Nach Sibirien verschleppt - Ernst Seraphim - E-Book

Nach Sibirien verschleppt E-Book

Ernst Seraphim

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Beschreibung

In einem Tatsachenbericht wird die Verschleppung von Balten-Deutschen aus Dorpat, (heute Tartu; Estland) und Reval (heute Tallinn; Estland) geschildert. Das Ziel der Deportation lautet Sibirien. Viele Hundert Menschen kamen in deren Verlauf zu Tode. Der Autor beschreibt anschaulich die politischen Umstände und die zunehmende Brutalität gegenüber deutschstämmigen Einwohnern.

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Seitenzahl: 158

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Nach Sibirien verschleppt.

Persönliche Erinnerungen eines aus Dorpat Fortgeführten.

von

Dr. Ernst Seraphim

______

Erstmals erschienen bei:

J. G. Kramer, Dorpat und A. Kramer, Riga, 1918

__________

Vollständig überarbeitete Ausgabe.

Ungekürzte Fassung.

© 2016 Klarwelt Verlag

ISBN: 978-3-96559-011-3

www.klarweltverlag.de

 

 

Warum sind der Tränen unterm Mond so viel

Und gar manches Sehnen, das nicht laut sein will?

Nicht doch, liebe Brüder, ist das euer Mut?

Schlagt den Kummer nieder — es wird alles gut.

Sind wir nicht am Morgen immer noch erwacht?

Leben und sein Sorgen währt nur eine Nacht.

Diese Nacht entfliehet und der Tag bricht an,

Eh‘ man sich versiehet, dann ist’s wohl getan.

 

(Altes Lied, vielleicht von Friedemann Bach).

Inhaltsverzeichnis

Titel

Einleitendes

Vom Dornenwege.

I. Dorpater Schreckenstage.

II. Als Sträfling auf der Reise nach Krasnojarsk.

III. Im Gefängnis von Krasnojarsk.

IV. Heimfahrt und Ankunft in Dorpat.

Anhang.

I. Liste der aus Dorpat und Reval Verschleppten

II. Allen Proletariern Estlands.

III. Zur Charakteristik des Kommissars Weggis.

lV. Amtlicher Bericht Erich Hahns über seine Reise nach Krasnojarsk im Zuge mit den Verschleppten.

V. Verbalnote

VI. Verfügung des Rates der Verschleppten auf der Heimkehr.

VII. Empfang und Feier in Dorpat.

Einleitendes

Nachfolgende persönliche Erinnerungen an die Verschleppung meiner baltischen Landsleute nach Sibirien im Februar/März 1918 aus Dorpat habe ich aus dem Gedächtnis und unterstützt durch mancherlei Angaben der Leidensgenossen im Wesentlichen — bis auf den Schluss im — Krasnojarsker Gefängnis niedergeschrieben.

Ich glaube, dass die beispiellose Gewalttat, der viele hundert deutscher Männer zum Opfer fielen, beispiellos selbst, wenn man, wie wir, gewöhnt ist, mit russischen Rechtsbegriffen und Instinkten zu rechnen, es verdient in ihren Einzelheiten festgehalten zu werden.

Kann man doch in der Geschichte weit zurückgehen, ehe man auf eine ähnliche Ächtung und Verschleppung stößt; selbst die unter Iwan dem Schrecklichen und unter Zar Peter über Dorpat verhängten Gewaltakte treten fast zurück, wenn wir den angeblichen Fortschritt der Jahrhunderte und das, was damals beinahe Gewohnheitsrecht war, im Auge behalten.

Überall, wo Kulturmenschen wohnen, wird man sich, man mag in diesem oder jenem politischen Lager stehen, mit tiefer sittlicher Empörung von den Schreckensmännern in Reval, Dorpat und den anderen Städten und ihrer leider damals so willigen und an Zahl großen Gefolgschaft abwenden, die in feiger Weise an Wehrlosen, Männern wie Frauen, brutal und raffiniert ihre Rache nahmen — nur weil sie Deutsche und z. T. baltische Edelleute waren

Die Ereignisse erklären sich leicht auch für den unseren baltischen Verhältnissen Fernerstehenden. Der Krieg hatte über die deutsche Bevölkerung der Ostseelande eine Zeit furchtbarer Heimsuchung gebracht. Unter dem krankhaften Misstrauen, das ihr von Regierung, Reichsduma und Gesellschaft entgegengebracht wurde, hatte sie namenlos zu leiden. Sehr bald nach Ausbruch des Krieges, vornehmlich im zweiten Jahr, wurde eine Anzahl Deutscher aller Stände und Berufe nach Innerrussland oder nach Sibirien ohne Recht und Gericht ausgewiesen.

