit zu schrumpfen schien. Rachels Empfinden für Größenverhältnisse mochte sich auch geändert haben, da er jetzt von ihr und nicht sie von ihm abhängig war.

Jedenfalls empfand sie eine heftige, beschützende Liebe für ihn, als sie auf sein schütter werdendes, silbergraues Haar blickte. Altern war nie ein angenehmer Aspekt gewesen, aber diese Krankheit, die die Seele vor dem Körper nahm, war grausam.

»Ich werde da sein, solange du mich brauchst, Daddy«, versprach Rachel leise, als sie ihm über den Kopf strich.

›Hound Dog‹ wurde jetzt von ›Love Me Tender‹ abgelöst. Bei den weichen, sehnsuchtsvollen Klängen des Liedes musste Rachel gegen die Tränen ankämpfen. Lächerlich. Durch das Weinen würde sie nur eine rote Schnupfnase bekommen. Zwinkernd hielt sie die Tränen zurück, tätschelte zum Abschied die Hand ihres Vaters, winkte J.D. zu und wandte sich zur Tür. Sie wollte sich umziehen, bevor sie wieder hinunterging. Da Mutter ihre berühmten gegrillten Schweinerippen nach Südstaatenart zubereitete, eine Zeit raubende Angelegenheit, würde Rachel noch genügend Muße haben, um ihre Gedanken zu ordnen, bevor sich die Familie zu Tisch setzte.

Die Klänge des nächsten Songs, ›Heartbreak Hotel‹, drangen leise in ihr Zimmer, als sie in ein Paar blaugrünkarierte Shorts schlüpfte und ein dazu passendes hellgrünes Poloshirt aus dem Schrank nahm. Weiße Turnschuhe mit weißen Söckchen vervollständigten ihr Outfit. Mit wenigen, kräftigen Bürstenstrichen ordnete sie ihr Haar und lockerte es dann kurz mit ihrer Hand auf. Eingehend blickte sie sich im Spiegel an. Das erste Mal seit langer Zeit betrachtete sie sich selbst und nicht nur den Sitz ihrer Frisur oder ihr Make-up. Sofort wurde ihr klar, warum. Unfähig, dem Schatten, den Johnny Harris auf sie geworfen hatte, zu entkommen, versuchte sie unbewusst, sich durch seine Augen zu sehen.

»Ich war ziemlich heiß in Sie verknallt in der High-School. Das bin ich immer noch.« Ungebeten drängten Johnnys Worte an die Oberfläche ihrer Gedanken. Rachels Finger umklammerten die Bürste, die sie immer noch in der Hand hielt. Natürlich war das nicht ernst gemeint. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht entschlüsseln konnte, versuchte er sie zu verunsichern. Keinesfalls war sie der Typ Frau, die in Männern Lust und Begehren weckte. Das war einer der Gründe, warum Michael sie dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Der gutaussehende, erfolgreiche Michael – liebte sie. Sogar damals fiel es ihr schwer, das zu glauben.

Der Stich in der alten Wunde ließ Rachel zusammenzucken. Es war schon so lange her, seitdem er sie mit einem Kuss auf die Wange und den Worten freigegeben hatte, dass sie nicht wirklich füreinander geschaffen waren. Wirklich nicht? Ihr Herz war entzweigebrochen, aber er schien es weder bemerkt zu haben noch sich darum zu kümmern. Sie dachte kaum noch an Michael, jedenfalls nicht in Zusammenhang mit ihrer Person. Es stand ihr nicht mehr zu, an ihn zu denken. Er gehörte jetzt Becky. War Beckys Ehemann.

Ihre Gedanken schweiften ab zu einem nahe liegenden Thema. Die Vorstellung, dass sie dem Schüler Johnny Harris, dem ›Hengst‹ der High-School – sie bediente sich wieder des Schuljargons – Anlass gegeben haben könnte, sich in sie zu ›verknallen‹, nun, war einfach lächerlich.

Sie war einfach nicht der Typ.

Sie war vierunddreißig, bald fünfunddreißig Jahre alt, was man ihr, so meinte sie, nicht ansah. Eine lebenslange Abneigung gegen die Sonne, sie wurde nur rot und nie braun, hatte ihr ein fast faltenloses Gesicht beschert, mit Ausnahme einiger Fältchen unter den Augen. Ihre Figur war schlank, aber das war auch der einzige Pluspunkt. Sie hätte eigentlich ein dreizehnjähriges Mädchen um ihre Rundungen beneiden müssen. Es war eines ihrer Geheimnisse, dass sie ihre Kleidung in der Knaben-Abteilung von Grumers, dem Warenhaus von Tylerville, kaufen konnte und das auch sehr oft tat. Ihr Haar war mittelbraun, kinnlang geschnitten und an den Enden nach innen gerollt. Es umrahmte das einigermaßen hübsche Oval ihres Gesichtes. Mit seinen feinen, ebenmäßigen Zügen wirkte es eher farblos. Ihre großen, schön geformten Augen wurden von dichten, dunkelbraunen Wimpern umrandet, ihr nichtssagender Braunton aber wirkte nicht gerade männerbetörend. ›Süß‹, damit wurde sie oft beschrieben. Sogar Rob, der Mann, mit dem sie sich seit zwei Jahren sporadisch verabredete, glaubte ihr damit ein Kompliment zu machen.

