Nach Rom, wohin denn sonst! - Hiltrud Koch - E-Book

Nach Rom, wohin denn sonst! E-Book

Hiltrud Koch

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Beschreibung

Viele Wege führen nach Rom! Mehr als 2000 km zu Fuß von Hannover nach Rom - eine Frau erfüllt sich ihren Traum, zum puren Vergnügen allein zu wandern, wo über Jahrhunderte hinweg Pilger, Mönche, Kaiser und Könige, Landsknechte, Künstler, Handwerker und Vagabunden zu Fuß gegangen sind. Eine Zäsur zwischen Arbeitsleben und Ruhestand zu setzen war das Ziel. Das Mittel dazu war, sich Zeit zu nehmen zu intensivem Erleben von Landschaften, Natur, Menschen in anderen Lebenssituationen, von historischen, sozialen und politischen Zusammenhängen. "Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen", Goethes Erfahrung bleibt aktuell. Der Weg führte auf dem E1 von Hannover nach Konstanz, auf dem E5 bis Verona, dem "Götterweg" von Bologna nach Florenz, über Wanderwege im Chianti bis Siena, danach auf dem traditionellen Pilgerweg "Via Francigena" nach Rom. Eine gewisse Portion Verrücktheit gehört dazu, aber es ist im Grunde ganz einfach: Man muss nur immer weiter gehen und einfach nicht aufhören, bis man angekommen ist. Ganz schön verrückt!

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Seitenzahl: 610

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr als wer fährt.

... und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. Wer zu viel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. (...)

Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, man tut notwendig zuviel oder zuwenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünsche ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann.

Seume, Mein Sommer 1805

Für Eckart, Fabian und Phoebeund alle, die mich meinen Weg haben gehen lassen

INHALT

Vorwort

1 Loslassen - Losgehen - Erproben

Hannover, Beekestraße 136 – Kückenmühle

Kückenmühle – Waldkater

Waldkater – Bad Münder

Bad Münder – Hameln

Hameln - Aerzen

Abschied!

2 Auf dem E1 von Hannover nach Konstanz

Hannover - Hameln - Aerzen - Bösingfeld

Bösingfeld - Lemgo

Lemgo - Detmold

Detmold - Altenbeken

Altenbeken - Neuenheerse

Neuenheerse - Blankenrode

1. Brief an die Enkel

Blankenrode - Obermarsberg

Obermarsberg - Schweinsbühl

1. Zwischenbericht

Schweinsbühl - Niedersfeld-Winterberg

Niedersfeld - Lenneplätze

Lenneplätze - Schanze

GEWITTER GROLLEN

Schanze - Bad Laaspe

Bad Laaspe - Lahnhof

2. Brief an die Enkel

Lahnhof - Siegen

Siegen - Kirchen

2. Zwischenbericht

Kirchen - Rennerod.

Rennerod - Bad Marienberg

Bad Marienberg- Dreifelden

Dreifelden - Selters - Vallendar

Vallendar - Nassau

3. Brief an die Enkel

Nassau - Balduinstein

Balduinstein - Berghausen

3. Zwischenbericht

Berghausen - Idstein

Idstein - Frankfurt - Darmstadt

Darmstadt - Reichenbach

Reichenbach - Heppenheim

Heppenheim - Ziegelhausen (Heidelberg) - Neckargmünd

4. Brief an die Enkel

Neckargemünd - Speyer - Heidelberg

Neckargemünd - Mühlhausen

4. Zwischenbericht

Mühlhausen - Bretten

HEUTE SCHNITZELTAG

Bretten - Pforzheim

Pforzheim - Dobel

Dobel - Forbach

Forbach - Mummelsee - Seebach

5. Brief an die Enkel

Seebach - Kniebis

Knibis - Harkhof

5. Zwischenbericht

Harkhof - Hausach

Hausach - Schonach

Schonach - Kalte Herberge

IM WALD

Kalte Herberge - Hinterzarten

Hinterzarten - Lenzkirch

6. Brief an die Enkel

Lenzkirch - Achdorf

Achdorf - Engen

6. Zwischenbericht

Engen - Singen - Radolfzell

Radolfzell - Steißlingen - Langenrain

Langenrain - Konstanz

TYPISCH

3 Auf dem E5 von Konstanz nach Verona

Konstanz - Bregenz - Brüggelekopf

Alberschwende- Hittisau

7. Brief an die Enkel

Hittisau-Höfle - Gunzesried

Gunzesried - Oberstdorf

7. Zwischenbericht

Oberstdorf - Holzgau

Holzgau - Memminger Hütte

KOPF AUF SPITZE

Memminger Hütte - Zams

Zams - Mittelberg

Mittelberg - Sonneck Alm (Zwieselstein)

NORD - SÜD - GEFÄLLE

8. Brief an die Enkel

Alm Sonneck - Moos im Passeiertal

Moos in Passeier - Pfandleralm

8. Zwischenbericht

Pfandleralm - Hirzer Hütte

Hirzer Hütte - Meraner Hütte

Meraner Hütte - Jenesien (Bozen)

Jenesien - Bozen - Deutschnofen

Deutschnofen - Truden

9. Brief an die Enkel

Truden - Gfrill

Gfrill - Segonzano

9.

Zwischenbericht

Segonzano - Palu Fersina

Palu del Fersina - Lévico Terme

Lévico Terme - Lusern - Carbonare

Carbonare - Passo Coe

Passo Coe - Rifugio Achille Papa

10.

Brief an die Enkel

Rifugio Achille Papa - Rifugio Boschetto

Rifugio Boschetto - Croce

10. Zwischenbericht

Croce - Montecchio

Montecchio - Verona

Verona 1

Verona 2

Verona 3

11. Brief an die Enkel

4 Auf dem Götterweg von Verona nach Florenz

Verona - Bologna

Bologna - Madonna dei Fornelli

11. Zwischenbericht

Madonna dei Fornelli - Monte di Fo

Monte di Fo - San Piero a Sieve

San Piero a Sieve - Fiesole - Florenz

5 Über die Hügel des Chianti von Florenz nach Siena

Florenz - Passo de Peccorai

Passo de Peccorai - Greve in Chianti

12. Brief an die Enkel

Greve in Chianti - Siena

6 Auf der Via Francigena von Siena nach Rom

Siena - Lucignano d’Arbia

12. Zwischenbericht

Lucignano - S. Quirico d’Orcia

S.Quirico d’Orcia - Radicofani

Radicofani - Aquapendente

Aquapendente - Bolsena

Bolsena

13. Brief an die Enkel

Bolsena - Montefiascone

Montefiascone - Viterbo

13.

Zwischenbericht

Viterbo - Vetralla

Vetralla - Sutri

Sutri - Campagnano di Roma

Campagnano di Roma - La Giustiana

La Giustiana - Rom

14. Brief an die Enkel

Rom 1

Rom 2

14. Zwischenbericht

Rom 3

Rom 4

Abschlussbericht meiner Wanderung nach Rom

Vorwort

 

Zu Fuß von Hannover nach Rom. Diese Idee kommentierte Clara hellsichtig: "Bisschen verrückt, Oma, nicht?"

Ja, es gehört eine gehörige Portion Verrücktheit dazu, ohne die überhaupt kein großer Plan verwirklicht werden kann. Aber es kann gelingen. Man muss nur immer weiter gehen und einfach nicht aufhören, bis man angekommen ist.

Ich wollte wandern. Aus eigener Kraft lange Strecken überwinden, Natur erleben, dem Wetter ausgesetzt sein, Erfahrungen von Rompilgern über Jahrhunderte hinweg nachvollziehen, all das waren Motive für mein Projekt, nach Rom zu Fuß zu gehen. Nie gibt es nur einen Antrieb für so eine Anstrengung, immer ist es ein ganzes Bündel. Es ist ein Projekt, das mir von klein auf vorgeschwebt hat. Ich wollte es auf jeden Fall versuchen, auch ganz allein. Gelegentliche Begleitung war mir sehr willkommen. Ich wollte das Projekt aber nicht davon abhängig machen. Ich war allein, aber nicht einsam!

Eine Zäsur zu setzen zwischen Berufstätigkeit und dem Ruhestand war ein nicht unwesentliches Motiv. Den Zeitpunkt der Wanderung hat die bevorstehende Pensionierung auf jeden Fall vorgegeben, denn erst dann konnte ich mir den Luxus erlauben, auf eine genaue Zeitplanung zu verzichten. Es war unerheblich, wie lange das Ganze dauerte.

Am 10.Juni 2013 lief ich los, am 19. September flog ich von Rom zurück. In 92 Tagen bin ich 2018km gewandert. Dazu habe ich mir unterwegs fünf Tage zum Verschnaufen gegönnt. Vier Tage waren am Schluss für Rom reserviert, einer für den Rückflug. Das bedeutet, dass ich 102 Tage insgesamt unterwegs war, eine lange Zeit. Meine Enkelkinder Clara, fast 6 Jahre, Mattis, beinahe 3 Jahre alt, bekamen jeden Sonntag einen Brief, damit sie sich etwas unter einer "Wanderung nach Rom" vorstellen können. Für die Familie und Freunde fasste ich immer montags in einem "Zwischenbericht" zusammen, was mir in der letzten Woche bemerkenswert erschien. Tagebuchschreiben gehört für mich immer zum Reisen dazu, es ist mein Verfahren, Erlebnisse zu verarbeiten.

Mein Weg führte mich über den Europäischen Fernwanderweg 1 (E1) von Hannover bis Konstanz und der E 5 von Konstanz bis Verona über die Alpen. Die Strecke von Verona bis Bologna habe ich mit der Bahn überbrückt. Danach konnte ich den "Götterweg" von Bologna nach Florenz wandern, von dort durch das Chiantigebiet nach Siena, wo ich auf den alten Pilgerweg "Via Francigena" traf, der nach Rom führt. Es hat geklappt, ich bin gesund und fröhlich am Ziel angelangt.

