Mythos Authentizität - Rainer Niermeyer - E-Book

Mythos Authentizität E-Book

Rainer Niermeyer

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Beschreibung

Karriereratgeber empfehlen es, Stellenanzeigen fordern es: eine Führungskraft sollte möglichst »authentisch sein«. Aber stimmt das tatsächlich? Rainer Niermeyer stellt eine provokante These auf: Die Kunst der Führung besteht nicht darin, die eigene Persönlichkeit auszuleben. Im Gegenteil: Erfolgreiche Manager wissen, dass sie für eine bestimmte Aufgabe und bestimmte Rollen engagiert worden sind, die es auszufüllen gilt. Niermeyer zeigt, wie Führungskräfte konstruktiv mit den Erwartungen an sie umgehen und ihre Rollen erfolgreich ausfüllen, ohne sich zu verbiegen.

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Niermeyer, Rainer

Mythos Authentizität

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2008. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40457-8

|5|Die ganze Welt ist Bühne,

Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.

Sie treten auf und gehen wieder ab,

Sein Leben lang spielt einer manche Rollen.

Durch sieben Akte hin. Zuerst das Kind,

das in der Wärtrin Armen greint und sprudelt;

Der weinerliche Bube, der mit Bündel

Und glattem Morgenantlitz, wie die Schnecke,

Ungern zur Schule kriecht; dann der Verliebte,

Der wie ein Ofen seufzt, mit Jammerlied

Auf seiner Liebsten Braun; dann der Soldat,

Voll oller Flüch und wie ein Pardel bärtig,

Auf Ehre eifersüchtig, schnell zu Händeln,

Bis in die Mündung der Kanone suchend

Die Seifenblase Ruhm. Und dann der Richter,

In rundem Bauche, mit Kapaun gestopft,

Mit strengem Blick und regelrechtem Bart,

Voll weiser Sprüch und neuester Exempel

Spielt seine Rolle so. Das sechste Alter

Macht den besockten hagern Pantalon,

Brill auf der Nase, Beutel an der Seite;

Die jugendliche Hose, wohl geschont,

`ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden;

Die tiefe Männerstimme, umgewandelt

Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt

In feinem Ton. Der letzte Akt, mit dem

Die seltsam wechselnde Geschichte schließt,

Ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen

Ohn Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.

William Shakespeare (Wie es euch gefällt)

|9|Ein FAZ-Artikel und seine Folgen

»Im Leben geht es nicht darum, sich selbst zu finden. Im Leben geht es darum, sich selbst zu erschaffen.«

George Bernard Shaw

Anfang 2007 bat mich die Frankfurter Allgemeine Zeitung für die Rubrik »Pro und Contra« um eine Stellungnahme zu der Frage: »Müssen Manager authentisch sein?« Während der Unternehmensberater Peter Fischer die These uneingeschränkt bejahte, lautete meine (Contra-) These: »Erfolg hat, wer die Rolle des Authentischen glaubhaft spielt.« Dieses Statement polarisierte heftig – von abgeklärter oder bedauernder Zustimmung, die Welt sei halt leider so, bis zu vehementer Ablehnung. Die Vorwürfe reichten von »Verantwortungslosigkeit« bis hin zur Unterstellung einer »Aufforderung zur Körperverletzung«. Offensichtlich hatte ich einen sehr wunden Punkt getroffen. Warum diese besondere Sensibilität beim Thema »Authentizität«? Dass sozial erwünschtes und belohntes Rollenkalkül seine Grenzen hat, nämlich dort, wo ein Akteur dauerhaft eine Rolle spielt, die nicht von seiner Persönlichkeit abgedeckt wird, war auch in dem Artikel zu lesen. Doch das ging in der allgemeinen Aufregung fast vollständig unter.

Die Frage der Authentizität berührt Grundsätzliches: Es geht darum, wie wir der Welt gegenübertreten, im beruflichen, aber auch im privaten Kontext. Wie viel von uns selbst geben wir wann preis? Was macht den unantastbaren, »harten« Kern unserer Persönlichkeit aus? Wie begegnen wir den vielfältigen Ansprüchen unserer Umgebung? Wo geht notwendige Anpassung in schalen Opportunismus oder sogar selbstzerstörerische Verbiegung über? En vogue ist es zurzeit, solche Fragen |10|gar nicht erst zu stellen, sondern mit einem einfachen – allzu simplen und daher gefährlichen – Rat aufzuwarten: Sei authentisch! Gib dich, wie du bist!

»Authentizität« gilt in vielen Managementseminaren und auf manchen Führungsetagen inzwischen als das Allheilmittel gegen Frust, Führungsprobleme und stockende Change-Prozesse. Sie wird in Internetforen und Fachzeitschriften als »Erfolgsgarant Nr. 1« gepriesen und zur Quelle diverser Managementqualitäten verklärt: ohne Authentizität keine »Überzeugungskraft«, kein »Charisma«, keine »kreativen Ideen und neuen Perspektiven«, ja nicht einmal die »Nutzung von Synergien in Teams und Unternehmen«. Authentizität hat es damit geschafft, die würdige Nachfolge anderer Managementmythen anzutreten – denken Sie etwa an den Mythos Motivation, den Reinhard K. Sprenger vor Jahren entzauberte, oder den inzwischen ebenfalls erschütterten Glauben an die Unschlagbarkeit des »Teams«.