Ein Teil von ihnen musste dabei alle Schrecken der Etappenbeförderung, wie sie schweren Kriminalverbrechern zu Teil wurde, über sich ergehen lassen, die Mehrzahl in öden Dörfern inmitten ungebildeter Bauern Jahre lang verbringen.

Das beleidigende Misstrauen übertrug sich auf die deutschen baltischen Beamten und Offiziere, die, wenn auch mit schwerem Herzen inmitten des sittlichen Konflikts, in den sie hineingestellt waren, ihre Pflicht dem Zaren und dem russischen Reich gegenüber treu erfüllten.

Ich erinnere ferner nur an die Ächtung der deutschen Sprache, deren öffentlicher Gebrauch mit schweren Geld- und Gefängnisstrafen geahndet wurde, an die Aufhebung der deutschen Schulen und der Deutschen Vereine und an die Ausstoßung der baltischen Dumamitglieder aus der Oktobristenfraktion. Einen Schandfleck bildete weiter die gewaltsame Austreibung der deutschen Kolonisten aus Kurland und namentlich aus Livland, wo sie seit der Zeit Katharina’s II. in der Kolonie Hirschenhof lebten. Sie wurden in entsetzliches Elend hinausgestoßen. Was damals der Einzelne, was die Gesamtheit hat erdulden müssen, das schreit zum Himmel.

Und doch sollte das alles nur ein schwaches Vorspiel zu dem sein, was im Gefolge der letzten Revolution über die Lande hereinbrach. Die Selbstbestimmung der Völker, die Kerenski proklamierte, entfesselte auch bei uns uferlose Hoffnungen. Die Letten und Esten, unter der Psychose ehrgeiziger und romantischer Führer, träumten von der Gründung eigener Staatswesen, in denen für die Deutschen überhaupt kein Platz mehr vorhanden sein sollte. Obwohl noch nicht sozialistisch, erklärten die Führer, ihnen voran der Postimeesredakteur Jaan Tönisson, die Expropriation des deutschen Eigentums, wenn auch gegen eine gewisse Entschädigung, für unumgänglich notwendig. Der estnische Landtag in Reval, der diese Pläne verwirklichen sollte, hatte aber ein sehr kurzes Dasein.

Denn schon hatte der radikale Sozialismus der Bolschewiken auch bei uns zu Lande immer weiter um sich gegriffen, und vollends mit dem Sieg der Maximalisten in Petersburg war auch allen Autonomieplänen der estnisch-lettischen Bourgeoisie ein jähes Ende gemacht.

Überall wurden die maximalistischen Machthaber die unbeschränkten Herren der Lage, stürzten die alten Einrichtungen und ließen mit einer Rücksichtslosigkeit sondergleichen andere Stimmen überhaupt nicht zu Wort kommen.

Die Gutsbesitzer wurden expropriiert, ein schamloses Raubsystem brach sich Bahn. Mit Entsetzen sah auch das lettische und estnische Volk in seiner überwiegenden Mehrheit, wohin der bolschewistische Terror führte.

Alles, was Eigentum besaß, sehnte die Befreiung durch Deutschland herbei. Bittschriften liefen überall um, die das aussprachen. Da erfolgte in der Nacht vom 10. Februar (27./28. Januar a. St.) der ruchlose Gewaltstreich der Revaler Schreckensmänner, die Achterklärung und Verschleppung des baltischen Adels und zahlreicher anderer baltischer Männer. Davon ist in den folgenden Blättern die Rede.

 

Was mich anlangt, so verdanke ich meine erste Verbannung nach Sibirien (April 1915 bis Mai 1917), wie auch die zweite (Febr. — April 1918) wohl vornehmlich der journalistischen Tätigkeit, die mir in Riga und jetzt in Dorpat die Möglichkeit gegeben hat, für die deutschen Lebensinteressen unserer baltischen Heimat mit Nachdruck einzutreten, eine Pflicht und eine Ehre, für die man willig auch jedes Opfer bringt.

 

Dr. phil. Ernst Seraphim.