Wieso gerade Rom? Arnold Esch führt auf, wer in den verschiedenen Jahrhunderten "Wege nach Rom" gegangen ist: Pilger, Mönche, deutsche Kaiser und Könige, Landsknechte, Klassiker und Romantiker, Künstler, die dort eine deutsche Kolonie bildeten. Später kamen Handwerker auf Arbeitssuche und Vagabunden, heute Touristen mit den unterschiedlichsten Motiven.

Und ich? ROMA – AMOR, eine Herzensangelegenheit! Eine völlig irrationale, tiefe Liebe zu dieser Stadt! Der Mythos ROM begleitete meine Kindheit, meine Schulzeit. Die Auseinandersetzung mit der Antike, mit dem Lateinischen, mit Europa prägen bis heute mein Denken.

Die Berichte sind sehr persönlich, völlig vom subjektivem Interesse und Erleben geprägt, aber auch im weiteren Sinne politisch, so wie Seume in seinem "Spaziergang nach Syrakus" versteht: "Wenn man mir vorwirft, dass dieses Buch zu politisch ist, so ist meine Antwort, dass ich glaube, jedes gute Buch müsse näher oder entfernter politisch sein. Ein Buch, das dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht. (...) Politisch ist, was zu dem allgemeinen Wohle etwas beiträgt oder beitragen soll: quod bonum publicum promovet. Was dieses nicht tut, ist eben nicht politisch."

1 Loslassen - Losgehen - Erproben

 

Hannover, Beekestraße 136 – Kückenmühle

 

Samstag, 4.5.13

Der weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt, eine Binsenwahrheit. Bevor ich im Juni tatsächlich auf die große Wanderung gehe, möchte ich in kleinen Etappen trainieren, meine Ausrüstung wie meine Kondition testen.

Bis jetzt habe ich nur wenigen guten Freunden von meiner Rom-Idee erzählt, die sich darüber gar nicht wundern. Andere, zu denen etwas durchgesickert ist, reagieren zumindest mit Staunen. Häufig treffe ich auf völliges Unverständnis, ganz ähnlich wie Seume im "Spaziergang nach Syrakus" berichtet: " 'Was wüll Ähr da machen?' Hätte ich ihm nur die reine, platte Wahrheit gesagt, dass ich bloß spazieren gehen wollte, um mir das Zwerchfell auseinanderzuwandeln, das ich mir (...) etwas zusammen gesessen hatte, so hätte der Mann höchst wahrscheinlich gar keinen Begriff davon gehabt..."

Die andere Standardreaktion: "Hast du denn gar keine Angst?" Angst? Wovor? Seume sagt: "Nur Mut, damit kommt man auch in der Hölle durch." Genau so denke ich auch. Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Das reizt mich ja gerade! Immer kann etwas passieren, überall ist man Gefahren ausgesetzt. Dazu muss man nirgends hin reisen.

Ich will wandern. Nicht pilgern, keinen sportlichen Rekord aufstellen. Wandern! Lustwandeln, einfach nur so, weil es mir Freude macht. Ich will keinem etwas beweisen, keinem imponieren, einfach nur wandern. Welche Route nach Rom ist heute noch eine Wanderstrecke? Mit möglichen Strecken nach Rom habe ich mich lange beschäftigt, mir historische Reisewege angeschaut. Wo ist Luther lang gegangen, wo Seume, wo die früheren Rompilger aus Norddeutschland? Wie komme ich auf Wanderwegen am besten über die Alpen, wie durch die Poebene und über den Apennin? Die vielen Wege nach Rom sind heute keine erfreulichen Wanderwege mehr, soviel ist klar. Realistisch und praktikabel scheint mir, europäische Fernwanderwege zu nutzen.

Losgehen, wann, wenn nicht gleich heute? Die neuen Stiefel müssen eingelaufen werden. Es wächst der Mut, nun endlich auszuprobieren, ob meine Kraft ausreicht für eine so lange Wanderung. Es ist klug, mit einer kurzen Strecke zu beginnen und nur zu einem Ziel zu laufen, von dem mich Eckart abholen kann. Der Weg von unserm Haus bis zum Deister, über den mein E1 läuft, geht nur über Straßen, Beton und Asphalt. Ich habe auf der Karte die kürzeste Strecke bis zum Deister gesucht. Neben brausendem Verkehr zu gehen habe ich keine Lust.

Nachmittags schnüre ich spontan die neuen Wanderschuhe und los geht es. Ein feierlicher Akt: Der Beginn der langen Wanderung nach Rom.

Von der Haustür gehe ich los, zunächst durch vertrautes Terrain. Frisches Grün und Aronstab, Vogelschalmei, alles deutet auf Frühling. Ich überquere die großen Straßen und biege in Wettbergen ab ins dörfliche Milieu. Die großen grünen Felder nahe der Stadt sind gesäumt von Büschen und Bäumen, so als ob dies ganz weit draußen wäre.

Die Orientierung wäre leicht, wenn ich immer an der Straße entlang liefe. Ich frage ein paar Mal nach, ob es noch einen besseren Weg gibt als die Landstraße. Ja, man kann kleine Zwitschen zwischen den Häusern als Abkürzung nehmen. Die Sonne knallt erstaunlich warm; ich krempele die Ärmel weiter hoch. Die Sonnenbrille allein reicht nicht als Sonnenschutz, ich muss einen Hut mitnehmen, damit ich nicht immer blinzeln muss. Die blühenden Obstbäume im Gegenlicht hinter blauem Himmel sind so berauschend schön, dass ich die Kamera oft herauskrame. Auch schaue ich ab und zu auf die Karte auf dem Handy um zu sehen, ob mir das zur Orientierung reicht. Diese dauernd benötigten Utensilien muss ich unbedingt in einer kleinen Tasche mitführen, sonst gibt es ein ständiges Suchen im Rucksack. Die Hosentaschen sind dafür zu unbequem und auch zu unsicher. Gut, dass ich den Ausrüstungs- und Materialtest schon mal machen kann, bevor es echt losgeht. Auf den nächsten Etappen werde ich systematisch andere Teile ausprobieren.

Die Landschaft ist mir einerseits vertraut, andererseits sehe ich sie nun von einer anderen Seite. Brausen wir sonst die B 217 schnell herunter, so spaziere ich jetzt zwischen blühenden Apfel- und Kirschbäumen entlang und sehe den Kirchberg und den Feuerwehrturm von Ronnenberg Schritt für Schritt im Dunst an mir vorbei ziehen. Weite weiße Folien-Felder wirken wie Schnee, ganz surreal in der warmen Spätnachmittagssonne.

Die Kückenmühle erreiche ich nach genau 1 1/2 Stunden, nach 6km Weg. Lahme Ente. Ein idyllischer Biergarten zwischen Feld und Wald. Ich rufe meinen Mann an, dass er zum Abholen starten kann.

Ich stecke voller Zuversicht und Kraft. Man muss losgehen, dann strömt die Energie schon von allein. Eine wichtige Lehre, warum vergisst man das im Alltag oft?

Kückenmühle – Waldkater

 

Sonntag, 5.5.13

Vom Parkplatz der Kückenmühle laufe ich durch Ihme-Roloven und Bettensen bis Weetzen. Die Sonne scheint fast sommerlich. Sonntägliche Ruhe überall. Ich begegne nur einem joggenden Vater, der eine Kinderkarre vor sich her schiebt, zwei Hun debesitzern, deren Hunde sich anblaffen, mich aber in Ruhe lassen, und Leuten, die ihren Garten auf Vordermann bringen.

Zwischen den Dörfern bleibe ich meist auf den Radwegen oder landwirtschaftlichen Straßen. Meine Scheu vor Asphalt hat sich gelegt. Mit den neuen Schuhen ist das kein Problem, solange ich nicht direkt an den vorbeibrausenden Autos gehen muss. Die Obstbäume blühen prächtig wie frischer Schnee, vor allem sehr leuchtend vor dem frischen Grün von Saatfeldern und Wald. In jedem Dorf entdecke ich schöne Details an Bauernhäusern, Zäunen, Giebeln. Manches Hässliche schiebt sich dazwischen, Modernisierungswut auf dem Dorf und Vorstadthäuser.

Als ich die B 217 überqueren muss, habe ich Mühe, über die doppelten Leitplanken auf beiden Straßenseiten rüber zu klettern. Die offizielle Überführung bedeutet einen weiten Umweg. Bei der Aktion ist mir mulmig, denn die Planken sind erstaunlich hoch und meine Beine doch sehr kurz. Außerdem verläuft auf der anderen Seite noch ein tiefer Graben. Eine geeignete gefahrlose Stelle? Gut dass nur wenige Autos vorbeikommen, aber solchen Stress werde ich mir künftig ersparen und lieber Umwege in Kauf nehmen.

Sorsum mit der schindelgedeckten Mühle, einer stimmungsvollen Kapelle und Fachwerkhäusern ist ein hübsches Dorf. Sonst fahre ich daran vorbei. Die Empfehlung, den neuen Ökopfad neben der Straße zu nehmen, ist gut, weil er an vielen alten Obstsorten vorbeiführt und an einem gurgelnden Bach. Der Belag aus kleinen Schottersteinen beweist, dass Beton doch gar nicht so übel zum Laufen ist.

In Wennigsen schaue ich an der Siedlung Waldkater auf die Uhr; dieses Mal laufe ich schon schneller. Viel weiter hätte ich heute nicht gehen können.

