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Julius Wolfenhaut

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Beschreibung

Der Autor Julius Wolfenhaut wuchs in Czernowitz unter Juden, Ruthenen, Deutschen und Rumänen auf und erlebte früh den wachsenden Antisemitismus. Die sowjetische Besatzung (ab 1940) deportierte v. a. Juden nach Sibirien. Wolfenhaut, ein junger Ingenieur, wurde als »sozialgefährliches Element« zu Schwerarbeit in Stalinka eingeteilt, anschließend als Lehrer in einer Schule für minderjährige Häftlinge in Tomsk. Nach Aufhebung der Verbannung arbeitete er 25 Jahre lang als Lehrer. 1994 siedelte er nach Deutschland über. In seinen Erinnerungen schildert der Zeitzeuge die Demütigungen und Entbehrungen derjenigen, die vom Sowjetsystem um ihr Lebensglück gebracht worden waren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Julius Wolfenhaut

Nach Sibirien verbannt

Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941–1994

FISCHER Digital

Inhalt

Die Zeit des NationalsozialismusLebensbilderJulius Wolfenhaut wuchs in [...]Meinem Vater, der in [...]Vorwort des HerausgebersPrologDie Weltverbesserer in AktionNachts geht das Verderben umLucieNächtliche Razzia. Verladung in den ViehwagenNach SibirienDie schwarzen WasserDie MilchkaraffeDer große Hunger»Mama …!«Ade, Stalinka!In memoriam Eduard PerlsteinDer Pulverturm»Es« explodiert …Adieu, Taiga! Eine Reise mit kleinen HindernissenIn Dserschinski bei Tomsk beginnt ein neuer LebensabschnittDie Neujahrsbotschaft …Hallo, Taiga! Mit einer Fähre nach Teguldet – Der Tod fährt mitEine alltägliche GeschichteWieder in Tomsk – die ErlösungEpilog

Die Zeit des Nationalsozialismus

Eine Buchreihe

Herausgegeben von Walter H. Pehle

Lebensbilder

 

Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse

 

Herausgegeben von Wolfgang Benz

Julius Wolfenhaut wuchs in Czernowitz auf und erlebte zunächst, wie in seiner Heimatstadt viele ethnische und kulturelle Gruppen – Juden, Ruthenen, Deutsche, Rumänen – friedlich miteinander lebten, bevor auch dort der Antisemitismus seine Wirkung zu erzielen begann. Der Rumänisierung der Bukowina ab 1918 folgte im Jahre 1940 die Besetzung des Landes durch sowjetische Truppen.

Diese führten Massendeportationen nach Sibirien durch, die vor allem den jüdischen Bevölkerungsanteil getroffen haben. Wegen »konterrevolutionärer Verbrechen« wurde der Vater, Nathan Wolfenhaut, sogleich im Juni 1940 zu Lagerhaft verurteilt; ein Jahr später deportierte man seinen Sohn Julius zusammen mit der Mutter.

Der junge jüdische Diplomingenieur musste als »sozialgefährliches Element« zunächst Schwerstarbeit auf einer Kolchose in Stalinka, einem Dorf am Wassjugan, verrichten. Anschließend wurde er als Lehrer in einer Schule für minderjährige Kriminelle in der Gebietshauptstadt Tomsk eingesetzt. 1956 hob man seine Verbannung auf. Die Rückkehr in seine Heimat wurde ihm jedoch nicht erlaubt. In Tomsk arbeitete Wolfenhaut daher 25 Jahre lang weiter als Lehrer für deutsche Sprache. Erst 1994 konnte er nach Deutschland übersiedeln.

In seinen Erinnerungen schildert der Zeitzeuge die Demütigungen und Entbehrungen derjenigen, die vom Sowjetsystem um ihr Lebensglück gebracht worden waren.

Meinem Vater, der in einem Lager des GULAG umkam, meiner Mutter, die im sibirischen Dorf Stalinka hungers starb

Vorwort des Herausgebers

Julius Wolfenhaut wurde 1913 in Czernowitz geboren. Die jüdische Familie gehörte zum deutschen Kulturkreis, der in der Hauptstadt der Bukowina unter Herrschaft der Donaumonarchie eine Enklave hatte, die in friedlicher Koexistenz mit Ruthenen, Rumänen, Ungarn, Polen, Slowaken blühte und nationale oder ethnische Zugehörigkeit – Deutscher, Österreicher, Jude, Armenier – nur als sekundäres Merkmal wahrnahm. Auch nach 1918, als die Bukowina nach dem Zusammenbruch des österreichisch-ungarischen Imperiums an Rumänien fiel, blieb Deutsch als Lingua Franca allen Eingesessenen geläufig.

Die Familie Wolfenhaut stammte aus Galizien. Der Großvater war Gutsverwalter eines polnischen Großgrundbesitzers gewesen. Er hatte 13 Kinder. Einer der Söhne, Nathan, verließ mit 13 Jahren das Elternhaus in Czorno Koncziki. Seine älteren Brüder hat Nathan nicht gekannt, auch sie mussten früh das Elternhaus verlassen, sie sind in die USA ausgewandert, wo sich ihre Spur verlor. Nathan verdiente sich sein Brot als Treiber bei Jagden des polnischen Adels, als Babysitter, als Laufbursche, als Kommis. Anfang des 20. Jahrhunderts ließ sich Nathan Wolfenhaut in Czernowitz nieder, gründete mit seinen Ersparnissen und der Mitgift seiner Braut, Pepi Schneeweiß, ein Geschäft. Zu den vier Klassen Volksschule erwarb er sich, rastlos fleißig, eine umfassende Bildung, wurde wohlhabend. Er holte seine Eltern nach Czernowitz und kaufte ihnen als Alterssitz ein Holzhaus mit Veranda und Garten am Rande der Stadt. Dort lebten auch zwei Schwestern Nathans bis zu ihrer Heirat. Ein Bruder war Buchhalter in seinem Geschäft. Wohlstand und Bildung bestimmten den Hintergrund der Familie, mit der Geburt von Julius schien das Glück vollendet.

