Nach dem Sturm und vor der Zeitenwende - Rena Coeppen - E-Book

Nach dem Sturm und vor der Zeitenwende E-Book

Rena Coeppen

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Beschreibung

Nach dem Sturm – und vor der Zeitenwende dient dieser ­ehrlichen und eindrücklichen Familiengeschichte als Leitmotiv. Die Autorin versetzt uns in die frühen 50er Jahre ins Berliner Umland und zeichnet anhand der einzelnen Familienmitglieder unter­schiedliche Lebensentwürfe und entwickelt dabei jeden einzelnen Charakter so scharf, dass die Generationenkonflikte ebenso deutlich werden, wie die unterschiedlichen Mentalitäten der vier Schwestern. Diese Unterschiede treten durch die ­politischen Gegebenheiten immer stärker hervor. Diejenigen, die im Osten bleiben, versuchen zum Sozialismus zu gelangen, aber auch hier ist nicht alles so homogen, wie es scheint … Die Familienmitglieder, die im Westen leben, arrangieren sich mit der »Sozialen Marktwirtschaft« und die West-Berliner ­Verwandtschaft ist dem Wandel der Systeme besonders direkt ausgesetzt. 40 Jahre später ist die Wiedervereinigung vollzogen und es ist eine unübersichtliche Gemengelage entstanden. Nicht jedes Familienmitglied würde alles noch einmal so machen und den jungen Erwachsenen der Familie fehlt das Bewusstsein für die gemeinsamen Wurzeln. Für diese Generation hat Rena Coeppen dieses Werk vor allem geschrieben.

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Seitenzahl: 211

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RENA COEPPEN

Nach dem Sturm und vor der Zeitenwende

Eine deutsch-deutscheFamiliengeschichte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Schriftart: Arno Pro 12pt

Herstellung: rgf/1A

ISBN 978-3-8301-1926-5 EPUB

Inhalt

1. Kapitel1952

2. Kapitel1952

3. Kapitel1952

4. Kapitel1955

5. Kapitel1956

6. Kapitel1960

7. Kapitel1961

8. Kapitel1971

9. Kapitel1981

10. Kapitel1992

1. Kapitel1952

Die Mutter mahnte zur Eile. Sie würden den Zug verpassen, wenn sie weiterhin so bummelten. Die Zwillinge trotteten wider-willig, traurig und schweigend hinter der Mutter her. Sie signalisierten einander: »Guck dir alles nochmal richtig an, wer weiß, ob wir diesen Ort jemals wiedersehen.«

»Sieh mal, Hanna«, die um 20 Minuten ältere der Zwillingsschwestern blickte in Richtung eines Gehöftes, wo Bauer Vieth gerade die Kühe durch das Hoftor führte. Sofort folgten die Augen der jüngeren Schwester, Lore, und der stumme Dialog wurde fortgesetzt: »Ob der wohl was bemerkt?« blinzelte Hanna und Lore antwortete unbemerkt von jedem Außenstehenden, lautlos mit einem Verändern der Mundwinkel: »Möglich, der glotzt so« – »Der schaut doch der Mama immer hinterher« – beide sahen sich verständnisinnig an. Die Mutter kannte bereits das Spiel der Zwillinge und mahnte wiederum zur Eile. Obwohl die Mädchen keine eineiigen Zwillinge waren, ja nicht mal die Ähnlichkeit allzu groß war, hatten sie schon früh eine eigene Sprache entwickelt, die fast telepathisch zu nennen war.