Der Materialtest Nr.2 heute: Die neue Wanderhose trägt sich tadellos; die Strümpfe nicht. Die Füße schwitzen und ich bekomme zu leicht Blasen, also ab in den Müll. Das neue blaue T-Shirt besteht schon beim Frühstück die Kleckerprobe. Auch nach drei Stunden in der Sonne riecht es nicht nach der Besitzerin. Das bleibt im Programm. Die Zivilisation wird nach und nach abbröckeln.

Waldkater – Bad Münder

 

Donnerstag, 9.5.13 (Himmelfahrt)

Vom Parkplatz Waldkater puste ich den Deister steil hoch. Mein Herz puckert. Dabei ist es gar nicht so heiß heute. Bei schönem Frühlingswetter bin ich gestartet, nun ballen sich dunklere Wolken zusammen. Ich lasse es darauf ankommen, nass zu werden – und gut so: Den Tag über bleibt der Regen aus. Eigentlich hätte ich gern einen neuen Anorak ausprobieren wollen. Allerdings habe ich noch keinen gefunden, der meinen Ansprüchen genügt. Leicht muss er sein, sehr wasserdicht, atmungsaktiv, und soll auch noch so aussehen, dass man mich nicht mit einem Waldschrat verwechselt.

Nach einer Stunde lande ich oben auf dem Kammweg. Ich muss nicht unbedingt auf die Karte gucken, irgendwo gibt es immer Hinweise. Sich im deutschen Wald zu verlaufen ist fast unmöglich, denke ich. Oben auf dem Kamm sehe ich beim Abzweig zum Forsthaus Kölnischfeld das erste X E1-Zeichen. In kurzen Abständen finde ich diese Kreuze und Hinweise zum Abbiegen. Später lese ich in meinem mit Mühe antiquarisch besorgten E1-Wanderführer, wie Arthur Krause den Weg beschreibt: Völlig korrekt und sehr genau sind die Steigungen und Abstiege charakterisiert. Darauf kann ich mich also verlassen und brauche keine weiteren Wanderkarten. Ein bisschen Abenteuer muss sein! Ich will meinen Orientierungssinn schulen. Technische Hilfen wie GPS will ich bewusst nicht nutzen. Wenn der Weg das Ziel ist, kann ich gar keinen falschen Weg einschlagen. Wenn alle Wege nach Rom führen, kann man nicht fehl gehen.

Nach dem steilen Aufstieg zum Kamm folgen nun steile Abstiege, die die Knie beanspruchen. Die neuen dicken Wandersocken bewähren sich. Dafür kündigt sich ein heftiger Schmerz in den Sehnen der Oberschenkelinnenseiten an. Am Schluss habe ich Muskelkater. Schlimm ist, wenn ich eine Weile gesessen habe und dann wieder aufstehen will.

Das helle Grün der Buchen, Sauerklee, Veilchen, vor allem dicke Teppiche von knospendem oder weiß blühendem Bärlauch entzücken mich. Ich habe nichts gegen Knoblauchgeruch! Mal gibt es im Deister breite mit Kiessplit bestreute Wege, mal kleinere Pfade, mal rauf, mal runter. Manche Strecken verlaufen auch eben, sehr erholsam, aber auch langweiliger. Ich treffe unterwegs kaum Wanderer, nur einige Radfahrer. Einer Truppe junger Männer mit lustigen Perücken und Mützen auf Vatertagstour komme ich gerade gelegen, weil sie alle aufs Foto wollen. Gern! Alles Väter? Aber ja, rufen sie munter. Einer jubelt: "Ja, seit gestern!"

An der Deisterpforte freue ich mich über den Blick in die Landschaft. Nur immer im Wald laufen ist nichts für mich. Ich liebe es, wenn der Weg auch mal am Waldrand und über freies Feld führt. Für den E1, merke ich, sind die besten Strecken ausgesucht worden. Das Weserbergland präsentiert sich zwischen der Deisterpforte und Bad Münder von der schönsten Seite mit den sanften Hügeln, Wäldern in verschiedenem Grün, Baumgruppen auf weiten Wiesen, Dörfern im Dunst. Weitblick und begrenzte Räume im Wechsel.

Mein Handy hat kein Netz. Das brauche ich aber dringend, um auf meiner Tour kommunizieren zu können, notfalls Rettungsrufe abzusetzen, um Unterkünfte zu suchen und Mails zu empfangen. Damit muss ich rechnen. Wo kein Netz, da kein Internet.

Im freien Feld laufe ich herunter zum Marktplatz von Bad Münder, vorbei an Löwenzahnwiesen und Rapsfeldern. Im Restaurant Kornhaus geht der Service in niedersächsischer Gemütlichkeit vonstatten. „Man soll nicht hungrig essen gehen“, eine Weisheit meiner Mutter.

Bad Münder – Hameln

 

Samstag, 25.5.13

Es ist kalt, nur 10 °C, und das Ende Mai. Heftiger Regen ist für das Wochenende angesagt. Noch ist es sonnig und trocken. Also los, dieses Mal mit dem Rucksack auf dem Rücken. Den neuen grünen Anorak kann ich gleich auf seine Regendichtigkeit überprüfen.

Der Süntel bietet abwechslungsreiche Wege, mal steil hoch, mal sanft ansteigend, mal eben, mal breite Forstwege und mal schmale gewundene Pfade. Zwischen Süntel und dem Schweineberg liegt freies Feld mit riesigen gelben Rapsflächen. Mal gehe ich im Wald, mal am Waldrand, mal über Felder oder durch Dörfer wie Unsen.

An der Heisenküche überlege ich, ob ich dort einkehren soll oder erst am Bismarckturm. Während ich noch schwanke, entscheidet die Natur für mich. Aus heiterem Himmel platscht eine dicke Ladung Regen herunter. Bei Käse-Pfirsich-Baiser-Torte warte ich, bis der Regen nachlässt. Ich kann mich auf mein Glück verlassen. Der Bismarckturm ist geschlossen. Ich merke mir: Immer gleich einkehren, wer weiß, ob es später noch etwas gibt.

Bis hier habe ich keinen einzigen Menschen im Wald getroffen. Eine Mutter mit halbwüchsigem Sohn rettet sich pitschnass in die Heisenküche. Der Junge verrät, dass sie auch auf dem E1 unterwegs sind. „Meine Ma hat die Vision, irgendwann bis Genua zu kommen.“

Nach gut fünf Stunden Wanderung bin ich in meinem Elternhaus in Hameln. Meine Mutter findet es großartig, dass ich wandere, aber warum nur so weit? Sie staunt über meine Sorglosigkeit. Sie hätte so viel Angst im Wald. „Im Wald sind keine Räuber“, versichere ich. "Wenn man jemanden überfallen möchte, wäre es ungünstig, sich im Wald auf die Lauer zu legen, wo pro Tag nur drei Menschen vorbei kommen. Jeder Stadtpark ist ergiebiger."

Ich bin überhaupt nicht trainiert. Die Lücke zwischen Wollen und Können klafft weit auseinander. Mehr als fünf Stunden (oder 18km…) schaffe ich nicht, das ist mein derzeitiges Limit. Die Sehnen in der Leiste jammern, was erst abends nach einem heißen Bad nachlässt.

Hameln - Aerzen

 

Dienstag, 4.6.13

Der erste frühsommerliche Tag! Noch ein Stück über Hameln hinaus will ich wandern, damit mir die erste richtige Etappe nächste Woche nicht zu sauer wird. Auf der Karte habe ich Aerzen als den Ort ausfindig gemacht, von wo aus ich mit dem Bus gut zurück bis Hameln komme.

Mein erster freier Tag in meinem neuen Leben! Letzten Freitag hatte ich meinen letzten Arbeitstag. Gestern haben wir das Ende meiner Dienstzeit gefeiert. Jannis hat geschrieben: "Genieße den längsten Urlaub deines Lebens!" Sehr philosophisch. In welchem Zustand befinde ich mich? Ist das nun Urlaub? Wovon bin ich beurlaubt?

Nach einem Besuch bei meiner Mutter breche ich auf. In Hameln habe ich meine Schulzeit verbracht, alles ist mir vertraut. Die Stadt ist voller Touristen im 60+-Alter, alle in staub- oder sandfarbenen Windjacken. Alle Bänke sind besetzt, überall stehen Tisch und Stühle vor den vielen, vielen Cafés. Ich marschiere hoch auf den Klüt, was mir heute ziemlich steil vorkommt. Es ist aber die einzige echte Steigung des Tages. Im Finkenborn bestelle ich mir eine große Flasche Wasser, was lange dauert, weil drinnen ein ganzer Bus voller Rentner mit einem traditionellen Speiseangebot beköstigt wird. Kaum einer kann noch fünf Schritte allein gehen. Traurig. Was sehen die von der Stadt? Meine Mutter würde sagen: "Aber man will doch mal rauskommen." Ich esse mein Brötchen und genieße die Sonne. Den Wucherpreis für das Wasser begründet die Bedienung mit "Ist halt der Gastronomiepreis". Das ist mir eine Lehre. Wasser immer mitnehmen!

An den Riepenteichen steigt der Weg dann noch mal steiler an. Wieso die Buche "Wurstbuche" heißt, weiß ich nicht, aber weshalb ein Plätzchen den unerwarteten Namen "Bei den Heringsschwänzen" trägt, erläutert ein Schild mit einem holprigen Gedichttext: Die Bewohner von Wangelist haben sich damit vor dem Aufstieg gestärkt.

Auf den wunderbaren Wiesenwegen, die heute häufiger vorkommen, ist keine Markierung zu erkennen, da muss ich mich auf meinen Orientierungssinn verlassen -oder im Dorf fragen. In Derenberg erklärt mir eine Frau vom heimeligen Kaffeetisch im Garten aus, wo der Weg verläuft. Die weite grüne Landschaft mit den kleinen Dörfchen schwingt, alles ist wie geputzt und natürlich, ruhig und feierlich still, außer den Vögeln. Auf den kleinen Landstraßen fährt so gut wie kein Auto. Wohin sollen die auch fahren?

