Nach Deutschland - Isabel Schayani - E-Book

Nach Deutschland E-Book

Isabel Schayani

0,0
19,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Safi schleppt sich im Winter zu Fuß über die Balkanroute. Ruhi fliegt von Teheran zunächst nach Italien. Omid will Nach Deutschland und landet dann doch in Calais. Melika steckt in Moria fest. Und Olena hat als Ukrainerin beinahe freie Fahrt. Die preisgekrönte Journalistin Isabel Schayani berichtet von fünf verschlungenen Wegen Richtung Deutschland und gewährt uns tiefe Einblicke in das prekäre Leben im Niemandsland zwischen den Grenzen und in den Grauzonen des Asylrechts. im Vordergrund ihres Augen öffnenden Buches steht die große, drängende Frage, wie wir Flucht und Migration menschlicher organisieren können. Viele Fluchtrouten durch den Vorderen Orient und Afrika haben Deutschland zum Ziel. Hier soll es Freiheit geben, Schulunterricht und medizinische Versorgung gratis, und Frauen dürfen Sport treiben: Für Menschen, die um ihr Leben rennen oder vor Verelendung fliehen, ist das ein großes Versprechen. Sie lassen ihr vertrautes Leben meist erstaunlich uninformiert hinter sich, mit Kind und ohne Kreditkarte, im freien Fall in eine bessere Zukunft. Isabel Schayani hat fünf Geflüchtete auf ihren Wegen teils über mehrere Jahre immer wieder getroffen. Sie lässt uns die Schikanen der Schlepper, illegale Reisebüros, Grenzen, Registrierungen, Lager, Anträge und Internierungen aus der Perspektive der Heimatlosen erleben. Im Gespräch mit Verantwortlichen, Experten – und mit den fünf Geflüchteten selbst – sucht sie nach Antworten auf die große Frage: Wie können wir Flucht und Migration menschlicher organisieren?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schayani, Isabel: Nach Deutschland

Isabel Schayani

NACH DEUTSCHLAND

Fünf Menschen. Fünf Wege. Ein Ziel

C.H.Beck

Zum Buch

Safi schleppt sich im Winter zu Fuß über die Balkanroute. Ruhi fliegt von Teheran zunächst nach Italien. Omid will nach Deutschland und landet dann doch in Calais. Melika steckt in Moria fest. Und Olena hat als Ukrainerin beinahe freie Fahrt.

Viele Fluchtrouten durch den Vorderen Orient und Afrika haben Deutschland zum Ziel. Hier soll es Freiheit geben, Schulunterricht und medizinische Versorgung gratis, und Frauen dürfen Sport treiben: Für Menschen, die um ihr Leben rennen oder vor Verelendung fliehen, ist das ein großes Versprechen. Sie lassen ihr vertrautes Leben meist erstaunlich uninformiert hinter sich, mit Kind und ohne Kreditkarte, im freien Fall in eine bessere Zukunft. Die preisgekrönte Journalistin Isabel Schayani hat fünf Geflüchtete auf ihren Wegen teils über mehrere Jahre immer wieder getroffen gewährt uns tiefe Einblicke in das prekäre Leben im Niemandsland zwischen den Grenzen und in den Grauzonen des Asylrechts. Sie lässt uns die Schikanen der Schlepper, illegale Reisebüros, Grenzen, Registrierungen, Lager, Anträge und Internierungen aus der Perspektive der Heimatlosen erleben. Im Gespräch mit Verantwortlichen, Experten – und mit den fünf Geflüchteten selbst – sucht sie nach Antworten auf die große Frage: Wie können wir Flucht und Migration menschlicher organisieren?

Über die Autorin

Isabel Schayani arbeitet als Fernseh- und Onlinejournalistin für den WDR und moderiert den ARD-Weltspiegel aus Köln. Die Migration nach Deutschland und Europa ist seit Jahren ihr wichtigstes Thema. Für ihre Berichte und Reportagen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Grimme-Preis, dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Sonderpreis, dem Deutschen Sozialpreis und als politische Journalistin des Jahres 2020. Sie ist Gründerin des Online-Programms WDRforyou für und über Menschen, die neu in Deutschland sind.

Inhalt

Vorwort

Anmerkung zum Gendern

Safi versucht es zu Fuß über die Balkanroute

Afghanen im Iran

Türkei-Transit

Die Balkanroute im Winter

Game: das Spiel

Kroatisches «Grenzmanagement»

Das Paris-Prinzip

Race to the bottom: Unterbietungswettbewerb in der EU

Ein fieses Männerspiel

Die Entscheider

Ruhi fliegt von Teheran nach Italien

Bahá’í im Iran

Im Stall von Agha Jakubi

Kleine Visakunde

Verteilung von Asylsuchenden

Dublin-III-Verfahren

Beleg dein Leben: die BAMF-Anhörung

Fluchtgründe

Runtergefallen

Die Unabhängige Republik Heidenau

Der Bazju

Omid will im Schlauchboot über den Ärmelkanal

Die ohne Geld gehen zu Fuß

Warum Großbritannien?

Der Dschungel von Calais

Die Geschichte einer Grauzone

Zweitausend Euro will der Schlepper für die Überfahrt

Die Zeit schleicht

Melika sitzt im Gummiboot nach Moria

Herat – Teheran – Türkei

Hoffen auf Lesbos

Der EU-Türkei-Deal

Lagerüberleben

EU-Hotspots

Zuständigkeiten

Politikwechsel in Athen

Corona

Moria brennt

Sekundärmigration oder: Nur weg aus Griechenland!

Olena schafft es mit Bus und Bahn aus der Ukraine nach Deutschland

Wir sind keine Flüchtlinge

Zeitenwende: Die EU öffnet ihre Tore

Pushbacks an der Grenze zwischen Belarus und Polen

2015 und 2022: ein Vergleich

In Frontnähe

Krieg als Reset-Taste?

Fünf Fragen an vier Akteure

Jean Asselborn, Außen- und Migrationsminister von Luxemburg

Péter Szijjártó, Außen- und Handelsminister von Ungarn

Angelika Nußberger, ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Jacqueline Bhabha, Menschenrechtsexpertin in Harvard

Fünf Leben, fünf Antworten

Safi: Wer vor dem Krieg flieht, findet hier Ruhe

Ruhi: Wir müssen die Werte achten

Omid: Flucht ist nichts für jeden

Melika: Es sollten einfachere Wege geschaffen werden

Olena: Dankbar bis zum Ende meines Lebens

Epilog: Meine Mosaiksteine

Dank

Abkürzungen

Anmerkungen

Safi versucht es zu Fuß über die Balkanroute

Ruhi fliegt von Teheran nach Italien

Omid will im Schlauchboot über den Ärmelkanal

Melika sitzt im Gummiboot nach Moria

Olena schafft es mit Bus und Bahn aus der Ukraine nach Deutschland

Fünf Fragen an vier Akteure

Epilog: Meine Mosaiksteine

Literatur

Websites

Den dreien, die mein Leben sind, und den beiden, denen ich es verdanke.

Vorwort

Dieses Buch entstand über mehrere Jahre, in denen ich Menschen begegnete, die sich wie von einem Magneten angezogen in eine Richtung durch Europa bewegten: nach Deutschland. Als ich das anfangs in den Camps und Containern hörte, habe ich das nicht immer gleich verstanden. Ich fragte oft zweimal: Wo wollt ihr hin? Manche antworteten «Almaan», andere sagten überzeugt «Dschermäny». Nicht Großbritannien, Kanada oder USA. Der Magnet ist schwarz-rot-gold. Wir hier in Deutschland empfinden dieses Land als gar nicht so spannend, geschweige denn anziehend. Wir beschweren uns gern über das überlastete Gesundheitssystem, dreckige Schultoiletten oder vermeintlich radikale Demonstrierende. Auf der Weltkarte allerdings strahlt dieses Land. Denn in deutschen Krankenhäusern wird jeder behandelt, egal wie wenig Geld er hat, für Schulunterricht muss man nicht bezahlen, und wir genießen das Privileg, laut demonstrierend unsere Meinung sagen zu dürfen. Sogar mit Polizeischutz. Deutschland und der deutsche Pass haben bei Schutzsuchenden einen guten Ruf, besonders seit 2015. Natürlich freuen sich nicht alle hierzulande über die, die da anklopfen. Es gibt Sorgen vor Überfremdung, und die Erfahrungen von Überlastung sind real, die Bereitschaft, diesen Menschen zu helfen, aber auch. Wenn man verstehen will, warum sich ein Gesicht auf der Balkanroute augenblicklich aufhellt, sobald das Wort «Dschermäny» fällt, und wie sich Fluchtströme und «Grenzmanagement» in Richtung Deutschland und EU in den vergangenen Jahren entwickelt haben, führt der Weg mitten durch die Leben derer, die da flüchten, quer durch ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste. Auch bei unserer Berichterstattung für WDRforyou, den WDR und die ARD sind wir ihnen immer wieder begegnet.