»Bitte, kommt, ihr könnt euch im Zug weiter unterhalten – wenn wir den Zug verpassen, dann müssten wir umkehren, denn der nächste Zug fährt erst wieder am Nachmittag und das ist dann zu spät für den Arzt in Löwenberg.« Maria Sydow sprach absichtlich etwas lauter, denn in der Zwischenzeit war sie mit den Kindern von der Dorfstraße in die Bahnhofstraße abgebogen und hier liefen bereits einige Dorfbewohner eilig zum Personenzug nach Löwenberg. Wie immer erreichten sie den Bahnhof viel zu früh, denn der Zug hatte sich wieder mal verspätet. Die meisten Fahrgäste auf dem Bahnsteig waren aus dem Dorf. Einige kamen aus den Nachbarorten, in denen es keine Bahnstation gab. Maria wurde scheu gegrüßt. Sie grüßte zurück. Sie hatte auch kein Bedürfnis, am frühen Morgen eine Unterhaltung zu führen, obwohl sie noch öffentlich machen musste, dass sie »nicht« nach Berlin fahren wollten, sondern nach Löwenberg zum Arzt. Doch mit wem sollte sie sprechen, es wussten sowieso alle Bescheid. Alle wussten, dass Adolf Sydow nach Berlin geflüchtet war, nach West-Berlin. Er hatte gar nicht erst gewartet, bis die Leute vom Staatssicherheitsdienst mit dem Haftbefehl auftauchten. Er verschwand lieber schnell bei Nacht und Nebel, nachdem er noch all seinen Frust in der LPG-Versammlung hinausgebrüllt hatte.

»Was wisst ihr Dämlacke denn vom Sozialismus? Nichts, nichts – wisst Ihr! Ich habe ›das Kapital‹ von Karl Marx gelesen, da seid ihr bereits mit braunen Hemden rumgelaufen!« Aus dem Hintergrund des Saales erklang ein Zwischenruf: »Dafür hast du deines um so länger getragen.«

»Ja, stimmt«, rief da Adolf Sydow wütend, »so schnell wie ihr konnte ich mich nicht umziehen, geschweige denn umstellen. Wo ward ihr denn alle, als es galt, die Toten am Straßenrand auszugraben und zu beerdigen? Da war ich hier doch mit der einzige Nazi – ihr ward ja schon damals ›immer schon dagegen gewesen‹ – womöglich noch im Widerstand. Doch das ist Schnee von gestern, jetzt geht es hier um die LPG und euer Verständnis vom Allgemeingut, vom Volksvermögen. So wie ihr den Sozialismus auslegt, so kann er nicht funktionieren, jeder bereichert sich hier wie er kann, jeder arbeitet wie und wann er will, so muss die Genossenschaft ja Verluste machen und für die Verluste macht man euren Buchhalter verantwortlich, nämlich mich. Wieder mal bin ich der Dumme, so wie ich damals allein verantwortlich gemacht wurde, für die Toten aus Oranienburg – ich und noch ein paar Parteigenossen, so macht ihr mich jetzt wieder dafür verantwortlich, dass die LPG schlichtweg pleite ist. Nein, so geht das nicht – ihr schreibt euch Arbeitseinheiten auf, die ihr nie geleistet haben könnt, so viele Stunden hat der Tag ja nicht, und von mir verlangt ihr, dass ich diese Belege auch noch anerkenne.« Wieder schrie einer aus dem Hintergrund des Saales: »Ihr Sydows ward doch immer schon die Schlauen, dein Bruder hat sich hier an den Armen bereichert und jetzt wirst du das wohl genauso machen, die Kasse steht ja nicht weit entfernt von deinem Schreibtisch.«

»Das ist ja völliger Blödsinn, die Kasse führt Elfriede Bartels und da sind nur die Milchgroschen drin, da würden wir beide nicht reich werden. Und meinen Bruder lasst aus dem Spiel; erst ermordet ihr ihn und dann reißt ihr ihn noch in den Schmutz.« In den nun losbrechenden Tumult verschwand Adolf Sydow aus dem Saal und strebte eilig seiner Wohnung zu, um ein paar Sachen einzupacken und um sich mit Geld zu versorgen. Diese Versammlung war vor einer Woche gewesen. Adolf war noch in der gleichen Nacht nach Löwenberg gelaufen, hatte von dort einen Zug nach Oranienburg genommen und war von dort mit der S-Bahn nach West-Berlin gefahren. Gestern hatte Maria einen Brief von Adolf erhalten. Christa Noelte hatte den Brief vorbeigebracht. Sie fuhr jeden Tag nach Oranienburg zur Arbeit. Adolf musste nochmals von West-Berlin nach Oranienburg zurückgefahren sein, um ihr den Brief persönlich zuzustecken. Maria hatte gar nicht erst gefragt und Christa hatte auch nichts weiter gesagt, sondern ihr nur schweigend den Brief übergeben. Adolf schrieb, sie solle kommen – »Hier bin ich wie in einem Krankenhaus untergebracht und hier haben nicht nur wir, sondern auch die Zwillinge eine Zukunft. Denk an unseren Trauspruch.« Tja, und das tat sie, der Spruch lautete: »Wo ich hingehe, da sollst hinfort auch du hingehn!«