In Königsförde weist rechts ein Schild zum Schloss Schwöbber, ich nehme links den Fahrradweg nach Aerzen. Dabei halte ich Ausschau nach der "Waldquelle", wo ich am kommenden Montag meine lange Wanderung beginnen will. Zwei Damen in meinem Alter walken tockernd mit ihren Stöcken an mir vorbei, zack, bald nicht mehr zu sehen. Ich habe jetzt schon Blei im Hintern und ziehe langsam weiter in den Ort. Heute probiere ich den Wanderstock aus. Er ist mir aber eher lästig als nützlich. Ich kann dann nicht so locker mit den Armen schwingen. Allenfalls kann ich ihn gegen Brennnesseln oder kläffende Hunde einsetzen. Vielleicht ist das ein Grund, ihn mitzunehmen?

Von Aerzen bin ich in einer halben Stunde zurück in Hameln. Schulter, Rücken, Po, Beine, Knie und Füße sagen nichts Nachteiliges, aber die Bänder in der Leiste murren ein wenig.

Beim Kaffee trägt meine Mutter ihre Bedenken vor. Das Ausmaß meines Planes erschreckt sie. Sie befürchtet Schlimmes. Sie ist sowieso der Meinung. "Kind, du musst doch mit solchen Gewaltmärschen keine unnötigen Strapazen auf dich nehmen. Spazierengehen reicht doch auch, wenn du Bewegung brauchst." Da hat sie absolut Recht!

Abschied!

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

es ist soweit: Die Arbeit ist getan. Am letzten Freitag hatte ich meinen letzten Arbeitstag, habe am Montag alle Daten gelöscht, Papiere entsorgt und meine Dienstgeräte abgegeben. Seitdem feiere ich, dass ich Urlaub habe, drei Monate bevor ich ab 1.9.2013 in Pension gehe.

Was nun?

Aufbrechen zu etwas Neuem, zu neuen Erfahrungen will ich. Am Montag, 10.6.13, geht es los. Ich gehe nach Rom.

Erstmal das Projekt, dann sehe ich weiter, was im neuen Lebensabschnitt auf mich wartet.

Ich weiß nicht, wie lange ich brauche, wie oft ich unterbrechen muss, aus welchen Gründen auch immer, ob ich wirklich je dort zu Fuß ankomme, mit welchen Blessuren, welchen Weg genau ich nehme, wie ich es durchhalte, alles ist ungewiss. Ich weiß nur, dass ich es will, nicht, ob ich es kann. Ich werde es schon können, denn ich will es ja! Ab jetzt habe ich Zeit!!

So ganz genau planen möchte ich nicht alles. Das habe ich mein ganzen Leben bisher exzessiv betrieben. Ich will wie der Taugenichts ins Blaue hinein laufen, nach Italien, wohin denn sonst, wo dort doch die Zitronen blühen, wohin die Kaiser und Könige, Geistlichen und Pilger, die Dichter und Maler, die Handwerker und Vagabunden über Jahrhunderte hin zu Fuß gelaufen (oder unbequem gefahren...) sind. Seumes Spaziergang nach Syrakus ist mein großes Vorbild, aber man muss es ja nicht übertreiben. Rom ist der "Nabel der Welt", das muss wohl reichen, um zu schauen, wie man aus eigener Kraft Entfernungen überbrückt. Viele Wege führen nach Rom. Alle wohl nicht.

Ich folge so ungefähr zuerst dem Europäischen Fernwanderweg 1 (E1) von der Haustür bis Konstanz, was allein schon ca. 700km ausmacht. Die Strecke führt über Deister, Lippisches Bergland, Teutoburger Wald, Eggegebirge, Sauerland, Westerwald, Taunus, Odenwald und Schwarzwald.

Dann nehme ich wahrscheinlich den Europäischen Fernwanderweg 5 (E5) von Konstanz über die Alpen bis Verona. Danach sehe ich weiter...

Clara hat meinen Plan kommentiert: "Bisschen verrückt, Oma, nicht?"

Wer Lust hat, ein Stück mitzugehen, kann mich anrufen oder mir eine Mail schreiben.

Ihr könnt auch mal fragen, wie es so läuft. Ich antworte bestimmt.

Mein Handy und mein neues iPad mini erlauben es mir, selbst im Wald und auf der Heide online zu sein. Ob ich das dann dauernd nutze, ist eine andere Frage.

Seit Monaten beschäftigt mich die Frage, was das Notwendige ist, was ich im kleinstmöglichen Rucksack mitnehmen muss. Was ist das unabdingbar Notwendige im zivilisierten Mittel- und Südeuropa?

Es kann sein, dass ihr mich länger nicht seht. Es kann sein, dass ich in zwei Wochen abbreche, es könnten aber auch zwei Monate sein oder mehr, wer weiß. Wenn ich den Weg unterbrechen muss, setze ich ein anderes Mal dort fort, wo ich zuletzt aufgesteckt habe. Irgendwann komme ich an. Rom ist auch nicht an einem Tage erbaut worden!

Behaltet mich im Kopf und Herz und drückt mir die Daumen, dass es mir nicht so ergeht wie den Ameisen aus Hamburg:

Die Ameisen

In Hamburg lebten zwei Ameisen,

die wollten nach Australien reisen.

Bei Altona auf der Chaussee,

da taten ihnen die Beine weh,

und da verzichteten sie weise

dann auf den letzten Teil der Reise.

Joachim Ringelnatz

Liebe Grüße

Hiltrud

Hannover, 6.6.13

2 Auf dem E1 von Hannover nach Konstanz

 

Hannover - Hameln - Aerzen - Bösingfeld

 

Montag 10.6.13

Die S-Bahn saust bequem in einer halben Stunde nach Hameln, wofür ich zu Fuß in vier Etappen gewandert bin. Meine Mutter ist sehr besorgt, ich könnte mich übernehmen. Das könnte ja auch sein. Ich muss versprechen, das Ganze zu lassen, wenn es mir zu viel wird. Genau das ist auch mein Interesse. Gestern hat Horst mir einen Reisesegen erteilt, nun kommt noch der mütterliche Segen hinzu. So viele gute Wünsche begleiten mich. Fast alle haben mir liebe Abschiedsworte geschrieben, Tipps jeder Art und Qualität natürlich auch. Meine Mutter winkt mir an der Tür nach. Dieser Abschied ist für mich der schwerste. Ich gehe. Ich muss JETZT gehen, ein Später gibt es dafür nicht, das ist mir bewusst.

An der Bushaltestelle klagt eine alte Frau, welche Anstrengung es bedeutet, vom Dorf immer nach Hameln fahren zu müssen, bloß weil sie zu einem Facharzt muss. Ihre Augen sind so schlecht, dass sie froh ist, dass ich ihr die Busnummern vorlese. Mit Mühe hebt sie sich in ihren Bus hinein.

In Aerzen staune ich, wie hübsch der Dorfkern ist, ein Dorfanger mit einem Rund an Höfen gleich neben der Kirche. Nie gesehen, immer nur durchgefahren. Wo die "Waldquelle" liegt, habe ich schon erkundet. Jetzt nehme ich im Dorf den Pfad mit dem Hinweis: "Gesperrt für Fahrzeuge. Fußgänger erlaubt!" Komisch nur, dass man dabei über den gepflegten Rasen eines Wohnhauses laufen muss, ein Gatter öffnet -und im unwegsamen Gelände endet. Zurück! Der richtige Weg ist der schmale überwachsene Pfad, also durch die Brennesselkultur am Zaun außen entlang. Die Hausbesitzer zeigen mir, wo ich am Hang hoch komme. Offenbar wird der Weg nicht oft genutzt. Eine weite Wanderung, davon haben sie auch immer geträumt, und nun könnten sie es nicht mehr. Genau, das geschieht vielen so, deshalb gehe ich jetzt und nicht "später".

Die "Waldquelle" scheint auf Gäste zu warten, die Bedienung reißt sofort die Tür auf, als ich vorbei laufe. Wenigstens gäbe es hier noch eine Möglichkeit zum Einkehren. Alle anderen Lokale unterwegs sind inzwischen geschlossen, pleite.

Vier Stunden laufe ich durch eine Traumlandschaft: sanfte Hügel, Waldwege, über Wiesenpfade, mal am Waldrand, mal durch den Wald, über freies Feld auf landwirtschaftlichen Erschliessungsstraßen. Mohn blüht. Margariten, Kornblumen, noch ein wenig Raps verbinden sich zu rot-weiß-gelb-blauen Teppichen oder Tupfern. Es riecht nach frischem Gras, nach Heu, Waldmeister und Raps. Vögel trällern, zwitschern und singen, ohne dass ich weiß, welche Art das jeweils ist.

Im Dorf Rheine treffe ich heute die einzigen Wanderer, ein holländisches Paar, das den Hansaweg von Herford nach Hameln gehen will. Sie wundern sich über die unzureichende Infrastruktur unterwegs. Kein Café, keine Kneipe, kein Dorfkrug, kein Laden, nirgends. In allen Dörfern treffe ich höchstens mal eine Oma mit Rollator oder einen Opa beim Heckenschneiden, keine Kinder, keine Eltern, wie ausgestorben, verlassen. Dabei gibt es schnieke "Landlust"-Behausungen mit Dekomaterial für jeden Geschmack, und auch ohne jeden. Viele aufgelassene Bauernhäuser. Eine aussterbende Spezies, so ein norddeutsches Dorf.