Krasnojarsk — Gefängnis.

Am Tage unserer Befreiung —

27. März 1918.

Vom Dornenwege.

Es schleppten uns entmenschte Schergen

Aus Haus und Heim durch Graus und Nacht

In festverschloss’nen dumpfen Särgen

Nach Osten — eine Menschenfracht.

Dreihundertfünfzig deutsche Männer,

Verschmäht, verspottet und verlacht,

Als Geiseln, als lebend’ge Beute

Bestialisch feiger Niedertracht.

 

Wir schritten auf dem Dornenwege,

Doch war‘s nicht Schimpf und Schmach — o nein.

Die Schreckensfahrt des Adels möge

Ein Siegeszug der Leiden sein!

Denn schwerer ist es, ohne Zagen

Durchs Tal, wo nie die Sonne schien,

Die Dornen und das Kreuz zu tragen,

Als mit dem Schwert zum Kampf zu zieh’n!

 

Zu Himmelshöh’n, zur Sonnenhelle,

Wo Gottes reiner Odem weht,

Steigt aus der engen Kerkerzelle

Ein heißes, heiliges Gebet:

Ob auch die Last uns niederbeugte,

Wir trugen es und tragen’s gern,

Doch auf dem Land der Väter leuchte

Ein glücklicher, ein lichter Stern!

 

Nur Wink, wir trotzen den Barbaren

Und aller Todesnot und Pein,

Und wenn wir wieder heimwärts fahren —

Herr Gott, wird das ein Jubel sein!

Dann, meine Freunde, liebe Brüder

Zieh’n wir im goldnen Frühlingsschein

Zu uns’re alte Heimat wieder,

In uns’re deutsche Heimat ein!

Walter v. Samson-Himmelstjerna

14. Februar 1918,

im Krasnojarsker Gefängnis.

 

I. Dorpater Schreckenstage.

Am Sonnabend den 10. Februar gingen in Dorpat bereits dunkle Gerüchte um, dass in der Nacht auf Sonntag eine allgemeine Haussuchung stattfinden würde, durch die sich die bolschewistischen Machthaber ihrer Gegner in der Stadt entledigen wollten, wobei es natürlich in erster Reihe gegen die deutsche Bevölkerung abgesehen war. Die Gerüchte fanden jedoch wenig Glauben, obwohl in Reval die Verhaftung des estländischen Ritterschaftshauptmanns Baron Dellingshausen-Kattentack und einiger anderer estländischer Herren die Gemüter in Erregung versetzt hatte und die Eindrücke dieses Gewaltstreichs in Dorpat heftig nachzitterten. Als Grund der Verhaftungen wurde angegeben, dass die maximalistischen Führer in Reval in den Besitz einiger Petitionen gekommen waren, in denen auf Grundlage des von der russischen Regierung selbst proklamierten Selbstbestimmungsrechts der Nationen der Ausschluss unserer Heimat an das Deutsche Reich vom Deutschen Kaiser erbeten wurde, Petitionen, die auch in der estnischen Bevölkerung des Landes lebhafte Sympathien gefunden hatten, wenngleich bei dem Terror der Maximalisten und ihrer Sowjets und Komitees, wie bei der aus Deutschenhass diktierten ablehnenden Haltung der ehrgeizigen sogenannten „politischen Führer“, vor allem des bekannten „Postimees“-Redakteurs Jaan Tönisson, diese Sympathien sich nur in sehr bescheidener Weise ans Tageslicht wagten.

Nur zu bald sollte es sich zeigen, dass die umgehenden Nachrichten in einem Umfange sich als wahr erweisen würden, an die keiner gedacht hatte, dass vielmehr dunkle Pläne des Leiters der Revaler Schreckensmänner Anwelt, von denen man bereits munkelte — den baltischen Adel als Geiseln bei einem Anmarsch der Deutschen fortzuführen, in erschütterndem Maße verwirklicht werden würden. –

Die Nacht von Sonnabend auf Sonntag war von Anwelt und seinen Genossen in der Tat bestimmt worden, Um im ganzen Lande einen Hauptschlag zu tun.