Misstrauen ist also angebracht, bei vermeintlichen Allheilmitteln wie auch gegenüber Mythen. Wer fragt, was »Authentizität« eigentlich ausmache, wird stereotyp mit dem Hinweis auf die »Echtheit« der Person abgespeist. Bei nüchterner Betrachtung müssen da Zweifel aufkommen. »Sei du selbst (und alles Weitere wird sich finden)!« klingt in Zeiten von Lean Management und Shareholder-Value wie ein echter Kamikaze-Ratschlag. Mehr noch: Ungefilterte »Echtheit« in jeder Lebenslage würde selbst im sozialpädagogisch geprägten Kuschelmilieu auf Befremden stoßen. Manch einem mögen da studentische WG-Erlebnisse in den Sinn kommen, wenn (immer) der(selbe) Mitbewohner gerade dann »echt nicht gut drauf war«, wenn es galt, das Problem der defizitären Haushaltskasse zu diskutieren. Und der Arzt oder Managementcoach, der ausgiebig von seiner momentan pressierenden Befindlichkeit berichten würde, bevor er sich dem Patienten oder Klienten zuwendete, wäre zwar authentisch, binnen Kürze aber auch bankrott.

Selbst wenn man den Anspruch der »Echtheit« vorläufig ernst nähme, drängt sich die Frage auf, welche Facette einer komplexen Persönlichkeit denn die echte sein soll. Wann ist ein Pfarrer »authentisch«– beim Trösten am Krankenbett, in der kontroversen Diskussion um die notwendige Kirchenrenovierung oder wenn er in der Freizeit kickboxt? |11|Wann sind es Führungskräfte oder Manager? Als aktive Zuhörer im Mitarbeitergespräch, als engagierte Vermarkter ihrer Dienstleistung in der Kundenpräsentation oder als durchsetzungsstarke Verfechter ihrer Position in der Vorstandssitzung? Oder doch eher als Vater, als Segelkumpan oder Hobbymusiker? Es wäre überraschend, wenn Sie darauf eine rasche Antwort hätten.

Bei nüchterner Betrachtung stellt sich schnell heraus: Die Theatralisierung prägt das gesamte gesellschaftliche Leben, somit auch Wirtschaft und Politik. Der inszenatorische Charakter wird deutlich in Bildwelten und Dramen eines mehr oder weniger gekonnten »Impression Management«, also bewussten, auf eine bestimmte Wirkung angelegten Inszenierungen. Das wird besonders augenfällig, wenn der amerikanische Präsident zum richtigen Zeitpunkt in Pilotenuniform einen Flugzeugträger besucht, prägt aber längst auch unseren eigenen medial gesteuerten Alltag. Ein Ex-Kanzler zog zum richtigen Zeitpunkt die Gummistiefel an und besuchte Flutgebiete, und auch unsere Wirtschaftslenker müssen telegen die Rolle des souveränen Machers verkörpern, wenn sie sich an der Spitze behaupten wollen. Die Theaterwissenschaftlerin Brigitte Biehl bringt es auf den Punkt: Der typische Manager heute »setzt eine krampfhaft selbstsichere Maske auf, um für das Publikum sowohl bestätigend als auch erträglich zu wirken. Sein Spiel ist ohne Tiefgang«. Was wie eine provokante Überspitzung wirkt, lässt sich auch in Zahlen belegen. Ob man einem Vorstandsvorsitzenden »seine Rolle abkauft«, schlägt sich unmittelbar im Aktienkurs nieder.

Die These von der allein selig machenden »Authentizität« simplifiziert also die vielfältigen Herausforderungen in Beruf wie Privatleben in fahrlässiger Weise und fällt hinter sozialpsychologische Ansätze der Fünfzigerjahre zurück. Wir alle spielen Theater heißt es schlicht und bündig 1956 bei Erving Goffman, der frühere Überlegungen von George Herbert Mead aufgriff. Unser Auftreten und Handeln ist davon bestimmt, wie wir wirken wollen. Das beginnt schon beim samstäglichen Brötchenholen, wenn Sie statt der ausgebeulten Jogginghose doch lieber die Designerjeans wählen, und führt geradewegs zu taktischen Überlegungen, durch welches Verhalten Sie Ihre Position im Unternehmen stärken und den widerstreitenden Ansprüchen von Vorgesetzten, |12|Kollegen und Mitarbeitern gerecht werden können. Wir alle spielen stets Rollen, wenn auch unbewusst.

Die Botschaft dieses Buches lautet: Nehmen Sie die strategische Herausforderung der Rollenvielfalt bewusst an, statt dem Mythos Authentizität aufzusitzen. Als reflektierender Profischauspieler werden Sie erfolgreicher – und zufriedener – sein denn als dilettierender Laiendarsteller, den ein naiver Kinderglaube an die Überzeugungskraft einer »authentischen« Wirkung auf die Bühne gelockt hat. Dass sich auch die Rollen eines Profis auf Dauer mit seiner Persönlichkeit, seinen Werten und Ansprüchen an sich selbst decken müssen, versteht sich von allein. Auch das mag man »Authentizität« nennen. Das ist dann aber ein anderes, reflektierteres Begriffsverständnis dieses längst zur leeren Hülse verkommenen Modewortes.

Die Herausforderungen, die die Einsicht bereithält, dass Authentizität eben nicht der Schlüssel zu schnellem Erfolg ist, sind mannigfaltig und komplex. Dementsprechend kann das letzte Kapitel nur ein erster, klar definierter Wegweiser sein, sich dem persönlichen Umgang mit dem Rollendschungel zu nähern.

»Körperverletzungen« sind also nicht zu befürchten, wenn Sie sich auf dieses Buch einlassen. Im Gegenteil: Es könnte manchen Leser, manche Leserin möglicherweise vor Blessuren im Businessalltag bewahren, die auf das Konto falsch verstandener Authentizität gehen. Wie schätzen Sie die Rollenerwartungen, die an Sie gestellt werden, adäquat ein? Wie können Sie in einer Welt der »Industrieschauspieler« bestehen, ohne zur bloßen Marionette anderer zu werden? Wie gestalten Sie Ihr Rollenportfolio so, dass Sie die Rollenangebote, die die Gesellschaft für Sie bereithält, auch als Bereicherung erfahren können? Und was können wir alle von den Profidarstellern auf den Bühnen der Wirtschaft, der Politik und der Medien lernen? Einsichtige und unterhaltsame Antworten zu diesen Fragen erwarten Sie auf den nächsten Seiten.