»Und mein Vater, was tue ich mit meinem Vater?«, dachte Maria verzweifelt. Sie war eine stille, fügsame Frau, doch hier konnte sie ihrem Mann nicht Recht geben. Warum war er so Hals über Kopf geflüchtet? Was hatte er denn eigentlich Staatsfeindliches gesagt? Er würde eine Gefängnisstrafe nicht durchstehen, so krank wie er aus dem Krieg zurückgekehrt war, waren seine Argumente – das war zwar richtig, doch er hatte nicht den Staat angegriffen, im Gegenteil – sie würden ihm schon nichts tun. Die Unterschlagungen hatte doch Karl gemacht. Karl Boetzel war vor 14 Tagen noch LPG-Vorsitzender gewesen. Dann kam die plötzliche Prüfung vom Rat des Kreises. Karl hatte Adolf Sydow vorgeworfen, ihn beim Rat des Kreises angezeigt zu haben, weil sie gerade vor ein paar Wochen wegen der fehlenden Weizensäcke ziemlich lautstark aneinandergeraten waren und weil der Buchhalter dem LPG-Vorsitzenden mit dem Rat des Kreises gedroht hatte. Doch Drohungen aussprechen ist etwas anderes, als sie auch zu verwirklichen, denn gerade dies würden die Leute vom Rat des Kreises Adolf ja vorwerfen: Dass er sie – »nicht« – informiert hatte. Wie sollte Adolf nun beweisen, dass er zwar etwas gemerkt, aber nichts vom Kuchen abbekommen hatte. Darum folgte er seinem Vorsitzenden nach West-Berlin und reihte sich ein in die tägliche fünftausendköpfige Flüchtlingsschlange.