Ich befand mich abends als Gast im Dorpater Dozentenabend. Auch hier wurde von den Gerüchten geredet, auch hier ihnen aber völlige Skepsis entgegengebracht. Als wir in kleiner Gesellschaft bald nach 12 Uhr heimkehrten, begegneten wir im Wallgraben in der Nähe der zur Stern- und Teichstraße führenden Steintreppe einer starken Militärabteilung, die Halt gemacht hatte und sichtlich Befehle erhielt. Und als wir am Wulffius’schen Hause an der Teichstraßenecke passierten, sahen wir dort bereits Soldaten vor den Türen und durch die erleuchteten Fenster, dass dort eine Haussuchung im vollen Gange war. Bald nach 12½ Uhr war ich zu Hause. Eilte doch ein jeder in begreiflicher Unruhe zu den Seinigen, im dunklen Gefühl, dass eine schwere Gefahr sich über uns allen zusammenzog. Noch wusste ich nicht, dass auf dem Heimwege vom Dozentenabend eine Anzahl von Herren, u. a. zwei alte Herren v. Stryk, Prof. v. Bulmerineq, Prof. Landesen und Prof. Krüger-Tomsk auf der Straße ohne jede Veranlassung inhaftiert und auf das Feuerwehrhaus gebracht worden waren, wo das Hauptquartier der Maxmialisten errichtet war. In starker Spannung legte ich mich schlafen, aber der Schlaf floh meine Augen. Stumm horchte man hinaus auf die Straße, ob nicht verdächtige Zeichen herannahender Schergen zu hören seien. Es mochte 2 Uhr sein, als ich vom benachbarten Mattiesen’schen Hause her Lärm und Stimmen hörte. Ich sprang aus dem Bett und sah vor dem Hause Wachen mit aufgepflanztem Bajonett, die Fenster in beiden Etagen hell erleuchtet. Nun wusste ich, dass es nur eine Frage der nächsten Stunden sein würde, wann die Schergen auch zu mir kommen würden. Es mochte ¾ 3 Uhr gewesen sein, als mit Kolben an die Haustür gedonnert wurde und auf meine Frage, wer da sei, die Antwort erfolgte: „Haussuchung“. Herein traten ein junger lettischer Unteroffizier und 3 oder 4 andere Soldaten, die mir ein Papier vorwiesen, sie müssten meine Schwägerin verhaften. Auf meine Einwendung, die Dame sei krank und habe sich niemals mit Politik befasst, beharrte der Führer auf seiner Weisung. Während die Leute in meiner Wohnung im Salon eine mehr als oberflächliche Suchung vornahmen, ließen sie sich von einer Durchsuchung der obern Etage, wo meine Schwägerin wohnte, nicht abhalten. Ich muss aber feststellen, dass die Leute recht manierlich vorgingen, die ganze Suchung mehr von oben hin durchführten, sich auf ein Dutzend silberner Löffel beschränkten und es ruhig zuließen, dass meine Nichte ihren ihr abgeforderten Ring- und Armband mir übergab und ich sie in meine Tasche versenken konnte. Als ich mit dem jungen Letten unter vier Augen allein war, machte ich meiner Entrüstung über die Vorgänge sehr energisch Luft, worauf er mir deutsch antwortete: „Was wollen Sie? Sie gehören zur Intelligenz und wissen selbst, dass der Pöbel, wenn er toll wird, nicht zu zügeln ist. Ich tue, was ich kann, — im Nebenhause ist es mir soeben noch gelungen Wertpapiere für den Eigentümer zu retten“. Ihm war die ganze Sache sichtlich sehr unangenehm, er trieb immer wieder zur Eile an, um uns weitere Suchungen zu ersparen, und nach ca. ¾ Stunden gingen meine Schwägerin, ihre Tochter und ich, wir beiden als Begleiter ersterer, auf die Straße hinaus, dann durch die Gartenstraße zum Spritzenhause, dem Hauptquartier der Bolschewiks. Überall begegneten uns Patrouillen, überall sah man erleuchtete Fenster, Piquets vor den Türen. So kamen wir ins Feuerwehrhaus, wo wir durch lungernde Soldaten in schmierigen Uniformen und abgerissene Zivilpersonen die Treppe hinauf ins Sitzungszimmer gingen. Ein grotesker Eindruck, den man hier erhielt: Hinter einer Barriere an einem langen Tisch einige schmutzige, unruhige Schreiber, z. T. wahre Galgengesichter, an den Wänden Soldaten mit umgehängten Flinten, dann eine Anzahl von Damen und Herren aus der deutschen Gesellschaft, denen die Indignation und Erregung über die Verhaftung von den Gesichtern abzulesen war. Das Ganze war in die trübe Atmosphäre von Petroleumlampen und stickigen Dunst getaucht. Als wir eintraten, rief uns einer der Kerls entgegen: „Was werden die Frauenzimmer alle hierher geschleppt? Lasst sie doch wieder nach Hause!“ In der Tat wurden die Damen, — es waren etwa 8 zu der Zeit dort, darunter eine sehr alte Dame von über 70 Jahren — mit einem Begleiter in die „Bürgermusse“ weitergeschickt, um von dort mit einem amtlichen Passierschein weiter nach Hause entlassen zu werden. So ging es denn wieder vom Embachufer zur Bürgermusse, die unter sehr starker militärischer Wache stand. Überall, vor der Tür, im Vorraum und auf den Treppenabsätzen standen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett, und oben im großen Saal ein ähnliches Bild wie im Spritzenhause, düster, unruhig, ekelhaft. Überall viele verhaftete deutsche Herren, viele Edelleute aller Altersstufen. Der uns hierher geleitende Bolschewik riet mir selbst, ich möchte mich lieber rasch aus dem Hause entfernen, ich liefe sonst Gefahr auch verhaftet zu werden. Als ich in seiner Begleitung das Hans verlassen wollte, verwehrte uns in der Tat die Wache den Austritt, aller Protest des Bolschewiks, er gehöre doch selbst zur Kompagnie, sei ein erzroter Gardist, verfocht nichts, und es war ein reiner Zufall, dass ein noch röterer Vorgesetzter uns in den Weg kam, der dem Soldaten den Befehl gab, uns passieren zu lassen. Ich eilte auf die Straße, blieb dort im Schatten eines Hauses und sah, wie in nicht abreißender Menge neue Verhaftete unter Soldatenkonvoi eingeliefert wurden, Schlitten mit gestohlenen Lebensmitteln, die aus den Wohnungen der „Burshui“ requiriert worden waren, angefahren kamen, Automobile heransausten, Gruppen Neugieriger, oft lachend und spöttische Bemerkungen austauschend, vor der Eingangstür Posto fassten. Schließlich kamen unsere Damen heraus und wir konnten den Heimweg antreten. Unterwegs dasselbe Bild wie beim Hingang; als wir in die Peplerstraße einbogen, hörten wir an der Dr. Ottoschen Wohnung das heftige Poltern von Kolbenschlägen durch die stille Nacht herübertönen. Gegen 5 ½ Uhr etwa langten wir endlich wieder zu Hause an.