Rachel hasste es, ›süß‹ genannt zu werden. Das war ein Ausdruck für Kleinkinder und Hündchen, nicht für eine erwachsene Frau. Auch wenn es zutreffen mochte, empfand sie diese Bezeichnung als beleidigend. Natürlich hatte Rob keine Ahnung davon und sie hätte es ihm auch nicht gesagt. Er war sehr höflich und wohlerzogen und hatte es nett gemeint. Rob hatte ein gutes Auskommen er war Apotheker in seiner eigenen Apotheke – war zuverlässig und sah verhältnismäßig gut aus. Er würde ein sehr guter Vater sein. Langsam fing sie an, sich Kinder zu wünschen.

Es wurde Zeit, dass sie heiratete. Wenn auch Michaels Abtrünnigwerden etwas in ihrem Inneren getötet hatte, sei es drum, so war das Leben. Sie machte sich nichts vor. Sie war nicht die einzige Frau, die sitzen gelassen wurde. Ihr gebrochenes Herz war längst wieder heil, der Schmerz um Michael überwunden. Das Alter hatte ihr die Einsicht und Stärke gegeben, die für eine harmonische Ehe Voraussetzung waren. Wenn Zweifel in ihr aufkamen und sie an ihre leidenschaftlichen Gefühle für Michael dachte, die bei ihrer Beziehung zu Rob fehlten, brauchte sie sich nur vor Augen zu halten, dass sie nicht mehr das naive, romantische Mädchen war, das sein Herz kompromisslos verschenkte. Sie war erwachsen und weiser geworden.

»Rachel! Rachel, komm sofort runter!«

Rachel zuckte zusammen. Es war ungewöhnlich, dass ihre Mutter durch das Treppenhaus rief. Sie wandte sich vom Spiegel ab, öffnete die Tür und eilte in die Küche. Elisabeth stand an der untersten Treppenstufe, eine langstielige Bratengabel in der Hand. Aus ihrem Ausdruck schloss Rachel, dass sie wütend war.

»Da kam ein Anruf für dich«, sagte sie, bevor Rachel fragen konnte, worum es ging. »Es war Ben, vom Geschäft. Er sagte, du möchtest lieber sofort kommen. Die Polizei ist da. Es hat Ärger mit diesem Johnny Harris gegeben.«

Kapitel 4

Zwei Polizeiwagen parkten vor der Eisenwarenhandlung. Eine Schar Neugieriger hatte sich vor der Tür versammelt. Ein uniformierter Beamter hinderte sie daran, das Haus zu betreten. Beim näheren Hinsehen erkannte Rachel den Beamten, es war Linda Howlett. Ihre jüngere Schwester hatte vor zwei Jahren Rachels Klasse besucht. Linda entdeckte Rachel und winkte sie durch die Umstehenden. Rachel eilte in den Laden. Die Szene, die sie empfing, war so schrecklich, dass ihr ein Kälteschauer über den Rücken lief. Sie war unfähig auch nur einen Schritt näher zu treten.

Zwei Männer lagen ausgestreckt am Boden, einer auf dem Bauch, der andere auf dem Rücken. Drei Uniformierte beugten sich über sie. Greg Skaggs, Sohn von Ideell und älterer Bruder von Jeff, war vor kurz einem Jahr der Polizei in Tylerville beigetreten. Eines seiner Knie stemmte er gegen einen breiten, weißen T-Shirt-Rücken, während der Lauf seiner Pistole auf einen zerzausten, schwarzen Haarschopf gerichtet war. Ein zweiter Polizist, Kerry Yates, hatte den Arm des auf dem Rücken Liegenden nach hinten gedreht und hielt ihn fest.

Rachel genügte ein kurzer Blick, um Johnny Harris als den von der Polizei überwältigten Mann zu erkennen. Die Identität des Mannes, der einen Schritt weiter hinten lag, war nicht auszumachen. Polizeichef Jim Wheatley beugte sich über ihn. Seine Haltung zeigte nichts Gewaltsames, als er zwei Finger auf den Puls am Hals des Mannes drückte. Hinter dem Ladentisch, Olivia Tompkins, eine Neunzehnjährige, die halbtags in dem Geschäft arbeitete. Mit aufgerissenen Augen, deren Wimpern schwarz getuscht waren, verfolgte sie das Geschehen.