Julius ging nach dem Abitur zum Studium nach Brünn. In der Tradition der K.u. K.-Monarchie bestand in der Tschechoslowakei eine deutsche Technische Hochschule parallel zur tschechischen TH in Brünn. Julius Wolfenhaut studierte dort Elektrotechnik und erwarb nach der zweiten Staatsprüfung am 24. Juni 1938 mit Auszeichnung das Diplom, das ihn zur Führung der Standesbezeichnung Ingenieur berechtigte. (Die rumänischen Behörden in Czernowitz registrierten ihn, wegen des Prädikatsexamens, sogleich als »Ingenieur dritter Klasse«, normalerweise führten Hochschulabsolventen zunächst nur die Bezeichnung »Hilfsingenieur«.) Eine Stellung in diesem Beruf fand der 25-jährige Julius freilich nicht. Er verdiente sich gerade ein Taschengeld mit Privatunterricht in Mathematik und Physik. 1938/39 leistete er als einjährig Freiwilliger den Militärdienst in der rumänischen Armee, fand danach eine Stelle als Techniker in einer Knopffabrik.

Mit dem Einmarsch der Roten Armee Ende Juni 1940 – die Bukowina war mit dem Hitler-Stalin-Pakt in die Einflusssphäre der Sowjetunion geraten – änderten sich alle privaten und beruflichen Perspektiven. Nach einer Episode als technischer Zeichner fand Julius eine Anstellung als Laborant mit einem bescheidenen Gehalt von 70 Rubeln im Monat. Das Geld war jetzt notwendig, der Wohlstand der Familie schwand unter sowjetischer Okkupation jäh dahin. An Geldwerten waren ein für alle Mal 3000 rumänische Lei in 300 Rubel umgetauscht worden. Dann wurde der Vater, Nathan Wolfenhaut, verhaftet. Das Unglück der Familie nahm seinen Lauf.

 

Der Kaufmann Nathan Wolfenhaut, im Sommer 1940 ein Mann von 57 Jahren, galt den neuen sowjetischen Herren des Landes als gefährliches politisches Element, als Bourgeois. Als Jude war er zusätzlich suspekt. Die Familie Wolfenhaut war nicht religiös, das Judentum empfand sie vor allem als Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft und – natürlich – wurden die Wolfenhauts durch Diskriminierungen daran erinnert, dass sie Juden waren. Das galt für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im Prinzip wie für die rumänische Herrschaft, und die Sowjets praktizierten ihren Argwohn gegen die Juden ohne besondere Begründung.

Nathan Wolfenhaut wurde als »Konterrevolutionär« zur Deportation nach Sibirien bestimmt. Der Verhaftung am 31. Juli 1940 war das Schnellverfahren mit dem Urteil sieben Jahre Haft in einem Lager im Gebiet Karaganda in Sibirien gefolgt. Der Sohn konnte ihm noch eine Wollmütze und einen alten Pelz ins Gefängnis bringen. Ein Jahr später ging Nathan Wolfenhaut zugrunde. Die Familie hat später das Todesdatum 27. Dezember 1941 und die angebliche Todesursache »Herzinsuffizienz« mitgeteilt bekommen, aber nie etwas Genaueres erfahren.

Am 13. Juni 1941 wurden im Zug einer Massendeportation aus Czernowitz auch Pepi Wolfenhaut, 60 Jahre alt, Hausfrau und von zarter Konstitution, und ihr Sohn Julius, 28 Jahre alt, nach Sibirien transportiert. Die Verbannung führte nicht in ein Lager, die Deportierten wurden in der sibirischen Taiga in einem elenden Dorf namens Stalinka am Wassjugan, einem Nebenfluss des Ob, mehr oder minder sich selbst überlassen. Julius musste im Kolchos arbeiten, und er versuchte, für sich und die Mutter über die kargen Rationen hinaus Essbares zu ergattern. Am 6. Oktober 1942 starb die Mutter am Hunger, die Behörden nannten es »Altersschwäche«.

Julius wurde im Rayon-Zentrum Nowo-Wassjugan in einem Tischlereibetrieb Normen-Sachbearbeiter, zwei Jahre später schickte man ihn in die Gebietshauptstadt Tomsk in eine Sträflingskolonie für minderjährige Kriminelle als Lehrer für Physik und Mathematik. 1947, als die sowjetischen Behörden verfügten, die Deportierten müssten an den Ort ihrer ersten Ansiedlung zurückkehren – in das mit dem Tod der Mutter und anderen schrecklichen Erinnerungen belastete Stalinka am Wassjugan –, gelang es Julius, sein Schicksal ein wenig zu korrigieren. Er erhielt Order, an der Mittelschule in Teguldet im Gebiet Tomsk Mathematik, Physik, Deutsch und Astronomie zu unterrichten. Dort lernte er die junge Lehrerin Augusta Michailowna Ryschkowa, eine russische Verbannte aus dem Krasnojarsker Gebiet, kennen. 1953 heirateten sie, im gleichen Jahr wurde der Sohn Juri geboren, zwei Jahre später kam Alexander zur Welt.