Der sehr steile Abstieg nach Bösingfeld geht in die Leiste, das spannt jeden Muskel an. Bis dahin war ich locker gelaufen, aber der letzte Teil bewirkt, dass ich Muskelkater spüre. Nur gut, dass ich auf einer Touristikseite des Ortes im Internet vier Unterkunftsmöglichkeiten gefunden habe. Ja, im Internet, aber nicht in der Realität. Das erste ist geschlossen, "Haus Hannover", sowieso verlassen. Das nächste, "Unter den Linden", ist abgerissen. Da wird nun das neue Rathaus gebaut. Der "Timpenhof" -zum Verkauf ausgeschrieben, seit Jahren stillgelegt. Ich frage mehrere Passanten, keiner hat eine Ahnung. Es gibt vielleicht noch Zimmer in einem, wie sie immer noch sagen, "Jugoslawischen Restaurant", aber mehrere Kilometer entfernt und auch ungewiss. Ein weiteres Haus in der lustig klingenden Hackemack-Straße vermietet nicht für eine Nacht. Da kommen Monteure unter. Bei der kommunalen Infostelle ist geschlossen, aber eine freundliche Frau reicht mir einen Prospekt raus. Das darf sie schon noch, nur keinerlei Empfehlungen aussprechen. Es ist auch nichts zu empfehlen, es gibt nichts, gar nichts. Ein abbröckelnder Ort. Kaum ein Laden, an dem nicht ein "Zu verkaufen-Schild" zu finden ist oder der nicht schon längst aufgelassen ist.

Ein holländisches Ehepaar, das auch Touristeninfos gesucht hatte, treffe ich beim Bäcker wieder, wo ich mir erstmal eine Pause gönne, um in Ruhe weitere Möglichkeiten zu eruieren. Mir hilft das Internet. Notfalls könnte ich mit dem Bus zurück nach Aerzen oder nach Hameln fahren. Das Hotel in Linderhofe könnte ich anrufen, die würden mich, wie das Schild am Aussichtsturm Hohe Asch ermuntert, auch mit dem Auto abholen. Irgendwas geht immer. Ist aber alles nicht nötig, es gibt einfachere Lösungen. Die Bäckersfrau hat die Idee, im "Hackemack" anzurufen und zu fragen, ob sie mir nicht auch für eine Nacht ein Zimmer fertig machen könnten. So hilfsbereit! Die Holländer schwärmen von ihrem Wohnmobil, das ihnen Mobilität und Bequemlichkeit, vor allem Spontaneität ermöglicht. Die Frau war Lehrerin, spezialisiert auf Niederländisch als Zweitsprache. Viel zu viele Ausländer in den Niederlanden, das ist ihre Meinung, vorwiegend nicht Integrationswillige, an denen jeder Sprachkurs spurlos vorüber geht, verschwendete Ressourcen. Sie schätzen Deutschland als Reiseland wegen der Fülle von Sehenswürdigkeiten, der freien Natur und seiner Liberalität. Die Bäckersfrau hat den jungen Wirt erfolgreich bezirzt. Das Zimmer ist bezugsbereit. Es geht steil den Hang hinauf. Das schaffe ich gerade noch mit Jammer und Elend. Ein einfaches Haus, kein Föhn, keine Seife. Im Ort finde ich auch nicht leicht etwas zu essen. "Montag geschlossen", zwei von drei Möglichkeiten haben Ruhetag. Ein Italiener serviert im Garten in der Abendsonne. Ein Vorgeschmack auf Italien!

Der erste Tag lief gut. Ich hoffe, es finden sich jeden Tag immer wieder Lösungen, dass etwas klappt, wo normalerweise nichts geht.

Bösingfeld - Lemgo

 

Dienstag, 11.6.13

Der Tag hat heute gut begonnen. Die Wirtin hatte den Föhn gebracht, so dass ich nicht nur die Haare, sondern auch die Wäsche trocknen konnte, die doch nicht so schnell trocknet, wie ich dachte. Das Frühstück war so reichlich bemessen, dass ich mir zwei Scheiben Brot mitnehmen konnte. Gute Idee, sonst hätte ich bis abends nichts zu essen gefunden. Den ganz offensichtlichen Niedergang des Ortes erklärt die Wirtin mit dem Abzug der Industrie in Richtung Osten, Polen oder noch weiter, Richtung Asien. Kein Wunder, dass die Geschäfte schließen. Manchmal finden die Besitzer schlicht keine Nachfolger. Das ist hier wie überall. Die jungen Leute pfeifen auf die viele Arbeit, sie können anderswo leichter ihr Brot verdienen.

Linderhofe ist mein erstes Etappenziel, wo ich im Hotel "Zur Burg Sternberg" Pflaster auf den kleinen linken Zeh klebe. Morgens hatte ich mir eine Tablette eingesteckt für den Fall, dass der Muskelkater in der Leiste mir zu schaffen macht. Der hat sich aber verflüchtigt und kehrt erst abends zurück. Allein dass ich die Tablette in der Tasche habe, gibt mir ein sicheres Gefühl, fast so wie der Schutzengel in der Hosentasche, den Antje mir zum Abschied zugesteckt hat.

Der Weg heute ist so sanft und schön wie gestern, nur werden die Berge höher und die Täler tiefer. Hasen und Rehe springen vor mir auf. Idylle überall - die Natur ist so schön. Ganz freie wilde Natur gibt es nicht bei uns, alles ist Kulturlandschaft, gepflügt, geordnet, beforstet, vom Menschen nutzbar gemacht, und dennoch wunderschön, was sich ja überhaupt nicht ausschließt. Ich singe alle Lieder durch, die mir einfallen, und das sind eine Menge, die ich auf lalala singen kann. Keiner hört mich, im Wald ist man allein. Die Stille ist überraschend still, nur mal ein leichtes Brummen von einem Trecker, der zum Heuwenden auf dem Feld gebraucht wird, mal eine entfernte Straße, sonst nur der Wind und die Bäume.

Ich hätte eigentlich schon bald in Lemgo sein müssen, als ich nach fünf Stunden einer Reiterin begegne. Nach Lemgo? Das ist aber noch weit!" Nanu? Ich war immer weiter dem großen E hinterher gelaufen, das hier etwas anders aussah als sonst, blasser und von einem Kreis umschrieben. Ja, das kann schon sein, verschiedene Vereine kümmern sich um die Markierung ihres Abschnitts. An einem Wegweiser lese ich lauter Ortsnamen, die nicht im Wanderführer erwähnt sind. Ich werde leicht unruhig. Zwei Reiterinnen kommen mir just an der Kreuzung entgegen und helfen mir bei der Orientierung: Ich bin hier ganz falsch! Daher war ich noch nicht am Ziel, na, kein Wunder. Zwar bin ich im Bereich des Extertales, aber schon mehr im Kalletal, ein großer Bogen nördlich um Lemgo. Und dabei ist alles so exzellent ausgeschildert! Irgendwo habe ich was verpasst. So muss ich halt weiter. Die Beine laufen heute fast von allein. Ich erreiche mit Ach und Krach eine kleine Straße in the middle of nowhere und versuche, mit dem Daumen weiter zu kommen. "Die Lipper sind stur", hatte mir schon die Wirtin am Morgen bedeutet. Recht hat sie! Obwohl sie Platz haben, nehmen sie mich nicht mit. Ein Gärtnerauto hält, ein türkischer Kurde, mit dem ich über die Demokratiebewegung in der Türkei spreche. Er freut sich, dass die Menschen aufmucken, Erdogan habe sich in den letzten Jahren zu einem Diktator aufgeschwungen. Das derzeitige Entgegenkommen gegenüber den Kurden solle man nicht überbewerten, auch nicht die wirtschaftlichen Erfolge. Der freundliche Kurde bringt mich an den Punkt des E1, wo ich eigentlich hätte aus dem Wald kommen sollen.

Ich komme bei herrlichem Sonnenschein nach Lemgo runter. So viele Renaissanceund Barockfassaden, lateinische und plattdeutsche Sprüche, antikes Bildungsgut und fromme Weisheiten, alles hier wirkt gepflegt, besonders das Renaissance-Rathaus. Ich nehme ein Hotel im Zentrum, das "Stadtpalais", ein großes Weserrenaissance-Anwesen mit allem, was dieser Stil zu bieten hat, Giebel, Utlucht, Neidkopf, Sandsteinfiguren. Drinnen setzt sich die Pracht fort: Kamin, Balken, alte Möbel. Der junge Wirt freut sich über meine Wanderung und gibt mir das Zimmer deutlich billiger als im Internetportal. Ein Zimmer für Frauen von Schneewittchen an aufwärts.

Reisen, das sei nichts für die Lipper, die bleiben zu Hause, meint der Herr an der Rezeption.

Lemgo - Detmold

 

Mittwoch, 12.6.13

Heute treffe ich zwischendrin eine fröhliche Schulklasse mit ihrer Lehrerin. Sie sind auf dem "Lipper Pilgerpfad" unterwegs, der auch auf der Trasse des E1 verläuft. "Vorsicht, Gegenverkehr" ruft ein Junge vorne, "dass es nicht zu Kollisionen kommt!" In der Tat, es sind wieder ganz schmale Pfade, oft versteckte Wege am Waldrand und über Wiesen.

Der Blick auf die Höhen des Teutoburger Waldes mit dem herausragenden Hermannsdenkmal obenauf gefällt mir, nicht so sehr der viele Teer. Die typischen Ausfallstraßen finden sich auch in Detmold, die Einkaufszentren, Baumärkte, Tankstellen. Ich bin froh, mein Ziel heute nicht zu weit gesteckt zu haben. Auf dem Marktplatz in Detmold trinke ich Kaffee, dann schaue ich mich weiter um. Die Stadt ist ganz vom Schloss und den Bedürfnissen des Fürsten und des Adels geprägt. Was für ein Unterschied zur bürgerlich orientierten Handelsstadt Lemgo. Ich gehe auf der Esplanande an vielen Adelssitzen vorbei, auch an der Musikhochschule, die in einem alten Palais untergebracht ist.