Eine inspirierende Lektüre wünscht Ihnen

Rainer Niermeyer

|13|Mythos Authentizität: Sei einfach du selbst!

»Die Welt urteilt nach dem Scheine.«

Johann Wolfgang Goethe (Clavigo)

Von den seltsamen Blüten des Authentizitätstrends. Von Elvis-Darstellern, die den wirklichen Elvis übertreffen, und dem Kinderglauben an das Echte. Vom Pauschalverdacht der Täuschung beim Rollenspiel und vom Wunsch nach Berechenbarkeit. Von den oberflächlichen Kamikaze-Ratschlägen zeitgenössischer Erfolgstrainer und den tiefen Einsichten der Dichter.

Authentizität: Die Sehnsucht nach dem »Echten«

»Sei einfach du selbst, und alles wird gut!«, lautet die schlichte Botschaft der Authentizitätsprediger. Sie ist allgegenwärtig. Wer den Suchbegriff »authentisch leben« bei Google eingibt, erhält etwa 200000 Treffer. Das Thema Authentizität hat längst die Blogs und Wolldecken-Seminare erreicht. An nur einem Nachmittag kann man beispielsweise auf »kreative und leichte Weise« mit seinen »aktuellen inneren Aspekten« in Verbindung treten. Das Heilsversprechen: »ein wundervolles Handwerkszeug, welches wir mit nach Hause nehmen, um dort authentische neue Erfahrungen zu machen«. Wem das nicht zusagt, der wählt bei www.authentisch-leben.de vielleicht doch lieber |14|das Seminar »Heilende Hände«. Unter dem Motto »Die eigene Authentizität wahrnehmen und ausdrücken« empfiehlt ein anderer Anbieter, gezielt den Atem einzusetzen, weil der »sichtbar eine Verbindung des Inneren und Äußeren« darstelle. Dem kann man kaum widersprechen, auch wenn Naturwissenschaftler kleinlich einschränken würden, Atem sei erst ab einer bestimmten Außentemperatur sichtbar. Im Angebot auf dem Seminarmarkt außerdem »Authentisch Ziele erreichen«, »Konflikte authentisch leben«, »Manipulation – nein danke! Authentisch leben« oder »Authentic Lifestyle«. Letzterer wird ergänzt durch die Themen »Feuerlaufen«, »Tantra« und »Leben nach dem Tod«.1

Bliebe der Authentizitätstrend auf die esoterische Halbwelt beschränkt, könnte man ihn achselzuckend abtun. Doch selbst in Universitätsseminaren heißt es: »Authentisch leben ist ein Schlüssel zur bewussten Selbst- und Lebensführung.« Gewarnt wird ausdrücklich vor einer »Inszenierung des Selbst«.2 Mit einer Universitätskarriere dürfte es jedoch ganz ohne eine Inszenierung eigener Verdienste und Fähigkeiten schwierig werden. Die Managementwelt erreicht das Thema spätestens über jene Erfolgsgurus, die in den Zeiten leben, als das Wünschen noch geholfen hat. Alfred J. Kremer und Christa Kinshofer behaupten: »Wer im Leben eine Rolle spielt, spielt für das Leben keine Rolle.« Daraus ergibt sich zwingend: »Werden Sie authentisch!« Antony Fedrigotti, ein anderer Handlungsreisender in Sachen Erfolg, versichert uns: »Menschen sind dann am erfolgreichsten, wenn sie ganz sie selbst sind«, denn: »Sie spielen keine fremde Rolle, sondern zeigen sich so, wie sie sind.« Wunderbar. Sollten Sie in der nächsten Zeit ein Auswahlgespräch für eine attraktive Position führen, verzichten Sie mutig darauf, sich gezielt als souveränen, hoch motivierten und leistungsbereiten Musterkandidaten darzustellen – sammeln Sie lieber im Lieblingsoutfit Ihrer Freizeitkollektion Authentizitätspunkte, und stehen Sie dazu, dass Sie schon einmal mit Ihrem Vorgesetzten in Konflikt geraten oder dass der Umgang mit Zahlen und Budgets nicht gerade Ihren favorisierten Arbeitsinhalt darstellt. Lassen Sie sich aber bitte nicht irritieren, wenn die simple Erfolgsbotschaft sich noch nicht bis in alle Entscheiderbüros herumgesprochen haben sollte.

|15|Authentizität kommt in simplen Botschaften als unverstellte »Echtheit« daher, als ein einfaches »Sich so zeigen, wie man ist«. Man kann das als Vogel-Strauß-Politik, als Kapitulation vor der Vielfalt von Rollenanforderungen interpretieren, mit etwas mehr Milde auch als verständliche Reaktion auf die Komplexität des Alltags. Vielleicht auch als Sehnsucht nach Berechenbarkeit in einer Zeit, in der allzu routinierte Selbstdarsteller in Politik und Wirtschaft beim kritischen Betrachter reflexhaft Zweifel an der Ehrlichkeit ihrer Aussagen aufkommen lassen. Selbst Jack Welch, als CEO von General Electric für seine wirtschaftlichen Erfolge bewundert und als knallharter Sanierer mit dem Spitznamen »Neutronen-Jack« bedacht, scheint inzwischen auf Authentizität zu schwören: »Das Beste, was Sie für Ihr berufliches Vorankommen tun können, ist wahrhaftig zu sein. Nicht künstlich, aufgesetzt. Sie müssen anpacken können, schwitzen, lachen, sich um die Menschen und Dinge kümmern. Einfach authentisch sein«, schreibt er im Mai 2007 in der Wirtschaftswoche. Zweifel sind angebracht, ob der Topmanager im harten Business tatsächlich sein Herz tagtäglich auf der Zunge getragen hat, im Sinne einer völligen Kongruenz zwischen den eigenen Gefühlen und dem jeweiligen Ausdrucksverhalten – denn nur dies wäre authentisch.

