Mystik des Herzens - Ingrid Riedel - E-Book

Mystik des Herzens E-Book

Ingrid Riedel

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Beschreibung

Mystik ist der Weg des Herzens und der Erfahrung. Sie schenkt Freiheit und innere Weite. Sie hält sich nicht an die Grenzen kirchlicher Disziplin. Ingrid Riedel stellt faszinierende Meisterinnen dieser Freiheit vor. Frauen, die unbeirrt ihren Weg gingen: Hildegard von Bingen, Marguerite Porète, Teresa von Avila, Edith Stein und Dorothee Sölle. In ihren sehr persönlichen, lebendigen Annäherungen erschließt Ingrid Riedel ihre poetische Sprache und öffnet für uns ein Kraftfeld der Spiritualität. In Imaginationsübungen zeigt sie, dass mystische Erfahrungen jedem Menschen möglich sind.

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Seitenzahl: 261

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Ingrid Riedel

Mystik des Herzens

Meisterinnen innerer Freiheit

KREUZ

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-7831-8184-5

ISBN (Buch) 978-3-7831-3493-3

Weibliche Spiritualität – Einleitung

Weibliche Spiritualität

Einleitung

Frauen haben ihre eigene Art zu schauen, zu erfahren: Sie haben eine eigene Weise, das Ganze intuitiv und imaginativ zu erfassen und dabei das Einzelne nicht aus dem Blick zu verlieren. Mag es daher rühren, dass sich die Frau seit jeher auf die Ganzheit kleiner Menschenkinder noch im vorsprachlichen Stadium einzustellen wusste und von daher ihre beiden Gehirnhälften, wie man heute nachweisen kann, in fast allen Lebensbereichen noch enger zusammenzuarbeiten lernten (im Vergleich zum mehr spezifizierenden männlichen Funktionsmodus) – es hat sich jedenfalls eine eigene weibliche Weise herausgebildet, die Dinge, das Leben als Ganzes zu sehen und zu verstehen. Gerade durch diese Ganzheitlichkeit vermag die weibliche Art auch Männer anzusprechen, die solche Ergänzung ihres Eigencharakters schätzen. So hat zum Beispiel kein Geringerer als der Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges sich eingehend mit Hildegard von Bingen und ihrem Werk beschäftigt, sie durch seine Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen und Lateinischen und auch durch seine Kommentare einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst zugänglich gemacht.

Bei Hildegard, der großen Frau des 12. Jahrhunderts, geschieht der Zugang zu diesem großen Ganzen über intuitive Schau, in der Imagination, Vision und Audition ineinander übergehen. Dabei geht sie aus von einer genauen und getreuen Naturbeobachtung, die die Lebens- und Wirkungsweisen der Pflanzen beschreibt und sie auf ihre Heilkraft prüft, und von der sie zu einer Schau, einer Mystik der großen Zusammenhänge gelangt, in der sie den Kreis des Lebens, das Rund des Kosmos von einer einheitlichen Kraft durchwirkt sieht, der Grünheit, der viriditas, die sie in einer kosmischen Frauengestalt verkörpert sieht, der »Frau Weisheit«, der Sophia, die in einen grünen Seidenmantel gehüllt, das Rund des Weltalls von innen her erfüllt. Bis in die Wahrnehmung und Betonung schöner Kleidung hinein erscheint mir dieses Bild als weiblich empfunden.

Auch Hildegards Medizin, die man in ihrem symbolischen Charakter nicht verkennen und nicht unübersetzt in heutige Kategorien übernehmen sollte, geht von der Vernetzung aller Kräfte und von der Energie der Grünheit aus, einer psychophysischen und spirituellen Hoffnungsund Entwicklungskraft, die anschaulich wird, wenn wir z.B. die imaginative Übung mit vollziehen, die auf Hildegard zurückgehen soll, sich nämlich in eine grüne Wiese zu legen und sich vorzustellen, dass all die Säfte und Lebenskräfte, die die Gräser und Blumen durchströmen, auch in unseren Organismus einströmten und ihn neu belebten. Sich wieder anzuschließen an das große Ganze des Lebens, an dessen »Grünheit«, bedeutet bei Hildegard Genesung des ganzen Menschen. Schon die Verbindung von kosmischer Schau und dementsprechender Heilkunde ist charakteristisch für Hildegards vernetzendes und immer auf den Menschen zurückbezogenes Denken.

Bei Marguerite Porète, einer Frau des 14. Jahrhunderts, – zweihundert Jahre nach Hildegard – ist »Liebe« die erfüllende und alles befreiende Kraft: Liebe zum Ganzen des Lebens, zu Gott, ist Marguerites »mystisches Fahrzeug«, von der sie sich getragen weiß und tragen lässt.

Bei ihr bewirkt dieses Durchdrungensein von Liebe vor allem eine unerhörte innere Freiheit: Freiheit von allem Schielen nach Lohn, Dank und Gegenliebe, von menschlicher, aber auch von göttlicher Seite her. In der Liebe stehen zu dürfen ist Glück und Dank genug. Mitgeprägt von der hohen seelischen Kultur der Troubadoure und ihrer Liebeslyrik, der »hohen Minne«, die nicht nach Erfüllung giert, z.B. in der Fernliebe zu einer »hohen Frau«, sieht auch Marguerite Porète »Gott« als einen »Fern-Nahen«, einen Loin-près, der eben dadurch unendlich anziehend, mitreißend ist: ravissant. Gott ist für diese in ihrer Muttersprache, in Mittel-Französisch schreibende Frau aus dem nordfranzösischen Hennegau der »ravissant loin-près«, der »hinreißend Fern-Nahe«.