Dies ist der Versuch, die Geschichten von fünf Menschen zu erzählen, die sich mit einem Ziel auf den Weg gemacht haben: Deutschland. Allesamt wahr bis ins Detail. Ich habe diese Menschen teils jahrelang begleitet, habe die Akten studiert. Ihre Leben sind – wie bei jedem, wenn man genauer hinschaut – widersprüchlich, manchmal heldenhaft und dann wieder gänzlich crazy. Um so genau wie möglich beschreiben zu können, was sie erlebt haben – auch sehr Persönliches, Privates, Peinliches –, und um sie zu schützen, habe ich die Namen verändert und manchmal Orte bewusst ausgelassen. Soweit es für das Verständnis nötig ist, erkläre ich politische und rechtliche Zusammenhänge. Wie funktionieren die Dublin-Regeln, wie lief der EU-Türkei-Deal, was ist die Überstellungsfrist oder ein «Game» – das wird zur Einordnung der Geschichten skizziert. Fünf Menschen auf fünf verschiedenen Wegen Richtung Deutschland. So viel kann ich verraten: Drei werden hier ankommen. Zwei nicht.

Ich habe diese fünf Menschen, um die es in diesem Buch vorrangig geht, unterschiedlich lange und unterschiedlich nah erlebt. Melika zum Beispiel lernte ich gleich am zweiten Tag nach ihrer Ankunft im Lager Moria kennen, war bis kurz vor der Abreise in ihrer Nähe und traf sie dann in ihrer neuen Heimat wieder. Ich habe die Chatverläufe mit allen fünf aufbewahrt und mich dann mit ihnen einzeln öfter getroffen und sie gebeten, mir noch einmal alles in Ruhe zu erzählen. Sagt sich so leicht, denn das war zum Teil sehr aufwühlend. Safi war danach tagelang durcheinander. Ich bekam Zweifel, ob es richtig war, ihnen so nahezutreten. Sie haben dann weiter mit mir gesprochen. Einmal, weil ein Band zwischen uns gewachsen ist, aber auch, weil sie vielleicht einen Sinn darin sehen zu erzählen, was sie erleben mussten, um nach Deutschland zu gelangen.

Ich bemühe mich, all das möglichst wenig moralinsauer zu erzählen. Auch so ein hehrer Vorsatz, denn man ist ja mit einem gewissen Stolz auf europäische Werte aufgewachsen. Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Humanität. Einiges, was diese fünf Menschen auf dem Weg hierher erlebt haben, hat nicht im Entferntesten etwas mit diesen Werten zu tun, könnte aber immer mehr zu einer neuen europäischen Wirklichkeit werden. Vieles, was die Menschen erzählen und ich selbst erlebt habe, lässt einen hilflos zurück. Manchmal fragte ich mich: Schreibst du dieses Buch vielleicht, um die Hilflosigkeit, die du angesichts dieser Erlebnisse empfindest, an das Papier weiterzugeben? Jein. Mein Motiv ist vor allem, andere an dem teilhaben zu lassen, was Menschen erleben müssen, ehe sie bei uns Pakete vor die Haustür legen oder den Döner im Schnellimbiss zubereiten dürfen. Und: Wie hart, ungesund und gefährlich sollen die Wege nach Deutschland sein, ehe man dann hier ein neues Leben beginnen darf?

Einen konstruktiven Blick nach vorne werfe ich am Ende. Die Fragen, wer künftig Schutz erhalten wird, wie man in die EU gelangen soll und wo man sich positive Beispiele abgucken kann, habe ich vier Fachleuten gestellt – und jenen fünf Menschen, die ich begleitet und porträtiert habe. Es ist der Versuch, nützliche Gedanken zu formulieren bei diesem Thema, das so oft eher Hoffnungslosigkeit ausstrahlt.

Anmerkung zum Gendern

Ich möchte gerne eine gerechte Sprache verwenden. Wenn es um Zuschreibungen von Gruppen geht, gendere ich in der Regel. Bei Interviews und Auszügen aus Gesprächen oder Nachrichten gebe ich den Originalton wieder, und wenn im Englischen oder Persischen nicht gegendert wird, lasse ich es in der deutschen Übersetzung auch.

Safi versucht es zu Fuß über die Balkanroute

Mit Uhrzeiten konnte er nie so richtig was anfangen. Jetzt war es anders. Safi hörte genau zu, als der Schlepper seine Gruppe motivierte und antrieb. «Bis zur türkischen Grenze ist es nicht mehr weit. Es sind nur zwei Stunden!» Er würde rasch verstehen, dass das mit den zwei Stunden glatt gelogen war. Genauso gut hätte der Schlepper behaupten können, diese karge lebensgefährliche Steinwüste, die sie gerade zu durchqueren versuchten, sei eigentlich eine Blumenwiese. Als wäre es nur ein kleiner Bergspaziergang. Dabei würden sie über schroffe Felsen balancieren, sich vor der türkischen Polizei verstecken, gefährlichen Tieren begegnen.

«Nur noch kurz den Berg hoch und dann seid ihr da. Unten steht ein Auto, das fährt euch dann nach Istanbul.» Vermutlich hatten alle in der Gruppe jetzt dieses Heilsversprechen im Kopf, für das sie bezahlt und auf das sie Wochen gewartet und gehofft hatten. Safi war allein unterwegs und trug nur eine kleine Reisetasche. Die hatte er sich kurz vor dem Abschied von einem Freund geliehen, weil er keine besaß.

Statt sich um sich selbst Sorgen zu machen, taten ihm die anderen in seiner Gruppe leid. Vor allem die irakische Familie, die gleich hinter ihm lief. Lief ist natürlich übertrieben, denn man musste auf jeden Schritt genau achtgeben. Die Iraker hatten ein zwei Wochen altes Baby dabei. Und Safi sah, dass die Mutter nicht mal Schuhe trug, hier in dieser Landschaft, wo kein Westler ohne Bergsteigerschuhe einen Schritt machen würde. Wie sollte sie da auch noch ihre Tasche tragen? Also warf Safi die geliehene Tasche mit dem letzten, was er besaß, einfach weg, um das Gepäck der irakischen Mutter zu tragen. Schon im Iran hatte er gehört, dass nicht alle am Ziel angekommen würden. Der Bruder eines Freundes war unterwegs einfach verschwunden.

Von Weitem konnte er den türkischen Grenzzaun erahnen. Sie wurden von einem rahbalad, einem «Wegkenner», begleitet, eine Art Bergführer, den der Schlepper mitgeschickt hatte und der den Weg kannte. Seinen Befehlen folgten sie, auch als er plötzlich rief: «Bodoid – Lauft!» Und Safi lief.

Jeder in der Gruppe hatte alles auf diese eine Karte gesetzt. Nur eine ungenaue Bewegung, er würde stürzen und der türkischen Polizei in die Hände fallen, sie würden ihn in den Iran zurückbringen und dann nach Afghanistan abschieben. Game over! Er war ganz auf sich konzentriert. Er rannte jetzt, der Rhythmus seiner Beine wurde schneller, Blick auf die Steine, Blick auf die eigenen Füße. Auf der Schulter die fremde Tasche der Irakerin. Bloß nicht fallen. Die Hände schwangen abwechselnd nach hinten. Er rannte in seine Zukunft. Safi war wie im Tunnel, ganz vorne, ganz allein – das dachte er zumindest.

Ein Mädchen war dicht hinter ihm gelaufen und hatte plötzlich nach seiner Hand gegriffen. «Und dann hörte ich, wie das Mädchen, das gerade einfach meine Hand genommen hatte, zu mir sagte: ‹Kannst du auf mich aufpassen?› Niemand war in unserer Nähe. Ihre Eltern konnten uns nicht sehen. Ich hatte das Mädchen schon in den Tagen zuvor registriert. Ich war wie elektrisiert … Geh ich hier spazieren, oder was?» Jetzt trug er die Tasche der irakischen Mutter auf der Schulter und mit seiner Hand hielt er die des Mädchens. Dass ausgerechnet jetzt, in dieser Lebensgefahr, ausgerechnet hier, eine junge Frau, neunzehn Jahre alt, ausgerechnet seine Hand greifen würde … In türkischen Filmen passiert das, aber nicht in der Wirklichkeit. Sie rannten, und Safi traute sich kaum, sie anzusehen.