An der Jugendherberge am Waldrand setzt starker Regen ein. Dann bleibe ich! An der Rezeption bitte ich um eins der "Komfortzimmer für Erwachsene", so eins mit Dusche vielleicht? Die junge Frau bringt mich in den 2. Stock hoch. "Ist das hier die ruhige Erwachsenenzone?" erkundige ich mich. Sie zieht vielsagend die Stirn kraus. Richtig geraten: Das Zimmer ist ein ganz normales kahles 4-Bett-Zimmer, nur mit eigenem Bad. Vier Haken an der Wand, vier kleine Hocker. Ja, das kennen wir so, seit ewigen Zeiten. Die Dusche geht nur, wenn man immer auf den Knopf drückt, etwas schwierig, wenn man auch mal den Rücken treffen will. Immerhin: Ein Zimmer für mich allein. Drei Stockbetten stehen bereit, den Inhalt meines Rucksacks aufzunehmen. Kleiderbügel gibt es auch nicht. Wohin mit den gewaschenen Sachen? Gut, dass ich allein im Zimmer bin.

Nicht lange, da zwitschert eine fröhliche, muntere Klasse über den Flur. Türenschlagen, Gekreische. Es ist doch was Schönes um die Jugend. Ich gehe raus und vermelde, dass ich hier auch wohne. Einmal platzt die Lehrerin auf einem Kontrollgang auch in mein Zimmer. Sie hat wohl den Überblick verloren, wo ihre Übeltäter hausen. Ich schreibe, lese, plane und genieße, dass ich Zeit dafür habe. Die lieben Kleinen toben sich draußen auf der Wiese sportlich aus. Ob das für eine ruhige Nacht reicht?

Detmold - Altenbeken

 

Donnerstag, 13.6.13

In der Jugendherberge ist die Nacht um 5 Uhr zuende, definitiv. Das Bollern an die Wände, das Klopfen, Schurren, Trampeln ist nicht zu überhören. Böswillig oder ungewöhnlich ist es nicht. Sechstklässler sind, wie sie sind. Ich versuche es zu ignorieren, so gut es geht und freue mich, dass ich nicht zuständig bin. Wenigstens versuche ich zu frühstücken, ehe es die anderen tun. Der nette Herbergsvater hat volles Verständnis für meine Lage, aber was nützt es. Andere hätten sich auch schon beschwert. Nö, ich will mich nicht beschweren, Kinder sind Kinder und haben andere Bedürfnisse als Wanderer. Es wäre ein Tipp, die Bereiche räumlich zu trennen. Nachtruhe in der Jugendherberge ist Organisationssache.

Im Frühstücksraum treffe ich auf ein Trio Wandervögel, alle sicher älter als 85 Jahre, gebrechlich, aber in Wanderkluft. Irgendwie gespenstisch. Sie haben Mühe, sich auf den Beinen zu halten und stützen sich gegenseitig.

Als ich meine Sachen aus dem Zimmer holen will, stehen die Kleinen bedröppelt davor und wollen sich für die Störungen entschuldigen. "Die Jungen haben...", "die Mädchen haben..." Das kann alles so sein und ich will gar nicht meckern. Ich erkläre ihnen, dass ich selbst früher mit vielen Klassen unterwegs war und das alles gut kenne, als Wanderin aber schlicht Ruhe brauche. Sie sind fasziniert, dass ich allein und so weit wandern will. "Dürfen wir mal ihren Rucksack anfassen?" "Was, so schwer?" "Nur 4,5kg, das Minimum". Was wäre mein Minimum, überlegen sie. Süß! Die Lehrerin interessiert sich mehr für meine berufliche Vergangenheit - aber ich will los.

Heute bin ich wohl zu weit gegangen. Auf alle Fälle zu lange. Ein wunderbarer Weg, nur zu weit. Keine Chance, zwischendurch eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Also Augen auf und durch, so weit die Füsse tragen. Und sie gehen auch, fast mechanisch, Schritt für Schritt. Bis mittags zwickt der linke kleine Zeh, trotz zweier Pflaster. Kleiner Bösewicht, der will mich erinnern an die Begrenztheit menschlichen Strebens. Irgendwann lässt er betäubt nach, der kleine Zeh, aber ich weiß genau, er gibt so schnell nicht auf.

Das Hermannsdenkmal umgehe ich unten herum. Auf einem Feld wird Öko-Salat geerntet. Sie bauen hier auch die alten Apfelsorten an. Ein älterer Herr mit Hund erklärt mir, wie ich den Weg zur Adlerwarte Berleburg kürzer gestalten kann, eine perfekte Beschreibung. Jüngere frage ich schon gar nicht mehr, die kennen sich in der Regel nicht aus. Ich frage gern mal zwischendurch, auch wenn ich den Weg kenne. Ich erfahre etwas über die Gegend und die Leute freuen sich, Wanderer zu sehen. Ich treffe einige alerte Wanderburschen mit kleinen Butterbrotrucksäckchen auf dem Rücken, erwartbar im kurzen Radius um eine Sehenswürdigkeit herum. Gegenseitig versichern wir uns jeweils, dass es nicht weit ist.

Der Wald ändert seine Zusammensetzung. Statt der lichten Buchenwälder des Weserberglandes dominieren hier Eichen und Tannen den Wald. Die gnubbeligen Felsen lagen früher auf dem Meeresboden. Die Externsteine ragen aus der Ebene heraus und sind eine Herausforderung für Interpreten, auf jeden Fall ein Touristikanziehungspunkt. In Berlebeck schweben die großen Greifvögel der Adlerwarte in der Luft. Der "Eggeweg" ist wilder als der "Hermannsweg". Hier ist der Übergang zwischen Teutoburger Wald und dem Sauerland, ein wunderschöner Weg über Baumwurzeln, durch Heidelandschaft, Geröll, romantisch, unwegsamer wegsam. Viele Abstiege heute. Am Ende stolpere ich fast nur noch voran.

Ganz schwarze Wolken! Ich renne runter zur Straße nach Altenbeken. Regen war für den ganzen Tag angekündigt, aber bis auf einige erfrischende Tropfen ganz am Anfang gab es nichts. Gerade als ich vor einer Apotheke stehe, pleistert es los wie aus Eimern gekippt. Ich flüchte hinein und krame meinen Anorak heraus. Gerade wieder mächtig Glück gehabt. Und es setzt sich fort! Die Schutzlosigkeit von Wanderern lockt große Freundlichkeit heraus.

Die Apothekerin ruft für mich verschiedene Unterkunftsmöglichkeiten an. Schon voll, zu weit... Da bleibt nur das ehemalige Café gleich um die Ecke; da versucht sie es wenigstens, auch wenn sie es etwas abgewohnt aussieht. Der ehemalige Cafébesitzer hat für mich ein Einzelzimmer der früheren Art. Die Duschkabine ist nachträglich im Zimmer installiert worden, das Klo: auf dem Flur. Egal, ich habe keine Alternative. Es ist preiswert, da kommt keine Jugendherberge mit. Ich wasche das Trockne, trockne das Nasse, freue mich, dass alles wieder so geklappt hat.

Auf dem Weg zum Essen regnet es wieder. Das bereits Getrocknete wird wieder pitschnass.

Altenbeken hat vielleicht mehr zu bieten als den Eisenbahnviadukt, auf den der Ort so stolz ist?

Altenbeken - Neuenheerse

 

Freitag, 14.6.13

Nach der Gewalttour gestern will ich es heute gemütlicher angehen lassen. Der Himmel ist dunkelgrau. Ich frühstücke und warte ab, was passiert. Alufolie für die Butterbrote, die ich auf jeden Fall mitnehme, denn unterwegs ist mit nichts zu rechnen. Weiter will ich auf jeden Fall. Was sollte ich denn in Altenbeken?

Was könnte ich das nächste Mal tun, wenn ich keine Unterkunft finde? Ich sehe eine Alternative, die ich gestern gehabt hätte, sogar zwei Möglichkeiten: Abends mit dem Bus nach Paderborn oder nach Bad Driburg. Ich hätte dort etwas finden und am Morgen mit dem Bus auf den Wanderweg zurück kommen können. Das setzte natürlich voraus, dass ich unternehmungslustig, trocken und frisch gewesen wäre. Auch hätte ich erholte Füße haben müssen. All das war nicht mehr gegeben.

Die Sonne scheint. Die Bäckersfrau frage ich nach einem geeigneten Weg zurück zu meinem Wanderweg oben im Wald. Eine Taxe? Sie empfiehlt den Bus. Der fährt in Richtung Bad Driburg und hält am Waldrand am Eggeweg. Man muss doch nur die Einheimischen fragen, die Experten. "Reisendenlenker" steht auf dem Namensschild des freundlichen Helfers, der für Auskünfte zu Bus und Zug vor dem Bahnhof bereit steht. Beim Warten auf den DB-Bus erfahre ich, dass es lokale Busse gibt, die von Bürgern für Bürger betrieben werden, Selbsthilfe, Bürgerengagement.

So viele rote Anoraks in einem Ort an älteren Herren, die sonst mehr staubfarbene Jacken tragen, das fällt mir auf. Sollte hier ein besonders lebensfrohes Völkchen zu Hause sein? Rot statt Grau? Ich stutze. Na klar, die gab es doch neulich im Kaffeeladen.