Es ist eine Beschreibung, die derjenigen des inneren Animus-Bildes, das göttliche Qualität gewinnen kann, wie C.G. Jung es sieht, ähnelt und es vorausnimmt: das Bild des faszinierenden Fremden. Er ist es, der Marguerite Porète bereits erfüllt, bereits von sich aus zieht, indem er sie anzieht.

Über diese Anziehung, die für Marguerite auf einer Wesensgleichheit, Wesenseinheit der menschlichen Seele mit dem Göttlichen beruht – wie bei Meister Eckart –, gewinnt sie eine Freiheit über alle Verhinderungs- als auch Vermittlungsversuche solcher Gottverbundenheit durch Menschen, wozu für sie letztlich auch die Vermittlung durch die Kirche gehört. Das macht sie den kirchlichen Behörden ihrer Zeit verdächtig.

An Marguerite Porète ist mir vor allem wichtig, wie sie aus ihrer Gottesliebe heraus eine Freiheit gegenüber allem, wirklich allem gewinnt, was Menschen ihr antun können. Damit nimmt sie im 14. Jahrhundert vorweg, was im 20. Jahrhundert einer Edith Stein widerfährt und was auch diese aus größeren Händen als denen der NS-Schergen entgegennimmt und erträgt. Marguerite Porètes Mystik ist keine so geschwisterlich ähnlich wie diejenige Meister Eckarts, beide müssten als Zeitgenossen auch voneinander gewusst und ihr gegenseitiges Schrifttum gekannt haben: doch Marguerite Porète als Frau begründet die Wesensgleichheit des Menschen mit Gott nicht durch eine Seins-, sondern durch eine Liebesverbundenheit: Wie das Eisen mit der Glut verschmilzt, so die Seele mit Gott, die für sie die Liebesglut selbst ist. Dieses Bild gebraucht sie immer wieder für die Einheit zwischen Mensch und Gott, für die Verschmelzung zwischen Mensch und Gott.

Marguerite Porète nimmt in gewisser Hinsicht die reformatorische Wende in der Kirche vorweg: Die »Freiheit eines Christenmenschen«, von der Luther spricht, der Freiheit des von Gott Angenommenen, der sich annehmen lässt und dadurch, nur dadurch »vor Gott … gerecht«, vor Gott recht ist, nicht aufgrund seiner Werke. Doch Marguerite Porète als Frau drückt in Begriffen, in Worten der Beziehung und der Liebe aus, was Luther als Mann unter anderem in juristischen Begriffen wie »Rechtfertigung« und »Gnade« ausdrückt, wobei auch er die Töne der Liebe kennt und anzuschlagen weiß.

Am Übergang zum 16. Jahrhundert, zeitgleich mit Reformation und Gegenreformation, lebt und wirkt Teresa von Avila, die große Reformerin des Karmeliterinnen-Ordens und damit letztlich auch eine Kirchen-Reformerin, im Blick auf deren Spiritualität. Dies ist sie nicht zuletzt durch die Entdeckung der Kontemplation, des wortlosen Gebets in der Stille. Es ist dies eine grundlegende Neuerung in der Gebetspraxis in der westlichen Christenheit.

Zugleich ist Teresa eine Frau der Tat, die ganz Spanien bereist und offene, heiße Auseinandersetzungen mit kirchlichen Behörden um die Verwirklichung ihrer Reformen führt: eine Frau der Tat, die die Kraft zur Tat aus der Stille des Bei-sich-Seins und Bei-Gott-Seins schöpft. Diese Kombination wird im 20. Jahrhundert auch bei Dorothee Sölle hervortreten: nur ist deren Wirken auf die ungleich größere Öffentlichkeit der Weltkirche und der Welt des 20. Jahrhunderts bezogen: auf die eine Welt, von der die Kirche vielleicht ein »Sauerteig«, aber doch nur ein Anteil ist. Im Spanien des 16. Jahrhunderts waren dagegen Kirche und große Öffentlichkeit fast noch deckungsgleich. Teresa hat das geflügelte Wort geprägt: »Wenn Fasten, dann Fasten, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn« – das nicht nur Fasten und Speisen gleichberechtigt nebeneinander stellt, sondern auch Fasten und feine Speisen. Zugleich hält in diesem Wort auch die Tiefe, Freiheit und Freude des Fastens, die jeder kennt, der es versucht hat, jener anderen Freude an einem festlichen Mahl die Waage. Teresa bringt auf eine neue Weise leibhaftige Geschöpflichkeit und Spiritualität zusammen, letztlich Gott und Welt.