Sie erreichten das Tal auf der türkischen Seite. Das Wichtigste hatte er: «An der Grenze habe ich ihre Telefonnummer bekommen. Wenn ich irgendwohin gehen würde, könnte ich ihr schreiben.» Tatsächlich stand dort ein Transporter, wie vom Schlepper angekündigt. Etwa fünfzehn Personen passten hinein. Die Irakerin hatte es barfuß und mit dem Neugeborenen geschafft. Fünf Menschen aus Pakistan sah er, etliche andere – und das Mädchen! Sie und ihre Familie: den Vater, ihre Geschwister, ihre keuchende Mutter. Jetzt war Safi in dem Land, von dem er glaubte, es lohne sich, viel Geld zu zahlen, sich über die Berge hineinzuschleichen und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen, um hier zu leben.

Fast einen Tag lang fuhren sie in dem Kleinbus vom Osten der Türkei Richtung Westen. Einmal machten sie Pause, um die Handys aufzuladen, ein anderes Mal mussten sie anhalten, denn sie hatten einen Platten. Jeder Stopp war Safi äußerst willkommen, dann konnte er das Mädchen heimlich ansehen. Er war einundzwanzig. Noch nie hatte er ein Mädchen berührt, geschweige denn ihre Hand gehalten. Möglichst unauffällig schaute er zu ihr hinüber, damit die Eltern seine Blicke nicht mitbekamen, und hoffte heimlich, er würde bis Istanbul in der Nähe des Mädchens sitzen. Die Familie des Mädchens war nicht ganz arm. Safi hatte nur genug Geld, um in die Türkei zu gelangen. Sie waren viele, er war alleine. Sie wussten alles über Deutschland, weil sie dort Familie hatten, er wusste gerade mal, dass er in die Türkei wollte.

«Wir fuhren lange. Im Wagen schliefen alle. Zwischen uns saß ihre Schwester, sie schnarchte, so tief schlief sie. Wir haben dann heimlich miteinander geredet. Sie hat mir Mut zugesprochen: ‹Sei stark! Wir kommen an.› Dabei hatte sie selber sehr viel Angst. Sie hatte ja so was noch nie erlebt: dass du jetzt in einem fremden Land bist, die Sprache nicht verstehst. Und ich auch nicht. Für uns Afghanen im Iran war die Türkei immer ganz toll – so groß.

Sie hat mich gefragt: ‹Wo willst du hin nach Europa?›

Ich kannte nur ein paar Namen von Ländern. ‹Ich will hierbleiben.›

‹Bleib nicht hier! Bleib nicht in der Türkei!›, bat sie mich.»

Dann ging es ganz schnell. Safi musste aus dem Wagen aussteigen. Der Schlepper wollte mehr Geld, was er nicht hatte. Das Mädchen blieb mit der Familie drinnen. Sie verabschiedeten sich natürlich nicht voneinander, dann hätten die Eltern Verdacht geschöpft. Er hatte ja ihre Telefonnummer. Und diesen Satz im Kopf: Bleib nicht in der Türkei!

Klingt alles nach einer ausgedachten Geschichte? Was so eine Journalistin sich am Schreibtisch zusammendichtet – der Bergdoktor auf Persisch. Nein, das ist das Leben von Safiollah, kurz Safi. Ein eher traditioneller afghanischer Männername, im Deutschen wäre er vielleicht vergleichbar mit Vornamen wie Gotthilf, Gottlob, Friedbert oder Helfrich. Würde man hier seinen echten Namen lesen, dann könnte ich das, was er erlebt hat, nur grob andeuten. Scham, Schutz, ein anderer Name ist ihm lieber. «Es gibt Rafiollah, Shafiollah. Nimm doch Safiollah», schlägt er vor. Deshalb heißt er hier so. Und es passt auch, denn saf bedeutet auf Deutsch «rein, aufrichtig».

Ich kenne Safiollah seit fünf Jahren, bin ihm auf seinem Weg in die Europäische Union begegnet, wir sind seitdem im Kontakt. Ich habe seinen Weg beobachtet, habe ihn oft nach seinem Leben in Afghanistan und im Iran gefragt, habe gemerkt, dass er eher untertreibt, nie prahlt, habe gesehen, wie seine Bilder auf Instagram sich veränderten, wie er dort Tausende Follower sammelte und welches Leben er außerhalb des Handys lebt. Vermutlich hat er so viele Follower, weil er attraktiv ist und sich vor der Kamera bewegen kann. Fast wie ein Model. Foto in Lederjacke, Foto mit weißem Hemd, Foto mit gestylten Haaren. Das Outfit immer farblich abgestimmt. Er blickt in die Ferne oder konzentriert auf den Boden, mit so einem Cowboyblick. Sieht immer gut aus. Selbst als er auf der Straße lebte, postete er ein Foto, das aussieht wie das Cover von so einer Sonderedition «Grillen und BBQ» eines Männermagazins. Unter den Bildern stehen Sätze wie: «Mein Leben, meine Regeln.» Auf jeden Fall, denkt man, er ist einer, der sich im Sportwagen zum Beat von persischem Pop in die Kurve legt. So sieht sein Leben auf Instagram aus.

Außerhalb des Netzes hat er nicht überdurchschnittlich viel Selbstbewusstsein, im Auto würde man ihn eher auf dem Beifahrersitz sehen. Aber er kommt mit jedem schnell ins Gespräch, auf eine unaufdringliche Art. Als ich einmal einem deutschen Studenten, aufgeschlossen und interessiert, von Safis Leben erzählte, mochte er nicht glauben, dass ein Mensch Europa so anders erleben kann als er selbst, der mit Interrail über die Grenzen hinweg reisen darf, wohin er möchte. Als ich ihm dann Safis gestylte Fotos auf Instagram zeigte, passte das noch weniger zu dem, was ich ihm über dessen Leben erzählt hatte. Ich erkannte mich in den Worten des aufgeschlossenen und interessierten Studenten wieder: Die Vorstellung, dass man am Äußeren erkennt, was jemand wie Safi durchmacht, ehe er dann von ganz unten in die EU hineinkriecht, stimmt nicht. Uns ist diese andere Wirklichkeit so fremd, also stellt man sich Menschen, die sie erleben, auch entsprechend fremd vor, elendig und irgendwie abgeranzt. Auf jeden Fall nicht stylish. Aber das Gegenteil ist der Fall, Safi achtet darauf, in der Bahn, auf der Straße, im Park so auszusehen wie der coole und normale Typ von nebenan. Das war schon im Iran sein Weg, um durchzukommen.

Afghanen im Iran

Als Safi ein kleines Kind war, beschlossen seine Eltern, Afghanistan zu verlassen und in den Iran zu ziehen. «Wir gingen in den Süden des Iran. Dort brauchst du keine Jacke. Da sind 45 Grad normal. Erst hatten wir eine Lehmhütte. Es hat reingeregnet. Meine Eltern legten einen Teppich auf den Boden. Wir hatten keinen Strom, den haben wir selber gelegt.» So hatte ihr Leben im Iran begonnen. Ich stellte so viele Fragen: Warum gingen deine Eltern in den Iran, welche Pläne hatte dein Vater, welche Ausbildung, wovon wollten sie leben? (Hätte noch gefehlt, dass ich nach einer Hausratsversicherung fragte.) Darauf gab es keine Antworten, so dachte Safis Familie nicht. «In Afghanistan dachten damals alle, der Iran sei ein Paradies. Wir haben die gleiche Religion, die gleiche Sprache, die gleiche Kultur.» Also brachen sie auf ins Paradies und begannen ihr neues Leben. Ohne Plan, ohne alles. Der Vater reparierte Fahrräder. Die Mutter brachte ein weiteres Kind zur Welt.

«Ich hab als Kind als Maurer auf dem Bau gearbeitet und auf der Straße Brot verkauft. Meine Familie brauchte dringend dieses Geld. Es reichte gerade zum Essen. Mehr nicht.» Als Safi acht oder neun war, konnte er für ein Jahr die Schule besuchen.

