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Beschreibung

Die Sorge um die Stabilität von Natur, Klima, Gesellschaft und Wirtschaft ist seit jeher mitbestimmend für unser Denken und Handeln. Doch scheint eine langanhaltende Stabilität für menschliche Kulturen unerreichbar zu sein, während der Mensch zunehmend seine physische Umwelt bewusst ebenso wie unbewusst verändert. Seit der Neuzeit wird der Begriff der "Nachhaltigkeit" verwendet, um Handlungsprinzipien zu beschreiben, die Stabilität im Sinne von Dauerhaftigkeit anstreben. Dies geschah zunächst in der Forstwissenschaft. Mit Ende des 20. Jahrhunderts erhielt der Begriff "Nachhaltigkeit" eine politische Implikation und zielt nun auf eine beständige Nutzbarkeit des Lebensraumes zur dauerhaften Befriedigung der (menschlichen) Bedürfnisse. Er wird dabei auf eine ökologische, soziale und ökonomische Dimension ausgedehnt, wobei die Definitionen keineswegs einheitlich sind. Im weiteren Sinn kann die Frage nach der Nachhaltigkeit von Prozessen und Interventionen bei allen komplexen Systemen gestellt werden. In diesem Band setzen sich 12 Beiträge der 46. Matreier Gespräche 2022 mit verschiedenen Phänomenen der Nachhaltigkeit auseinander, um interdisziplinäre Querverbindungen zu schaffen, die entsprechende Grenzen und Entwicklungspotentiale aufzeigen.

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Inhalt

Vorwort

Oliver Bender

Nachhaltigkeit – Versuch einer interdisziplinären Einführung. 50 Jahre ‚Grenzen des Wachstums‘

Max Liedtke

Nachhaltigkeit in der Kultur und ihren Subsystemen – dargestellt am Beispiel Schule

Andreas Mehl

Nachhaltigkeit in der Antike: Konzepte, Verhaltensweisen, Zustände

Dagmar Schmauks

Von Zitat bis Parodie. Wie man Texte mehr oder weniger kreativ wiederverwendet

Oliver Bender

Der Ukraine-Konflikt. Anmerkungen zur Nachhaltigkeit in der Geopolitik

Michaela Koch

Ist der Humanismus ein Speziesismus?

Helmwart Hierdeis

und

Achim Würker

Zur Frage der Nachhaltigkeit in Psychoanalytischer Therapie und Psychoanalytischer Pädagogik

Christa Sütterlin

Wem dienen Denkmäler? Zur Nachhaltigkeit öffentlicher Bildwerke

Hans Winkler

Von guten bösen Wölfen und Viren

Oliver Bender

Trägt der Alpentourismus zu nachhaltiger Regionalentwicklung bei? Das Beispiel Österreich

Thomas Simon

Nachhaltiger Umgang mit Wäldern – die ökonomische Sichtweise

Hans Winkler

Nachhaltiger Umgang mit Wäldern – die ökologische Sichtweise

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

Vorwort

Die Sorge um die Stabilität von Natur, Klima, Gesellschaft und Wirtschaft ist seit jeher mitbestimmend für unser Denken und Handeln. Doch scheint eine langanhaltende Stabilität für menschliche Kulturen unerreichbar zu sein, nicht zuletzt weil der Mensch zunehmend seine physische Umwelt bewusst ebenso wie unbewusst verändert.

Seit der Neuzeit wird der Begriff der ‚Nachhaltigkeit‘ verwendet, um Handlungsprinzipien zu beschreiben, die Stabilität im Sinne von Dauerhaftigkeit anstreben. Das Adjektiv ‚nachhaltend‘ wurde zunächst im Bereich der Forstwirtschaft eingeführt. Die ‚nachhaltende Nutzung‘ der Wälder (von Carlowitz 1713, ‚Sylvicultura Oeconomica‘) sollte das gänzliche Abholzen verhindern und die natürliche Regenerationsfähigkeit des Waldes gewährleisten, indem immer nur so viel Holz entnommen wird, wie nachwachsen kann (Hartig 1804, ‚Anweisung zur Taxation der Forste‘).

Mit Ende des 20. Jahrhunderts erhielt der Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ – speziell durch den Club of Rome und die 1983 von den Vereinten Nationen eingesetzte Weltkommission für Umwelt und Entwicklung – eine politische Implikation und bezeichnet nun vor allem solche Maximen, die eine Stabilität der Nutzbarkeit des Lebensraumes zur dauerhaften Befriedigung der (menschlichen) Bedürfnisse gewährleisten sollen. Er wird dabei auf eine ökologische, soziale und ökonomische Dimension ausgedehnt, wobei die Definitionen keineswegs einheitlich sind. Gemeinsam ist jedoch allen Verwendungen, dass

Nachhaltigkeit stets auf Auswirkung gegenwärtigen Handelns auf die Zukunft abstellt und somit ein zeitlicher Bezug gegeben ist;

Ressourcen geschützt werden sollen;

der Fortbestand eines Systems sichergestellt werden soll.

Heute wird von Nachhaltigkeit meist im ökologischen Zusammenhang der natürlichen Regeneration der beteiligten Systeme gesprochen, und somit findet die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Begriff vor allem in Disziplinen statt, die sich mit ökosozialen Themen beschäftigen, wie Biologie, Geographie, Technik usw. Im weiteren Sinn kann die Frage nach der Nachhaltigkeit von Prozessen und Interventionen jedoch bei allen komplexen Systemen gestellt werden. So hat sich mit Beginn des 21. Jahrhundert die universitäre Disziplin der ‚Nachhaltigkeitswissenschaft‘ implementiert, die an der Schnittstelle von Natur- mit den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften operiert.

Die 46. Matreier Gespräche setzten sich in diesem Sinne mit verschiedenen Phänomenen der Nachhaltigkeit auseinander, um Querverbindungen zwischen möglichst vielen Wissenschaftsdisziplinen zu schaffen, welche entsprechende Grenzen und Entwicklungspotentiale aufzeigen. Die Tagung war ursprünglich für Dezember 2020 terminiert und musste aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie zweimal verschoben werden. Sie fand schließlich unter immer noch erschwerten Bedingungen vom 22. bis 26. April 2022 in Matrei vor Ort statt. Einige ursprünglich zugesagte Präsentationen sind ausgefallen. Der wissenschaftliche Leiter Oliver Bender hat versucht, diese Ausfälle durch zusätzliche Vorträge ansatzweise zu kompensieren. Insgesamt zwölf Beiträge wurden schließlich für den vorliegenden Tagungsband aufbereitet.