Kontemplation und Meditation, heute von den Meditationswegen des fernen Ostens belebt, wurden damals durch Teresa auch im Westen entdeckt und heimisch. Dass die Suche nach dem »wahren Selbst« und nach Gott zusammengehören, schon von Augustin gewusst, ist von Teresas Kontemplationsweise zutiefst erfahrbar geworden, z.B. in einer bildhaft erlebten Schau, einer Imagination, in der sie den inneren Garten bewässert oder die Seele als innere Burg durchwandert und dabei die Entdeckung macht, dass in dieser Burg kein Geringerer als Gott wohnt.

Teresa sind auch ekstatische Erfahrungen nicht fremd, doch sucht sie diese nicht und leitet auch nicht zu ihnen an, sie sind nicht »machbar«. Man wird von ihnen überkommen, wird überwältigt, sie sind einem zugemutet oder auch geschenkt. Durch Teresa wissen wir nur, dass es so etwas gibt, wie in der zwischenmenschlichen Liebeserfahrung auch, und dass wir es nicht als solches schon pathologisch verdächtigen müssen (obgleich Teresa selbst solche Verdächtigung widerfuhr).

Teresa, für die Gott auch bei der Arbeit an den Kochtöpfen gegenwärtig ist und erfahren werden kann, weist wiederum einen echt weiblichen Zugang zur Spiritualität auf: durch Hingabe an das, was praktisch Not tut und durch Annahme dessen, was sich uns schenkt: in der Stille der Klausur ebenso wie im Lärm der Welt.

Bewusst in die Spuren Teresas tritt eine Frau des 20. Jahrhunderts, die Intellektuelle, Philosophin, zunächst Atheistin: Edith Stein. Bei ihrer im jüdischen Brauchtum noch verwurzelten Kindheit hat sie die Tragkraft religiöser Tradition kennengelernt, die sie weiterträgt, auch als sie sich intellektuell weit davon entfernt.

Edith Stein sucht die geistige Begegnung mit Teresa nicht bewusst, sondern wird von deren geistiger Ausstrahlung berührt, gefunden und tief angezogen, als sie sie über einer nächtlichen Lektüre ihrer Schriften in der Bibliothek ihrer Freundin unvermutet entdeckt. Die Jüdin Edith Stein tritt schließlich in den Karmeliterinnen-Orden der Teresa ein. Der Schritt fällt in die Zeit, als sich durch die Machtübernahme des NS-Regimes das politische Schicksal des Judentums in Deutschland zusammenzubrauen beginnt. »Kreuzeswissenschaft« nennt die Philosophin Edith Stein ihren eigenen mystischen Zugang zu einem »übernatürlichen Umgang mit dem Leiden«, – wie ihre geistige Schwester Simone Weil dies ausdrückt – ein Umgang mit dem Leiden, das sie sich am Geschick des Jesus von Nazareth vergegenwärtigt und das sie nachzuvollziehen sucht, indem auch sie ihr »Ge-schick« nicht aus den Händen der Nazi-Schergen, sondern aus den Händen »Gottes« entgegenzunehmen sucht, als verwandelndes Leiden, das einen selbst und vielleicht auch andere Menschen zu transformieren vermag, indem es zum Beispiel bis in die Tiefe des Menschheitsgewissens hinein die Einsicht verankert, dass es nie wieder Verfolgung aus rassistischen Gründen geben dürfe. Gottes Leiden daran mittragend, nahm Edith Stein die Opferung ihres Lebens auf sich, nach jüdischer, aber auch katholischer Tradition, dass es stellvertretendes Leiden im Sinne eines Gottesknechtes, einer Gottesmagd gäbe, das mithülfe, durch freiwilliges Mittragen das Leiden Gottes und der Menschen am Unrecht der Welt nicht vergebens sein zu lassen, sondern durch Verwandlung fruchtbar zu machen. Dies sind keine rationalen Gedanken und Vorstellungen mehr, sondern das ist Mystik, Mystik des Kreuzes, der »Kreuzeswissenschaft«.

Ein wenig mag es gelingen, sich in solches Erleben einzufühlen, wenn wir selber versuchen, etwas, das uns angetan wurde – aus Unverstand, Bosheit oder auch Neid – auf seine Bedeutung für uns selbst zu befragen, unabhängig davon, wie andere es gemeint haben mögen. Welche Bedeutung kann ich diesem Vorkommnis geben, im Blick auf mein eigenes Verständnis meines Lebens, meines Schicksals? Was kann sozusagen »Gott« damit gemeint haben? Wie kann ich es verwandeln, damit es fruchtbar werden kann, vielleicht sogar für andere und in einem größeren Zusammenhang?

In anderer Weise wirft eine Frau des 20. Jahrhunderts, Dorothee Sölle, die Frage nach dem Sinn des Leidens, dem Mittragen am »Leiden Gottes« auf. »Stellvertretung«, der Titel ihres umstrittensten Buches, wirft die Frage nach einer »Theologie nach dem Tode Gottes« auf. Wie hat man ihr diese Frage zum Vorwurf gemacht! Dabei ist nach Auschwitz nichts anderes zerbrochen als ein altes Gottesbild, das des allezeit schützenden und bewahrenden Vater-Gottes.

»Menschen gehn zu Gott in ihrer Not«, so schrieb Dietrich Bonhoeffer, Sölles älterer Zeitgenosse, der ebenfalls dem Naziterror zum Opfer fiel, und fuhr fort: »so tun sie alle, alle, Christen und Heiden«. Und er setzt neu an: »Christen aber stehn bei Gott in seiner Not«, sie bitten nicht nur um Schutz, sie tragen als erwachsene Menschen mit.