Safi ist tadschikischer Afghane. «Das erkennt man an meinem Aussehen und an meinem Dialekt. Für die Iraner ist das wichtig, denn wenn du Tadschike bist, bist du Sunnit, nicht Schiit wie die meisten. Als Afghane hast du immer Angst, abgeschoben zu werden. Sie holen dich plötzlich bei der Arbeit oder beim Einkaufen ab. Die Polizei schaut dich an, sie sehen deine tadschikischen Augen und die Art, wie du die Kleidung trägst, und dann nehmen sie dich mit.» Woran erkennt die Polizei das? Tragen Afghanen ihre traditionelle Kleidung? «Guck mal», erklärt mir Safi und findet leicht anschauliche Beispiele: «Wenn man im Iran ein T-Shirt aus der Hose trägt, weil es cooler aussieht, dann kannst du sicher sein, dass ein Afghane das gleiche T-Shirt trägt, aber es tief in die Hose stopft und dann total uncool aussieht. Und jeder erkennt: Afghane! Die Polizei eben auch.» Deshalb hast du immer so auf deine Kleidung geachtet? «Ja. Immer sehr genau. So bin ich durchgekommen. Ich hatte immer Angst, abgeschoben zu werden. Und meine größte Sorge war, dass meine Mutter ohne Sarparast (‹Vormund›) sein würde.»

Safi verbrachte viele Jahre seiner Kindheit im Süden des Iran. Für kurze Zeit ging die Familie zurück nach Afghanistan, aber hauptsächlich wuchs er im Iran auf.

Safis Eltern hatten dieselbe Hoffnung, die auch Millionen anderer Afghaninnen und Afghanen hatten. Viele der Menschen, die später in Moria landeten oder in Deutschland um Asyl baten, kamen und kommen nicht direkt aus Afghanistan, sondern hatten bereits versucht, im Iran zu überleben. Iran und Pakistan sind die beiden Nachbarländer, in denen sich die meisten afghanischen Flüchtlinge weltweit aufhalten. Willkommen waren sie nur zu Beginn.

Ihre Flucht in den Iran begann mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan Ende 1979. Damals flohen Millionen in die beiden Nachbarländer Iran und Pakistan. Im selben Jahr war im Iran die islamische Revolution ausgebrochen – solange es die Islamische Republik gibt, solange gibt es auch die Flucht von Afghanen in den Iran. Mit jedem weiteren Kapitel in der Kriegsgeschichte von Afghanistan, die nun schon weit über vierzig Jahre andauert, suchten Hunderttausende Schutz im Iran. Das statistische Zentrum der iranischen Regierung machte bis 2020 fünf Fluchtbewegungen aus: Die erste nach dem Einmarsch der Sowjets 1979, die nächste dann mit dem Beginn des Bürgerkriegs (1989), die dritte mit dem Erstarken der Taliban Mitte der Neunzigerjahre, die vierte nach dem Einmarsch der US-Truppen 2001, die fünfte nach dem Erstarken des IS im Land (2015 bis 2017). Es gibt mindestens eine weitere: 2021 mit der Machtübernahme der Taliban,[1] bei der offiziell mindestens eine halbe Million Menschen gekommen sein soll. Safis Familie suchte zweimal im Iran Sicherheit und ein neues Leben. Das erste Mal, als die Taliban erstarkten, Ende der Neunziger, und das zweite Mal, als der IS mächtiger wurde, es muss um 2015 gewesen sein.

An dieser Stelle ist es gut, einen Blick auf die ethnische Landkarte Afghanistans zu werfen, nur damit man mal die Namen der vier größten Gruppen gehört hat. Safi gehört zu den Tadschiken. In Afghanistan sind die Paschtunen und die Tadschiken zahlenmäßig am stärksten vertreten, auch wenn man sich hier auf keine Volkszählung stützen kann und das nur Schätzungen sind. Die Taliban sind vor allem Paschtunen (32 bis 42 Prozent) und sprechen Paschtu, die zweitgrößte Gruppe bilden die Tadschiken (etwa 27 Prozent). Dann folgen die Hazara, das Auswärtige Amt schätzt ihren Anteil in der afghanischen Gesamtbevölkerung auf 9 bis 20 Prozent. Und schließlich machen die Usbeken mit ihrer usbekischen Sprache einen Anteil von 9 Prozent aus.[2] Offizielle Landessprachen in Afghanistan sind Paschtu und Dari.

Nach Beginn der afghanischen Fluchtbewegung in den Iran 1979 bis zur Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 waren es vor allem afghanische Hazara und auch Tadschiken, die in den Iran migrierten. 2022 sollen Hazara etwa 40 Prozent der Gruppe ausgemacht haben, Tadschiken 36 Prozent.[3] Paschtunen flüchten eher nach Pakistan, das ihnen sprachlich, ethnisch und kulturell näher ist. Hazara sind mehrheitlich Schiiten und hoffen im Iran auf den Schutz der schiitischen Brüder und Schwestern. Tadschiken gehören zu den Sunniten. Entscheidend für beide ist sicherlich die gemeinsame Sprache: Hazara und Tadschiken sprechen Dari, was sich vom iranischen Farsi wie ein Dialekt vor allem im Wortschatz unterscheidet, aber linguistisch gesehen eine Sprache ist. Man könnte das Farsi der Iraner und das Dari der Afghanen mit Hochdeutsch und Schweizerdeutsch vergleichen. Safi spricht wie ein Iraner, er hat sich sprachlich angepasst, um nicht aufzufallen. (Wenn ich dagegen den Mund aufmache, kommt nur iranisches Farsi heraus – mit deutschem Akzent.)

Anfangs zeigte sich die junge Islamische Republik gegenüber den damals etwa 2,5 Millionen geflüchteten Menschen offen hilfsbereit. Doch der politische Kurs veränderte sich immer wieder, konstant ist allerdings ab den Neunzigerjahren die Ausgrenzung und Diskriminierung von Millionen von Afghan:innen im Iran geblieben. Ganz gleich, wie lange sie schon im Land leben oder ob sie dort sogar geboren sind.[4] Mein Eindruck bleibt, dass der Iran keine neue Heimat für sie werden soll.

Laut UNHCR und iranischer Regierung leben mittlerweile etwa 3,5 Millionen Menschen aus Afghanistan im Iran.[5] Davon sind circa 780.000 registrierte und circa 2,1 Millionen nicht registrierte Flüchtlinge, circa 600.000 haben einen afghanischen Pass.[6] Der Staat versorgt den UNHCR mit Daten, aber wie glaubhaft diese sind, ist nicht zu beantworten. Auf jeden Fall ist der Teil der Afghan:innen, die sich legal im Land aufhalten, deutlich geringer als jener der illegalen. Ein zentrales Registrierungssystem gibt es nicht. Würden alle Afghan:innen registriert, die sich im Iran aufhalten, dann wäre der Iran nach der Türkei das zweitgrößte aufnehmende Land in der Welt.[7]

Legal dürfen afghanische Staatsbürger nur mit Visum in den Iran einreisen.[8] Wie in allen Ländern kontrolliert der Staat die Migration und mithin auch die Registrierung. Unserem BAMF, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, entspricht das iranische BAFIA,[9] es registriert und entscheidet über den Aufenthalt. Jedes Jahr muss das entsprechende Ausweisdokument (Amayesh) verlängert werden, es beinhaltet eine vorübergehende iranische Aufenthaltsgenehmigung, zeigt, wo im Land man sich aufhalten darf und wo nicht.[10]

Safi war im Iran nicht registriert und sein afghanischer Pass war abgelaufen. Damit hatte die Familie weder Zugang zum Gesundheitssystem, noch konnte er eine Schule besuchen, um lesen und schreiben zu lernen.[11] Seine Eltern konnten kein Bankkonto eröffnen, keinen Führerschein machen, bei einem Unfall existierten sie nicht und vor Gericht folglich auch nicht. Und selbst eine SIM-Karte für das Handy konnte Safi sich nicht selbst kaufen. Er brauchte immer einen iranischen Strohmann, der sich beim Kauf ausweisen konnte. Safi war unsichtbar.