»Ist Adolf schon wieder zurück?«, trompetete jetzt eine Stimme neben Maria. Entsetzt starrte Maria auf die Besitzerin dieser Trompetenstimme. Gerade wollte sie den Leuten ja noch klarmachen, dass sie nicht auf dem Weg nach West-Berlin war, aber doch nicht so. Doch warum nicht, man muss die Gelegenheit beim Schopf packen – die Leute würden es verstehen. »Ja Hildegard, er war nach Gransee zum Rat des Kreises gefahren, um zu hören, wie es weitergehen soll und jetzt sitzt er zu Hause über den Büchern und versucht den Rückstand aufzuarbeiten. Ich fahre nach Löwenberg zum Zahnarzt!« Alle Umstehenden hatten es vernommen, niemand glaubte ihr und doch blickten alle erleichtert auf die kleine Gruppe. Nur Frau Hildegard Hammer glaubte, was sie hörte, weil sie in ihrer naiven, aufrichtigen Art nicht annehmen konnte, dass sie so angelogen werden konnte. Sie hatte mit dieser Naivität ihren Mann ins Lager nach Oranienburg gebracht und man munkelte, dass er jetzt bereits auf dem Weg nach Sibirien war. Hildegard Hammer war eine Zugereiste, eine Berlinerin; evakuiert wie Maria Sydow. Beide wurden während des Krieges aufgefordert, mit ihren kleinen Kindern aus Berlin weg aufs Land zu ziehen, als die Bomben der Tommys und der Amerikaner immer heftiger fielen. Als dann die Wohnung der Sydows getroffen wurde, packte auch Maria die Zwillinge in den Kinderwagen und fuhr aufs Land zu ihren Eltern. Maria war von hier – Hildegard nicht. Das war der Unterschied zwischen Hildegard Hammer und Maria Sydow. Zwar war auch Maria in Berlin geboren, aber bereits der erste große Krieg in diesem Jahrhundert hatte die Menschen durcheinandergewirbelt. Aron Lievkosky, umgetauft in Adolf Liese, Marias Vater, ein Ostjude aus der Turmstraße in Berlin, wurde nach seiner Kriegsverletzung als Briefträger aufs Land versetzt. Eine Granate war neben ihm explodiert und sein Gehör für immer geschädigt. Er war auch als Bursche Berufssoldat und mächtig stolz auf seinen Stand. Er hätte eigentlich pensioniert werden müssen, aber als Landbriefträger war er noch einsatzfähig und so zog die Familie aufs Land und übernahm die Poststelle in Grabow. Von ihren Ersparnissen kaufte sich die Familie ein kleines Siedlungshaus vom Bauunternehmer Sydow. Emely Liese, geb. Bolte, eröffnete einen kleinen Schneidersalon und brachte Berliner Chic aufs Dorf. So kam es, dass Maria die Dorfschule besuchte und natürlich die Klassenbeste wurde. Bereits als elfjähriges Mädchen war zu ersehen, dass Maria einmal eine Schönheit werden würde. Adolf Sydow, der Bruder des Bauunternehmers Herrmann Sydow, hatte das hübsche Kind sofort bemerkt als er aus dem Krieg kam. Er ließ die Kleine nicht aus den Augen und als sie dann aus dem Internat (sie besuchte eine Hauswirtschaftsschule) nach Hause kam, war sie gerade mal 17 Jahre alt – da wurden sie sofort ein Paar. Die Heirat dann aber war ein Problem. Adolf Sydow war das vierte Kind des Neubauern Sydow, der auch ein Zugereister war. Auf der ganzen Welt aber sind die »Neuen« dann später die schlimmsten Patrioten. Den Hof würde einmal sein Bruder übernehmen müssen, das fünfte Kind des Bauern Sydow. Deshalb hatten er und sein ältester Bruder ein Handwerk erlernen müssen. Er wurde Schmied. Sein ältester Bruder hatte Maurer gelernt und war bereits ein gefragter Bauunternehmer, als Adolf aus dem Krieg kam. Zwei Schwestern wurden in die Nachbarorte verheiratet. Die jüngere, Adolfs Lieblingsschwester war ihr Leben lang unglücklich – und Adolf fuhr ein paarmal ins Nachbardorf, um zu schlichten. Als Adolf nun nach einer heißen Liebesnacht die junge, hübsche Maria seinen Eltern als Braut präsentierte, herrschte eisiges Schweigen in der Familie. Marias Familie reagierte ähnlich. Sie war Adolfs und Emelys einziges Kind und doch noch viel zu jung, um zu heiraten. Auch noch einen Bauernsohn ohne Hof. Wenn sie sich wenigstens den älteren der Brüder ausgesucht hätte – aber der war bereits verheiratet. Aber so einen Burschen, der gerade mal Geselle war und aus dem Krieg entlassen war, ohne Geld und Erwerbsquelle – beide Familien mauerten. Doch dann musste geheiratet werden – die Liebesnächte waren nicht mehr zu übersehen. Marias Eltern verkauften das kleine Siedlungshäuschen und zogen mit dem jungen Paar in die kleine Dorfschmiede, die Adolf mit dem Geld der Schwiegereltern und mit Hilfe des Bruders bauen konnte. Doch die Zeiten waren schlecht und Adolf verstand es schon damals nicht, sich bei den Leuten beliebt zu machen. Er war da anders als sein Bruder Herrmann. Dieser zechte mit den Bauern des Öfteren bis spät in die Nacht, spendierte ihnen auch mal eine Runde Bier und Korn und schwieg zu ihren Dummheiten oder lachte gutmütig – sah aber zu, dass er immer auf seine Kosten kam und wurde langsam aber stetig reich dabei. Adolf aber ging nicht in die Dorfschänke, hielt sein Geld zusammen und mit seiner Meinung über die Dummheiten der Leute nicht hinterm Berg – er las viel und hielt sich sogar eine Berliner Zeitung; das war den Dorfleuten nicht geheuer, und so rächten sie sich und zeigten es dem Schlaumeier. Sie gingen mit ihren Pferden ins Nachbardorf zum Beschlagen und von den Landmaschinen, die er angeschafft hatte, um schneller die Schulden bei seinen Schwiegereltern abzuzahlen, kauften sie ihm nichts ab. Kurz und schlecht, nach anderthalb Jahren war er pleite, und das zweite Kind unterwegs.