Ben Zeigler, der Geschäftsführer, tauchte aus einem rückwärtigen Lagerraum auf, als Rachel zögernd am Eingang stand. Es war offensichtlich, dass ihre Anwesenheit unbemerkt geblieben war, denn Ben, der vielleicht durch das Licht der Nachmittagssonne geblendet wurde, erkannte sie nicht.

»Mrs. Grant sagte, Rachel wäre unterwegs«, berichtete Ben dem Polizeichef Wheatley.

»Gut.«

»Lassen Sie mich los, Sie Arschloch! Sie brechen mir noch den Arm!« Das Geschnauze kam von Johnny, der sich mit einer abrupten Bewegung befreien wollte, aber durch einen kräftigen Ruck an seinem nach hinten gedrehten Arm zurückgehalten wurde. Die Worte, die jetzt folgten, waren so ordinär, dass Rachel zusammenzuckte. Auch wenn Johnny, als er damals verhört und verurteilt wurde, ein noch verhältnismäßig unschuldiger Junge gewesen war, hatte ihn das Gefängnis zu einer Gefahr für die zivilisierte Gesellschaft gemacht? Gewiss, neulich hatte er sich ihr gegenüber nicht gerade als Gentleman benommen. Was immer ihn in die Rückenlage, die er jetzt einnahm, gebracht hatte, es musste etwas Gravierendes gewesen sein, denn die Polizei von Tylerville reagierte normalerweise nicht so aggressiv.

»Wehr dich nur, Mistkerl, dann kann ich dir gleich ein Loch in deinen dicken Schädel blasen.«

Diese, von Greg Skaggs gezischte Drohung, riss Rachel aus ihrer Erstarrung heraus. Was Johnny auch sein mochte, sie würde nicht zusehen, wie er vor ihren Augen erschossen wurde.

»Was um Himmels willen geht hier vor?« fragte sie.

Polizeichef Wheatley, seine Beamten, Ben und Olivia blickten gleichzeitig in ihre Richtung.

»Rachel, ich konnte einfach nichts machen!«, klagte Olivia. »Ich war schon nervös, als dieser Johnny Harris in den Laden gekommen war. Ben hatte mir versprochen, er würde nicht im Laden sein, wenn ich da bin. Dann kam Mr. Edwards herein und ich wusste, es würde Ärger geben. Und prompt ging es los! Es kam zu einer entsetzlichen Prügelei. Sie rollten am Boden herum, würgten und schlugen sich. Ich rief die Polizei! Dieser Johnny Harris versetzte Mr. Edwards einen Faustschlag auf den Kehlkopf. Er stürzte bewusstlos zu Boden. Ein Wunder, dass er ihn nicht umgebracht hat!«

»Anscheinend erfuhr Carl, dass Harris hier war. Er kam in den Laden und sah ihn. Ich sagte Ihnen, dass es ein Fehler war, Harris einzustellen, und Sie sehen, wie recht ich hatte. Er ist erst ein paar Stunden hier und schon ist die Hölle los.« Ben wies auf die Gruppe am Boden. »Sie haben den ganzen Laden demoliert. Sehen Sie sich das Durcheinander an!«

Rachel blickte sich um. Farbtöpfe, Bürsten, Roller und Farbmustertafeln lagen auf dem Boden herum. Aus einer aufgeplatzten Büchse floß leuchtend rote Lackfarbe über die schwarzweißen Kacheln. Ein Plastikbehälter, in dem Schrauben und Bolzen aufbewahrt wurden, war umgekippt, sein Inhalt über dem Boden verstreut. Ein stark eingebeulter Kanister mit Vogelfutter lag unter dem Ladentisch. Wahrscheinlich hatte er als Wurfgeschoss gedient.

»Sie hätten sich mit mir absprechen sollen, bevor Sie auf die idiotische Idee kamen, Harris einen Job zu geben, Rachel«, meinte Chief Wheatley. »Jeder mit etwas Verstand im Hirn hätte vorausgesehen, dass die Edwardjungen hinter ihm her sein würden, sobald er einen Fuß in diese Stadt setzt. Teufel noch mal, ich kann’s ihnen nicht verübeln! Ich hüte das Gesetz, wie es meine Pflicht ist, aber es ist nicht richtig, dass Carls Schwester tot ist und ihr Mörder frei herumläuft, hier in unserer Stadt.« Während er sprach, richtete er sich von dem am Boden liegenden zweiten Mann auf, den Rachel jetzt als Marybeth Edwards älteren Bruder Carl erkannte.