«Wenn ein Iraner 5 Euro für die Visite zahlt, dann zahlen die Afghanen 20, nur um den Arzt überhaupt zu sehen. Kein Afghane hat eine Bankkarte oder SIM-Karte. Du musst einen Iraner fragen, bitte, bitte, kannst du mir die SIM-Karte für 20 Euro kaufen, ich zahl dir auch 30. Du brauchst also iranische Freunde. Er kauft dir das dann. Ist ja für ihn kein Thema. Er fühlt sich dann als Held, dass er für einen Afghanen eine SIM-Karte gekauft hat. Stell dir die Gesellschaft da so vor: Es gibt die erste Klasse und die Mittelklasse, sie haben ein normales Leben. Dann kommen die Bettler und dann die Afghanen. Selbst wenn du Geld verdienst, kannst du kein Auto, keine Wohnung, kein Land kaufen. Immer auf einen anderen Namen.»

Wurdest du mit der Zeit empfindlicher?

«In Deutschland hast du eine AOK, und jeder wird gleichbehandelt. Im Iran passt du ständig auf, dass du nicht reingelegt wirst. Meine Mutter musste öfter ins Krankenhaus. Einmal hatte sie richtig starke Schmerzen. Der Arzt sagte: ‹Hier ist alles belegt. Nimm deine Mutter wieder mit.› Aber meine Mutter hatte Schmerzen. Die Krankenschwester hat sie dann aufgenommen. Und wie ein Hund musst du ihr danken. Wir haben immer ganz wenig Wasser verbraucht und wenig getrunken, um Geld zu sparen. Die anderen haben jeden Tag die Spülmaschine benutzt. Und trotzdem haben wir am Ende des Monats mehr bezahlt. Wenn ein Flüchtling hier Blut braucht, kann dann ein Deutscher spenden?» Er meint die Frage ernst.

Ob das geht? Ich nicke. Ja, klar!

«Im Iran geht das nicht. Ein Afghane kann einem Iraner zum Beispiel ein Organ geben. Aber ein Iraner kann seine Niere nicht an einen Afghanen verkaufen.»

Hätten die Kinder der afghanischen Flüchtlinge eine Zukunft, so war oft mein Eindruck, würden viele Familien im Iran bleiben. Deshalb hat das Land, wohl auch auf Druck der EU oder motiviert durch Geldversprechen, zwei Gesetze eingeführt, wonach ausländische Kinder, auch wenn sie nicht registriert sind (seit 2015) und nicht zahlen müssen (seit 2016), Schulen besuchen dürfen.[12]

Der UNHCR feiert das regelrecht, dieses «inklusive Schulsystem» sei «eines der fortschrittlichsten in der Welt». Kleiner Blick auf die Zahlen: 2019 durften 480.000 Kinder in die Schule gehen, davon waren 130.000 nicht registriert.[13] Hält man sich jedoch die Gesamtzahl von Afghan:innen vor Augen, die im Land sind, wird klar, es muss eine große Anzahl von Kindern geben, die nicht zur Schule gehen dürfen. Geld für die Beschulung von afghanischen Kindern kam übrigens auch von der EU mit einer Zusage von 12,5 Millionen Euro pro Jahr für Schulen und Gesundheitssystem. Das Motiv? «Es ist besser, wenn man nahe an seinem Zuhause ist und dann heimkehren kann, wenn die Lage besser wird», erklärte der damalige EU-Kommissar Stylianides.[14]

Die Annahme, dass die etwa 800.000 registrierten afghanischen Flüchtlinge im Iran eine Zukunft haben und integriert werden sollen, ist – so viel ist klar – nicht realitätsnah. So etwas wie «Integration» ist ein Gedanke aus einem anderen Universum. Nicht nur, dass die Aufenthaltsgenehmigungen jährlich verlängert werden müssen (oder es eben auch nicht werden). Die Menschen stehen immer auf der Kippe. Während der Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 waren ein paar wenige afghanische Jugendliche unter den Opfern. Viele hielten sich ängstlich zurück. Denn wie schon vor den Protesten, Streiks und revolutionären Entwicklungen drohte ihnen natürlich ständig die Abschiebung.[15] Das gilt auch für Afghan:innen, die schon in der dritten oder vierten Generation im Iran leben. Iranische Medien berichten gerne, wie großzügig afghanische Kinder integriert werden. Und das wiederholen Iraner dann auch in Deutschland, wenn das Gespräch auf das Thema kommt. Doch dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes, der nicht für Übertreibungen bekannt ist, entnimmt man die nüchterne Einschätzung: «Weitere Schritte zur Legalisierung (von Afghan:innen, I. S.) sind nicht zu erkennen.»[16]

Und dann gibt es da eine Lösung, um legal im Land bleiben zu können, die strahlt wie ein Heilsversprechen. Der Iran-Jackpot sozusagen. Safis Pass war abgelaufen, bei der afghanischen Botschaft hatten sie um Hilfe gebeten, damit die kranke Mutter Zugang zum Gesundheitssystem haben könnte (für das Iraner übrigens auch zahlen müssen). «Dieser Nachbar sprach mich an. Er war Iraner. Ich sollte mich doch bei den Revolutionsgarden melden und nach Syrien gehen, nur ein wenig hinter der Front helfen, für sechs Monate oder ein Jahr, und dann bekäme ich einen Aufenthalt, und meine kranke Mutter würde medizinische Hilfe bekommen und sogar Geld.» Und hast du das gemacht? «Ich bin ja nicht blöd. Ich hatte mitgekriegt, dass die, die gingen, zum Teil nicht mehr heimkehrten. Oder gar keinen Aufenthalt oder einen iranischen Pass bekamen. Ich wollte nicht in Syrien kämpfen.»

Der Iran nutzte die Not der Afghanen seit 2013 gezielt aus, indem er sogar eine eigene Brigade für Kampfeinsätze in Syrien schuf: die Fatemiyoun-Brigade. Aleppo, Idlib, Daraa. You name it. Die afghanischen Flüchtlinge kämpften für den Iran und wurden in harte Kampfeinsätze geschickt. In der Hoffnung, sich und ihrer Familie so eine Bleibeperspektive im Iran zu erkämpfen. Diese Kämpfer sollen – neben dem russischen Militär – an militärischen Siegen für Assad maßgeblich beteiligt gewesen sein. Über fünfzigtausend sollen allein in Syrien gekämpft haben, darunter vermutlich auch Minderjährige. Mehr als zweitausend wurden schätzungsweise in Syrien getötet, knapp achttausend verwundet.[17] Im Irak und im Jemen sollen auch afghanische Kämpfer eingesetzt werden, so dass andere Schätzungen auf fünftausend gefallene Männer kommen. Als Entlohnung sollen sie bis zu 1500 Dollar monatlich erhalten haben.[18] Die Fatemiyoun-Brigade ist das Integrationsangebot des Iran an männliche afghanische Schutzsuchende. Die Alternative heißt Abschiebung.

Nach der Machtübernahme der Taliban im Herbst 2021 bewegte sich die sechste Fluchtwelle aus Afghanistan auf die iranische Grenze zu. Im Westen sprach man von einer drohenden Hungerkatastrophe, Eltern verkauften in der Not ihre Kinder. Vier- bis fünftausend Menschen kamen am Tag. Wie viele wurden täglich abgeschoben? Drei- bis viertausend Menschen![19] Der Iran hatte in dieser Zeit genug eigene Probleme, Corona, Sanktionen. Das Land machte die Grenzen dicht. Natürlich ist die Grenze zu lang, um sie gänzlich zu kontrollieren und abzuriegeln.[20]

Vieles geschah in Safis Leben einfach so, ohne Ankündigung oder Erklärung. Ein «Warum» gab es für Safi oft nicht. Dort, wo sie im Iran lebten, mussten sie zehn Minuten bis zur Toilette laufen, die Eltern hatten es auch nach den vielen Jahren nicht geschafft, der Familie ein besseres Leben aufzubauen. Eines Tages entschied sein Vater, dass sie nach Afghanistan zurückkehren würden. Da war er vielleicht zwölf Jahre alt. «Wir sind zurückgegangen, weil wir dachten, Afghanistan sei besser. Wir haben alles Geld, was wir hatten, gesammelt und sind unvorbereitet zurück. Mein Vater sagte zu uns: ‹Ich muss ja nur eine Arbeit finden.› Meine Eltern waren beide Analphabeten. Und dann zogen wir zur Grenze. Mein Vater dachte, es würde alles noch so sein wie vorher.»

In Afghanistan zogen sie bei Familienangehörigen ein. Der Vater versuchte sein Glück als Goldsucher. Auch Safi siebte im Flussbett. Oft lief er durch die Straßen und hatte Hunger. Man sah, dass er fremd war, er war anders gekleidet, hatte einen iranischen Akzent und kannte sich offenbar nicht aus. Da wurden ältere Männer auf ihn aufmerksam, sie warfen ein Auge auf ihn.