Er fuhr nach Berlin, um sich eine Arbeitsstelle zu suchen und ließ seine schwangere Frau und das Kind bei den Schwiegereltern zurück. Diese verkauften das Schmiedehaus, kauften ein noch kleineres Siedlungshaus und überschütteten von nun an Maria mit Vorwürfen und Häme. Nur am Wochenende, wenn Adolf aus Berlin kam, schwiegen sie. Adolf merkte bald wie unglücklich Maria war. Er drang nach der Geburt des zweiten Kindes (wieder ein Mädchen, für die Zeugung eines Knaben war er nach Meinung der Schwiegereltern und der Dorfbewohner sowieso zu dämlich) auf einen Umzug nach Berlin; zwar nur in ein möbliertes Zimmer mit Kochgelegenheit, doch so hatte er seine Lieben aus der Häme der Familie und des Dorfes befreit. Dies geschah in den »Goldenen Zwanzigern«, die nicht für jeden Menschen in Deutschland ein goldenes Zeitalter waren. Die Zwillinge wurden dann nach 14 schweren, aber auch glücklichen Jahren in Berlin geboren, ein dunkles und ein helles Kind (wieder zwei Mädchen), als der Krieg bereits in vollem Gang war, nach einem Heimaturlaub von Adolf, der als fast vierzigjähriger Familienvater auch noch zur Armee eingezogen wurde. Noch kurz vor Kriegsende wurde er verwundet und das war wiederum sein Glück, denn die Russen sortierten ihn als nicht transportfähig aus, als sie den Gefangenentransport für Sibirien zusammenstellten. Die rund 60 Kilometer von den Kalkbergen in Rüdersdorf zu seinem Heimatort G. kroch er fast auf Händen und Füssen. Er aß Sand gegen den Hunger, Holzkohle gegen die Ruhr. Die ersten Sauerampferblätter zusammen mit Regenwürmern waren für ihn eine Delikatesse. Maria, die von der Evakuierungsbehörde bei ihren Eltern einquartiert war, erkannte ihn nicht wieder, als er durchs Gartentor trat, sie hielt ihn für einen der Oranienburger Sträflinge, die zwei Wochen vorher durchs Dorf getrieben wurden und von denen viele am Straßengraben liegen geblieben waren und von den Aufsehern dann erschossen und von der Landbevölkerung notdürftig verscharrt wurden.

Der Zug kam. Die Familie stieg ein und Maria dachte daran, dass sie abermals ihrem Mann nach Berlin nachreiste. Diesmal für immer?

Lange konnte sie über diese Frage nicht nachdenken, denn Hildegard Hammer hatte neben ihr Platz genommen und erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Die Zwillinge saßen den beiden ungleichen Frauen gegenüber und betrachteten fasziniert die interessanteste Frau des Dorfes.