1956 wurde die Zwangsaussiedlung formal aufgehoben, Julius Wolfenhaut musste sich aber schriftlich verpflichten, nicht in die Heimatstadt Czernowitz zurückzukehren und auf die Entschädigung des seinerzeit konfiszierten Vermögens der Familie zu verzichten. Eine Rehabilitierung der unschuldig Deportierten war nicht vorgesehen. 1960 übersiedelt die Familie nach Tomsk. 25 Jahre arbeitete Julius Wolfenhaut dort als Lehrer. 1985, im Alter von 72 Jahren, trat er in den Ruhestand. Augusta, die an der gleichen Schule als Lehrerin und Erzieherin tätig war, zog sich 1973 55-jährig aus dem Berufsleben zurück. Für sowjetische Verhältnisse wären die Jahre in Tomsk angenehm gewesen. Das Einkommen war gesichert, die Familie besaß ein Haus (mit dessen Erlös später die Flugtickets nach Deutschland bezahlt wurden). Das Trauma der Verbannung, die anhaltende Diskriminierung als Jude, der erzwungene Aufenthalt in Sibirien – das den Eltern im Gegensatz zu den Söhnen nie Heimat war – die existenzielle Kränkung durch die Willkür des Sowjetsystems ließen Julius und Augusta Wolfenhaut das Fremdsein nie überwinden.

1993, im Alter von 80 Jahren, ist Julius Wolfenhaut in aller Form rehabilitiert worden. Das war mit der Lossprechung 1956 noch nicht verbunden gewesen. Auch Entschädigung für die beschlagnahmten Vermögenswerte in Czernowitz wurde geleistet. Sie belief sich umgerechnet auf DM 57,–. Die untergehende Sowjetunion hat auch Nathan Wolfenhaut, den Vater von Julius, der im Straflager unschuldig ums Leben kam, rehabilitiert. Das erfuhr der Sohn im Jahre 1990. Dem heute 92-jährigen kommen die Tränen, wenn er davon spricht.

Der Jude Wolfenhaut hat vom Holocaust erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren. Andeutungen über das jüdische Schicksal fand er in Briefen aus Czernowitz und von Verwandten, die nach Kanada ausgewandert waren. Vom Völkermord, dem auch Mitglieder der Familie Wolfenhaut zum Opfer fielen, hörte der nach Sibirien Verbannte erst spät. Dass auch er wie seine Eltern indirekt Opfer des Holocaust sind, gehört zur komplizierten Realität seiner Verfolgung. Oberflächlich betrachtet könnte das Schicksal des Julius Wolfenhaut ja auch als Rettung verstanden werden. Er empfindet es anders, als Zerstörung eines Lebensentwurfs, als Vernichtung einer Familie, als lebenslanges Trauma.

 

Julius Wolfenhaut schreibt und spricht ein makelloses bilderreiches Deutsch. Die deutsche Sprache war ihm in der Verbannung Heimat, deutsche Literatur begleitete ihn auf allen Wegen. Sie war in Ausgaben des Moskauer Verlags für fremdsprachige Literatur, vor allem aber in Editionen aus der DDR auch im fernen Sibirien erhältlich. Bücher waren unglaublich billig in der Sowjetunion. Das galt auch für Titel in deutscher Sprache. Neben den Klassiker-Ausgaben rühmt Wolfenhaut eine wunderbare deutsche Grammatik und die DDR-Zeitschrift »Sprachpflege«, die man für 10 Kopeken in Tomsk kaufen konnte. Alle seine Bücher musste Julius Wolfenhaut in Sibirien zurücklassen. Nur eines hat er mitgenommen, das »Wörterbuch der Sprachschwierigkeiten«. Es liegt in Regensburg griffbereit.

Auf dem Gymnasium in Czernowitz hatten Französisch, Latein und Griechisch, auch ein wenig Italienisch zum Lehrstoff gehört. Rumänisch war die wichtigste Sprache, im Unterricht wie im Alltag. Rumänisch war für den jungen Julius Wolfenhaut die zweite Muttersprache geworden. Er hat sie heute, im Gegensatz zu Französisch, vollkommen vergessen. Als Folge des psychischen Widerstands, wie er glaubt. Dagegen ist ihm Russisch zur wirklichen zweiten Muttersprache geworden, mit seiner Frau Augusta spricht er heute vor allem Russisch, denn sie tut sich im Alter schwer mit dem Deutschen. Gleich nach der sowjetischen Besetzung von Czernowitz hatte Julius bei einem Russisch-Lehrer Privatstunden genommen, der ihm einige Grundbegriffe beibrachte. Richtig erlernt hat er die Sprache aber erst während der Deportation, er nennt es sarkastisch die beste Art des Unterrichts: »Ich wurde einfach in das Milieu verfrachtet, wo es hieß, sprechen oder krepieren.«