Die beiden folgenden Tage verliefen für uns persönlich ruhig, aber die allgemeine Erregung wurde immer größer, je größer sich das Unglück erwies, das in jener Schreckensnacht über so viele deutsche Familien Dorpats und des Landes hereingebrochen war: mochten es doch über 300 Personen sein, die aus dem Schoß der Ihrigen, oft unter brutalen Misshandlungen, meist unter Ausraubungen frechster Art gerissen worden waren: ganze Schätze von altem Silber, goldene Uhren, Ketten und Ringe, bares Geld und Dokumente, Wertpapiere, die in einzelnen Häusern sehr große Summen in sich schlossen, gingen mit den Räubern auf Nimmerwiedersehen aus den Häusern. Die Rohheit, mit der die Haussuchungen vielfach durchgeführt wurden, wird durch die Tatsache grell beleuchtet, dass mehrfach den Beraubten die Ringe mit Gewalt von den Fingern gezerrt wurden. Es geht ins Groteske, was alles gemaust und gestohlen wurde, Wein, Papiros und Zigarren, Spiegel und Brillengläser, Wäsche aller Art und Stiefel, kurz alles, was nicht niet- und nagelfest war. Doch Einzelheiten zu erzählen, liegt nicht im Rahmen dieser Aufzeichnungen. Nur das sei nachdrücklich hervorgehoben, dass weit über den Wortlaut des berüchtigten Anweltschen Dekrets hinaus in Dorpat ein großer Teil der Verhafteten aus Personen bestand, die nicht zum baltischen Adel gehörten und dass man kritiklos aufgegriffen hatte, was den Häschern unter die Finger gekommen war: alte kranke Herren, die jeder „Politik“ ferngestanden hatten, Studenten, ja selbst Schüler. Andrerseits waren zahlreiche Glieder des Adels und zwar solche, deren Namen längst auf dem „schwarzen Brett“ standen, völlig unangefochten geblieben und wurden auch in der Folgezeit nicht angerührt.