Für Sölle ist das Mithandeln und Mitleiden des Menschen mit Gott »in seiner Not« zentral: im Sinne klaren politischen Engagements für alle, die Unrecht leiden – denn das widerspricht Gottes Konzept für die Menschen und für die Welt – doch hat dieses extravertierte Engagement eine Innenseite, eine spirituelle Seite, aus der es sich speist und von der es in allen Widerständen, die man ihm entgegensetzt, getragen ist: nämlich, sich als »Baum Gottes« zu wissen, »gepflanzt an den Wasserbächen des Lebens«, oder in einem noch schöneren Bild, sich als »Traum Gottes« zu wissen, den man mitträumt.

Dorothee Sölle schwebt an Stelle einer Theo-logie, die »Gott« mit Hilfe des Logos zu fassen sucht, eine Theo-Poesie vor, die Gott mit Hilfe des poetisch verdichteten Wortes umkreist, in Sprach-Bildern, die auch bei ihr aus der Meditation erwachsen. In dem Gedicht »Konzentrationsübung« zeigt sie durch Meditationsschritte mit dem Bild des Meeres einen Weg auf, sich innerlich immer mehr auf das Unendliche zu beziehen und es schließlich in sich einströmen zu lassen, mit ihm eins zu werden.

Mystikerinnen wissen, dass alle religiöse Sprache symbolische Sprache ist, die, ausgehend von den Phänomenen unserer Welt, z.B. von Naturphänomenen wie Garten, Baum und Meer auf eine Bedeutungsfülle stößt, einen Bedeutungsüberschuss, der über das einzelne Naturphänomen wie das Meer hinaus verweist auf Unendliches, Grenzüberschreitendes, Transzendentes. Auch die Rede von »Gott« ist symbolische Rede: bei den Mystikerinnen vergangener Jahrhunderte noch stärker von einer allgemein anerkannten Bedeutsamkeit getragen, als das heute möglich ist. »Gott« ist heute wie immer das Heilige in unserer Welt, das, was uns »unbedingt angeht« (Paul Tillich), das, was aller Verehrung, Liebe und Hingabe wert ist. – Dies personal Heilige wie ein Gegenüber anzusprechen, auch wenn es um Unendliches geht, wie die Mystikerinnen es tun, das heißt nicht mehr und nicht weniger als unserer menschlichen Konstitution Rechnung zu tragen, der alles zum Du wird – auch der Baum, der Garten, das Meer –, dem wir wirklich und personal begegnen, in Aufmerksamkeit, Liebe und Hingabe. Zugleich kann es sich in dieser Begegnung weiten, entgrenzen, zum Gleichnis des Großen und Ganzen werden, dem wir uns verdanken und das uns bewirkt. Das ist mystische Erfahrung, wie sie jeder und jedem offen steht.

Dorothee Sölle war vor allem an einer »Demokratisierung der Mystik« gelegen, einem Zugang für alle zu ihr: Über Naturbegegnung, über die Erfahrung tiefen Leids und tiefer Freude, über Liebesbegegnung und die Erfahrung von Endlichkeit und Tod sah sie Brücken und Zugangswege zur Mystik.

Ich habe die Mystikerinnen für dieses Buch ausgewählt, die mir selbst in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf verschiedenen Wegen nahe gekommen sind, ohne Systematik: ihre Zugangswege sind Imagination und Schau, wie bei Hildegard von Bingen, ist die Liebe, wie bei Marguerite Porète, ist die Stille der Kontemplation als ein Kraftfeld, aus dem tätige Initiative erwächst, wie bei Teresa von Avila, ist andererseits schicksalhaftes Leiden, als »Kreuzeswissenschaft«, wie bei Edith Stein und schließlich ist es die unlösbare Verbindung von »Mystik und Widerstand«, auch im politischen Sinn, wie bei Dorothee Sölle, und dazu die Möglichkeit, auf eine neue Weise von Gott zu sprechen, einer Theo-Poesie.

Nach den Kapiteln, die Leben und Wirken der ausgewählten fünf Mystikerinnen in ihrer jeweiligen Zeit beschreiben, füge ich im letzten Teil des Buches einige spezielle Übungen an, die den besonderen Zugang zur mystischen Erfahrung, den die einzelnen Frauen erschlossen haben, zugänglich macht.

Erstes Kapitel: »Die Seele ist wie ein Wind« – Hildegard von Bingen (1098–1179)

Erstes Kapitel

»Die Seele ist wie ein Wind«

Hildegard von Bingen (1098–1179)

Durch eine für das 12. Jahrhundert selten gute Quellenüberlieferung – auch eine in den wesentlichen Teilen von Hildegard von Bingen selbst verfasste Vita1– haben wir Kenntnisse über ihre wesentlichen Lebensstationen: Sie lebte von 1098 bis 1179, in einer spannungsreichen Zeit, in die z.B. die Regierungszeit Kaiser Friedrich Barbarossas fiel. Auch war sie Zeitgenossin des großen Klosterreformers und Mystikers Bernhard von Clairvaux, des spirituellen Mentors des damaligen Europa. Auch in ihrem Leben wird er eine bedeutende Rolle spielen.