Sprache ist für Julius Wolfenhaut Profession geworden. Der Kenner der russischen Literatur beobachtet den Sprachverfall unter sowjetischer Herrschaft mit kritischen Anmerkungen. Viktor Klemperer, der die Sprache des Dritten Reiches, die Lingua Tertii Imperii (LTI) analysiert hat, ist ihm Vorbild. Klemperers Buch LTI kennt er dank einer vorzüglichen Buchhandlung in Tomsk, bei der er auch die Klassiker-Ausgaben des Weimarer Aufbau-Verlags bezieht, Goethe, Schiller, Heine, und mit Klemperer misst er die Verödung der russischen Sprache durch das Wirken der Parteibürokratie: »Die LTI (Sprache des Dritten Reiches) ist bettelarm. Ihre Armut ist eine grundsätzliche; es ist, als habe sie ein Armutsgelübde abgelegt«, konstatiert Viktor Klemperer. »Wie viel zutreffender wäre dieses Urteil, wenn es sich auf die sowjetrussische Sprache beziehen würde!«, schreibt Wolfenhaut in seinem unveröffentlichten Text »Streiflichter aus dem Roten Reich«. Er gibt dort auch Proben seiner Beobachtungen: »Der Dogmatismus und der Formalismus, die das öffentliche Leben prägten, griffen auch auf die Wissenschaft und die Sprache über. Lenins Schlagwort ›Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes‹ wurde in den Rang einer wissenschaftlichen Definition erhoben, und wehe dem Prüfling, der diese Sentenz nicht wortgetreu hersagen konnte. Parteifunktionäre, die durch ständiges Büffeln der geisttötenden Stalinschen ›Werke‹ sowie der Literatur des Marxismus-Leninismus alles Sprachgefühl eingebüßt hatten und nur noch in Schablonen zu denken imstande waren, führten eine, mit Klischees durchsetzte ›Neusprache‹ (nach G. Orwell) ein: ›Arbeit‹ wurde fast immer mit ›heldenmütige‹ gekoppelt; wenn die ›Partei‹ erwähnt wurde, dann stets die ›teuere‹; wenn man über die Zukunft faselte, dann über die ›helle‹; eine ›Rede‹ war ›flammend‹ oder ›aufgeregt‹; wenn ›Maßnahmen‹ ergriffen wurden, dann waren es ›entsprechende‹ … Offenbar traf Hebbels Wort ›In der Sprache, die man am schlechtesten spricht, kann man am wenigsten lügen‹ auf das sowjetische Bonzentum nur bedingt zu.«

Dem ideologischen Schwulst der Sowjetsprache gilt, wie dem ganzen System, die Verachtung Wolfenhauts. Er markiert aber auch alltäglichen Verlust von Sprachtechnik in Grammatik und Semantik: »Von der Verarmung der Sprache zeugt eine auffällige Erscheinung: Im gesellschaftlichen Verkehr wird die indirekte Rede immer mehr verdrängt; Äußerungen dritter Personen werden in direkter Rede wiedergegeben. Die Anzahl der Flickwörter, die in die Rede eingeflochten werden, wächst beständig; sie werden oft an unpassendster Stelle eingesetzt. In einer dreiminütigen Rede, die eine Lehrerin im Pädagogischen Rat hielt, konnte unser junger, auf Statistik bedachter Mathematiklehrer 24-mal das Wörtchen ›wot!‹ (›so!‹) registrieren. Dass Fremdwörter Glücksache sind, bestätigte uns die Zeitung ›Sowjetskaja Rossia‹: Sie berichtete von einem ›Gedenk-Memorial‹ (›Memorial pamjati‹) … In Massenmedien und in öffentlichen Reden werden ›potentielle Möglichkeiten‹ erörtert. Mit einer optimalen Lösung der leider zahlreichen Probleme gibt man sich schon nicht zufrieden, man sucht nach der ›optimalsten‹. Die Deklination der Numeralien macht selbst den Rundfunkansagern Schwierigkeiten. Nicht selten hört man sogar von führenden Staatsmännern falschen Wortakzent.

Der aggressive Geist, der für die bolschewistische Ideologie bezeichnend ist, hat auch auf die Sprache eingewirkt. Verhüllte und unverhüllte militante Wendungen aus öffentlichen Reden, Parteibeschlüssen, Aufrufen und Losungen sind von der Publizistik und zum Teil von der schönen Literatur teils bewusst, teils unbewusst übernommen worden und von dort in die Umgangssprache eingedrungen: Es gilt, die ›Schlacht um die Ernte‹ zu gewinnen, wofür ›alle Ressourcen mobilisiert‹ und die ›Kämpfer der studentischen Baubrigaden‹ herangezogen werden; von diesen erwartet man ›Arbeitsheldentaten‹. Die Partei verlangt von ihren Mitgliedern, ›kriegerischen‹ Atheismus zu propagieren. Von der ›Kulturfront‹ (!) werden eindrucksvolle Siege über ›kulturfeindliche‹ Elemente gemeldet. An der ›ideologischen Front‹ werden die ›heimtückischen Manöver der Klassenfeinde‹ schonungslos entlarvt. Überall wird ›gekämpft‹: Das Lehrerkollektiv ›kämpft‹ um ein höheres Leistungsprozent, der Kolchos um einen größeren Ernteertrag, die Arztegewerkschaft für eine Senkung der Sterblichkeitsziffer, das Bestattungsinstitut für die Erfüllung des Planes …«

Schließlich gibt Wolfenhaut ein eindrucksvolles Beispiel für den Sprachgebrauch in der hierarchischen Gesellschaft der Sowjetunion, die sich als klassenlos verstehen wollte: »Es ist sprachlich aufschlussreich, dem Gebrauch des Personalpronomens ›du‹ im heutigen Russisch nachzugehen. Es sind hier drei Verwendungsmöglichkeiten zu unterscheiden: 1. die übliche Verwendung als vertraute Anrede an Familienmitglieder, Freunde, Kinder; 2. als Anrede, die den Standesunterschied deutlich macht und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eine brüske Demütigung bezweckt. Das habe ich in meinem Status als Verbannter in Wassjugan und in Dserschinski zu spüren bekommen. 3. Die dritte Verwendung ist eigenartig. Sie zeugt von einer wohlwollend-herablassenden Einstellung, die der Vorgesetzte seinem Untergebenen bezeigt, und soll eine Verwischung des Standesunterschiedes andeuten. Der Untergebene wird sich aber hüten, dem leutseligen ›du‹ seines Vorgesetzten gleichfalls mit ›du‹ zu begegnen; er wird unterwürfig die Höflichkeitsform ›Sie‹ gebrauchen. Dazu ein Beispiel (der Erste Parteisekretär empfängt einen Besucher): ›Also, Stepanytsch, wir haben beschlossen, dich als Direktor der Schuhfabrik einzusetzen.‹ – ›Waleri Petrowitsch, seien Sie versichert, dass ich das Vertrauen, das Sie in mich setzen …‹ – ›Schon gut. Sieh nur zu, dass du den Plan erfüllst, sonst klopfen wir dir auf die Finger.‹ – ›Sie werden zufrieden sein, Waleri Petrowitsch …‹«