Die einleitende Abhandlung von Oliver Bender bietet eine Einführung in die Nachhaltigkeit mit Ausblicken und Hinweisen auf viele beteiligte Wissenschaftsdisziplinen in einer integrierenden Perspektive. Sie befasst sich mit der Entwicklung und Operationalisierung des modernen Nachhaltigkeitskonzepts, den aktuellen Problem- und Handlungsfeldern sowie rezenten Lösungsansätzen. Schließlich wird unter Berücksichtigung des kulturethologischen Aspekts erörtert, warum das aktuelle Bemühen um eine globale nachhaltige Entwicklung dennoch zu scheitern droht.

Der Beitrag von Max Liedtke untersucht Nachhaltigkeit in der Kultur anhand ihres Subsystems Schule. Er skizziert die Schule mit ihren evolutionären Wurzeln als nachhaltige Institution, welche die Kulturtradition organisiert und Kultur zum Funktionieren bringt.

Im Gegensatz dazu diskutiert Andreas Mehl Nachhaltigkeit in der Antike im Umgang mit ideellen Gütern und natürlichen Ressourcen anhand von drei Beispielen: Landwirtschaft, Sklavenhaltung und Thermenanlagen. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass die damit angestrebten Zustände der Nachhaltigkeit auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet und damit ‚anti-evolutionär‘ waren, somit als kulturethologische (Verlaufs-)formen nicht mit solchen der biologischen Evolution gleichgesetzt werden dürfen.

Dagmar Schmauks zeigt in gewohnt virtuoser Manier anhand einer Vielzahl von Beispielen von ‚Zitat bis Parodie‘, wie man Texte mehr oder weniger kreativ wiederverwendet. Diese Art von kultureller Nachhaltigkeit erscheint in ihren diversen Verlaufsformen sehr wohl evolutionär.

Ein Beitrag von Oliver Bender nimmt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zum Anlass, anhand eines bereits länger schwelenden Konfliktes Nachhaltigkeit in der Geopolitik zu thematisieren. Er bespricht auf Basis einer langen Vorgeschichte, der konkreten Auslösesituation und der aktuellen Kriegslage die schädlichen Auswirkungen des Kriegs auf die zukünftige geopolitische Lage sowie auf die allgemeinen Bemühungen der Weltgemeinschaft um eine nachhaltige Entwicklung.

Der philosophisch-normative Essay von Michaela Koch propagiert einen Perspektivwechsel von einem derzeit vorherrschenden anthropozentrischen Gesellschaftsbild hin zu einer inklusiven Gesellschaft aller Lebewesen. Eine Umkehrung des menschlichen Expansionsdranges und ein neues, nicht nur auf die eigene Art bezogenes Verständnis von evolutionärem Erfolg sollen nicht allein das Überleben, sondern auch ein ‚gutes Leben für alle‘ auf dem Planeten ermöglichen.

Helmwart Hierdeis und Achim Würker erörtern nachhaltige Wirkungen von Psychoanalytischer Therapie und Psychoanalytischer Pädagogik. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei der möglichen Verbesserung individueller Lebensbewältigung und damit einer positiven, durch die ‚Dialektik der Aufklärung‘ immer wieder bedrohten Kulturentwicklung.

Christa Sütterlin diskutiert die Nachhaltigkeit öffentlicher Kulturdenkmäler vorrangig anhand ihrer Funktionen. Als empirische Basis fungiert eine ‚Wiener Identitätstopographie‘, die bis in das 18. Jahrhundert zurückgeführt wird. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Denkmäler im Rahmen einer ‚Erinnerungskultur‘ dem kulturellen Zusammenhalt von Großgesellschaften wie auch der Symbolidentifikation von Angehörigen verschiedener Gruppen dienen.

Hans Winkler spürt ökologischen und evolutionären Mechanismen ‚beobachtbarer‘ Nachhaltigkeit in der Biologie nach. Das Fortbestehen der Beutepopulationen von ‚Wölfen und Viren‘ wird einerseits auf diverse Beschränkungen der Räuber und andererseits auf räumlich strukturierte Beziehungen zurückgeführt. In kulturethologischer Perspektive drängt sich der Schluss auf, dass menschliche Nachhaltigkeit kaum gegeben sei beziehungsweise starke gesellschaftlich-kulturelle Regulative benötige.

Oliver Bender untersucht in einem Beispiel aus der Geographie, inwieweit der österreichische Tourismus in den letzten 50 Jahren zur nachhaltigen Regionalentwicklung im Ländlichen Raum beitragen konnte. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass der Fremdenverkehr nicht das propagierte Allheilmittel sein kann, solange sein Aufkommen und seine Wertschöpfung saisonal und vor allem räumlich in zunehmendem Maße ungleich verteilt sind. Hinzu kommt, dass der alpine Wintermassentourismus niemals ökologisch nachhaltig war und dies im anthropogenen Klimawandel auch immer weniger sein kann.

Den Band beschließen zwei Beiträge von Thomas Simon und Hans Winkler, die in ökonomischer und ökologischer Sichtweise den nachhaltigen Umgang mit Wäldern behandeln. Auf der Konferenz war die Dialektik des Themas in einer Doppelkonferenz dargestellt worden. Das Verhalten des Menschen gegenüber dem Wald ist exemplarisch für das allgemeine Verständnis von Nachhaltigkeit und jener komplexen Systeme, die dadurch erhalten werden sollen. Nach Ansicht beider Autoren müssen Naturwissenschaft und Ökonomie weiterhin um einen Konsens ringen, wenn sie zu einer notwendigen neuen Kultur des Umgangs mit unserem Planeten beitragen wollen.

Die Beiträge zu den 46. Matreier Gesprächen zeigten einmal mehr auf, wie vielschichtig sich Nachhaltigkeit als Konzept präsentiert. Anhand der empirischen Befunde wurden Chancen und Limitationen für nachhaltige Entwicklungen in vielen Bereichen und Disziplinen nachgewiesen. Zweifellos kreuzt das Konzept der Nachhaltigkeit die Grenzen von Natur- und Technikwissenschaften einerseits sowie von Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften andererseits. Die Kulturethologie versucht ihrerseits, die Evolution von natur- und kulturwissenschaftlichen Phänomenen zu vergleichen und zu parallelisieren. Doch die bei den Gesprächen diskutierten empirischen Befunde blieben letztlich uneindeutig, inwieweit dies hinsichtlich der verschiedenen Dimensionen von Nachhaltigkeit gelingen mag. Deshalb können die Tagung und der daraus resultierende vorliegende Band nur Anstoß und Anregungen zu weiteren Untersuchungen und Diskussionen in dieser Richtung sein.