Schon bei dem kleinen Kind, dem zehnten Kind der Mechthild und des Hildebert von Bermersheim, zeigte sich eine eidetische und audiovisuelle Begabung, die das Mädchen, das auf dem elterlichen Rittergut zwischen Wiesen, Weinbergen, Wäldern und Flüssen, verbunden mit den Tieren aufwuchs, nachdenklich machte und ihm auch manchmal schmerzhaft seine Besonderheit zeigte. So berichtet sie glaubwürdig:

»In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darüber äußern … Und bis zu meinem 15. Lebensjahr sah ich vieles, und manches erzählte ich einfach, so dass die, die es hörten, sich sehr verwunderten, woher es käme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst … Darauf verbarg ich die Schau, die ich in meiner Seele sah, so gut ich konnte … Da ward ich von großer Furcht ergriffen und wagte nicht, dies irgend jemandem zu offenbaren … Wenn ich von dieser Schau ganz durchdrungen war, sprach ich vieles, was denen, die es hörten, fremd war. Ließ aber die Gewalt der Schau ein wenig nach, in der ich mich mehr wie ein kleines Kind als nach den Jahren meines Alters verhielt, so schämte ich mich sehr, weinte oft und hätte häufig lieber geschwiegen, wenn es mir möglich gewesen wäre. Denn aus Furcht vor den Menschen wagte ich niemandem zu sagen, was ich schaute.«2

Scham und Scheu erfüllen die Menschen, die Neues, ihnen selbst Offenbartes erfahren, was bis dahin noch nicht in ihre geistige Umwelt passt. Hier aber wird die kindliche und dann auch die jugendliche Hildegard erschüttert und befremdet von Erlebnissen, die sie selbst nicht einordnen und mit ihren nächsten Menschen auch nicht teilen kann. In ihrer Vita erzählt sie weiter, dass sie mit ihrer Amme darüber zu sprechen versucht und diese auch befragt habe, ob sie denn nicht auch das entsprechende Bild sähe, das ihr selber unabweisbar vor Augen stand. Die Amme aber konnte nichts dergleichen wahrnehmen. Geradezu verstört darüber, dass sich diese Erfahrungen zwischenmenschlich nicht vermitteln ließen, erkannte Hildegard erst jetzt, dass ihre visionären Wahrnehmungen subjektives Erleben darstellten. Dabei begegneten sie ihr doch gleichsam als Gegenüber, wie objektiv, mehr noch, als etwas Transpersonales.

Es ist mehr als begreiflich, dass Hildegard lange nicht wagte, etwas von ihren inneren Schauungen niederzuschreiben, wagte sie doch zunächst mit keinem Menschen darüber zu sprechen. Was sie erfuhr, ging weit über die pubertätsbedingte und allemal schamerweckende Erkenntnis hinaus, anders zu sein als andere. Über der Erfahrung spontaner Audiovisionen und den eigenständigen religiösen Bildern, die sie enthielten, lag damals ebenso leicht die Verdächtigung, den Einhauchungen irreführender Luftgeister ausgesetzt und womöglich »besessen« zu sein, wie heute der Verdacht aufkäme, es handle sich bei diesem Hören von Stimmen und Sehen von Bildern womöglich um psychotische Episoden.

Wie heute eine Stigmatisierung durch psychiatrische Diagnose und Behandlung drohte, so damals die Stigmatisierung durch den Verdacht auf Ketzerei.

Die junge Hildegard begann, vieles bei sich zu behalten und »im Herzen zu bewegen«. Sie selbst verstand ihre Erfahrungen spirituell. Es kam ihrer Nachdenklichkeit und ihrer Introversion wahrscheinlich entgegen, dass ihre Eltern beschlossen, dieses zehnte Kind – zumal das Zuvorgeborene gestorben war – als ihren »Zehnten« Gott zu weihen und es schon vom achten Lebensjahr an einer geistlichen Erziehung zuzuführen, zunächst bei einer verwitweten, spirituell aufgeschlossenen Verwandten auf Burg Sponheim, wo sie mit einem gleichaltrigen Mädchen und der um sechs Jahre älteren Jutta von Sponheim in die Grundlagen religiöser Bildung eingeführt werden sollte. Dies ist gleichsam ein »Skript«, das ihr die Eltern zuschrieben und das ihr Leben prägen wird. Auf Burg Sponheim lernte sie lesen und schreiben, lernte auch die entsprechenden Lektüren kennen, die zu einem geistlichen Leben hinführten. Die Mädchen waren, ihrem Alter entsprechend, spirituell zu begeistern und mögen oft sehnsüchtig von dem hohen Bergfried auf Burg Sponheim3 aus, der heute noch steht, in die Ferne geblickt haben, wo irgendwo im Osten, wo die Sonne aufging, Jerusalem lag, die Heilige Stadt, zu der zu der Zeit die europäische Ritterschaft aufbrach, dem Kreuzzugsgedanken folgend, der damals alle kritiklos begeisterte.