Nicht nur im Dorf war Hildegard Hammer auffallend. Schon aus Berlin war sie Aufmerksamkeit gewohnt. Dementsprechend waren ihr Selbstbewusstsein und ihr Benehmen. Sie warf den Kopf mit den roten Naturlocken in den Nacken und sah mit ihren hellgrünen Augen bewunderungsheischend um sich. Trotz ihrer 40 Jahre, der Kriegsereignisse und der Tatsache, dass ihr Mann in Oranienburg in Haft war, sah sie blendend aus. Sie hatte die typische schneeweiße zarte Haut (ohne Sommersprossen) der Rothaarigen und eine schlanke Figur. Die Zwillinge hingen an ihren Lippen, um ja keine Neuigkeit zu verpassen. Sie hörten, wie Frau Hammer davon erzählte, dass sie es geschafft hatte, den russischen Kommandanten zu sprechen und dass ihr Mann nun doch nicht nach Sibirien musste, denn was hatte er schon getan, er hatte doch lediglich seinen Arbeitgeber mitten im Wald stehen lassen. Die Zwillinge wussten auch, warum Herr Hammer seinem Chef mitten im Wald eine runtergehauen hatte und dann die fünf Kilometer bis zur nächsten Bahnstation gelaufen war, anstatt das Auto des Chefs nach Hause zu fahren. Der Chef von Herrn Hammer war der Kinobesitzer und Nagelfabrikant Nadinowisch, der aus Bulgarien nach Deutschland gekommen war, um einmal den Deutschen Arbeit zu geben, wie er sagte und das arme Land wieder aufzubauen; aber hauptsächlich darum, um reich zu werden und um die Kriegsgewinne gut anzulegen, die er in den sechs Kriegsjahren erwirtschaftet hatte. Das attraktive Berliner Hildchen soll ein Techtelmechtel mit Herrn Nadinowisch gehabt haben und als nun Herr Hammer unerwartet aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, nutzte Frau Hammer ihre Beziehungen und verschaffte ihrem Mann den Chauffeurposten bei dem Fabrikbesitzer Nadinowisch. Entweder, dass sich Herr Nadinowisch über die Fahrweise des Chauffeurs geärgert hatte oder aber vielleicht darüber, dass er nun das schöne Hildchen nicht mehr treffen konnte, wie und wann es ihm beliebte, jedenfalls erzählte er seinem Chauffeur genüsslich von seiner Liaison mit der schönen Gattin. Herr Hammer stieg aus, schlug seinem Chef ein blaues Auge und auch nach seinem Fußmarsch und der anschließenden Bahnfahrt war seine Wut noch immer nicht verflogen, so dass er Hildchen ebenfalls übers Knie legte. Die Nachbarn hörten, wie sie immer wieder rief: »Ich habs doch nur für die Kinder getan, damit die mir nicht verhungern.«

»Auf dem Land muss man nicht hungern, da wächst genug um zu überleben«, soll er gerufen haben. Doch was wusste dieser Stadtmensch schon von den Bauern. Die Zwillinge wussten auch, dass die schöne Frau Hammer mit dem Bauern Vieth in der Scheune war und mit einem großen Netz Kartoffeln wieder herauskam und dass es bei Vieths in der Küche danach einen ziemlichen Krach gab, und dass sie sich einen Kohlkopf von dem Feld der Kraatzens genommen hatte – geklaut. Frau Kraatz hatte ein unsägliches Theater über diesen »Diebstahl« verbreitet – gerade ihrer Familie und ihren armen sieben Kindern so einen großen Kohlkopf wegzunehmen. Die Zwillinge wussten aber über Frau Kraatz, dass sie ihrer Großmutter noch den Lohn vom Totenbett gestohlen hatte. Als Großmutter zu Weihnachten starb, hatte sie gerade die Weihnachtsgarderobe der Familie Kraatz fertig gearbeitet, obwohl sie kaum noch atmen konnte. Als die Oma tot war, kam die dicke Frau Kraatz dann zum Großvater und erzählte, dass sie gerade den Arbeitslohn bezahlt hätte.

»Als wenn es hätt’ so sein solln –«, wiederholte sie immer wieder, bis sie selbst an ihre Güte glaubte. Großvater und Mutter sahen sich an, sie hatten in allen Verstecken der Großmutter kein Geld gefunden – und es wäre in den Jahren auch das erste Mal gewesen, dass Familie Kraatz die Kleiderrechnung sofort beglichen hätte. Sonst tat sie das immer kurz bevor der neue »Staat« anfiel – also die Weihnachtskledasche wurde kurz vor Ostern bezahlt, die Ostergarderobe kurz vor Pfingsten und die Sommerkleider wurden spät im Herbst, schon fast im Oktober bezahlt – und meistens mit Naturalien. Eine Martinsgans, Schmalz und Würste vom heimlich geschlachteten Schwein. Kartoffeln für den Winter und was es noch so an Herrlichkeiten in diesen schlechten Zeiten gab. Es war schon gut, dass die Mutter es nicht nötig hatte, beim Bauern betteln zu gehen oder sich selbst und das gerettete Silber oder die Teppiche verkaufen musste, da die Großeltern noch heimlich ein Schwein fütterten und Kaninchen und Enten in ihrem großen Garten großzogen. Nur dem Vater wollten sie nichts geben, dem Nazi – dem Kriegsverlierer und Kriegsverbrecher, dem Nichtskönner. So schmeckten auch die besten Dinge von den Großeltern den Zwillingen bitter.