Literatur

Hartig, G. L. 21804 [11795]: Anweisung zur Taxation der Forste oder zur Bestimmung des Holzertrags der Wälder. Erster oder theoretischer Theil. Heyer. Gießen und Darmstadt. – Digitalisat: https://books.google.de/books?id=_iMVAAAAQAAJ

von Carlowitz, H. C. 1713: Sylvicultura Oeconomica, Oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung Zur Wilden Baum-Zucht. Braun. Leipzig. – Digitalisat: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/85039/1

Zum Schluss bleibt wieder herzlich zu danken: der Gemeinde Matrei in Osttirol und der Familie Hradecky im Gasthof Hinteregger für die Gastfreundschaft, der Otto-Koenig-Gesellschaft und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern für die Ausrichtung der Tagung, dem Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Lektorat des Bandes und vor allem den bei der Tagung referierenden Kolleginnen und Kollegen, die wiederum pünktlich ihre Manuskripte zur Verfügung gestellt haben.

Innsbruck, im Oktober 2022

Die Herausgeber Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider und Bernhart Ruso

Oliver Bender

Nachhaltigkeit – Versuch einer interdisziplinären Einführung. 50 Jahre ‚Grenzen des Wachstums‘

„E se ‘l mondo là giù ponesse mente / al fondamento che natura pone, / seguendo lui, avria buona la gente“ – „Und würde die Welt dort unten auf das Fundament achten, das die Natur anlegt, und ihm folgen, so hätte sie tüchtige Menschen“ (Dante, Divina Commedia, Paradiso, Canto VIII, 142ff.)

Zusammenfassung

Die Keynote bietet eine Einführung in die Nachhaltigkeit mit Ausblicken und Hinweisen auf viele beteiligte Wissenschaftsdisziplinen, allerdings nicht aus einer sektoralen1, sondern einer integrierenden oder interdisziplinären Perspektive. Im ersten Teil wird die Begriffsgeschichte der Wortstämme von Nachhaltigkeit/sustainability ebenso wie die Bedeutungsgeschichte rückverfolgt, wobei der Begriff in der Barockzeit zunächst in die ökonomische Fachsprache übernommen wurde und eine fachliche Bedeutung erhielt, die in jüngster Zeit dann auch den alltagssprachlichen Gebrauch zu dominieren begann. Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Entwicklung und Operationalisierung des modernen ganzheitlichen, transdisziplinären Konzepts von Nachhaltigkeit, wie es etwa vor 50 Jahren vom ‚Club of Rome‘ initiiert worden ist. Der dritte Abschnitt beleuchtet die aktuellen Problem- und Handlungsfelder für eine globale nachhaltige Entwicklung, die überblicksmäßig in die Bereiche Ressourcen, Umwelt, Klima, Biodiversität, Bevölkerung und Politik eingeteilt werden. Der vierte Abschnitt diskutiert Lösungsansätze unter den Gesichtspunkten von Regionalisierung, Ökologisierung, Degrowth und Technisierung und zeigt jeweils ein Beispiel auf, wo aktuell besonders umstrittene Aushandlungsprozesse stattfinden. Zum Schluss wird unter Berücksichtigung des kulturethologischen Aspekts erörtert, warum das aktuelle Bemühen um eine globale nachhaltige Entwicklung dennoch zu scheitern droht.

1 Der Grundbegriff

Das Wortfeld ‚Nachhaltigkeit‘ bildet einen schillernden, überdehnten, oft übernutzten Begriff, dessen Bedeutung heute mit nichts weniger als den zukünftigen Überlebensmöglichkeiten der Menschheit verbunden ist (vgl. Boff 2012). Aber für was steht dieser Begriff genau? Dabei besitzt das deutsch/englisch-romanische Wortpaar ‚Nachhaltigkeit‘/sustainability (von lat. sustinere, sustentare, unterhalten) eine sehr ähnliche Grundbedeutung, welche bereits den zeitlichen Aspekt, die Entwicklung enthält und die damit weitgehend synonym auch mit ‚nachhaltiger Entwicklung‘/sustainable development ist.

1.1 Allgemeiner Sprachgebrauch

Das Adjektiv ‚nachhaltig‘ findet sich seit 1880, das zugehörige Substantiv seit ‚1915‘ im Rechtschreibduden (Duden o. J.); Letzteres ist also offenbar jünger und taucht auch in anderen Wörterbüchern erst ab 1860 auf (Rödel 2013). Die allgemeine Bedeutung für ‚nachhaltig‘ ist „längere zeit anhaltend und wirkend“ (Grimm 1889, Sp. 70). Etwas früher in der Alltagssprache gebräuchlich war offenbar das Substantiv ‚Nachhalt‘ für das, „woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält“ (Campe 1809, 403). Möglicherweise sind diese Begriffe im 19. Jahrhundert durch Vermittlung der Literatur in der Alltagssprache populär geworden; ein früher Beleg stammt aus Wilhelm Meisters Lehrjahren: „[...] daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wirken“ (von Goethe 1796, 204).

Ganz ähnlich wie im Deutschen ist die englisch-romanische Wortbedeutung von sustainable, sostenibile: aufrechterhaltbar, auf Dauer erhaltbar. Noch vor Belegen in der englischen Sprache (sustain, ca. 13. Jahrhundert: give support to, vom Altfranzösischen sostenir; Douglas Harper o. J.) finden sich solche im Italienischen (vgl. Grober 2013), so etwa sustentamento in der umbrischen Volkssprache des Sonnengesangs (Franz von Assisi 1224/25):

„Laudato si’, mi’ Signore, per frate vento / et per aere et nubilo et sereno et onne tempo / Per lo quale a le tue creature dai sustentamento“ – deutsch: „Gelobt seist du, mein Herr, für Bruder Wind / für Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter / durch das du deine Geschöpfe am Leben erhältst“.

Also ist im allgemeinen Sprachgebrauch ‚nachhaltig‘ etwas, was intensiv wirkt, andauert und Sicherheit gibt.

1.2 Aktuelle Fachsprache

Seit den 1970er Jahren ist der Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ verbreitet in der wissenschaftlichen Diskussion zu finden, und ab den 1990er Jahren wurde er vermehrt auch im politischen Kontext genutzt (Aachener Stiftung Kathy Beys 2015). Eine „Nachhaltige Entwicklung (sustainable development)“ soll zukünftigen Generationen vergleichbare oder bessere Lebensbedingungen als die aktuellen sichern (ebd.), also „enkelgerecht“ sein (Ganser, zit. n. Imboden 2009, 83).