Als die inzwischen eng miteinander verbundenen Mädchen schließlich selbst den hochgemuten Wunsch äußerten, auf Pilgerschaft nach Jerusalem zu gehen, wurde den Eltern bange, so dass sie sich eher noch auf eine andere kühne Idee der spirituell ergriffenen Mädchen einließen, nämlich sie in eine Klause, die dem neuen Benediktinerklause auf dem Disibodenberg angeschlossen war, einziehen zu lassen. Jutta war damals immerhin zwanzig, die beiden Jüngeren vierzehn Jahre alt. Erst neuere Forschung, der die redaktionell bearbeitete Vita Jutta von Sponheims4 zugrunde lag, gelangte zu der Auffassung um Hildegards Kindheit und Jugend, die ich soeben beschrieben habe, und widerspricht damit älteren Darstellungen, die auf der legendär überwucherten Vita Hildegards beruhten, nach der bereits das achtjährige Mädchen nach dem Willen der Eltern zu der dort viel älter erscheinenden Meisterin Jutta auf den Disibodenberg gebracht und dort »eingemauert« worden sei. Die ältere Darstellung diente der Dramaturgie eines Heiligenlebens, dramatisierte den Vorgang und damit die Lebensgeschichte der kleinen Hildegard.

Auch die historisch wahrscheinlichere Wirklichkeit, wie wir sie heute sehen, war noch dramatisch genug, löste sie doch die vierzehnjährige Hildegard gänzlich aus den Zusammenhängen ihrer Familie und einer altersgemäßen Entwicklung in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht, wenn auch die Freundschaft der drei Mädchen untereinander emotional einiges aufgewogen haben mag. Doch wählten sie als Klausnerinnen eine gewisse Abgeschiedenheit, die ihrer Sehnsucht nach Nähe zu Gott entsprach. Diese Entwicklung vertiefte andererseits die durchaus altersgemäße Introversion, zu der bei Hildegard der Ausbau ihrer reich entwickelten spirituellen Innenwelt gehörte, das intensivierte und inspirierte Lauschen auf ihre Audiovisionen, die sie immer bewusster religiös interpretierte.

Die kleine Frauenkommunität auf dem Disibodenberg um Jutta von Sponheim, der sie angehörte, entwickelte sich immer mehr zu einem benediktinischen Konvent, in den Hildegard mit sechzehn Jahren offiziell eintrat. Der Konvent entwickelte eine wachsende Anziehungskraft für weitere Schwestern und vergrößerte sich zusehends. Hildegard nahm zusammen mit ihren Gefährtinnen täglich am lateinischen Chorgebet und am Gottesdienst der Benediktiner vom Disibodenberg teil, dem der Frauenkonvent angeschlossen war, lernte mit der Liturgie zugleich Latein und die Bibel kennen, Psalmen vor allem, aber auch das Hohe Lied, dazu die täglich gesungene gregorianische Musik, durch die sie zu eigenen Gesängen, Liedern und Hymnen im Chorgebet inspiriert wurde, die letztlich durch den Tonumfang und kühne Sprünge in der Tonfolge, durch eine frei schwingende, lianenartige Melodik die Grenzen der Gregorianik sprengten.5

Die geistig hellwache Hildegard gewann unter den Mönchen des Disibodenbergs zugleich einen älteren Bruder und einen väterlichen Freund, Volmar, der sie, wie wir aus Hildegards vergleichsweise hohen Bildungsstand schließen können, in die Bibliothek der Abtei, also in die Werke der Kirchenväter und auch in die damals geschätzte griechische Philosophie samt Naturkunde und Medizin einführte. Sowohl der Chorgesang mit seinen biblischen Texten wie auch die Einblicke in die damalige geistige Tradition formten Hildegards Geist und drangen zugleich tief in ihr Unbewusstes ein, so dass entsprechende Vorstellungsbilder und Symbole – darunter sogar Bilder aus der jüdischen und islamischen Mystik6 – in ihren Audiovisionen wiederkehren, dort allerdings in ihr Eigenes hineinverwandelt. Immer mehr umkreisen ihre Meditationen und Imaginationen die Welt der Bibel und der »Heilsgeschichte«, die sich schließlich zu einer selbsterfahrenen Schau verdichten, die auch die damalige kirchenpolitische Situation der Christenheit und Zukunftsvisionen einschließt. Über ihre innere Schau teilt sie sich ausschließlich ihrem geistlichen Mentor Volmar, ihrer Meisterin Jutta von Sponheim und nach deren Tod, nachdem Hildegard selbst zur Meisterin des Konvents erwählt worden ist, nur einer jüngeren, vertrauten Mitschwester, Richardis von Stade mit.

Es war ein gewaltiger Einschnitt in Hildegards spiritueller Entwicklung, als sie sich in ihrem 42. Lebensjahr, von ihrer inneren Stimme gedrängt, entschloss, die Visionen der letzten Jahre und die aus ihnen geschöpfte theologische Erkenntnis in einem Buch zu veröffentlichen, das sie Scivias, »Wisse die Wege«, nennen sollte.