«Ein Verwandter sagte zu mir: ‹Ihr müsst gehen.› In der Familie hatte mein Vater Streit mit Verwandten.» Ich höre, was Safi sagt, aber verstehe es nicht: Wie, der sagt, ihr müsst gehen und dann müsst ihr plötzlich Afghanistan verlassen? Was war denn da los? «Es gab Streit mit meinem Vater um Land. Der Verwandte hatte mich bedroht. Wir hatten keine Wahl. Meine Mutter sagte dann zu meinem Vater, wir gehen wieder in den Iran. Der hat ihr gesagt, sie soll sich nicht einmischen. Sie sei nur eine Frau. ‹Wir sind schon einmal gegangen›, sagte mein Vater zu ihr, ‹und das hat nichts gebracht›. Und dann gingen wir ohne alles in den Iran.»

Es wurde nichts geplant. So wie sie nach Afghanistan zurückgekehrt waren – unvorbereitet, völlig mittellos –, so verließen sie das Land auch wieder. Aber dieses Mal ohne den Vater. Später würde seine Mutter wenig über seinen Vater sagen, Sätze wie: «Er hat mich nur geschlagen.» Erst da konnte man ahnen, warum die Mutter allein mit ihren beiden Söhnen wieder in den Iran ging.

Zurück im Iran arbeitete Safi auf dem Bau. Stabiler hatte ihn Afghanistan nicht gemacht, er war niedergeschlagen und empfindlicher. Einmal wurde er von einem Auto angefahren. Er wachte im Krankenhaus aus der Bewusstlosigkeit auf. Da hatte man seinen Finger schon benutzt, um mit seinem Fingerabdruck zu bestätigen, dass er dem Fahrer nichts vorzuwerfen hatte. Dabei hatte der ihn angefahren. Bei der Arbeit war es auch schwierig, er bekam seinen Lohn oft nicht. Das passierte vielen illegalen Afghanen. Als er sich zu Wort meldete, landete er im Gefängnis. Afghane eben!

«Wenn du in Afghanistan keine Chance hast, musst du gehen. Sie töten dich sonst mit einem Gewehr. Zack. Im Iran ist es, als würden sie dich als Afghanen ständig mit einem Messer stechen. Das musst du aushalten. Du hast kein Selbstvertrauen, deine Persönlichkeit geht verloren, viele bekommen eine Depression und dann haben sie keine Kraft mehr zurückzukehren, weil das Selbstwertgefühl immer weniger wird. (Er zitiert diese kleine Redewendung:) Az tschahar dar miai, miafti tschare – Du kommst aus dem einen kleinen Loch und fällst in ein noch tieferes.»

Man wartet in Safis Geschichte auf kleine Jugendabenteuer, er war ja gerade erst zwanzig. Auf Frauen, Geheimnisse, witzige Situationen. Sturm und Drang. Man wartet vergeblich. Er arbeitete, ging heim, schlief und arbeitete. So erzählt er es. Und oft bekam er keinen Lohn. «Ich hatte wieder meinen Lohn nicht bekommen. Also ging ich zu dem Mann in die Firma und sagte: ‹Ich möchte meinen Lohn.› Er sah mich, ich stand in seinem Innenhof, und sagte zu mir: ‹Du dreckiger Afghane, setz dich neben den Teppich, du bist dreckig.› Um mich herum waren Jugendliche. ‹Nashin unja, ghali kasif mische! – Setz dich daneben, sonst wird der Teppich schmutzig!› Ich war aber ganz sauber. Sie haben mich alle ausgelacht. Zehn Personen, alle haben mich angeguckt und gelacht. Ich dachte nur: Lieber Gott, bring mich auf der Stelle um. Die Jugendlichen waren genauso alt wie ich. Die anderen durften mit Schuhen auf den Teppich. Ich durfte nicht mal drauf sitzen. Statt 500 Toman hat der Mann mir nur 50 gegeben. An dem Tag habe ich die Schmerztabletten geschluckt. Ich war tagelang durcheinander. Da ist es in mir gekippt. Ich verlor den Respekt vor dem Islam. Ich verfluchte alles, kaufte das erste Mal in meinem Leben Zigaretten.»

Ich frage nach. Der Islam gibt dir keinen Halt? «Mit fünf Jahren haben sie mir beigebracht: Steh auf, faste, wenn du nicht betest, kommst du in die Hölle. Entweder beten oder arbeiten. Ich wurde nicht aufgeklärt, das Mädchen vom Nachbarn war tabu. Aber in der Moschee missbrauchte der Mullah Kinder sexuell.»

Safis Verzweiflung wuchs binnen weniger Tage stark. Viele Afghanen sprachen von der Türkei. Er hörte das immer öfter. «Ich wollte da weg. Je weiter weg, desto besser. Denn ich wusste: Wenn sie mich kriegen, würden sie mich nach Afghanistan bringen.»

Einer kennt einen, der einen kennt, und so kommt man an Infos und Schlepper. Türkei, Europa, das Thema tauchte immer wieder in Gesprächen auf. Safi rief einen Kollegen vom Bau an. Er wusste, dass der sich gut auskannte: «Einer seiner Brüder war an der Grenze umgekommen. Sie hatten sich verlaufen. Die Schlepper hatten ihnen den falschen Weg gezeigt, der Bruder ist in den Bergen erfroren. Zwei Monate später haben sie seine Leiche gefunden. Mein Kollege, der Bruder des Verstorbenen, ist trotzdem los. Wie ich hatte auch er im Iran gelitten, auch kein Geld bekommen. Er war schon in Istanbul, als ich mit ihm telefonierte und er sagte: ‹Es ist sehr gut hier. Wie ein Paradies, komm! Hier kann man gut leben.› Ich hatte zwar Angst. Aber für mich war nichts mehr wichtig. Ich dachte, wenn der eine Arbeit findet, finde ich auch eine. Mir war alles egal. Afghanistan war die Hölle, der Iran war die Hölle. Ich wollte nur weg. Ich dachte: Entweder ich komme an oder ich sterbe. Also bin ich eines Mittags einfach los und hatte nur eine Tasche dabei. Die gehörte mir nicht mal, hatte ich mir von einem Freund geliehen. Hatte eine Hose dabei, einen Pass hatte ich ja nicht, und 3 Millionen Toman (etwa 250 bis 300 Euro, I. S.), die hatte ich zur Seite gelegt und meine Mutter hatte mir geholfen. Kurz vorher hatte ich mich noch mit fünf Schmerztabletten abgeschossen, und als es mir besser ging, war ich fest entschlossen: Ich gehe! Zu meiner Mutter sagte ich: ‹Wenn du willst, dass ich bleibe, dann werde ich entweder drogensüchtig oder ich lande im Knast.› Sein Bruder hatte bereits Drogenprobleme. Da hat sie gesagt: ‹Dann geh! Wir haben kein Geld, probier es in die Türkei und schick uns Geld!› Die Telefonnummer vom Schlepper habe ich immer noch. Ihr hier in Deutschland, ihr kauft ein Ticket bei der Deutschen Bahn. Aber dort rufst du jemanden an und zwei Tage später bringt er dich in die Türkei.»

An einem Platz wurde er eingesammelt von einem Transporter: drinnen keine Sitze, verdunkelte Scheiben, fremde Menschen, die alle gerade eingestiegen waren. «Ich hatte Angst, dass die Polizei uns kriegt. Afghanen dürfen sich ja nicht überall im Land aufhalten. Der Schlepper hat gesagt: ‹Keine Sorge, Bruder. Wir haben sie alle gekauft.› Die Schlepper waren kurdische Iraner, Afghanen, und Belutschen. Jeder Moment ist Stress. Im Auto sitzt du da und betest, dass du irgendwie ankommst. Man liest Koran, Hauptsache irgendwas.»

Die Schlepper brachten Safis Gruppe auf dem Land unter. Fünfzig Personen in zwei Zimmern, mit einer Toilette. Zwei Wochen warteten sie dort. Ganze Familien, Babys, junge Männer wie er, und unter all diesen Menschen, die da zusammenhockten, um in ein neues Leben zu flüchten, hatte er auch ein Mädchen wahrgenommen. Zierlich, klein, sie hatte ihn auch mal angeschaut, aber Safi blickte sofort weg. Wie es sich für einen anständigen, jungen Mann gehört. Jede Nacht sagten die Schlepper ihnen, heute geht es los. Bis sie nach vielen Tagen tatsächlich wieder in so einen Transporter stiegen und der Schlepper sie mit dem Satz verabschiedete: «Bis zur türkischen Grenze ist es nicht mehr weit. Es sind nur zwei Stunden!»