Schließlich wird auch für Führungskräfte Authentizität inzwischen als ultimative Erfolgsgarantie gepriesen. »Nur authentische Führung ist gute Führung«, vermeldet beispielsweise Sven Brodmerkel im April 2007 in der Zeitschrift ManagerSeminare und zitiert eine Studie der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft in Überlingen und Bad Harzburg: »Über 60 Prozent der 267 Befragten halten Authentizität für die wichtigste Führungseigenschaft eines Managers, insbesondere in Krisenzeiten. Damit nimmt Authentizität den Spitzenplatz unter allen genannten Eigenschaften ein – noch vor Begeisterungsfähigkeit und Belastbarkeit.« Statt einer Definition des Authentizitätsbegriffes werde aber gern auf »authentische« Persönlichkeiten wie Anselm Grün oder Alice Schwarzer verwiesen, merkt der Autor kritisch an, ebenso auf Reinhold Messner, Hasso Plattner oder Steve Jobs. Allen Genannten mag man eine große Mission zugestehen, die Sie unbeirrt verfolgen. Aber reicht das allein, um authentisch zu wirken? Ehrgeizige Ziele haben |16|vermutlich auch andere. Über den als besonders authentisch gerühmten Apple-Gründer weiß der Journalist Ulf J. Froitzheim übrigens: »Der Ruf von Steve Jobs als begnadeter Charismatiker hat viel mit seinen zwei, drei Auftritten pro Jahr zu tun, die er minutiös inszeniert und tagelang probt wie ein professioneller Showmaster.« Wenn Sie jetzt spontan jemanden in Jeans und schwarzem Rollkragenpullover vor Augen haben, hat die Inszenierung auch bei Ihnen Früchte getragen. Doch wie passt das zu Jobs’ vermeintlicher Authentizität?

Zwar scheint niemand genau zu wissen, was sich hinter dem Wundermittel Authentizität verbirgt – in einem Punkt jedoch ist man sich einig: Wichtig ist sie. Nach einer Studie der Human-Resources-Beratung Development Dimensions International (DDI) denken Mitarbeiter hier ganz ähnlich wie ihre Chefs. Bei den Eigenschaften des »Traum-Chefs« stehen »Ehrlichkeit und Authentizität« auf Platz 2, wichtiger fanden die 900 Befragten nur noch, dass ihr Chef »Vertrauen in sie hat«. Managementberater diesseits des Atlantiks, wie beispielsweise Andreas Buhr, behaupten: »Manager oder Leader – authentische Autorität macht den Unterschied« (so der Verkaufsexperte); jenseits des Atlantiks beklagen Führungsexperten, wie Robert Goffee und Gareth Jones: »Too many companies are managed not by leaders, but by mere role players and faceless bureaucrats.«

Fazit: Gefragt ist das Echte, Unverkrampfte, nicht in das Korsett gesellschaftlicher Rollen Gepresste. Gefragt sind Führungskräfte, »die konsistent, offen und ehrlich ihre Botschaften transportieren«, wie der Unternehmensberater Peter Fischer meint. Als authentisch angesehen wird der Mensch, dem es gelingt, »sein ›wahres Selbst‹, seine tiefsten Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, sich selbst zu verwirklichen, zu entfalten …«, so die Philosophin Beate Rössler in einem Buch über den Wert des Privaten. Wer diesem Anspruch nicht genüge, gefährde seine Karriere. Wenn die FAZ vom 9. Mai 2008 Jürgen Rüttgers, den Ministerpräsidenten von NRW, nicht als Kanzlerkandidaten der CDU sieht, dann deshalb, weil er »darunter leidet, nicht authentisch zu wirken«. Dabei schafft Authentizität Vertrauen. Selbst Politik-Profi und Selbstdarsteller Klaus Wowereit fordert mit unschuldigem Augenaufschlag, Politiker müssten »wahrhaftige, authentische Interessensvertreter der |17|Bürger sein«. Dabei ist es nicht wichtig, ob seine Auftritte authentisch sind, sondern ob er in der Lage ist, den Anschein von Authentizität zu erwecken. Für die Zuschauer zählt nicht die Wahrheit, sondern die Wahr-schein-lichkeit: die glaubhafte Darstellung von Authentizität.

Woher rührt die allgegenwärtige Sehnsucht nach dem Echten, Unverfälschten, Authentischen? Da war man vor fast einem halben Jahrtausend schon einmal reflektierter. Dass der Mensch im Leben vielfältige Rollen zu spielen habe, ist spätestens seit Shakespeares Tagen ein geläufiges Motiv. Sein »Die ganze Welt ist eine Bühne/Und alle Fraun und Männer bloße Spieler« in seiner Komödie Wie es euch gefällt zählt zu den bekanntesten Zitaten der Weltliteratur. Die Welt als Bühne, auf der wir auf- und abtreten und uns in vorgegebene Rollen fügen, war schon im 16. Jahrhundert ein Klischee, wissen die Literaturwissenschaftler.