Altenbeken gehört zu den sterbenden Orten, zu den öden oder zumindest verödenden Städten und Dörfern, wie ich unterwegs schon so viele angetroffen habe. Auch mein Gastgeber wird diese Unterkunft bald schließen, wieder eine Möglichkeit weniger für Fremde. Im Eggegebirge entspringen eine Menge Flüsse, auch die Emmer und die Aa. Es gibt viele Prospekte für Wanderer oder Radler, Belebung des sanftes Tourismus, aber wenn man Schwierigkeiten hat, Unterkünfte zu finden, geht der Plan nicht auf.

Der Wald steht wie frisch gewaschen und auf die Leine gehängt da. Heute habe ich fast nur bequeme Wege, wenig Auf- und Abstiege, fast schon zu bequem. Der Regen hat etwas Matsch hinterlassen, aber weniger als erwartet. Heute achte ich wie ein Luchs auf die Schilder, um Umwege zu vermeiden. Jede Menge Schnecken auf dem Weg, solche mit Häusern und solche ohne, so wie ich. "Nacktschnecken". Aber ich bin nicht nackt. Ein Shirt reicht, so warm ist es inzwischen geworden.

Meine Füße verhalten sich wie zänkische Geschwister. Hat doch der linke kleine Zeh gestern so viel Aufmerksamkeit erfahren, da muss der rechte Fuß sich auch mal bemerkbar machen. Nix da, darauf höre ich nicht. Das erledige ich mit dem luftigeren Schnüren der Bänder. Der Kleine musste sich auch mit Pflaster zufrieden geben und muckelt jetzt nur noch beleidigt.

Wie weit will ich? Muss ich überhaupt nach Willebadessen? Nicht unbedingt. Ich könnte zwar noch zwei Stunden laufen, aber weshalb eigentlich? Ärgerlich ist, dass man zum Übernachten immer runter vom Weg muss. Ich könnte in Herbram-Wald bleiben. Ich versuche es einfach mal. Ich stehe am Ortseingang vor einer Infotafel und sinne nach, ob die wohl, wenn ich mir das Design betrachte, noch aktuell ist. Eine junge Frau hält ihr Auto an und fragt, ob ich etwas suche, ob sie mir helfen kann. "Eine Unterkunft? Steigen Sie ein, das ist eine weitläufige Siedlung. Ich fahre Sie und wir schauen, ob sie hier was finden. Notfalls können Sie mit mir nach Paderborn mitfahren". Kluge Frau, gute Idee, denn es ist nichts auf. Geschlossen, aufgelassen, in restauro. Eine Pension existiert noch, ist aber belegt. Pech! Dann laufe ich eben weiter. "Versuchen Sie es in Neuenheerse, das liegt dort unten, zwei Kilometer den Wald runter, netter Ort, altes Stift, Wasserburg aus der Weserrenaissance und eine Kirche, im Kern romanisch, ganz hübsch. Da finden Sie was, ich bin sicher".

Ich laufe runter ins wirklich hübsche Dorf. Im Dorfkrug frage ich nach einer Unterkunft. Dort sitzt eine große Beerdigungsgesellschaft traurig beim Fellverzehren. Die Bedienung schickt mich nach nebenan. Ein Herr mit Rollator öffnet, quält sich die Treppe hoch, um mir das Zimmer zu zeigen. Ich bringe es nicht übers Herz, ihm abzusagen, bloß weil mir der Stil des Hauses nicht gefällt. Ein Waschbecken im Raum, Dusche und WC gegenüber, dicke Federbetten, Urväterhausrat, aber alles ordentlich und sauber. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben, die Schwiegertochter kümmert sich um ihn, kommt zweimal die Woche aus Paderborn rüber und schaut nach dem Rechten. Er bietet mir Tee an, fragt nach Frühstückswünschen und ob ich denn bei ihm in der Küche oder im Wohnzimmer sitzen will. Ich weiß doch, was sich gehört! Er ist ein ganz niedlicher alter Herr. Er lädt mich ein, ich könne abends mit ihm zusammen fernzusehen. Ich glaube, da probiere ich die berühmten lokalen Spezialitäten im Gasthaus. Er ist etwas enttäuscht.

Ich schaue mir die oft veränderte romanische Kirche an, die ihre sehr hübsche Krypta und eine Taufkapelle erhalten hat. Ein Kleinod! Das Wasserschloss nebenan ist von einem großen Park umgeben, aber mit einem Zaun bewehrt. Ein Museum mit lauter Kuriosem enthält laut Prospekt ausgestopfte Tiere, Kolonialgeschichliches aus "Deutsch-Südwest", hier vollmundig "Völkerkundliches" genannt, und allerlei Heimatkundliches. Daneben liegt das Gymnasium St. Konrad, offenbar eine klösterliche Lehranstalt. Hier ist eine katholische Gegend. In der Kirche stehen noch die Fahnen und Baldachine von der Fronleichnamsprozession.

Ich sitze in der Sonne vor dem Gasthof in einem Strandkorb. Ich schreibe Mails und lese auf meinem iPad in verschiedenen Büchern, die ich mir darauf geladen habe. Welcher Luxus! So richtig üppig Zeit zu haben ist etwas Neues für mich, nichts und niemand, der auf mich wartet, nichts, was dringend erledigt werden muss.

Neuenheerse - Blankenrode

 

Samstag, 15.6.13

Nachts hörte ich die Uhr an der alten Stiftskirche alle Viertelstunde schlägen, zur vollen Stunde mit allen Glocken. Die Einheimischen kennen das sicher. Ich versuche es einfach zu überhören.

Der alte Herr hat Kaffee gekocht und alles für mich dekoriert. Stolz präsentiert er sein Werk. Ein gutes Frühstück, dazu ein Gespräch über das Dorf und das Alleinsein. Zwischendrin zieht sich der alte Herr zurück, damit ich in Ruhe essen kann. Er bietet immer weitere Zutaten an und staunt, dass ich mit Käse zufrieden bin. "Ganz frische Einer, eins zum Mitnehmen, bitte einpacken." Er hat schon eine Tüte bereitgelegt für das zweite Frühstück. Er weiß genau, dass bis Blankenrode keine Chance besteht, etwas zu bekommen. "Da gibt es nur Wald". So ist es! Wald über Wald, es endet gar nicht, kein Ort dazwischen, keine Chance zur Übernachtung. Da rufe ich lieber eine Pension an, deren Internetauftritt mir gefallen hat, weil er sich an Wanderer und ihre Bedürfnisse richtet. Bis dahin muss ich es schaffen.

Es geht steil bergauf, drei Kilometer Anstieg, danach verläuft der Weg weitgehend über den Kamm und bis auf das Endstück bleibt er moderat. Tannen und Kastanien kennzeichnen die Zusammensetzung des Waldes. Die Forstwirtschaft ist hier sehr fleißig, überall zerfahrene Wege und aufgestapelte Baumstämme.

Im Wald findet ein Wanderer viele Denkmäler: mal alte Grenzsteine, mal sächsische Heiligtümer, Altäre, Opfersteine, Wegkreuze, Erinnerung an durch fallende Fichten verstorbene Forstarbeiter, durch Wilderer erschossene Förster, unter die Räuber gefallene Reisende.

Der Weg ist mir wieder ungefähr sechs Kilometer zu lang. Ich kenne mein Limit genau, und die letzten 1 1/2 Stunden müssten es nicht mehr sein, wenn es eine Alternative gäbe. Aber ich schaffe es, gar kein Zweifel. Direkt am Ortseingangsschild schüttet es wie aus Kübeln. Zeit zum Herausziehen des Anoraks bleibt nicht, ich bin sofort platschnass. Drei Minuten Starkregen, und es tröpfelt nur noch wenig. Aber es ist schon geschehen und welches Glück: Ich bin am Ziel, eine sehr angenehme Pension. Mit der Tochter des Hauses spreche ich über die Verödung der Dörfer, die ich beobachtet habe. Man weiß es, staunt aber doch, wenn man es erlebt. Sie zählt auf, welche Einrichtungen hier inzwischen geschlossen und abgebaut sind. Es ist ein allgemeiner Trend. Die Jungen ziehen weg. Keine Existenzgrundlage. Die Alten bleiben zurück und haben Probleme sich zu versorgen, wenn sie nicht mehr Auto fahren können. Einige Dörfer mit Industrie haben eine Chance, der Rest nicht.

Ich erlebe ein ganz anderes Deutschland. Deutschland von unten!

1. Brief an die Enkel

 

Liebe Clara, lieber Mattis, Blankenrode, 16.6.13

eure Oma läuft durch den Wald und denkt an euch!

Ich stelle mir vor, was ihr hier alles entdecken würdet: Schnecken mit und ohne Häuschen auf dem Rücken. Hasen und Rehe springen aus dem Gebüsch auf. Ich sehe Erdbeeren, Himbeeren, Heidelbeeren, leider noch nicht reif. Ich müsste nur lange genug warten, dann könnte ich sie pflücken. Mal gehe ich durch den dichten Wald, mal am Waldrand, mal über Wiesen und auf Feldwegen. Immer gibt es was zu sehen. Manchmal treffe ich dicke Trecker, die lange Baumstämme aus dem Wald ziehen oder Bauern, die mit dem Traktor das Heu wenden, damit es von allen Seiten trocken wird. Andere Menschen treffe ich ganz, ganz selten im Wald. Die anderen laufen nur mit dem Hund am Waldrand lang oder um irgendwelche Kneipen oder Sehenswürdigkeiten herum.