 

Wolfenhaut ist nicht nur Lehrer aus Berufung, sondern auch Vermittler deutscher Kultur. Seit 1960 an einer Schule mit erweitertem Deutschunterricht tätig, bald auch als Lektor für Deutsch an der Universität Tomsk, hatte er ein Wirkungsfeld gefunden, das ihm auf den Leib geschrieben war. Er war Mitglied des Fremdsprachenclubs und hielt dort Vorträge über deutsche Literatur und Musik, und an der Schule leitete er einen »Zirkel für Musik und deutsche Literatur«, der in Rezitationsabenden mit Heine und Brecht, in Aufführungen von Goethes Faust und Schillers Kabale und Liebe, mit Szenen aus Emilia Galotti oder den Räubern Öffentlichkeit fand. Anrührende Zeugnisse der Verehrung des kulturellen Erbes im Exil waren die festlichen Veranstaltungen zum 150. Todestag Beethovens und zu Ehren von Wolfgang Amadeus Mozart, die Julius Wolfenhaut in Tomsk organisierte.

Sicher haben Gaben wie Humor und Ironie neben seiner hohen Intelligenz zum Überleben wesentlich beigetragen. Die Verletzungen durch die Demütigungen der Deportation, der Schmerz über den Tod der Eltern ist dadurch nicht gelindert. Überhaupt ist der Haushalt der Emotionen, konstelliert durch eine zutiefst humane Einstellung nach mehr als einem halben Jahrhundert diskriminierender Erfahrung als unschuldig Verbannter und Diskriminierter schwer in der Balance zu halten. So zeigt Wolfenhaut auf die Frage, ob er in der neuen Heimat Regensburg als Fremder auffalle und auch unangenehme Erfahrungen machen muss, nur Begeisterung: »Fremde Leute haben mich gegrüßt, im Bus haben junge Frauen mir den Platz angeboten, das war für mich nach meinen Erfahrungen in der Sowjetunion völlig unmöglich und unverständlich. So ein freundliches Entgegenkommen, das hatte ich nie erlebt. Ich könnte jetzt eigentlich Tränen vergießen. An Grobheiten und Rüpeleien bin ich gewöhnt, gute Worte lassen mir Tränen in die Augen treten.«

Scharfe Beobachtung, Antennen für das Groteske, Freude am Witz der Situation, bei unbestechlicher Überzeugung vom Sinn des Rechts und der Wahrheit, machten Wolfenhaut zum Chronisten des Alltags der Verbannung. Über das eigene Schicksal hinaus zeichnet er gestochene Vignetten, die seltsame Realitäten verständlich werden lassen. Vielleicht gehört auch Michail Sostschenko zu den literarischen Vorbildern Wolfenhauts. Die folgende Szene (aus seinem Text »Streiflichter aus dem Roten Reich«) zeigt das literarische Format des Chronisten: »Die letzten 34Jahre (von insgesamt 53) verbrachte ich in Tomsk. Die wirtschaftliche Lage im Lande spitzte sich immer mehr zu; sogar die notwendigsten Gebrauchsartikel, wie Seife, Streichhölzer, Zahnbürsten, Rasierklingen u.a. m., verschwanden von Zeit zu Zeit urplötzlich aus dem Handel, um nach Monaten sporadisch wieder aufzutauchen. Natürlich wurde gehamstert, auf dem Schwarzmarkt Preiswucher getrieben. Das Thema »Defizit« (im Russischen umgangssprachlich für Mangelware) war in aller Munde, und ein Gespräch, das ich im Gedächtnis behalten habe, zeigt, mit was für Raffinesse ein Engpass mitunter gemeistert wurde. ›Zwar sind Glühlampen billig: 30 bis 40 Kopeken das Stück, aber was nützt das schon, wenn ich seit einem Jahr nirgendwo eine Birne kaufen kann! Bald werde ich mich wohl auf Kerzenbeleuchtung umstellen müssen‹, klage ich einem Bekannten meine Not. – ›Ja, Glühlampen sind jetzt überall Defizit, sogar in Moskau‹, sagt er und schüttelt teilnahmsvoll den Kopf. ›Aber in Moskau‹, fährt er fort, ›werden auf dem Schwarzmarkt durchgebrannte Birnen angeboten, ein Rubel das Stück.‹ Ich blicke ihn ungläubig an. ›Und die Leute fallen auf diesen Schwindel herein?‹, frage ich misstrauisch. – ›Wieso Schwindel?‹, entgegnet er. ›Sie kaufen wissentlich diese Birnen …‹ Mein verblüfftes Gesicht belustigte ihn. ›Man sieht, du hast lange auf dem Lande gelebt‹, sagt er nachsichtig und klärt mich auf: ›Das ist doch ganz einfach: du kaufst eine durchgebrannte Lampe. Am nächsten Tag gehst du zur Arbeit; in einem unbewachten Moment schraubst du irgendwo eine gute Birne aus und drehst die durchgebrannte ein. Die gute bringst du nach Hause …‹ Ich war baff.«