In der Nacht von Montag auf Dienstag wurden wir durch das Gellen und Rasseln der Feuerwehrwagen, das Läuten der Kirchenglocken, das Lärmen auf den Straßen aus dem Schlaf gerissen. Kurz darauf hörte ich an der Gartenveranda zerren und einen Augenblick später das wohlbekannte Kolbenschlagen an der Vordertür, das immer stärker wurde, bis ich, notdürftig bekleidet, öffnen konnte. Diesmal waren es drei Milizleute, die in meiner Wohnung nach einem Menschen fragten, den ich angeblich versteckt haben sollte. „Wenn Sie lügen, werden Sie erschossen!“ schrie der eine der Eintretenden mich an. Natürlich war die Suche umsonst, da sich kein fremder Mensch im Hause befand. Hätte er sich aber in der oberen Etage befunden, so hätte er dort oben ruhig schlafen können, denn für die planlose Weise, in der alles durchgeführt wurde, bezeichnend war die Tatsache, dass die Milizionäre es für unnötig hielten nach oben zu gehen und dort nachzuforschen. Nach knappen ¾ Stunden verschwand die unwillkommene Gesellschaft und man konnte sich zu Bett legen, in der Hoffnung, endlich einmal ohne weitere Beunruhigung seitens der Machthaber zu bleiben.

Am Morgen erfuhren wir, dass der Brand das neue Deutsche Theater betroffen hatte, in dem sich eine Militärintendantur befunden hatte. Uniformen, Kleidungsstücke und einige Benzinballons wurden hierbei ein Raub der Flammen.

Als ich am Montag um 10 Uhr auf die Redaktion ging, erfuhr ich hier von der soeben im „Molot“ erschienenen Achterklärung des baltischen Abels und der Verhängung des Belagerungszustandes über das ganze estländische Gebiet, die für die Nacht vom 27./28. Januar a. St. dekretiert worden war. Grell beleuchtete diese Proklamation1 die immer gefahrdrohender werdende Situation. Ich musste damit rechnen, dass nun auch meine Zeitung, das „Dorpater Tageblatt“2, dieses Lieblingskind unserer deutschen Gesellschaft, in Bälde geschlossen werden würde. Zwar hatte diese nicht in der schroffen Art, wie etwa der „Postimees“, die am Regiment Befindlichen angegriffen, aber über die grundsätzliche Gegnerschaft gegen sie konnte natürlich kein Zweifel bestehen und wir hatten auch niemals eine solche in Abrede gestellt.

Es war eine gedrückte schwere Stimmung, die über Dorpat lagerte, und wenn wir abends zum großen hellerleuchteten Nordlazarett des Roten Kreuzes von unserer Wohnung hinüberschauten, in dem über 200 verhaftete deutsche Herren interniert waren, nachdem sie bis Sonntagabend unter den peinlichsten Verhältnissen in Haft gehalten und dann in kleinen Abteilungen, beschimpft vom Pöbel, selbst misshandelt von der Wache, der roten Garde, Miliz und estnischen Soldaten fortgeführt worden waren, so stieg wohl die heiße Sehnsucht in uns auf, das Ende dieser Schreckenstage bald zu erleben, die feste Hoffnung, dass endlich unsere siegreichen deutschen Brüder uns mit Waffengewalt befreien würden.

Und immer bedenklicher wurden die Verhältnisse und Zustände im Lande. Nachrichten aus Reval meldeten, dass dort durch einen gleichen frechen Handstreich in derselben Nacht, wie bei uns, nicht nur eine große Anzahl deutscher Männer — meist Glieder des baltischen Adels — Verhaftet und in schweres Gefängnis gebracht, ja dass sogar zahlreiche Damen der deutschen Gesellschaft unter ähnlichen demütigenden Bedingungen interniert worden waren. Gleiche Meldungen kamen aus Fellin, aus Pernau, Wesenberg, aus Weißenstein, aus Werro. Wie viel Elend und Kummer, wie viel schwere Sorgen für die ganze deutsche Gesellschaft, für das ganze Land! Die Wellen stiegen immer höher und noch immer kein Retter in Sicht!