Der Vater hatte keine Zeit, sich von seiner Kriegsverletzung zu erholen. Die Leute von der Kommandantur und dem Bürgermeisteramt kamen und der Vater musste mit ein paar anderen heimgekehrten Soldaten die notdürftig verscharrten Leichen der Oranienburger Strafgefangenen ausbuddeln und zum Friedhof karren, wo sie dann später beigesetzt wurden. Die Zwillinge hatten den endlosen Zug der Sträflinge noch im Gedächtnis. Die großen Schwestern hatten sie schnell ins Haus geholt. Doch ein Mann hatte ihnen seine selbstgebastelte Puppe über den Zaun geworfen und sie beide angelächelt und ihnen viel Glück im Leben gewünscht. Hanna war dann trotz Verbot wieder in den Garten gerannt und hatte die Puppe geholt, die die Mutter dann schimpfend ins Feuer warf. Sie waren damals erst fünf Jahre alt, sie erlebten auch den Zusammenbruch ihres Vaters mit und die Tränen der Mutter – als die großen Schwestern dieses Leben nicht mehr aushielten und die eine sich den neuen Dorfschuldirektor (Familienvater mit vier süßen Kindern) schnappte und das Dorf verließ; die älteste Schwester ging ebenfalls bei Nacht und Nebel mit dem schönsten Mann, den Grabow bis dato gesehen hatte, über die grüne Grenze in den Westen – wohin sie jetzt auch fuhren. Das Leben konnte schon sehr traurig sein – doch im Augenblick war es sehr, sehr aufregend …

2. Kapitel1952

Der Ort Grabow liegt an der Bahnlinie, die von der Uckermark kommend über Oranienburg nach Berlin führt. Im Jahre 1952, als die Familie Adolf Sydow das Dorf verlässt, ist es noch ein schönes Dorf; mit alten Lindenbäumen, einem Dorfweiher und einigermaßen erhaltenen Bauernhäusern. Bis zur Hauptstadt sind es nur 80 km und schon immer fuhren die Tagelöhner oder Mägde, aber auch die Kleinbauern in die Stadt und suchten sich dort eine Anstellung, wenn sie geschickt waren und auf dem Feld und bei den Großbauern keine Arbeit mehr fanden. Die Männer als Maurer und Zimmerleute, die Frauen als Dienstmädchen. So war es, bevor der zweite große Krieg des 20. Jahrhunderts zu Ende ging und alles in Deutschland anders wurde. Dann, als der Krieg vorbei war, hatte sich das Bauerndorf zwar rein äußerlich nicht verändert, denn die Bomber der Alliierten waren über die Häuser und Wälder hinweggeflogen und hatten ihre tödliche Last in Berlin abgeladen, doch danach kam eine neue Zeit, die die Menschen und die Umgebung veränderte. Unmerklich zuerst – doch als eines Tages alle Lindenbäume, die Kastanien und die Eichen gefällt wurden, ohne dass es hierfür eine Erklärung gab, wurde selbst dem 150%igen, linientreuen Bürgermeister klar, dass die Russifizierung eingeleitet war. Das Dorf sah aus wie ein Dorf in der russischen Steppe. Das war in den 70er Jahren. Da war das Kirchendach eingefallen und der Turm durfte nicht mehr betreten werden. Die Gläubigen mussten ins Nachbardorf zum Gottesdienst, denn dem Pfarrer aus der Nachbargemeinde wurde auch kein Ersatzraum zur Verfügung gestellt.