Julius Wolfenhauts Urteil über das Land und das System, das 53 Jahre lang sein Leben bestimmte, ist eindeutig, schroff und abschließend: »›Das Alter verklärt oder versteinert‹ heißt es bei Marie von Ebner-Eschenbach. Mir hat das Alter nach dem Erlittenen in der lebensfeindlichen Taiga noch ein Übriges zuteil werden lassen: außer einem versteinerten Herzen – den grauenvollen Tod meiner Eltern kann ich nicht verwinden – wache Sinne. Sie befähigten mich auch im Elend der Verbannung, gedemütigt und erniedrigt, an jener Missgeburt der Weltgeschichte, dem Bolschewismus, den Niedergang einer Moral zu verfolgen, der als Nebeneffekt der Planwirtschaft zur Negation aller sittlichen Werte führte.«

 

Am 10. August 1994, 81 Jahre alt, kam Julius Wolfenhaut mit seiner Familie in Deutschland an. Er nennt diesen Tag seinen zweiten Geburtstag. Julius und Augusta Wolfenhaut, ihre Söhne Juri und Alexander, deren Frauen und Kinder, waren »Kontingentflüchtlinge«, d.h. sie machten als Juden von einer Möglichkeit Gebrauch, die die Volkskammer der DDR1990 eröffnet hatte. Als eine Geste der Wiedergutmachung hatten die Parlamentarier der DDR Juden aus der ehemaligen Sowjetunion eine neue Heimat in Deutschland angeboten. Im Einigungsvertrag übernahm die Bundesrepublik die humanitäre Verpflichtung. Julius Wolfenhaut hatte, sobald er davon hörte, den Antrag auf Ausreise nach Deutschland gestellt.

Die erste Station in Deutschland war ein Lager für Spätaussiedler in Bernburg in Sachsen-Anhalt, wenige Tage später wurde die Familie in eine Auffangstelle für jüdische Einwanderer in Dessau-Kochstedt gebracht. Ein Zimmer stand Julius und Augusta Wolfenhaut, je eines den Familien der beiden Söhne zur Verfügung. Sie haben das Wohnheim in guter Erinnerung. Im Auftrag des Vereins »Unter einem Dach« gab Julius Wolfenhaut drei Monate lang Deutschunterricht für jüdische Einwanderer. Das Honorar betrug DM 120,– monatlich und war für das Selbstbewusstsein des alten Herrn sehr wichtig. Im November 1994 übersiedelten die Söhne mit ihren Familien nach Regensburg. Sie sind Computerspezialisten, haben an der Universität in Tomsk studiert, sie sprachen auch in Sibirien schon sehr gut deutsch. In Regensburg haben sie sich angesiedelt, weil ihnen die bürgerliche Atmosphäre gefiel, weil die Stadt nicht zu groß ist, weil sie Arbeit als Programmierer gefunden haben. Die Eltern folgten den Söhnen nach Regensburg. Es gab zuvor keine Beziehungen dorthin.

Julius Wolfenhaut ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Regensburg, ohne fromm im Sinne der Einhaltung religiöser Vorschriften zu sein. Seit 1995 erhält er eine kleine Rente, auf die deutsche Staatsbürgerschaft hat er warten müssen, weil sein Geburtstag im russischen Pass falsch eingetragen war. Das zu berichtigen dauerte zwei Jahre, und es trug nicht dazu bei, das harsche Urteil über die russische Bürokratie zu mildern. In Regensburg ist er vollkommen glücklich, hier hat er mit Augusta im Jahre 2003 Goldene Hochzeit gefeiert, sie werden von der Fürsorge und Zuneigung der Kinder und Enkel getragen. Mit Worten könne er seine Gefühle gar nicht beschreiben, sagt er: »Dass ich nach 53 Jahren als Deportierter, als erniedrigter Zwangsarbeiter aus Russland in die Freiheit nach Deutschland kam, jeden Abend und jeden Morgen danke ich Gott dafür, dass er uns herausgeführt hat aus dem schrecklichen, furchtbaren, entsetzlichen Land in die Freiheit nach Deutschland: ›Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.‹«

 

Julius Wolfenhaut hat das Manuskript seiner Erinnerungen in den Jahren 1990–1991 in Tomsk geschrieben. Es existiert in fünf handschriftlichen Exemplaren. Die größte Sorge bei der Ausreise aus Russland war, das Manuskript könnte konfisziert werden, daher die Sicherheitskopien. Der Autor hatte Glück. Wolfenhauts waren die letzten in der Schlange zum Flugzeug und die Beamtin hat nur auf Wertsachen, die ausgeführt wurden, geachtet, nicht auf den schlichten Beutel mit dem Manuskript. So sind drei der fünf Exemplare nach Deutschland gekommen. Dort hat der Verfasser, immer um die absolute Wahrheit auch im letzten Detail bemüht, es ergänzt und in die Form gebracht, in der es veröffentlicht werden sollte.

Das schriftstellerische Talent des Autors war in der Sowjetunion brachgelegen, sieht man von dem 1976 verfassten Lehrbuch über Astronomie ab, das er in seinen Erinnerungen erwähnt. Einige humoristische Artikel hat er irgendwann für eine deutschsprachige Zeitung in Moskau geschrieben, aber die Belegexemplare existieren nicht mehr, es schien auch nicht ratsam, sie in den 20 kg Auswanderungsgepäck mitzuführen.