Türkei-Transit

«Ich dachte am Anfang, ich geh in die Türkei. Ich dachte, meine Mutter kommt nach. Ich kann da arbeiten. Ich dachte, ich finde eine türkische Freundin und vielleicht spiele ich in einem türkischen Film mit. Meine Mutter hatte so viele dieser türkischen Filme gesehen. Ich dachte, ich werde Schnee sehen. Und unterwegs habe ich an meine Mutter gedacht. Wenn mir was passiert, dachte ich, würde sie sterben. Das hat mich am Leben gehalten.»

Irgendwo an einer türkischen Landstraße stand er nun mit T-Shirt, Turnschuhen, Handy, etwas Geld in der Hose. Sonst nichts. Vier Tage schlief er am Busbahnhof und war wütend auf den Schlepper. Am Telefon stritt er mit ihm, wie mies es war, ihn einfach im Nirgendwo aus dem Transporter zu werfen. Der Schlepper drohte ihm: Komm du nach Istanbul! Dann wirst du schon sehen!

Er fand die Unterkunft in Istanbul, wo der Schlepper die Menschen unterbrachte und wo er ihm die Meinung sagen wollte. Hier durfte er wie die anderen erst mal bleiben. «Ich war gespannt, was der Schlepper für ein Mann sein würde. Ich kannte ihn ja nur vom Telefon. Ich stellte ihn mir groß und älter vor. Nach kurzer Zeit kam ein junger Typ in den Raum, der hatte gerade mal Bartwuchs und fragte streng: Wer hat mich verflucht? Ich werde ihm das Ohr abschneiden.»

Safi lachte und meldete sich. Er hielt die Drohung «Ohr abschneiden» für einen Scherz. Später erst sah er ein Video, in dem genau dieser junge Schlepper zwei Iranern das Ohr abgeschnitten hatte, weil sie seine Mutter verflucht hatten, und er sah auch, wie er Afghanen an der Decke aufhängte und sie schlug. Weil Safi sich gleich gemeldet und keine Angst gezeigt hatte, ließ der Schlepper ihn in Ruhe. Jetzt war er also in dieser Schlepperherberge in Istanbul gelandet. In einer Etage schliefen die Ledigen, darüber die Familien. Und er war in dem Land, von dem er sich eine Zukunft erträumte. Dass Afghan:innen auch in der Türkei nicht sonderlich willkommen sind, wusste Safi nicht.

Man könnte sogar den Eindruck haben, die Türkei dränge die Afghanen weiter gen Europa. Der UNHCR stellte die Registrierung aller afghanischen Geflüchteten am 10. September 2018 ein.[21] Seitdem hat der Staat diese Aufgabe übernommen. Als erstes fällt mir auf: Die Zahl der Menschen aus Afghanistan, die in der Türkei ankommen, wird nicht kleiner. Dabei ist die Diskrepanz zwischen jenen, die um internationalen Schutz bitten und bleiben wollen, und jenen, die illegal oder nur registriert sind, hoch. Im Jahr 2020 waren es rund 35.000 Menschen, die um Asyl baten, allerdings waren den Behörden über 200.000 Afghanen in der Türkei bekannt.[22] Sind sie alle auf der Durchreise gen EU? Wissen die Menschen vielleicht nicht, wie man um Asyl bittet? Warum stellen so wenige Anträge?

Es sind eine Menge Hürden, die man überwinden muss, um überhaupt Zugang zu finden. Erstens die Registrierung: Afghaninnen und Afghanen dürfen sich nur in bestimmten Städten aufhalten, oft werden sie einfach weggeschickt, es gibt sprachliche Probleme, überall andere Formulare. Zweitens: Sollte eine Registrierung gelingen, ist unklar, ob und wann man einen Interviewtermin bekommt, Zugang zum Gesundheitssystem gibt es nur für ein Jahr und nur wenige NGOs, die helfen.[23] Die Türkei hat ein ein dreigeteiltes System geschaffen: Europäer erhielten Schutz gemäß der Genfer Konvention, Syrer:innen einen vorübergehenden, alle anderen «internationalen» Schutz.[24] Man könnte auch schlicht sagen, dass Menschen aus Syrien etliche Jahre mitgetragen wurden, die anderen am liebsten nicht.

Jemand wie Safi war nun nicht sonderlich willkommen am Bosporus. Die «Bleibeperspektive» beschäftigte ihn nach seiner Ankunft allerdings nicht so sehr wie sein Herzschlag. Denn wen traf er in der «Reisendenunterkunft» des jungen und unberechenbaren Schleppers? Wer sorgte dafür, dass Geld, Gefahr, Zukunft, seine Familie im Iran hinter einem Schleier der Bedeutungslosigkeit verschwanden? Da saß sie! Das Mädchen! Ihre ganze Familie war natürlich da. Im selben Haus!

«Abends saß ich bei der Familie. Ihr Vater erzählte, sein Sohn sei in Deutschland. Er hat da ein Auto. Er hat eine Wohnung. Und das Mädchen sagte zu mir: Komm doch auch nach Europa. Ich zögerte nicht lange und sagte einfach: ‹Ja gut, ich komme auch. Inschallah!› Ich war halt verliebt. Ich wollte da gar nicht weg.» Bis dahin hatte er nie über Deutschland nachgedacht.

Es gab allerdings ein Problem, und das hieß Geld. Wie viel man hat, entscheidet darüber, wie lange man für eine Reise braucht: eine Woche, einen Monat oder sogar ein Jahr. Vom Geld hängt auch ab, ob man läuft, fliegt oder mit dem Boot unterwegs ist. Safi wusste, dass es Europa nicht umsonst gibt. Und er hatte in Istanbul schnell mitbekommen, dass hier zahlreiche «Dienstleister» aktiv waren, die man für den Weg nach Europa brauchte. Er rief seine Tante im Iran an und bat sie um Hilfe. 500 Euro wollte sie ihm schicken. Dann, so nennt er es, «tyrannisierte» er seine Mutter, er wolle nach Europa, sie solle ihm helfen. Und all das, weil das Mädchen ihn angesehen und ihm diese drei Worte zugeflüstert hatte: «Komm nach Europa!»

Während Safi mir das erzählt, stelle ich mit meiner journalistischen Sicht fest, dass ich die persönlichen Gründe, das Herz, die Sehnsucht, bei einer Flucht unterschätzt hatte. Wenn wir unterwegs mit Menschen sprechen, in Bosnien, Serbien, Griechenland, an der Grenze zu Belarus oder in Calais und Paris, erfahren wir in der ersten, eher flüchtigen Begegnung natürlich nur von der oberflächlichsten Schicht ihres Lebens und ihrer Situation. Wir fragen danach und hören, was sie gerade unmittelbar erlebt haben. Wenn man sich wiedersieht, vertieft man das. Aber bis dahin können wir nicht so einfach nach Herzensangelegenheiten fragen. Das würde auch das Leid, das Schutzsuchende und Migranten erlebt haben, und die Fluchtursachen in ihrer Wahrnehmung relativieren. Wir nähern uns all dem ja gerade an.

Dass ich nach dem siebten oder achten persönlichen Gespräch mit Safi von einem Mädchen erfahre, macht seinen Fluchtgrund nicht unbedeutender, es macht das Bild vollständiger. Vielleicht auch einfach menschlicher. Es hat auch mit Vertrauen zu tun und mit der Angst vor Abschiebung. Aber wäre das hier eine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sie würden nur fragen: Leben bedroht oder nicht? Das ist die rechtliche Kategorie, die sie abfragen müssen. Kann der Fall sein. Oft ist es eine Mischung von Ereignissen, von Beweggründen, die dann dazu führen, dass jemand Afghanistan und/oder den Iran hinter sich lässt. Ein Motivbündel.