Nachhaltigkeit wird auch als ein Handlungsprinzip zur Ressourcennutzung aufgefasst, bei dem eine dauerhafte Bedürfnisbefriedigung durch die Bewahrung der wesentlichen Eigenschaften, Stabilität und Regenerationsfähigkeit der beteiligten Systeme gewährleistet werden soll (Müller 2015, 6). Als Resilienz bezeichnet man die Fähigkeit dieser Systeme, die grundlegende Organisationsweise zu erhalten anstatt in einen qualitativ anderen Systemzustand überzugehen.

Beide Bedeutungsnuancen finden sich bereits in einer sehr frühen Quelle von 1952, den Grundsätzen der deutschen ‚Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft für naturgemäße Wirtschaftsweise (IPA)‘: „Mit den sich erneuernden Hilfsquellen muss eine naturgemäße Wirtschaft betrieben werden, so daß sie nach dem Grundsatz der Nachhaltigkeit auch noch von den kommenden Generationen für die Deckung des Bedarfs der zahlenmäßig zunehmenden Menschheit herangezogen werden können“ (zit. n. Wey 1982, 157).

Alle heute gebräuchlichen Definitionen von ‚Nachhaltigkeit‘ laufen auf eine Verwendung als normativer Zielbegriff (Handlungsprinzip, Leitbild o.ä.) hinaus.

1.3 Fachsprachliche Herleitung aus der Forstwissenschaft

Unter dem Eindruck eines Ressourcenmangels, da im Salinen- und Verhüttungswesen der Wald (Holz als Energieträger) schneller abgeholzt wurde, als er nachwachsen konnte, verwendete Georg Ludwig Hartig 1804 in der Einleitung zur zweiten Auflage seiner ‚Anweisung zur Taxation der Forste oder zur Bestimmung des Holzertrags der Wälder‘, den fachsprachlichen Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ wohl als erster:

„Es läßt sich keine dauerhafte Forstwirtschaft denken und erwarten, wenn die Holzabgabe aus den Wäldern nicht auf Nachhaltigkeit berechnet ist. Jede weise Forstdirektion muss daher die Waldungen […] so hoch als möglich, doch so zu benutzen suchen, daß die Nachkommenschaft wenigstens ebensoviel Vorteil daraus ziehen kann, wie sich die jetzt lebende Generation zueignet“ (Hartig 1804, 1).

Gleichbedeutend schrieb aber schon Hans Carl von Carlowitz ein Jahrhundert zuvor in seiner ‚Silvicultura oeconomica‘ darüber „wie eine sothane [solche] Conservation und Anbau des Holzes anzustellen / daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln es eine unentbehrliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag“ (von Carlowitz 1713, 105).

Das Ziel des Walderhalts (zum Zweck der ‚nachhaltigen‘ Nutzung für vor allem Schiffbau, Hütten- und Salinenwesen) und entsprechende Maßnahmenkataloge wurden etwa zeitgleich in den 1660er Jahren in verschiedenen europäischen Staaten in Form von Denkschriften (‚Sylva‘ von J. Evelyn 1664, London) oder Verwaltungsvorschriften (Ordonnanzen des französischen Königs 1669) niedergelegt (vgl. Grober 2013). So heißt es 1661 auch in Bayern in einer Definition des Reichenhaller Ratskanzlers:

„Gott hat die Wäldt für den Salzquell erschaffen, auf daß sie ewig wie er continuieren mögen / also solle der Mensch es halten: Ehe der alte ausgehet, der junge bereits wieder zum verhackhen hergewaxen ist“ (zit. n. von Bülow 1962, 159f.).

Der Gedanke vom ‚ewigen Wald‘ taucht in Reichenhall allerdings bereits 1509 bei Ernennung eines Waldmeisters auf (ebd., 64) und wurde somit offenbar zum ersten Mal in den dortigen Salinenforsten um 1500 entwickelt.

Das Prinzip ‚Schützen um der Vorsorge willen‘ erkannte man indes schon im Senatsbeschluss der Republik Venedig betreffend die Nutzungsregelung der Wälder auf der Terraferma von 1476 (Appuhn 2009; Trebbi 2015), in den ‚Constitutiones Camaldulenses‘ mit den ersten schriftlichen Regeln zum Schutz der Klosterwaldungen ab dem 14. Jahrhundert bis hin zu ihrer Übernahme in die ‚Regola della vita eremitica‘ von Paolo Giustiniani 1520 (Romano 2010) und bereits ein Jahrtausend früher in der römischen Antike bei der Unterschutzstellung libanesischer Zedernwälder als kaiserliche Domäne durch Hadrian im 2. Jahrhundert n. Chr. (Meiggs 1982, 373).

Doch auch das Bemühen um Schutz vor Naturgefahren, insbesondere den massiven Erosionen als Folge der spätmittelalterlichen Entwaldungen in Gebirgsräumen (Bork et al. 1998), führte zur in mittelalterlichen Urkunden gut belegten Ausweisung von Schutzzonen und Bannwäldern, in denen bei Androhung hoher Bußgelder jeglicher Holzschlag und jegliche Beweidung verboten wurde (Loose 1979, 335).

Wir resümieren: Nachhaltigkeit wird als Reaktion auf Verletzungen des Nachhaltigkeitsprinzips verordnet, wenn nicht-nachhaltige Waldbewirtschaftung bereits als Versorgungs- und/oder Sicherheitsrisiko schlagend geworden ist.

1.4 Traditionelle Nachhaltigkeit

Fragen wir umgekehrt danach, wo wir Hinweise auf primäre Nachhaltigkeit finden – ohne dass erst ein Schaden entstanden war: sicherlich zunächst in subsistenzorientierten, traditionellen Wirtschaftsformen wie Sammelkulturen oder bei der Fernweidewirtschaft, die vom alljährlich wiederkehrenden saisonalen Angebot der Natur lebten.

Mit der neolithischen Revolution entstand dann das Paradebeispiel der Kreislaufwirtschaft: der ‚gemischte Hof‘ mit Ackerbau und Viehzucht, bei dem die Exkremente der Nutztiere wieder als Dünger benötigt werden. Basisprinzip der Vorsorge bildete, das Korn für die nächste Aussaat aufzuheben („Mehl kann man nicht säen“, von Goethe 1796, 207). Das traditionelle Bauerntum der Alten Welt übte sich über Jahrtausende in ‚enkelgerechten‘ mehr oder weniger extensiven – nicht ausbeutenden – Wirtschaftspraktiken, um den Grund und Boden über Generationen hinweg immer in einem solchen Zustand zu übergeben, der den Lebensunterhalt für die bäuerliche Familie fortdauernd gewährleistet – dies im Gegensatz zum amerikanischen Farmertum, bei dem das Land bereits mit dem primären Ziel einer unternehmerischen Gewinnerzielung auf dem Markt erworben wird (von Blanckenburg 1957).