Fünf Jahre nach dem Krieg entstanden im Ort eine Zigarettenfabrik und eine Nagelfabrik. Jeden Morgen kamen Arbeiter und Arbeiterinnen mit dem Zug angefahren, um im Ort zu arbeiten. Es war kein geruhsamer Ferienort mehr, wie vor dem Krieg. Im Jahre 1953 aber war der Ort noch hübsch. Inmitten des Ortes Grabow liegt der Dorfteich. Daneben steht die alte Kirche aus dem 16. Jahrhundert, daran schließt sich eine große Wiese mit alten Eichen und Kastanien an. Hier trafen sich die Dorfleute – auf der einen Seite – unter den Eichen – die jungen Burschen und Mädchen, auf der anderen Seite standen Tische und Bänke vor der Dorfschenke Kohlhaupt. Dort saßen die Alten und tranken ihr Feierabendbier oder zu Friedenszeiten, aber auch in der Neuzeit saßen die Männer hier während des Gottesdienstes und ließen ihre Frauen für das Wohl ihrer Familien beten. Links von der Dorfschenke, noch mit Blick auf den Dorfteich, hatte die Familie Sydow ihr Anwesen. Der jüngste Sohn führte nun den Hof, während die alten Sydows ein Häuschen in der Siedlung bezogen hatten, das nun auch schon wieder von deren Enkelkindern bewohnt war, denn sie hatten das Ende des Krieges und den gewaltsamen Tod ihres ältesten Sohnes nicht mehr miterleben müssen. Rechts vom Dorfkrug Kohlhaupt wohnte der Großbauer Schirmer.

Jede Woche ließ er den Gemeindediener, der mit einer Glocke durchs Dorf zog, um die »Bekanntmachungen« laut vorzulesen, die von der Gemeindeverwaltung oder der Kommandantur veranlasst wurden, zum Schluss der Lesung nach seiner verlorenen Brieftasche mit meistens einem Betrag von 1.000 Mark fahnden. Die Kinder schlossen schon Wetten ab, ob der Bauer Schirmer wohl wieder sein Geld verloren hätte – und bewunderten ihn wegen seines Reichtums sehr. Weil es immer 1000-Mark-Scheine waren, die verloren gegangen waren, steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten sich zu, »dass de oll Schirmer sicherlich sin Geld selbstmokte«. Die Erwachsenen aber grinsten bloß, wussten sie doch, dass der Schirmer am Wochenende mal wieder sternhagelvoll mit seiner Kutsche aus irgendeiner Nachbardorfkneipe gekommen war und die Geschichte von der verlorenen Brieftasche nur für seine liebe Frau erfunden hatte. Harry Schirmer hatte eingeheiratet und den Besitz schon vor dem Krieg durch falsche Bewirtschaftung und aufwendigen Lebensstil so in Schulden gebracht, dass eigentlich die Familie Konkurs anmelden hätte müssen. Aber mit Hilfe des Erbhofgesetzes »im 1000-jährigen Reich« wurde der Hof dem ältesten Sohn überschrieben und die Schulden ausgesetzt. Harry Schirmer war eigentlich ein armer Mann und handelte deshalb fortan mit Pferden, währenddessen nun offiziell seine Frau mit den zwei Söhnen den Hof bewirtschaftete.

Hinter dem Anwesen der Schirmers ging es zum Bahnhof. Dahinter lag die alte Schmiede, die mal von den Sydow-Brüdern gebaut worden war, mit der aber Adolf Sydow in den Zwanzigerjahren Pleite ging. Dort hinaus auf dem Weg nach Gransee lag die Siedlung 1, wo auch »Opa Liese« sein Häuschen hatte.

Das hatte er sich vom Pleite-Restgeld seines Schwiegersohnes, Adolf Sydow, gekauft. Hier wohnte auch die Familie Hammer mit ihren Kindern, die dieses Holz-Häuschen vor dem Krieg als Wochenendhaus nutzte, während des Krieges aber froh war, ein Dach über dem Kopf zu haben, auf das keine Bomben fielen. Und nun nach dem Krieg betonte Frau Hammer immer, dass sie »jederzeit nach Berlin« zurück könne, wenn sie nur wolle. Doch in Berlin wurde gehungert und hier auf dem Lande fiel schon mal hin und wieder ein Krumen ab, auch wenn er erflirtet werden musste,