»Könnten Sie ihn bitte loslassen?« sagte Rachel ruhig zu Greg Skaggs gewandt und deutete auf Johnny. Natürlich waren diese Männer voreingenommen und würden nicht die kleinsten Skrupel haben, Johnny zusammenzuschlagen. All die Jahre hatte sie an ihn geglaubt und ihn wie eine Löwin verteidigt und sie würde ihn auch jetzt nicht im Stich lassen, nur weil er nicht der Junge mit dem Pfirsichflaumgesicht war, den sie törichterweise erwartet hatte.

»Ich glaube, keiner von uns ist in Gefahr ... bei so viel bewaffneter Polizei. Er hat doch keine Waffe, oder?«

»So viel ich sagen kann, ist er unbewaffnet«, erwiderte Kerry Yates, der seinen Gefangenen gerade abgetastet hatte.

»Lass mich los, Arschloch!«

»Halt die Klappe, Junge, sonst landest du wieder hinter Gittern ... schneller als dir lieb ist«, sagte Wheatley mit drohendem Unterton.

»Verpiß dich.« Johnnys Antwort ließ Rachel zusammenfahren. Greg Skaggs wies ihn zurecht und stieß die Pistole härter als notwendig an den schwarzen Schopf. Kerry Yates drehte den Arm, den er festhielt, etwas höher und grinste, als Johnny vor Schmerz aufstöhnte. Das war zu viel, Rachel sah rot.

»Lasst ihn sofort los!« Rachel erhob ihre Stimme, was sie selten tat. Polizeichef Wheatley sah sie an, sah seine Männer an, zögerte und nickte dann.

»Loslassen«, sagte er. Dann zu Johnny gewandt, der seinen Arm aus Kerry Yates Umklammerung löste: »Benimm dich Junge, sonst liegst du wieder am Boden, bevor du dir die Nase putzen kannst.«

»Steh auf«, befahl Greg Skaggs und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Er steckte seine Pistole nicht in das Halfter. Er hielt sie schussbereit in der Hand.

Johnnys Haltung war dermaßen unverschämt und herausfordernd, dass Rachel die offensive Reaktion des Beamten verstand. Angriffslustig, mit geballten Fäusten baute er sich vor ihm auf. Sein Gesicht war weiß und blutverschmiert, seine Augen blitzen vor Zorn.

»Dich erwisch ich schon eines Tages, wenn du nicht in Uniform bist, Kleiner«, sagte er zu Greg Skaggs. »Dann werden wir ja sehen, was du draufhast.«

»Das fasse ich als Drohung auf.« Wheatleys Stimme hatte einen warnenden Unterton.

»Sei still«, sagte Rachel streng, ging auf Johnny zu und tippte ihren ausgestreckten Zeigefinger mitten auf seine Brust.

Ohne ersichtlichen Grund, nur aus einem Instinkt heraus, meinte sie ihn beschützen zu müssen.

Rachel wirbelte herum und stand wie ein Schild zwischen ihm und den anderen. Das Absurde der Szene wurde ihr nicht bewusst. Ihr Kopf reichte nicht einmal bis zu seiner Schulter und sie wog vielleicht halb so viel wie er. Die Ungerechtigkeit dieser Situation brachte sie in Harnisch. Er hatte schließlich nichts anderes als Carl Edwards getan. Nur weil er Johnny Harris war?

Am Boden stöhnte Carl Edwards. Er reckte sich, setzte sich auf und rieb sich seinen Hinterkopf. Er blickte sich um, sah Johnny und sein Gesicht verzerrte sich.

»Du Dreckskerl«, schrie er. »Dich krieg ich noch! Du Mörder ... So einfach kommst du mir nicht davon.«

»Das ist genug, Carl«, sagte Wheatley scharf, als er seinen Arm packte und ihm auf die Beine half. »Willst du Harris wegen Körperverletzung anzeigen?«

»Verdammt, ja! Ich ...«

»Um fair zu sein ... Edwards hat zuerst zugeschlagen«, wandte Ben widerstrebend ein.

»Sehen Sie?« Rachel blickte Wheatley triumphierend an. »Warum fragen Sie nicht Johnny, ob er nicht Anzeige gegen Carl erheben will? Das ist nur gerecht.«

»Rachel ...« sagte Wheatley gequält.

»Das will ich nicht«, schnaubte Johnny hinter ihr.

»Komm mir bloß nicht mit dieser Tour, du Dreckskerl!« Carl Edwards keuchte. »Ich werde dich aufschneiden, wie du es mit Marybeth gemacht hast. Weißt du noch wie schön sie war, Harris? Das war sie nicht mehr, nachdem du mit ihr fertig warst. Du Schwein ... wie konntest du ihr das antun? Sie war erst siebzehn Jahre alt!«