Zu den ländlichen Gruppensiedlungen in Europa gehörte neben der privatisierten, in Parzellen aufgeteilten Flur auch eine ‚Allmende‘ (engl. commons), die in gemeinschaftlicher Nutzung stand. Später machte sich eine Auffassung breit, nach der jeder Allmendberechtigte (angeblich) versuche, seinen Ertrag zu maximieren, was schließlich zum Raubbau am Naturpotenzial führen müsse, die sogenannte ‚Tragedy of the Commons‘ (Hardin 1968). Die Allmenden wurden dann weitgehend aufgelöst, um sie einer intensivierten privaten Nutzung zuzuführen. In jüngerer Zeit hat Elinor Ostrom (1990, ‚Governing the Commons‘) dargelegt, wie in Wirklichkeit die meisten Allmenden im Rahmen von Selbstorganisation und in Obsorge um den Erhalt der Ressourcenbasis bewirtschaftet worden sind – und für ihre Forschungen 2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten. Die ‚Tragik‘ der commons liegt also eher darin, dass bei den Wirtschaftstreibenden der Zwang zum Wirtschaftswachstum internalisiert worden ist.

Bei Kehnel (2021) werden weitere Beispiele für nachhaltige Wirtschafts- und Lebensformen aus dem Mittelalter besprochen: Sharing Economies (in Beginenhöfen), Zirkulär- statt Linearwirtschaften (auf der Basis von Recycling wie zum Beispiel in der Papiererzeugung), Kleinkredite für einfache Gewerbetreibende (vergeben von den Monti di Pietà in Italien); weiters die Praxis der Viehverstellung oder Kuhleihe, bei der sich – ebenso wie beim alle Produktionsmittel umfassenden mittelitalienischen Halbpachtsystem der Mezzadria (Sabelberg 1975) – Eigentümer und Pächter Kosten, Risiken und Erträge hälftig aufteilten. Vieles davon wurde ab der frühen Neuzeit abgeschafft und vergessen, um dann teilweise heute wieder neu erfunden zu werden, so wie etwa die Mikrokredite (Yunus 1999), für die Mohamad Yunus 2006 den Friedensnobelpreis erhielt.

Die Idee der Nachhaltigkeit ist nach Grober (2013, 14) „unser ursprünglichstes Weltkulturerbe“ und steht damit als interdisziplinäres Forschungsfeld allen (auch) historisch orientierten Wissenschaftszweigen weit offen.

2 Die Wiederentdeckung

2.1 Entwicklung aktueller Konzepte der Nachhaltigkeit

Parallel zu einem über die Medien verbreiteten neuen Bewusstsein der Umweltzerstörung (z. B. im Spiegel-Titel ‚Apokalypse 1979 – Der Mensch vergiftet seine Umwelt‘: „Wir sind dabei den Planeten Erde zu ermorden“; Ehrlich 1969, 193) begann in der Nachkriegszeit die Epoche der ‚Erdpolitik‘ (von Weizsäcker 1989). Die Ausweitung der Vorsorge von der regionalen Wirtschaftseinheit oder Lebensform auf ein mehrdimensionales und global vernetztes Mensch-Umwelt-System bildet die Grundlage des „modernen Nachhaltigkeitsdenkens“ (Grober 2013, 49 und 117). So wurde es von mehreren internationalen Kommissionen ab den 1960er Jahren erarbeitet (‚Club of Rome‘; Brandt; Brundlandt) und unter Federführung der UN sukzessive in politische Willenserklärungen gegossen:

1968 Gründung des ‚Club of Rome‘ und Erarbeitung des Berichts über ‚die Grenzen des Wachstums‘ in einem ‚Weltsystem‘ (Meadows et al. 1972)

1972 UN-Konferenz über die menschliche Umwelt in Stockholm: Motto ‚Only one earth‘ (Ward & Dubos 1972)

1983 UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Kommission): Das Abschlussdokument ‚Unsere gemeinsame Zukunft‘ definiert das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als umweltschonende Entwicklungspolitik (WCED 1987)

1992 UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio: Ökologische, ökonomische und soziale Ziele sollen gleichrangig angestrebt werden, für alle Länder der Welt (globale Gerechtigkeit) und für künftige Generationen (Generationengerechtigkeit); das Aktionsprogramm ‚Agenda 21‘ gibt Handlungsempfehlungen für die globale und lokale Ebene (UNDESA 1992)

1998 Abschlussbericht der Enquete-Kommission ‚Schutz des Menschen und der Umwelt‘ mit dem Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit (Deutscher Bundestag, 26.06.1998)

2002 UN-Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung mit politischer Erklärung der Staats- und Regierungschefs (‚The Johannesburg Declaration on Sustainable Development‘) und Johannesburg-Aktionsplan (‚Plan of Implementation‘) propagiert die sogenannten Millenniums-Ziele: Rückgang der Artenvielfalt bremsen, absolute Armut reduzieren, Zugang zu Grundschulausbildung und sanitären Einrichtungen verbessern – jeweils mit konkreten quantitativen Ziel- und Zeitvorgaben (UNDPI 2003)

2015 UN-Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in New York: Agenda 2030 mit 17

Sustainable Development Goals

(UN General Assembly, 25.09.2015)

Neben dem integrierenden Ansatz für das ‚Weltsystem‘ wurden gleichzeitig auch sektorale Handlungsfelder, zuletzt vor allem der ‚Klimaschutz‘, bearbeitet:

1980 Weltnaturschutzstrategie von IUCN (International Union for Conservation of Nature), gemeinsam mit UNEP (UN Environment Programme) und WWF (World Wildlife Found) mit erstem Auftauchen der Wortverbindung

sustainable development

(IUCN et al. 1980)

1980 Nord-Süd-Kommission mit dem Brandt-Report, der eine neue Weltwirtschaftsordnung mit einem für Entwicklungs- und Industrieländer verträglichen Weltwirtschaftssystem einfordert (Brandt 1980)