Die Welt ist in den letzten 400 Jahren vermutlich nicht einfacher geworden: Die Rollen, die wir heute spielen (können), sind zahlreicher, die Wege, die uns offenstehen, sind vielfältiger, die Anforderungen, die in jeder unserer Rollen an uns gestellt werden, sind ohne Frage komplexer als zu Shakespeares Zeiten. Noch vor 100 Jahren war die (Berufs-) Biografie weitestgehend durch Geburt und Stand vorgezeichnet, noch vor 50 Jahren war die Führungsrolle klar konturiert und nicht etwa Gegenstand einer Flut von Seminaren und Büchern. Der Schuster blieb bei seinem Leisten, und der Chef hatte das Sagen. Heute hat jeder erfolgreiche Schulabsolvent die Qual der Wahl unter Tausenden von Ausbildungsmöglichkeiten, und jeder Manager muss sich im globalen Wettbewerb messen lassen. Wie viele Berufe, Funktionen, Rollen wir in unserem Arbeitsleben ausüben werden, kann niemand vorhersehen; und auch im Privaten treibt die Rollendiskussion seltsame Blüten. Mutter- oder Vaterrolle werden nicht erst seit Eva Hermans Mutterkreuz-Nostalgie und dem Glaubenskrieg um Krippenplätze notorisch kontrovers diskutiert, und selbst, was »männlich« oder »weiblich« ist, weiß heute niemand mehr so genau.

Je unübersichtlicher eine Situation ist, desto größer wird häufig die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Liegt darin die Ursache der unkritischen Glorifizierung der Authentizität? Oder lässt sich die anstrengende |18|Vielfalt der Rollenanforderungen tatsächlich durch ein simples »Sei du selbst!« aushebeln? Nehmen wir also »Authentizität« im Sinne einer unverstellten Echtheit, einer kompromisslosen Einheit von innen und außen einmal ernst, und schauen wir, wohin das führen würde.

Sieben Argumente gegen Authentizität

Was würde eigentlich passieren, wenn wir alle tatsächlich dem Ratschlag folgten, in jeder Situation »wir selbst« zu sein – unsere Gefühle preiszugeben, unseren spontanen Impulsen zu folgen, unsere Meinung ehrlich kundzutun? Die Welt wäre alles andere als ein Paradies, sondern ein sehr unwirtlicher Ort.

1. Authentizität ist egozentrisch

Genau genommen steckt in der naiven Forderung des »Sei echt!« eine gehörige Portion Egozentrik: Die anderen müssen mich halt so nehmen, wie ich bin! Die Idee ist zunächst durchaus sympathisch. Den eigenen Stimmungen nachgeben zu können, ob im Büro oder zu Hause, klingt verführerisch. Nur verliert die Idee ganz schnell an Reiz, wenn wir unseren Vorgesetzten oder Mitarbeitern, unserem Partner oder der Nachbarschaft das gleiche Recht zubilligen sollen. Fast jeder von uns kennt Menschen, die ihre temporären Launen hemmungslos ausleben. Nur nennen wir das dann nicht authentisch, sondern »unsensibel« oder »unverschämt«, bis hin zu »untragbar«.

2. Authentizität macht schutzlos

Wer eine Rolle spielt, verstellt sich, behaupten die Verteidiger der Authentizität. Rollenspieler stehen damit im Pauschalverdacht der (womöglich böswilligen) Täuschung. Das ist eine eingeschränkte und verzerrende |19|Sicht auf die Funktion sozialer Rollen, wie wir in Kapitel 3 noch ausführlicher sehen werden. Rollen definieren Spielregeln sozialen Umgangs und erleichtern auf diese Weise das Zusammenleben. Sie schützen uns und unsere Umwelt dabei unter anderem vor ungebetenen Bekenntnissen und verstörenden Verhaltensweisen. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen wichtigen Termin mit Ihrer Unternehmensleitung und der Vorsitzende vertagt das geschäftliche Thema, um Ihnen stattdessen detailliert und hoch emotional über seine aktuell pressierende Ehekrise zu berichten. Absurd? Natürlich, aber auf jeden Fall doch wohl »echt« im Sinne der Authentizitätsapostel.

Nicht zufällig ist das »aus der Rolle fallen« im Sprachgebrauch eindeutig negativ besetzt. Wenn jemand aus der Rolle fällt, wird es meist peinlich oder unangenehm, für den Handelnden ebenso wie für seine Umgebung. Der Soziologe Erving Goffman beschreibt in seinem Standardwerk Wir alle spielen Theater, welche »Schutzmaßnahmen« das »Publikum« ergreift, um dem strauchelnden Rollenspieler ein Hintertürchen zu öffnen – am einfachsten, indem es mit Takt und Diskretion über die Sache hinweggeht. Als integrer Mitarbeiter würden Sie vermutlich versuchen, den Fauxpas Ihres Vorgesetzten zu ignorieren und möglichst schnell zum eigentlichen Thema zu wechseln. Welches Kapital intrigante Zeitgenossen aus dem Blick hinter die Vorstandsmaske zu schlagen versuchten, überlasse ich ihrer Fantasie. Rollen schützen uns und andere davor, einander zu nahe zu kommen. Denn Nähe macht in der Regel verletzbar. Das bestätigt auch Medienprofi Harald Schmidt, wenn er im Interview mit der Zeit im November 2006 anmerkt, »für mich [ist] das alles ein Gerüst, das mich schützt«. Zumindest das intellektuelle Publikum scheint zu wissen, dass es einer Inszenierung beiwohnt und das wirkliche Geschehen seinem Blick entzogen wird.

3. Authentizität verstößt gegen den gesellschaftlichen Konsens

In den letzten Jahren macht das Thema »Jugendgewalt« immer wieder Schlagzeilen. Gleichgültig, ob rechte Schläger »Jagd« auf Ausländer  |20|machen oder junge Migranten ihre Frustration an Rentnern oder U-Bahn-Fahrern auslassen – meist wird anschließend die mangelnde Selbstkontrolle der Täter beklagt und darüber debattiert, welche Maßnahmen am besten dazu geeignet sein könnten, ihre »Eingliederung« in die Gesellschaft zu gewährleisten. Man könnte auch sagen: Wie bekommt man aggressive Amokläufer dazu, gesellschaftlich akzeptierte Rollen zu spielen? Das beweist: Authentizität ist kein Wert an sich und Selbstkontrolle nicht automatisch negativ. Der aggressive 17-Jährige, der auf einen Passanten einprügelt, ist vermutlich völlig »authentisch«. Authentizität wird erst dann zu etwas Wert-vollem, wenn sie tatsächlich an konsensfähige Werte gekoppelt ist. Kulturen werden von Regeln – vor allem auch unsichtbaren – begründet und stabilisiert. Jede Kultur basiert auf einem feinjustierten Normenwerk, welches unter anderem das sozial akzeptierte Rollenrepertoire definiert. Eine Maske zu tragen ist somit ein wesentliches Moment der Zivilisiertheit: Zeige mir die typischen Rollen deiner Kultur, und ich sage dir, in welcher du lebst.