Es gab für sie als Frau ohne theologische Ausbildung, von der die Frau damals generell ausgeschlossen war, keinen anderen Weg, sich in der kirchlichen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, als unter Berufung auf direkte Offenbarung durch den Heiligen Geist, wie sie ihr in den Visionen zuteil wurde. Damit wiederum aber war in der damaligen Zeit die Möglichkeit ihrer Verketzerung und Verdächtigung auf Besessenheit durch unheilige Geister mit eingeschlossen. Es erforderte außergewöhnlichen Mut, sich an solch eine Veröffentlichung zu wagen. Hildegard erfuhr sich hier – wie auch an anderen Stellen ihres Lebens – von schweren psychosomatischen Erkrankungen heimgesucht, Atemleiden, Augenleiden, Lähmungen, solange sie sich diesem inneren Auftrag verweigerte. Sie wurde, wie sie selbst mehrfach beschreibt, nur dann krank, wenn sie ihrer »weiblichen Schwäche« nachgab. Öffnete sie sich der Aufgabe, die sie rief, allen Ängsten zum Trotz, so wurde die Somatisierung überflüssig. Da stand diese Frau nach wochenlanger Lähmung auf, schwang sich aufs Pferd und kämpfte um ihre Sache, z.B. um die Erlaubnis zur Gründung ihres ersten Klosters auf dem Rupertsberg bei Bingen, bei der zuständigen Kirchenbehörde in Mainz. Diese Frau ist in der Zeit, in der man kaum die Lebenserwartung von dreißig Jahren hatte, 82 Jahre alt geworden. Sie war hochsensibel auf alle Fragen der inneren Authentizität und somatisierte, wenn sie sich verleugnete: doch gesundete sie fast sofort, wenn sie sich riskierte.

Jedoch ehe sie etwas zu veröffentlichen wagt, schreibt sie einen überaus demütigen und angstvollen Brief an den großen geistlichen Mentor des damaligen Europa, an den Abt und Mystiker Bernhard von Clairvaux. Hier lernen wir die Frau Hildegard kennen, die sich durchringen musste zu ihrer eigenen Größe:

»Verehrungswürdiger Vater Bernhard, wunderbar stehst Du da in hohen Ehren aus Gottes Kraft … Ich bitte Dich, Vater, beim lebendigen Gott, höre mich, da ich Dich frage: Ich bin gar sehr bekümmert ob dieser Schau, die sich mir im Geiste als ein Mysterium auftat. Niemals schaute ich sie mit äußeren Augen des Fleisches. Ich, erbärmlich und mehr als erbärmlich in meinem Sein als Frau, schaute schon von meiner Kindheit an große Wunderdinge, die meine Zunge nicht aussprechen könnte, wenn nicht Gottes Geist mich lehrte zu glauben … Um der Liebe Gottes willen begehre ich, Vater, dass Du mich tröstest, dann werde ich sicher sein. Ich sah Dich vor mehr als zwei Jahren in dieser Schau als einen Menschen, der in die Sonne blickt und sich nicht fürchtet, sondern sehr kühn ist. Und ich habe geweint, weil ich so sehr erröte und so zaghaft bin. Gütiger Vater, Mildester, ich bin in Deine Seele hineingelegt, damit Du mir durch Dein Wort enthüllst, ob Du willst, dass ich dies offen sagen oder Schweigen bewahren soll. Denn große Mühen habe ich in dieser Schau, in wieweit ich das, was ich gesehen und gehört habe, sagen darf. Ja, bisweilen werde ich – weil ich schweige – von dieser Schau mit schweren Krankheiten aufs Lager niedergeworfen, so dass ich mich nicht aufrichten kann.«7

Bernhard antwortet zurückhaltend, hat er doch noch keinen rechten Einblick in Hildegards Werk, das eben entsteht, aber doch ermutigend:

»Wir freuen uns mit Dir über die Gnade Gottes, die in Dir ist … Im übrigen, was sollen wir noch lehren oder mahnen, wo doch schon eine innere Unterweisung besteht und eine Salbung über alles belehrt …?«8 (ebd., S. 27).

In aller Öffentlichkeit soll sich Bernhard von Clairvaux, will man einer Quelle glauben, zu Hildegard bekannt haben, auf der Synode zu Trier (1147–1148), wo er veranlasst haben soll, dass vor den Bischöfen des Reiches und dem Papst aus Hildegards entstehendem Scivias vorgelesen wurde, und das für Hildegard sehr wichtige Urteil entstand, dass ihre Visionen dem rechten, dem Heiligen Geist entstammten.

So vollendet Hildegard schließlich nach einer Niederschrift, die zehn Jahre in Anspruch nahm, von 1141 bis 1151, ihr erstes Werk, Scivias9), unter dem ständigen, sensiblen und tatkräftigen Beistand ihres Vertrauten, des Magisters Volmar, und schließlich auch der jungen adeligen Mitschwester Richardis, mit der sie so tiefe Freundschaft verband, dass sie die junge Frau nicht mehr loslassen wollte, sondern sie bedrängte zu bleiben, als diese eines Tages einem Ruf, selbst Äbtissin in Bremen zu werden, folgte. Hildegard, die Einsame in ihrer Größe, kannte tiefe Bindungen, kannte die Faszination des Eros.10 Trennung und Verlust – durch den Tod schließlich beider Vertrauter – konnte sie nur mit großer Mühe akzeptieren und verkraften, indem sie die Trauerarbeit in ihre Spiritualität aufnahm. In verwandelter Gestalt findet sich z.B. Richardis in ihrem einzigartigen Singspiel, »Spiel der Kräfte, ordo virtutae«, im »Brautgemach des Königs«, also in tiefer Verbundenheit mit Christus wieder.11 Dieses Spiel ist in gewissem Sinne Zeugnis einer Trauerarbeit, indem sie den geliebten Menschen als Verwandelten innerlich wiederfindet.