1982 UN-Seerechtskonvention erklärt den Meeresboden außerhalb der Küstenbereiche zum Gemeingut (UN 1982)

1992 UN-Biodiversitätskonvention mit zweijährlich folgenden Vertragsstaaten-Konferenzen zu ihrer Umsetzung (UN 1992a)

1992 UN-Klimarahmenkonvention (UN 1992b), vor allem mit dem Ziel der Reduktion von Treibhausgasen; seit 1995 jährliche UN-Klimakonferenzen (auch ‚Weltklimagipfel‘), 1997 Kyoto-Protokoll, das Industriestaaten zu quantitativen Treibhausgas-Minderungszielen verpflichtet und den Internationalen Emissionshandel einführt (UN 1997)

2019 ‚Green Deal‘ der EU als ein Konzept, bis 2050 in der EU die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null zu reduzieren und somit als erster Kontinent klimaneutral zu werden (EC, 11.12.2019)

2.2 Operationalisierung von Nachhaltigkeit
2.2.1 Dimensionen, Säulen, Sphären

Die Frage, ob von Carlowitz’ und die anderen forstwirtschaftlichen Abhandlungen um 1700 zu einem auch im heutigen Sinne nachhaltigen Umgang mit dem Wald geführt haben, lässt sich durch Operationalisierung oder Aufteilung des Konzeptes leichter beantworten. Den Kameralisten der frühen Neuzeit ist es um wirtschaftliche Nachhaltigkeit gegangen, denn das ökologische Verständnis wurde erst später allmählich herausgearbeitet, zunächst noch aus dem Ökonomischen abgeleitet: von der ‚Oeconomia Naturae‘ (von Linné & Biberg 1749) über Herders ‚Ideen‘ (1784ff.) und Goethes Schriften hin zur Verwissenschaftlichung im Rahmen der Biologie, speziell durch Haeckels ‚Oecologie‘ als die Lehre von den „Beziehungen des Organismus zur Aussenwelt“ (1866, 237) und durch von Uexkülls ‚Umwelt‘ (1909).

Die zentraleuropäischen Wälder wurden mittels ‚Forsteinrichtung‘ und ‚Bodenreinertragslehre‘ überwiegend in schnellwüchsige Monokulturen umgewandelt, die nun immerhin planmäßig abgeräumt und wiederaufgeforstet werden. Dies hat die Versorgung über drei Jahrhunderte sichergestellt, zumal im 19. Jahrhundert zunehmend auch fossile Brennstoffe zum Einsatz kamen. Trotz „früher Warnungen“ wurden durch die Forstwirtschaft aber die Waldstandorte ökologisch ‚nachhaltend‘ geschädigt, die Bäume Schädlingen ausgeliefert (Grober 2013, 175ff.) und ab etwa 1980 schließlich die ‚neuartigen Waldschäden‘ oder das ‚Waldsterben‘ begünstigt (vgl. Böhmer 2021).

Diese Erfahrung legt nahe, dass Nachhaltigkeit mehrere ‚Dimensionen‘ oder ‚Säulen‘ umfasst, nämlich Ökologie, Ökonomie und auch Soziales, die mehr oder weniger gleichrangig zu behandeln, miteinander in Einklang (‚Dreieck‘) oder in systemische Interaktion zu bringen sind. Bei der sogenannten ‚schwachen Nachhaltigkeit‘ sind diese Säulen gleichberechtigt, haben Schnittmengen, lassen sich gegeneinander aufwiegen. Bei der ‚starken Nachhaltigkeit‘ wird dem Ökologischen das Primat eingeräumt, da prinzipiell das Naturkapital beschränkt und nicht durch mehr oder weniger beliebig vermehrbares Human- und Sachkapital ersetzbar ist. Doch wird ein möglicher ökologischer Vorrang auch teilweise interessengeleitet ausgedeutet, um etwa wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten nicht angreifen zu müssen.

Als eine vierte Säule wird von verschiedenen Proponenten die Notwendigkeit eines Wandels der Kultur (gesellschaftliche Normen, Verhaltensweisen, Praktiken, Institutionen etc.) angesehen, um Nachhaltigkeit überhaupt erreichen zu können (vgl. Dessein et al. 2015). Beispiel für einen etwas anderen Gewichtungsansatz in diesem Sinne ist das ‚Bruttonationalglück‘ in Bhutan mit seinen vier Säulen (sozial gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung; kulturelle und religiöse Werte; Umweltschutz; gute Politik) (Pfaff 2011).

2.2.2 Zeitdimension

Die Zeitdimension der Nachhaltigkeit ist aus dem Entwicklungscharakter des Begriffs – und auch dem der ihm entgegenlaufenden Prozesse – abzuleiten. Wann begannen nicht-nachhaltige Einstellungen und/oder Verhaltensweisen sich global auszuwirken? Seit dem Klimawandel, der Industrialisierung (vgl. das ‚Anthropozän‘ nach Crutzen & Stoermer 2000), dem neuen wissenschaftlichen Weltbild der Natur als einer Art Maschine im 16. Jahrhundert (Mosley 2010), der Ausbreitung des Christentums mit dem biblischen Dominium terrae-Auftrag (White 1967), dem großflächigen Raubbau am Wald für die Schmelze von Eisenerz ab 1000 v. Chr. (Wertime 1983), dem Beginn des Ackerbaus (Ruddiman 2003) oder bereits der Ausrottung großer Säugetiere durch die steinzeitlichen Jäger?

Ein klassisches Modell zur Veranschaulichung nicht-nachhaltiger Prozesse ist der ‚Principle on Population‘ von Malthus (1798), der interessanterweise (ab der zweiten Auflage von 1803) auch schon die Human Happiness im Untertitel führt. Hier können verschiedene Entwicklungen, die sich gegenseitig bedingen, im Zeitablauf nicht zur Deckung gebracht werden: das Bevölkerungswachstum und die Nahrungsmittelproduktion.

Auf der Aktionsebene versucht die aktuelle Nachhaltigkeitspolitik auszuhandeln, bis wann die jeweiligen Nachhaltigkeitsziele (‚Meilensteile‘) erreicht werden sollen. Relativierend sieht der Longtermism (Ord 2020, 52f.), eine neue philosophische Theorie auf Basis des Utiliarismus, den Klimawandel nicht als existenzbedrohend für die Menschheit im Verhältnis zum Beispiel zu später kommenden intergalaktischen Herausforderungen (vgl. Torres, 19.10.2021).