Mattis, du könntest bald nicht mehr "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad" singen, sondern: "Meine Oma wandert schnurstracks nach Italien, Italien, Italien, meine Oma ist 'ne ganz verrückte Frau!" singen. Ich habe viele Mails von Freunden bekommen, in denen bist du, Clara, richtig als ganz kluges und vernünftiges Mädchen erkannt worden, weil du meine Wanderung als "ein bisschen verrückt" bezeichnet hast. Stimmt ja! Aber es macht mir viel Freude und ich komme ganz gut voran. Wie weit ist es von euch bis zu Claras Kindergarten? Dann lasst euch mal zeigen, wie weit 16-20km sind, die ich so am Tag laufe. Wie oft müsstet ihr hin und her laufen?

Meine Füße und mein Rücken haben sich an das Laufen gewöhnt. Mein Rucksack wiegt genau 4,5 Kilo. Lasst euch mal etwas geben, was ein Kilo wiegt. Ganz schön schwer in der Hand, aber nicht so schwer auf dem Rücken.

Ich habe heute in einem Dorf bei Paderborn bei einer Pension übernachtet, die ein uralter Herr betreibt, der selbst nur noch mit dem Rollator laufen kann. Wahnsinn -und der arbeitet noch! Da fällt mir noch eine Strophe ein: "Meine Oma schiebt den Rucksack im Rollator, im Rollator... Meine Oma ist 'ne ganz patente Frau".

Soweit ist es noch nicht, aber man muss ja an die Zukunft denken.

Liebe Grüße

Hiltrud

Blankenrode - Obermarsberg

 

Sonntag, 16.6.13

In der Tagesschau, im Internet, im Radio, überall wird der Beginn des Sommers bejubelt. Es soll richtig heiß werden, so um die 30 Grad. Wie soll ich mich kleiden? Keine Auswahl, auch bei Hitze könnte ich nichts anderes anziehen. Heute ist es aber in Wirklichkeit kühl, der erste Tag, an dem ich morgens die Wolljacke überziehe. Angesagt ist angesagt. Es wird schon noch heiß werden.

Gestern Abend habe ich mich nicht mehr gemuckst, habe mich getrocknet, sortiert, habe geschrieben und ein bisschen ferngesehen. Ein schönes Lokal hätte ich hier nirgends gefunden. Da habe ich mein Brot gegessen.

So viel Hunger habe ich gar nicht unterwegs. Ich lebe eigentlich sehr billig, sozusagen von Wasser (aus der Leitung!) und Brot (immer das vom Frühstück!!). Nicht dass ich so sparsam bin, nein, es gibt einfach nichts, gar nichts unterwegs, was ich mir gönnen könnte. Kein Laden, keine Kneipe, kein Café, das blanke Nichts. Wald und Feld, kein Konsum möglich. Ich könnte mir außerhalb der Städte noch nichtmal Mineralwasser, Papiertaschentücher oder Zahnpasta kaufen. In einem Notfall könnte ich natürlich mit dem Bus irgendwo hinfahren, aber ich habe ja alles dabei. Ein gutes Gefühl.

Als ich gestern Abend den Verband von meinem kleinen Zeh abziehen wollte, um zu untersuchen, was sich dort inzwischen entwickelt hat, wollte ich das 2. Pflaster auch noch runterziehen. Das ging nicht - der ganze Zeh war eine einzige dicke Blase. Und ich habe immer mit dem Kleinen so geschimpft, er soll das Nölen und Meckern endlich einstellen, und dabei hatte er Recht, sich zu beschweren. Er hätte viel lauter schreien sollen! Die letzten Pflaster klebe ich heute vor der Tour auf. Luft, Salbe und Ruhe haben sich schon positiv ausgewirkt. Alles Material ist verpflastert. Wo kann ich Nachschub kaufen?

Gleich hinter Blankenrode komme ich an den Bleikuhlen vorbei, wo früher Blei, andere Metalle und Mineralien im Tagebau abgebaut wurden, seit Jahrhunderten. Überhaupt treffe ich viele Zeugen von früherer Industrie und Bergbau an. Ganz oft versteckt im Walde, heute alles aufgelassen. Dann die Sensation! Galmei-Veilchen, eine endemische Art, die es nur an diesem einzigen Standort gibt, eine blaue Blume, die Blei im Boden braucht und Galmei, was offenbar auch ein Metall ist. Das Veilchen sieht so aus wie unser Duftveilchen, Viola Odorata, nur größer, dunkelblau und vor allem blüht es nicht nur im Frühjahr, sondern bis in den September hinein. Es gibt so viele auf der Wiese, dass ich aufpassen muss, sie nicht zu zertreten.

Der Weg heute gefällt mir sehr. Es wechseln sich Wald- und Wiesenwege ab, es geht mal bergauf, mal bergab, mal durch ein Dorf. Alle Orte liegen wie ausgestorben da, keine Regung, kein spielendes Kind, kein Hund, gar niemand. Verfall, leere Läden, verlassene Häuser, aber daneben Häuser mit Deko aller Art. Wie hässlich kann man nur an bestehende Häuser anbauen? Wie viel Schmuck verträgt eine Eingangstür? In Essentho übertrifft die Zahl der gepflegten Häuser die verfallenden. Aha, hier produziert die Glasfirma Ritzenhoff, alles klar.

Marsberg liegt im Tal der Diemel, ein hübsches Städtchen. Hier bin ich im Hochsauerland, zwischen Brilon und Warburg. Der historisch bedeutendere Ort ist Obermarsberg, da will ich bleiben. Natürlich habe ich nicht die letzten zwei Kilometer steilen Anstiegs bedacht - und oben gibt es keinen Laden. Die Wirtsleute sind auch schon älteren Baujahrs, sie betreiben das letzte von früher sechs Lokalen im Ort. Sie wollten nachmittags Pause machen und warten nur meinetwegen.

Einsam fühle ich mich erstaunlicherweise gar nicht. Vielleicht habe ich doch nicht ein so großes Mitteilungsbedürfnis, wie ich dachte. Eine Rolle spielen sicher die vielen aufmunternden Mails. Ich habe nicht geahnt, wie viele Freunde und Bekannte so intensiv Anteil nehmen. Allen kann ich nicht individuell antworten. Ich überlege, einen kleinen Zwischenbericht an einen größeren Verteiler zu schicken.

Ich bin gespannt, wer seine Überlegung, ein Stück mitzuwandern, in die Tat umsetzt.

Obermarsberg - Schweinsbühl

 

Montag, 17.6.13

Ich bekomme eine Ahnung, welch wichtigen Gespräche in einer Kneipe geführt werden. Ein älterer Alkoholiker bespricht mit der Wirtin, ob er sich operieren lassen soll an der Hüfte oder nicht. Lebensberatung, die gibt es umsonst zum Bier dazu. Der Sparverein hat kleine Sparbüchsen angebracht. Früher war das in fast allen Kneipen üblich. Die Wirtin klagt, dass immer weniger Gäste einkehren. Jeder trinkt sein Bier zu Hause, ist ja auch billiger. Die jungen Leute fahren sonstwohin, zur Disko weit weg. Nun macht ihnen das verschärfte Rauchverbot noch mehr Kunden abspenstig. Der Wirt hat außerdem einen Job bei der Stadtverwaltung. Sonst könnten sie nicht existieren.

Ich gehe nicht weiter hoch zur Stiftskirche. Ich bin kein Tourist, ich wandere. Ich will meine Zeit und Kraft schonen und lasse daher Kirche Kirche sei.

Die Strecke heute ist besonders schön und sehr abwechslungsreich. Das Heu duftet, das frisch geschnittene Gras, die Holunderblüten. Die wilde Möhre wuchert hoch bis zum Hals. Weite Wellen in der Landschaften, die vielen verschiedenen Grüntöne, alles oft gesehen und immer wieder schön. Viel Teer und Schotterwege zwischendurch. Die Blasen an den Zehen haben sich schmollend zurückgezogen. Weg sind sie nicht, aber weniger quälend. Als ich aus dem Wald auf die Landstraße trete, hält ein Auto. Ein älterer Herr bietet mir an, mich die zwei Kilometer bis ins Dorf mitzunehmen, der Asphalt sei doch keine Wanderstrecke. Er selbst wandert auch gern und ist den Jakobsweg gegangen. Dabei hat er auch viel Hilfsbereitschaft erfahren. Der E1 ist verlegt worden, um touristische Attraktionen an ihn zu binden, z.B. ein Schaubergwerk. Dadurch sei er länger und auch beschwerlicher geworden. Er setzt mich direkt vor der Apotheke ab, damit ich mir Blasenpflaster kaufen kann.

Wenn man durch einen deutschen Wald läuft, bekommt man viele Informationen, ob über Bäume, Tiere des Waldes, Pflanzen, Insekten, Ökologie, über Forstwirtschaft, über Naturkatastrophen, Waldschäden, auch über Sagen, Märchen, frühere Wirtschaftsformen wie Hudewald, Bergbau oder Wilderei, wie heutige Erwerbszweige wie z.B. die Glasindustrie. Wie viele Hügelgräber, Ringburgen, Wüstungen habe ich schon gesehen, geologische Besonderheiten wie Karsterscheinungen, Erdfalten, Erdfälle, Klippen, besondere Gesteine. Alte Ländergrenzen werden durch Grenzsteine markiert, alte Besitzverhältnisse dokumentiert, Zugehörigkeit zu ehemals selbstständigen Fürstentümern, Bistümern, Stiften, Klöstern, technische Besonderheiten wie Eisenbahnviadukte, alte Eisenbahnlinien oder eine Blinkfeuer-Nachrichtenlinie. Sogar die verschiedenen Rindvieharten werden erklärt. Man kann nicht unbelehrt so einfach durch den Wald laufen, ein bisschen Bildung muss schon sein. Dafür kann man sich nicht auf die Entfernungsangaben verlassen. Ich staune, dass z.B. Blankenrode noch 15km entfernt sein soll. Laut Wanderführer hätten es weniger sein sollen.