Unter dem Titel »Die schwarzen Wasser des Wassjugan« erscheinen die Erinnerungen erstmals in 58 Folgen der Mittelbayerischen Zeitung Regensburg, vom 12. April 1996 bis 23. Juni 1996. Im folgenden Jahr, ebenfalls in Regensburg im Verlag der Zeitung, wird der Text auch als Buch publiziert. Der Autor sah seine Intentionen dabei nicht ganz erfüllt, da z.B. die Anmerkungen der volkstümlicheren Wirkung zuliebe geopfert worden waren. Seine Ambition besteht aber gerade in den Belegen, im Nachweis von Literatur, die er zusammengetragen hat, um alles, was er beschreibt, hieb- und stichfest zu machen. So hat er, ohne den Grundtext zu verändern, unablässig weitergearbeitet, den eigenen Text reflektiert und durch Anmerkungen, Hinweise auf spätere Lektüre, ergänzt. Die vorliegende Ausgabe enthält sämtliche Anmerkungen und Literaturverweise aus der Hand des Autors. Geändert wurde lediglich die Anordnung der biographischen Informationen zu einzelnen Personen der Handlung. Wolfenhaut hat die Hinweise über Jugendfreunde und Schicksalsgenossen, die er im Laufe der Zeit (bis Juni 2004) gesammelt hat, ursprünglich als Nachtrag dem Manuskript angefügt und dort nach der Reihenfolge des Auftretens im Text geordnet. Zur besseren Lesbarkeit sind diese Informationen als Fußnoten im Text platziert worden.

Julius Wolfenhaut hat in den Jahren 2001/2002 einen weiteren Text verfasst, dem er den Titel »Streiflichter aus dem Roten Reich« gab und der in einer Neuausgabe seiner Erinnerungen als zweiter Teil erscheinen sollte. Obwohl auch die »Streiflichter« autobiographische Sequenzen enthalten, gehören sie doch in ein anderes Genre, das der Sachliteratur, die Zustände und Alltagserfahrungen in der Sowjetunion – gestützt auf russische Quellen wie Zeitungsartikel – beklagt. Auch aus diesem Grund erscheint dieser Text hier nicht im Druck. Einige charakteristische Passagen sind bereits zitiert worden.

Der Epilog mag als Zusammenfassung der Eindrücke und des Urteils des Verfassers über Stalins Schreckensregime und das System kommunistischer Herrschaft gelesen werden. Als Opfer dieses Regimes hat Julius Wolfenhaut das Recht zur eindeutigen Bewertung. Seinem dringenden Wunsch, »den emotionalisierenden Epilog nicht zu streichen«, ist deshalb gerne entsprochen worden.

 

Wolfgang Benz, im August 2004

Prolog

Die Erinnerung ist das einzige Paradies,

woraus wir nicht vertrieben werden können.

Jean Paul

Ich bin 78. Müde und verstimmt … Im Nordwesten versinkt die fremde Sonne und färbt den dunkelnden Himmel brandrot. Es werde Wind geben, meinen dazu die Einheimischen … 33 Grad im Schatten! Hätte ich je geahnt, dass es in Sibirien, das sich – damals! – für mich nur mit Schnee und Eis assoziierte, so unerträglich heiß sein könne? Sogar die Innenwände unseres kleinen Blockhauses fühlen sich warm an. Wieder steht mir eine schlaflose Nacht bevor … Der rötliche Widerschein erfüllt die Stube mit fantastischem Glanz und vergoldet das dürftige Mobiliar. Seltsame Schatten zittern auf der aufglühenden kahlen Wand. Für eine Weile bin ich der Gegenwart entrückt. Verwischte Bilder froher und trüber Tage ziehen wahllos vorüber, stumme Gestalten nicken mir heiter, manchmal nachdenklich und vorwurfsvoll zu … Mein Vater … Den ruhigen, ernsten Blick seiner grauen Augen fürchtete ich mehr als Mutters Schelte. Ich empfand ein wenig Scheu vor diesem besonnenen, aufrechten Mann, der seine Liebe zu mir nur selten, sehr selten, durch einen flüchtigen Hauch in den Nacken – es sollte einen Kuss bedeuten – zu erkennen gab.

Es existierte einmal eine Stadt, die hieß Czernowitz … Anfang der zwanziger Jahre wohnten wir dort in der Metzgergasse, einer ungepflasterten, wenig befahrenen Seitenstraße. Vom Fenster im zweiten Stock konnte ich den großen verwilderten Obstgarten, der sich bis in die Franzosgasse zog, überblicken, und wenn wir – Vater, Mutter und ich – sommers auf dem Balkon unser Nachtmahl verzehrten, flatterten, vom Licht angelockt, Fledermäuse um uns herum – Mutter fürchtete sie –, und vom dunklen Garten her hörten wir die Laubfrösche quaken. Oh, wie die Mädels kreischten, wenn wir Jungens, einen Frosch in der Hand, ihnen nachliefen! Wir – das waren der Hausmeistersohn Johannziu Popowicz, ich und, in einigem Abstand aber, Salo Oberweger, der eine Treppe tiefer wohnte. Johannziu und ich hatten ein »Geheimnis« – eine im Garten ausgehobene, gut getarnte kleine Höhle, in der wir Kiesel, Schrauben, Blechbüchsen und dergleichen Kram aufbewahrten, und wie sehr sich Salo auch bemühte dahinter zu kommen, es blieb ihm versagt.