2.2.3 Raumdimension und Maßstab

Nachhaltigkeit kann und muss auf allen räumlichen Ebenen, das heißt mit globalem bis lokalem Maßstab betrachtet werden, gegebenenfalls in ihrem Systemcharakter, also unter Einbeziehung aller Einflussfaktoren und Auswirkungen. Dies reicht von der Makroebene, dem Weltsystem – je nach Perspektive zum Beispiel die ‚Gaia-Hypothese‘, welche die Biosphäre wie ein selbstorganisiertes homöostatisches Lebewesen betrachtet (Lovelock & Margulis 1974), das ‚Total Human Ecosystem (THE)‘ als holistisches landschaftsökologisches Konzept (Naveh & Lieberman 1984) oder das sozioökonomische ‚Modern World System‘ des Soziologen Immanuel Wallerstein (1974ff.), das die Entfaltung des Kapitalismus als Zusammenspiel grenzenloser Kapitalakkumulation und territorial begrenzter Staatsmacht versteht (vgl. Scheidler 2015) – bis zum Haushalt oder Einzelorganismus auf der Mikroebene.

Eine verbreitete Betrachtungsweise stellen Ketten- oder Kreislaufmodelle dar, wie sie in der Ökologie (Landschaftshaushalt) oder Wirtschaftswissenschaft/-geographie (Wirtschaftskreisläufe) gebräuchlich sind. Eine Produktionskette umfasst alle Verarbeitungsstufen von der Produktentwicklung über die Vorfertigung und Zulieferer, die Weiterverarbeitung bis zum Endprodukt; dazu gegebenenfalls die Absatzkette im Handel, die Lieferkette in der Distribution. Die Praxis der Externalisierung (Kapp 1950), nämlich das Abwälzen von Kosten, Lasten oder Aufwendungen auf andere Personen und Regionen, ist dabei durchaus eine räumliche. Große Teile der Wirtschaft und damit der Bevölkerung des ‚globalen Südens‘ stehen unter Kontrolle der Kolonialmächte beziehungsweise nunmehr der weltumspannenden Großkonzerne, die uns im ‚Norden‘ die Kostenvorteile und das relativ bequeme Leben ermöglichen (Lessenich 2016; Brand & Wissen 2017).

Eine Indikatorfunktion für die Nachhaltigkeit besitzt der ‚ökologische Fußabdruck‘ (Wackernagel & Rees 1997) als die biologisch produktive Fläche, die notwendig ist, um den Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen (unter den heutigen Produktionsbedingungen) dauerhaft zu ermöglichen. Bei vier Milliarden Menschen würde der aktuelle Fußabdruck der Biokapazität entsprechen. Weltweit übersteigt der Fußabdruck im Jahr 2013 die Biokapazität um über einen globalen Hektar pro Person (GFN o. J.). Österreich hat den ‚Erschöpfungstag‘ bereits Anfang April erreicht. Auf höherer, Unternehmens- beziehungsweise Länderebene, ist ein räumlicher Ausgleich über das Instrument eines ‚Ablasshandels‘ mit Verschmutzungszertifikaten etabliert worden (Wicke 2005); Einzelpersonen können mithilfe von Kompensationszahlungen ‚Buße‘ leisten, etwa indem sie für einen getätigten Flug einen Baum pflanzen lassen (Erdmann, 25.06.2019).

3 Problem- und Handlungsfelder nachhaltiger Entwicklung

Nachhaltigkeit betrifft verschiedenste Problembereiche (Dimensionen, Sphären) und verweist damit auf eine ungeklärte Vielzahl von Disziplinen, die hier zu beteiligen sind, auf die notwendige Interaktion als Inter- beziehungsweise Transdisziplinarität und auf die zeitliche sowie räumliche Perspektive, im Besonderen planetare Grenzen (Rockström 2009) und ‚Donut-Ökonomie‘2 (Raworth 2012). Im Folgenden werden wir einzelne Handlungsfelder anreißen, die aktuell mehr oder weniger im Fokus stehen.

3.1 Ressourcenverbrauch

In der Ökonomie werden typischerweise Arbeit, Boden, Umwelt und Kapital als Produktionsfaktoren angesehen, wovon hier die natürlichen Ressourcen als materielle, energetische und räumliche Grundlage des Wirtschaftens näher betrachtet werden sollen. Dabei sind nicht erneuerbare von erneuerbaren Ressourcen zu unterscheiden: Erstere (vor allem Mineralien und fossile Energieträger) müssen bei Erschöpfung substituiert werden, letztere können nachhaltig bewirtschaftet werden (Wald), was nicht immer bedarfsdeckend ist, oder stehen weitgehend unabhängig vom Menschen zur Verfügung (Sonnen-, Windenergie).

Ein entscheidender Schritt in der Menschheitsgeschichte war der neuzeitliche Übergang zur Ausnutzung fossiler Energien, der die industrielle Revolution, aber auch die Agrarrevolution mit Mechanisierung und künstlicher Düngung ermöglicht und schließlich einen tiefgreifenden sozialen und demographischen Wandel eingeleitet hat. Entsprechend wurde bereits im 19. Jahrhundert die Sorge über die Endlichkeit dieser Ressourcen thematisiert (z. B. Jevons 1865; Claudius 1885).

Der Bericht des ‚Club of Rome‘ hat über Modellrechnungen den exponentiellen Anstieg der Bevölkerung und des Verbrauchs der nicht erneuerbaren Ressourcen im Hinblick auf künftige ‚Grenzen des Wachstums‘ aufgezeigt (Meadows et al. 1972). Doch waren die Annahmen zunächst zu pessimistisch, denn reale Versorgungsprobleme konnten bislang durch Substitution weitgehend verdrängt werden, und die ‚Grenzen‘ haben sich teilweise in den ökologischen Bereich verlagert – vor allem durch Umweltverschmutzung und schließlich Klimawandel. Auch unabhängig von der weiteren Verfügbarkeit fossiler Energien wird inzwischen die ‚Energiewende‘ hin zu erneuerbaren angestrebt (Günther 2015; Engler et al. 2020).

Laut Paech (01.04.2022) bildet der Bericht des ‚Club of Rome‘ allerdings „eine fulminante Untertreibung“ der aktuellen Situation, insofern wir weitere (immaterielle) Wachstumsgrenzen erreicht hätten. Er verweist auf die „Instabilität einer weltweit verzweigten Spezialisierung“ und die „gestiegene Technologieabhängigkeit“ sowie die Überstrapazierung psychischer Ressourcen, die uns in „Orientierungslosigkeit, psychische Instabilität und die Verkümmerung menschlicher Fähigkeiten“ führen.