Anders zu Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine. Am 24. Februar 2022 griff das russische Militär an, der Luftraum wurde geschlossen, wenige Stunden später kamen die ersten Menschen mit Rollkoffern über die ukrainisch-polnische Grenze. Das konnten sie, weil die Grenze nach Polen geöffnet war und sie in der EU sofort Schutz fanden. In Afghanistan ist die Lage oft so, dass man weglaufen sollte, aber man nicht in andere Länder hineinkommt, schon gar nicht ohne Visa. Die sind, gelinde gesagt, schwer zu bekommen. Nein, es geht schlicht nicht. Dann wird es unübersichtlich, und es entstehen so verworrene Biografien und Wege wie bei Safi.

Die Beweggründe, die Menschen auf die Balkanroute – der nähern wir uns mit großen Schritten – treiben, sind sehr verschieden. Safis Magnet, der ihn immer weiter gen Deutschland zog, saß jetzt in seiner Nähe und zwinkerte ihm zu. Nun musste er nur irgendwie an genug Geld kommen.

Wie man die Schlepper bezahlte, um nach Europa zu gelangen, hatte Safi schon verstanden: Man parkt den Betrag, sagen wir 3000 Euro, bei einem Treuhänder, einem saráf (wörtlich: Geldwechsler) in der Türkei oder Griechenland. Dieser «Reisebanker» bekommt ein paar Prozent von dem Betrag, und wenn man erfolgreich angekommen ist, dann bezahlt er den Schlepper mit diesem Geld. Safi hatte so einen «Zwischenfinanzier» in Istanbul gefunden. Da gab es eine Straße mit lauter Geschäften, die allesamt scheinbar nichts anboten, aber trotzdem existierten. Einen Laden hatte Safi ausgewählt, weil auf dem Schild draußen stand «Faisabad Business» – Faisabad war seine Stadt in Afghanistan. Er kannte den Mann zwar nicht, aber wenn der aus Faisabad war, dann musste er der Richtige sein. Im Laden gab es genau zwei Säcke Reis, zwei Flaschen Öl und einen Platz zum Beten. Sonst nichts. Der Besitzer von «Faisabad Business» war tatsächlich ein Afghane und verdiente sein Geld nur mit dem «business» der mosáfer, der «Reisenden». So nennt man Menschen wie Safi auf diesem Abschnitt ihres Weges. Sie nennen sich auch selbst so: Reisende. 1000 Euro musste Safi bei «Faisabad Business» für den Schlepper hinterlegen, damit sollte sein Weg nach Europa geöffnet sein. 1000 Euro bis nach Griechenland. Sollte er ankommen, dann würde der Treuhänder in Istanbul den Schlepper bezahlen. «Traust Du ihm?», fragte der Schlepper, als Safi ihm sagte, bei wem er das Geld deponieren wollte. «Ja, vollkommen.» Dann waren sie sich schon handelseinig.

Ich wundere mich, wie Safi diese «Transfer-Läden» und Orte in einer Megacity wie Istanbul finden konnte. «Das ist doch ganz einfach, Khanoom Schayani.» So spricht er mich höflich auf Persisch an. «Wenn Sie in einer bestimmten Gegend in einem Café auf der Straße sitzen, dann kommen die und bieten ihre Dienste an.» Wo ist denn diese bestimmte Gegend? «Die kennt doch jeder.» Komisch, ich nicht. «Das ist wie ein Reisebüro, sie sagen: ‹Du kannst den Landweg haben, das ist ganz nah, ganz einfach. Geht ganz schnell. Oder du nimmst das Flugzeug. Das ist natürlich sehr angenehm. Und etwas teurer.› Man sitzt da und sie kommen.» Safi hat recht. Als wir zusammen durch eine deutsche Fußgängerzone laufen, wird er von Menschen angesprochen, die ich gar nicht gesehen hätte. Junge Afghanen. Man kennt sich, man hilft sich. «Sehen Sie, Khanoom Schayani, man findet immer jemanden.»

500 Euro hatte er also von seiner Tante im Iran bekommen. Jetzt versuchte er, schnell Geld zu verdienen. Er fand Arbeit, er wusste, wie das geht, hatte er schließlich im Iran oft genug gemacht. Ein Schneider nahm ihn, auf dem Bau konnte er etwas verdienen und bei «Faisabad Business» selbst auch. Doch die Familie des Mädchens konnte jederzeit abfahren, sie hatten das Geld für den weiteren Teil der Route längst beisammen. Safi fühlte sich unter Zeitdruck. Je mehr er hinterherhängen würde, desto deutlicher wäre, dass er nicht viel besaß. Und welcher Vater will schon seine Tochter so jemandem anvertrauen.

Eines Abends kam der Bruder des Mädchens zu Safi, er solle sich sofort fertig machen, es geht los! Nach Griechenland! Safi war dreckig von der Arbeit, er hatte nichts Sauberes zum Anziehen. Da versorgten ihn die anderen «Ledigen», auch der Schlepper selbst, mit Kleidung, damit er mitfahren konnte. Solche Momente scheinen immer schnell und überraschend zu sein: Wieder ein Transporter, wieder etwa fünfzehn Personen, irgendwo öffneten die Schlepper die Autotür und warfen die Menschen raus. Gleiche Rhetorik, gleiche Versprechen, Tausendundeine Nacht.

«Die Schlepper sagten uns: ‹Auf diesem Weg seid ihr in einem Tag in Griechenland. Ungefährlich.› Die ganzen rahbalads (die Reisebegleiter des Schleppers, I. S.) sagten einem nie, was auf dem Weg passieren könnte, dann würde man ja nicht mitgehen. Sie sagten immer: ‹Ganz einfach!› und ‹Keine Polizei!› Sie haben auch nicht gesagt: ‹Da kommt ein Fluss oder ein See.› Nichts. Die legen die Leute rein und sagen: ‹Alles locker.› Unterwegs begreifst du dann, wie gefährlich der Weg ist. Wenn man dann seinen Schlepper anruft und sagt: ‹Das ist aber gefährlich›, dann sagt er: ‹Du kannst ja dein Geld zurückhaben. Der Weg ist halt gefährlich.›»

Sie marschierten los in Richtung griechische Grenze. Mindestens einen Tag lang. Bis zur Erschöpfung. «Irgendwann saßen wir alle auf dem Boden und kratzten uns. Der ganze Körper schien zerstochen und geschwollen. Selbst durch die Hose. Der Wald war voll von Mücken. Wir hingen da fest, weil wir zwei Nächte im Wald auf eine weitere Familie warten mussten. In unserer Gruppe war jetzt ein anderer junger Mann. Im Wald sah ich, wie er nach der Hand des Mädchens griff. Ich war eifersüchtig, da bin ich auf den Typen losgegangen. Meine Uhr habe ich bei dem Streit verloren, sie war das einzige Geschenk, das meine Mutter mir mitgegeben hatte. Der rahbalad ermahnte uns: ‹Jetzt setzt euch endlich hin!› Genau in dem Moment kam die Polizei vorbei. Hätten nicht alle warten müssen, weil wir uns stritten, die Polizei hätte uns oben auf dem Berg festgenommen. Ich war am Ende. Denn sie hatte die Hand eines anderen gehalten. Sie kam dann zu mir: ‹Ich habe seine Hand nur genommen, weil mein Vater meinte, er würde sonst verloren gehen.› Ich konnte nur noch sagen: ‹Verschwinde.› In diesem Moment wollte ich erstens ankommen, zweitens ankommen und drittens wollte ich immer noch ein bisschen das Mädchen.»

Wer versucht, über die Türkei illegal in die Europäische Union zu gelangen, um dort um Schutz zu bitten, wählt meist den Weg über Griechenland oder Italien. Dann ist man direkt in der EU. Zumindest theoretisch. Griechenland erreicht man über die griechischen Inseln – Lesbos, Leros, Kos, Samos, Chios – oder über den Landweg. Die Menschen müssen dann den Fluss Evros überqueren, der die natürliche Grenze zwischen beiden Ländern bildet. Er ist rund 500 Kilometer lang, davon 185 Kilometer Grenzfluss und an manchen Stellen 50 bis 100 Meter breit. 2018, in dem Jahr, als Safi in die EU gelangte, kamen circa 50.500 Flüchtlinge und Migranten (davon 23 Prozent Frauen, 37 Prozent Kinder und 40 Prozent Männer) nach Griechenland. Die meisten (32.500) über die ägäischen Inseln, 18.000 über den sogenannten Landweg, das bedeutet, sie überquerten den Evros. Die größte Gruppe bildeten die Afghanen (28 Prozent).[25] Zu den Fakten gehört aber auch, dass nicht alle die andere Seite erreichten. Etliche Menschen ertranken.[26]