Gerade für die Arbeitswelt gilt, dass ein unausgesprochener Konsens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht: Geld gibt es im Tausch für Funktionsfähigkeit. Ziel ist es nicht, den Menschen hinter der Maske zu suchen. Mitarbeiter lassen sich auf das Schauspiel ihrer Führungskräfte ein, um es überhaupt verfolgen zu können und ihren eigenen Beitrag zum Besten zu geben. Natürlich ist jeder dabei auch etwas von der Figur, die er gibt. Und das spannende Rätseln bleibt: Wo fängt die jeweilige Rolle an, und wo hört sie auf?

4. Authentizität ist auch im Privaten eine Illusion

Bleibt noch die Hoffnung auf andere Rückzugsgebiete des Authentischen. Wenn wir schon im harten Berufsalltag auf den festen Sitz unserer Masken achten müssen, dann sollten wir sie wenigstens in den eigenen vier Wänden ablegen können. »Auf dem Sofa zu Hause, beim Spielen mit den Kindern, wenn man mit Freunden zusammen ist; dann kann man authentisch sein«, lautet die These. Tatsächlich? Sie kommen |21|ärgerlich und erschöpft aus dem Büro; ihre Kinder möchten spielen, Geschichten hören, einfach Aufmerksamkeit. Sie brauchen eigentlich zunächst einmal Zeit für sich selbst und möchten am liebsten ungeduldig abwiegeln. Tun Sie’s? Als »gute Mutter«, »guter Vater« wohl kaum, und wenn, tut es Ihnen hinterher leid. Ein anderes simples Denkspiel: Wie vielen Menschen in Ihrem privaten Umfeld haben Sie in den letzten drei Monaten auf die Standardfrage »Na, wie geht’s?« eine wirklich ehrliche (»authentische«) Antwort gegeben? Selbst gegenüber Freunden oder engen Verwandten flüchtet man sich meist in Floskeln auf einer Bandbreite von »gut« über »geht so« bis »muss ja«. Oder würden Sie einem guten Bekannten, der seinen aktuellen Karrieresprung stolz vor sich herträgt, gleich antworten: »Mein Job wackelt, ich denke über eine Scheidung nach, und Deine Erfolgsstorys kann ich nicht mehr hören!«

Auch im Privaten spielen wir permanent Rollen, beispielsweise die des erfolgreichen Sohnes oder der braven Tochter. Streng genommen täuschen wir unsere Umgebung dabei ständig über unsere »wahre« Befindlichkeit hinweg. Glücklicherweise, meint die Wissenschaftsjournalistin Claudia Mayer, die auf über 200 Seiten eine Verteidigungsschrift der Lüge verfasst hat. Die meisten der kleinen und großen Schwindeleien, mit denen wir uns durch den Tag mogeln, folgten »pro-sozialen« oder »altruistischen« Motiven, meint sie – etwa, wenn wir dem Partner verschweigen, dass wir die geschenkte Perlenkette »spießig« finden, oder behaupten, eine unerwünschte Einladung nur aus »Zeitgründen« leider ablehnen zu müssen.

5. Authentizität simplifiziert den Begriff des »Selbst«

Die eigentliche Schlüsselfrage des »Sei du selbst!« wird von Authentizitätsenthusiasten oft gar nicht gestellt: Was macht denn dieses Selbst aus, das da nach außen gekehrt werden soll? Wie grenzt man den »harten Kern« der eigenen Persönlichkeit gegen die vermeintlichen Verbiegungen sozialer Einflüsse ab? Von Geburt an sind wir diesen Einflüssen ausgesetzt, und zweifellos verändern wir uns auch durch die Rollen, |22|die wir im Laufe unseres Lebens übernehmen. Sind wir mit 20 »derselbe«, »dieselbe« wie mit 40 oder 60 Jahren? Haben Sie spontan eine differenzierte Antwort auf die Frage parat, wer Sie »selbst« sind? Und zwar ohne auf Ihre berufliche Position zu verweisen, auf Ihre täglichen Aufgaben, Ihre Familiensituation oder die Rollen, die Sie sonst im Leben noch spielen, als Vereinsvorsitzender, Parteimitglied und Hobbygolfer meinetwegen? Was bleibt übrig, wenn Sie alle sozialen Funktionen weglassen? Wenn Sie darüber erst einmal nachdenken müssen, befinden Sie sich in großer Gesellschaft. Das aber führt die Idee, »einfach authentisch« zu sein zu wollen, ad absurdum. Will man Authentizität nicht auf momentane Launen und Stimmungen reduzieren, setzt authentisches Verhalten eine alles andere als einfache Exploration des eigenen Ichs voraus. Unweigerlich sieht man sich auf dieser Reise mit der Frage konfrontiert, wer man sein möchte und wer man überhaupt sein könnte. Schließlich liegt der Einfluss der Gene auf unsere Persönlichkeit – je nach Forschungsstand und Zeitgeist – »nur« irgendwo zwischen 30 und 70 Prozent. Mehr dazu finden Sie am Ende von Kapitel 3 unter der Überschrift »Rolle und Persönlichkeit«.