Pan Bohusiewicz, unser Hausherr, war früher Großgrundbesitzer gewesen und gehörte dem polnischen Adel, der Schlachta, an. Als die Jahre ihn zu drücken begannen, machte er seine Güter zu Geld und ließ davon zwei große Mietshäuser, nebenan für sich eine einstöckige Villa bauen. Wir Lausbuben fürchteten den behäbigen, schwerfälligen Mann mit strengen Zügen und rauer Stimme, der uns zuweilen dabei überraschte, wenn wir, rittlings auf dem Treppengeländer sitzend, wie ein geölter Blitz hinuntersausten. Aber schließlich war das ja nur ein vorübergehender Ärger. Schlimmer gestalteten sich unsere Beziehungen zu Frau Wojtanowicz, die im Erdgeschoss wohnte und daher an unserem Treiben im Hof ungewollt teilnahm. Leider ging ihr jedes Verständnis für Sport ab, und als einmal der Ball durchs offene Fenster in ihre Speisekammer flog, wollte sie durchaus nicht einsehen, dass unser Torhüter damit doch meisterhaft ein sicheres Goal zu einem Eckstoß abwehren konnte. Erschwerend kam noch hinzu, dass ihr Söhnchen Ljubziu (Koseform von »Ljubomir«) und der gleichaltrige Richard Zettel, der mit mir Tür an Tür im zweiten Stock wohnte, sich von Zeit zu Zeit erdreisteten, gegen uns ältere Jungen aufzubegehren, wofür beide schließlich eine gehörige Tracht Prügel einstecken mussten. Auf Ljubzius Gebrüll wurde damals von der Gegenseite schweres Geschütz aufgefahren: In der Türöffnung zeigte sich Herr Wojtanowicz, seines Zeichens Lehrer an einer ruthenischen Schule, und fuchtelte bedrohlich mit einem knotigen Stock. In dieser brenzligen Situation entschieden wir uns für die »Vorsicht als das bessere Teil der Tapferkeit« und nahmen Reißaus in den Obstgarten, von wo aus wir, im hohen Gras gut gedeckt, belustigt der ergebnislosen feindlichen Suchaktion zusahen.

Gleichfalls im Erdgeschoss wohnte der deutsche Gymnasialprofessor Hudeczek, dessen Tochter Hertha zur ersten Schönheitskönigin von Czernowitz gewählt wurde. Da waren wir aber mächtig stolz! Im Vergleich zu den Wojtanowicz’ befand sich der Professor insofern in strategisch günstigerer Lage, als vor seinen Fenstern der schmale Hof geschottert und demnach zum Fußballspielen nicht geeignet war.

Der ethnischen Zugehörigkeit nach entsprach die Zusammensetzung der Bewohner beider Mietshäuser der ungefähren Verteilung der Czernowitzer Bevölkerung um 1918 (nach abnehmender Zahl): Juden, Ruthenen, Deutsche, Polen; geringere Quoten entfielen auf Rumänen, Ungarn, Tschechen. Die auf kulturelles Eigenleben bedachten größeren ethnischen Gruppen hatten eigene Schulen, gaben Zeitungen heraus und verfügten über Volkshäuser. Das Jüdische Haus, ein stattliches Gebäude, dessen Fassade vier Halbsäulen zierten, stand am Theaterplatz; das Deutsche Haus, ein hellgrauer, an noble Patrizierhäuser angrenzender repräsentativer Bau, mit Erkern, spitzen Bögen und Türmchen versehen, die den gotischen Stil andeuteten, befand sich in der vornehmen Herrengasse; schräg gegenüber stand das breitere, aber niedrige Polnische Haus »Dom Polski«. Gleichfalls zentral gelegen war das Ruthenische Haus »Narodny Dym«, es stand in der Petrowiczgasse unweit der armenischen Kirche.

Der Hang zu kultureller Eigenständigkeit erfasste auch das Sportwesen – es gab in Czernowitz vier Fußballklubs: einen jüdischen, der hieß »Makkabi«, sein Dress war selbstverständlich blauweiß; einen deutschen, »Jahn« genannt nach dem Turnvater, der Dress – ganz richtig! – schwarzweiß; einen ruthenischen, der hieß »Dowbusch«[1], der Dress war natürlich blaugelb, und schließlich die »Polonia« in ihrem traditionellen rotweißen Dress. Später gesellte sich noch ein rumänischer Klub hinzu. Seinen Namen zu wählen machte keine Mühe: Er wurde »Dragoş Voda« genannt, nach dem Begründer des Moldauer Staates im 14. Jahrhundert. Schwieriger verhielt es sich mit dem Dress; da er einerseits in den Farben der rumänischen Trikolore (Blau-Gelb-Rot) gehalten werden musste, andererseits aber einige Farbenkombinationen schon vergeben waren, einigte man sich schließlich auf Blau-Rot.

Das Makkabi-Stadion lag weitab von der südlichen Endstation der Straßenbahn, und wenn ein Spiel ausgetragen werden sollte, sah man unsere Fans in Scharen dorthin wandern, unter ihnen eines der Czernowitzer Originale, den »Roten Bubi« (so benannt nach der Haarfarbe) – ein etwas vergütetes Pendant zum »Pepku, hop!« aus »Schwejks Abenteuern«: Für ein paar Lei[2] krähte er einige Male »Hoch Makkabi!« und trollte sich dann fort, um jemand andern anzuschnorren.

Die Rumänen machten sich wegen der Suche nach einem passenden, möglichst nahe und schön gelegenen Fußballfeld nicht viel Kopfschmerzen: Sie ließen einfach den südlichen Teil des herrlichen Volksgartens ausroden – und schon war unseren Blau-Roten geholfen! Es blieb sogar noch etwas übrig. Um dieses Etwas zu durchmessen, bedurfte es allerdings mehr als einer viertel Stunde, denn die Österreicher hatten seinerzeit den Volksgarten in weiser Voraussicht auf einer Fläche von etwa 3000 Ar angelegt. Um gegen die rumänische Verwaltung gerecht zu sein, will ich zugeben, dass sie den Rest des Gartens vorbildlich gepflegt hat. Hohes Lob verdient das Rosarium, das sie auf einem Rondell dort angelegt hatte. Schon von weitem konnte man den wundervollen Duft riechen, und kam man näher, so boten die Sträucher, deren schlanke Stämmchen kugelförmig zugestutzte rosenübersäte Kronen trugen, ein paradiesisches Bild.