Seit Hildegard zu dem stand, was in ihr lebendig war, gewann sie immer größere Ausstrahlung und Anziehungskraft. Ihr Konvent wuchs so stark, dass er die räumlichen Möglichkeiten der Klause bald zu sprengen drohte, so dass Hildegard – nicht ohne schweren Konflikt mit dem Disibodenberger Männerkloster, das die berühmt gewordene Frau nicht mehr wegziehen lassen wollte – zunächst am Rupertsberg bei Bingen ihr eigenes Kloster erbauen ließ, zu dem später auch noch das Kloster Eibingen jenseits des Rheins kam. Zarteste Seiten kamen bei dieser Frau mit großer Tatkraft zusammen, wenn wir nur bedenken, was es im 12. Jahrhundert bedeutete, eine Abtei erbauen zu lassen, was zunächst mit der Rodung des Waldes begann, der das ganze Baugelände bedeckte. Als Äbtissin und Seelsorgerin stand sie ihrem Frauenkonvent vor, dazu war sie Beraterin, auch in gesundheitlicher Hinsicht, für zahlreiche Menschen im Umkreis. Sie stand im Briefwechsel mit halb Europa, wo man sich vom Bischof bis zur einfachen Frau seelsorgerlichen Rat bei ihr einholte.12 Viele Klostergemeinschaften suchten bei ihr – wie der Briefwechsel nachweist – so etwas wie Supervision, wie man dies heute nennt, in ihren Konflikten untereinander. Nachweislich hatte sie Kontakt zu Kaiser Friedrich Barbarossa, dessen geistigen Rang sie schätzte, dessen Regierungsgeschäfte sie dennoch mehrfach kritisch kommentierte, was er offenbar sogar akzeptierte, indem er ihrem Kloster z.B. einen Kaiserlichen Schutzbrief ausstellen ließ, der ihr bei den zahlreichen Lokalkriegen jener Zeit sehr zustatten kam. Als er im Zuge des Investiturstreites Gegenpäpste einsetzte, redete sie ihm im Auftrag Gottes leidenschaftlich ins Gewissen.

An der Geistesklarheit und kommunikativen Kompetenz dieser Visionärin kann kein Zweifel bestehen. Auch verwechselte sie ihr menschliches Ich nie mit den transpersonalen Bildern und Gestalten, die ihr in ihrer Schau begegneten, eine Unterscheidungsfähigkeit, die bis heute als ein Kriterium dafür gilt, dass keine Psychose vorliegt. An sich ist die visionäre Begabung eine natürliche Gabe, die zwar selten, aber doch immer wieder einer Anzahl von Menschen gegeben ist. Erst Inhalt und Interpretation machen Schauungen zu dem Bedeutsamen, was sie über die Bedeutung für die visionär begabte Einzelperson hinaus sind. Visionen können, wie alle menschliche Erfahrung, auch egozentrisch und inflationär verstanden und gebraucht werden. Was wir auch als weniger visionär begabte Menschen von Hildegard lernen können, ist dies: den auch uns zugänglichen Weg zu inneren Bildern, den Weg der Imagination zu schätzen, den Zugang zur Religion über Bild und Symbol zu verstehen. Alle religiöse Sprache erweist sich letztlich als symbolische Sprache.

Hildegard blieb Visionärin von ihrer Jugend an bis ins hohe Alter und vermochte von der Mitte ihres Lebens an ihre Schau durch die Niederschrift ihrer ethischen, medizinischen und auch musikalischen Werke einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln.13

In ihren Siebzigerjahren schrieb sie ihr bedeutendstes Werk, das liber divinorum operum14, eine einzige gewaltige Vision des Kosmos und der Stellung des Menschen, eines Mikrokosmos in ihm. Der Mensch gilt ihr als schöpferisches Glied, das mit dem Ganzen, mit allen Geschöpfen und Schöpfungskräften, vor allem aber mit dem Schöpfer selbst auf einzigartige Weise verbunden und vernetzt ist. Aus dieser Stellung des Menschen in kosmischer, geschwisterlicher Nachbarschaft zu allem, zu Umwelt und Mitwelt, leitet sie ihre Ethik15 und auch ihre Gesundheitslehre16 ab.

Spirituell aufgeschlossene Frauen von heute betrachten Hildegard von Bingen als eine ihrer frühen Wegweiserinnen: Dies zeigte sich an einer kleinen Begebenheit: Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal den mutmaßlichen Ort der Klause auf dem Disibodenberg besuchte, an dem die 14-jährige Hildegard damals einzog und wo sie später am Scivias zu schreiben begann, da überraschte mich ein frisch gepflanzter Rosenstock am Mauerwerk wie auch ein neu angelegtes Labyrinth auf dem Rasen. Das seien Frauen gewesen, sagte man mir, solche Frauen, die sich Hildegard bis heute verbunden fühlten als einer »Schwester der Weisheit« (so Hildegard in einem ihrer Lieder).