6. Authentizität schränkt unsere Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten ein

Wie entwickeln wir uns weiter, wie lernen wir? Nicht zuletzt, indem wir uns in neuen Rollen erproben. Man kann potenzielle Rollen als Darstellungsangebote verstehen, in die wir hineinschlüpfen können wie in ein neues, zunächst ungewohntes Kleidungsstück. Das aber setzt die Bereitschaft voraus, sein Verhaltensrepertoire zu erweitern und nicht auf einem authentisch-trotzigen »Ich bin, wie ich bin« zu beharren. Der Volksmund empfiehlt, mit den Aufgaben zu wachsen. Das erfordert zwangsläufig, anders aufzutreten, bestimmte Züge der eigenen Persönlichkeit stärker zu betonen und einzusetzen, andere eher zurückzustellen. Gerade Führungskräften wird heute eine große Rollenvielfalt abverlangt: Wer seine Ziele erreichen will, muss im richtigen Moment verständnisvoller Coach, detailorientierter Planer oder auch mitreißender |23|Visionär sein und dabei ganz unterschiedliche Menschen erreichen können, den Meister in der Produktion ebenso wie den Vorstand oder den Gewerkschaftsvertreter. Wer nicht als Chamäleon geboren ist, schränkt seine Entwicklungsmöglichkeiten durch das Festhalten an einer unreflektierten »Authentizität« drastisch ein. Möglicherweise entdecken Sie ganz neue Seiten an sich, wenn Sie sich auf neue Spielfelder begeben und sich in neuen Rollen erproben. Viele neugierige und ambitionierte Menschen nehmen unterschiedliche Rollen daher exakt in diesem Sinne wahr – sie nutzen die Rollenangebote, die ihnen das Leben zuspielt, um die verschiedenen Facetten ihrer Persönlichkeit auszuleben. Anders als Kurt Beck: Dem Journalisten Andreas Petzold zufolge beharrt der SPD-Chef darauf, »›authentisch zu bleiben‹. Anders gesagt: Er will nicht dazulernen. Schon deshalb fällt er als Kanzlerkandidat aus.«

7. Authentizität macht erfolglos

»Wer ist Klaus Kleinfeld?«, fragten die Journalistinnen Nicole Huss und Corinna Visser im Tagesspiegel am 2. April 2007. Im Zuge der Siemens-Schmiergeldaffäre geriet der Konzernchef zunehmend unter Druck. Wenn er sich überhaupt dazu äußere, wirke er angeschlagen und nervös: »Es war ihm anzumerken, dass er unter dem Schock der Ereignisse stand.« In einem Interview der Tagesthemen wurde der Topmanager beispielsweise gefragt, ob er der »richtige Mann« für die Zukunft von Siemens sei. »Kleinfeld gerät ins Stottern und gibt ausweichende Antworten.« Der Rest ist bekannt: Wenige Wochen später trat Klaus Kleinfeld zurück. Weshalb? Man könnte sagen, Kleinfeld ist unter anderem Opfer seiner Authentizität geworden. Sich (ehrliche) Betroffenheit oder gar Unsicherheit anmerken zu lassen, hat ihm keine Sympathien eingebracht – ganz im Gegenteil. Der Glaube an ihn als krisensicheren Führer eines Milliardenkonzerns wurde nachhaltig erschüttert.

Business is Showbusiness behauptet die Theaterwissenschaftlerin Brigitte Biehl, die zahlreiche Auftritte von Topmanagern auf Hauptversammmlungen |24|und Pressekonferenzen detailliert analysiert hat. Gerade deutschen Managern bescheinigt sie im Vergleich zu ihren amerikanischen Kollegen häufig mangelnde Professionalität, die den Unmut der Presse oder der Aktionäre geradezu herausfordere – etwa, wenn der damals bereits umstrittene Telekom-Chef Ron Sommer sich bei seiner Rede ständig nervös an Brille und Kinn greift und für kontroverse Entscheidungen schließlich ausgebuht wird. Im Zeitalter der medialen Dauerbeobachtung hängt der Börsenwert eines Unternehmens nicht zuletzt vom überzeugenden Hauptdarsteller an der Spitze ab. Gefragt sind Manager, die erwartungskonform funktionieren, Vertrauen einflößen, eine Marke glaubhaft verkörpern. Die Öffentlichkeit honoriert die gelungene Inszenierung, nicht den möglicherweise verstörenden Blick auf den Menschen hinter der Maske.

Der weiche Faktor Vertrauen wird dann zum Kapital, wenn das Branchenblatt Capital die Darstellungstechniken der DAX-30-Vorstandsvorsitzenden zur Wertschöpfung ökonomisiert. Basierend auf einem speziell entwickelten Kompetenzmodell der Kienbaum Management Consultants bewerteten im April 2008 90 Kapitalmarktexperten Persönlichkeit, Managementfähigkeit und Kommunikationsstärke. Als Bewertungsgrundlage dienten lediglich die wahrgenommenen und von den Beurteilten inszenierten Bilder – was auch sonst? Die vergebenen Noten wurden ins Verhältnis gesetzt zur Konzernperformance und der eigenen Vergütung. So konnten Aufsichtsrat und Öffentlichkeit ablesen, ob die jeweiligen Unternehmenslenker »im Expertenurteil« ihre Gehälter tatsächlich verdient haben oder nicht.

Das gilt nicht nur für Topmanager: Einem Verkäufer, der auf die Frage nach den Vorteilen seines Angebots ins Stottern gerät, kaufen Sie sein Produkt wahrscheinlich ebenso wenig ab, wie einem Finanzberater, der Sie im abgetragenen Outfit aufsucht – Authentizität hin oder her. Das Argument »Ich bin so, wie ich bin« werden Sie auch bei ihm kaum gelten lassen – beziehungsweise Ihre Schlüsse daraus ziehen.

Authentizität wird im Job nicht belohnt, Echtheit ist nicht immer professionell – jedenfalls dann nicht, wenn man darunter auch die Preisgabe persönlicher Schwächen, Marotten und Unsicherheiten versteht. Wer seine Rolle nicht mehr glaubwürdig ausfüllt, wird abgestraft |25|– oder sein Unternehmen: Als Jürgen Schrempp seinen Rücktritt vom Vorstandvorsitz seiner Autofirma ankündigte, stieg der Kurs von DaimlerChrysler um 3,7 Milliarden Euro, die Presse sprach in diesem Zusammenhang vom Schrempp-Discount. Ein intelligentes Reputationsmanagement beeinflusst unzweifelhaft das persönliche Einkommen ebenso wie den Wert des Unternehmens.

»Sein, wie man ist« ist ein riskantes Erfolgsrezept. Das wissen am besten die Menschen, die in Politik oder Showbusiness allgemeiner Auffassung nach sehr viel erreicht haben und dann paradoxerweise häufig für Ihre »Authentizität« bewundert werden. Grund genug, den Begriff der Authentizität als solchen einmal kritisch unter die Lupe zu nehmen und sich dann in Kapitel 2 mit den Selbstdarstellungsstrategien der Erfolgreichen zu beschäftigen.

Authentizität auf dem Prüfstand

Der Begriff »authentisch« bedeutete in der Kanzleisprache des 16. Jahrhunderts »zuverlässig verbürgt, urschriftlich, eigenhändig« und bezog sich auf Schriften (spätlateinisch: authenticus). Der Begriff leitete sich aus dem griechischen authentikós her, das ebenfalls für »zuverlässig verbürgt« stand. Ob ein Schriftstück authentisch war, dafür brauchte man einen verlässlichen Gewährsmann. Authentizität ist also eine Zuschreibung, die von außen erfolgt, aufgrund von wahrgenommenen Indizien. In der »Authentifizierung« von E-Mails durch elektronische Signaturen hat sich dieses Begriffsverständnis bis heute erhalten.

Bei der Übertragung des Begriffs auf Personen (im Sinne von »echt« oder »glaubwürdig«) gerät dieser Zusammenhang schon eher aus dem Blick: Beim naiven Verständnis wird Authentizität von einer Wirkungskategorie (»in den Augen anderer authentisch wirken«) zu einer Ausdruckskategorie (»sich selbst authentisch verhalten«) umgedeutet. In der Gleichsetzung von unverfälschtem Selbstausdruck und authentischer Wirkung liegt jedoch ein grandioses Missverständnis. Das eine hat mit dem anderen nur bedingt etwas zu tun. Wer wollte beurteilen, |26|ob Verona Pooth (geborene Feldbusch) tatsächlich das intellektuell reduzierte Glamour-Girl ist, das sie in den Medien so virtuos verkörpert, oder nicht vielmehr eine durchaus clevere Geschäftsfrau mit einem zielsicheren Gespür für erfolgsrelevantes Rollenspiel? Ob sie »authentisch« ist, bleibt der Meinung des Betrachters überlassen – wie bei jedem anderen, dem wir begegnen, eben auch. Nur so ist es möglich, dass der wirkliche Elvis in einem Elvis-Contest in Las Vegas nur auf Platz 4 landete, wie der Medien- und Managementtrainer Stefan Wachtel im Handelsblatt berichtete: Die Selbstinszenierung der »Kopien« war offensichtlich besser als die des Originals; sie wirkten eben authentischer.

Es gibt kein Echtheitszertifikat für Menschen, keine Bundesprüfstelle für Glaubwürdigkeit. Wollen wir die »Authentizität« einer Person beurteilen, sind wir auf Indizien angewiesen: Wie redet jemand, was sagt er, wie kleidet er sich, was für ein Auto fährt er? Doch Indizien können trügen, wie erfolgreiche Hochstapler vom Hauptmann von Köpenick bis zum »Baulöwen« Jürgen Schneider immer wieder bewiesen. Da gibt uns jemand sein Ehrenwort, mit gekränkter Miene und Hand auf dem Herzen, und stellt sich hinterher doch als Lügner heraus. Da überredet uns jemand im dunkelblauen Maßanzug und mit exzellenten Umgangsformen zu einer völlig überteuerten Immobilie. Da gibt jemand den »brutalstmöglichen Aufklärer« in einer Spendenaffäre, und wir fragen uns, ob wir ihm das wirklich glauben sollen. Längst ist Authentizität zum Gegenstand greller medialer Inszenierungen verkommen. Sie wurde zum kommunikativ erzeugten Massenphänomen.

Vielleicht ist die Sehnsucht nach dem Unverfälschten, Echten, Wahren deshalb so groß; vielleicht hat der Wunsch, der andere möge sich »authentisch verhalten« und für uns berechenbar sein, in solchen Enttäuschungen seine Wurzeln. Er bleibt dennoch ein Kindertraum, von dem wir uns verabschieden sollten, wie vom Wunsch nach ewiger Jugend. »Die Welt urteilt nach dem Scheine«, wie Goethe sagt, und sie tut das, weil sie gar nicht anders kann. Georg Büchner drückt es in Dantons Tod drastischer aus: »Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.« Nichts anderes sagt die moderne Wahrnehmungsforschung: Wir bilden uns in wenigen Sekunden |27|ein Urteil über jemand völlig Unbekannten, wir nehmen unsere Umgebung höchst selektiv und erwartungsgesteuert wahr. Das kann man mit Recht als »grob« bezeichnen. Es führt kein Weg daran vorbei: Wer uns die richtigen Indizien liefert, wer uns ein (in unseren Augen) stimmiges Bild von sich liefert – kurz: wer seine Rolle glaubhaft spielt, den halten wir für authentisch. Wer das nicht schafft, wird abgestraft, verliert Wahlen, Zuschauerquoten oder Jobchancen.

Anregungen zur Selbstreflexion