3.2 Umweltverschmutzung und -zerstörung

Umweltverschmutzung ist die anthropogene Belastung des Lebensraums (Boden, Wasser, Luft) durch Abfälle und Emissionen. Als Umweltzerstörung wird die Vernichtung natürlicher Landschaftskomponenten etwa durch Rohstoffabbau, Bodendegradation (durch intensive Landnutzung) oder Bodenversiegelung (durch Bautätigkeit) verstanden. Beide entwickelten sich zunächst punktuell an Gewerbe- (Lederverarbeitung mit Gerbstoffen) beziehungsweise Metallurgiestandorten mit Abraum und Schlacken, verdichteten sich regional in großen Städten (Schott 2014) und werden bei exponentieller Zunahme (Meadows et al. 1972) infolge der Industrialisierung spätestens im 20. Jahrhundert durch Verfrachtungsprozesse über den Wasserkreislauf und die Atmosphäre zum globalen Problem, das jährlich zwölf Millionen Todesfälle und enorme weitere Folgekosten verursacht (UNEP 2017). Ein allgemeines Bewusstsein dafür hat sich bereits seit den 1960er Jahren herausgebildet (vgl. Ehrlich 1969).

Die Luftverschmutzung durch den Hausbrand in Kohleöfen war bereits im frühneuzeitlichen London beklagt worden (Evelyn 1661) – England war nach seiner weitgehenden Entwaldung Vorreiter bei der Umstellung von Holz und Holzkohlen auf ‚Erdkohlen‘. Im Zuge der Industrialisierung haben sich weltweit Art und Menge der Luftschadstoffe vervielfacht. Sukzessive höhere Schornsteine führen dazu, dass sie weiter verfrachtet werden, und mit dem Einbau von Filtern verlagert sich das Problem zunehmend auf Feinstaub, der allerdings auch aus anderen anthropogenen (Landwirtschaft) wie natürlichen Quellen (Vulkane) herrührt.

In der industriellen Landwirtschaft werden aus ökonomischen Gründen Stoffe eingesetzt, deren Anreicherung in der Umwelt und letztlich auch in tierischen und menschlichen Organismen massiv schädlich sein kann. Die Problematik der flächenhaften Ausbringung von Pestiziden und Herbiziden wurde im Buch ‚Silent Spring‘ öffentlichkeitswirksam thematisiert (Carson 1962) und führte zum Verbot von DDT. Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Eutrophierung von Gewässern vor allem mit Nitrat und Phosphat aus dem Bodeneintrag der Düngung sowie aus kommunalen und industriellen Abwässern (Ohle 1953).

Von den seit dem Zweitem Weltkrieg in zunehmenden Mengen erzeugten Kunststoffen (insgesamt etwa zehn Milliarden Tonnen) wird ein beträchtlicher Teil weder recycelt noch fachgerecht entsorgt, sondern in Böden und Gewässer eingetragen. Etwa 10 % der Produktion gelangen in die Meere, wo sie an der Oberfläche treiben oder auf Grund sinken beziehungsweise sukzessive zu Mikro- und Nanoplastik zersetzt werden und schließlich den globalen Wasserkreislauf anreichern (Vannela 2012). Aus Verpackungen, aus Meeresprodukten und aus der Trinkwasserleitung nimmt der Mensch inzwischen wöchentlich etwa fünf Gramm Plastik (etwa das Gewicht einer Kreditkarte) auf; das damit mutmaßlich verbundene Gesundheitsrisiko ist noch weitgehend unerforscht (Gruber et al. 2022).

3.3 Klimawandel

Auf die Entdeckung des Treibhauseffekts (Fourier 1824) folgte die Erkenntnis, dass aus einem höheren CO2-Anteil eine Temperaturerhöhung in der Atmosphäre folgen müsste (Foote 1856) beziehungsweise dass es einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Industrialisierung, CO2-Gehalt und einer zukünftigen Erwärmung gibt, die in der damaligen Zeit noch eher hoffnungsvoll erwartet wurde (Arrhenius 1896). Mitte des 20. Jahrhunderts hat man die ‚Beeinflussung des Klimas durch den Menschen‘ zwar bereits diskutiert, aber noch nicht mit der Emission von sogenannten Treibhausgasen in Verbindung gebracht (von Riegel 1957). In dieser Zeit begann mit Charles D. Keeling die messtechnische Erforschung des CO2-Anstiegs in der Atmosphäre (vgl. Harris 2010) und bald darauf die globale Klimamodellierung. Erst in den 1990er Jahren gab es genügend empirische Befunde für die Aussage: „The balance of evidence suggests a discernible human influence on global climate“ (IPCC 1996, 22). Seitdem kreist die Diskussion im Rahmen des permanenten natürlichen Klimawandels um den anthropogen verursachten Anteil, der theoretisch steuerbar ist, vor allem durch die Kontrolle ‚klimaaktiver‘ Emissionen wie CO2 aus der Verbrennung fossiler Energieträger und Abholzung von Wäldern für die Landnahme, aber auch anderer wie Methan aus der Landwirtschaft.

Der globalen Erwärmung werden eine Fülle von Auswirkungen auf die Umwelt (u. a. Gletscherschmelze, Meeresspiegelanstieg, Verschiebung von Klima- und Ökozonen beziehungsweise Höhengrenzen im Gebirge), die Wirtschaft (Landwirtschaft, Tourismus, Energieversorgung), die Bevölkerung (Umweltmigrationen) und den menschlichen Organismus (Gesundheit) zugeschrieben (vgl. IPCC 2022). Die Aufheizung der Atmosphäre führt zur Akzentuierung weiterer Klimafaktoren, die Naturrisiken verstärken (Starkniederschläge versus Dürren; Stürme) (vgl. Rahmstorf & Schellnhuber 2019). Ein zusätzliches Problem bilden Selbstverstärkungseffekte (z. B. Methanfreisetzung im auftauenden Permafrostboden; Vernichtung von Ökosystemen, die ihrerseits CO2 speichern würden) und Kipppunkte, bei denen lange Zeit stabile Systeme in einen anderen Zustand versetzt werden (z. B. Abschwächen beziehungsweise möglicher Stopp des Golfstroms; Caesar et al. 2018).

Lange Zeit wurden die Ergebnisse der Klimaforschung in Teilen der Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und sogar Wissenschaft geleugnet und von Lobbygruppen (wie zum Beispiel der von großen Wirtschaftsunternehmen ab 1989 finanzierten ‚Global Climate Coalition‘) torpediert (vgl. Dunlap & McCright 2015). Doch nunmehr wird der Klimawandel in der öffentlichen Diskussion als Hauptproblem für our common future angesehen, wodurch wiederum andere (insbesondere soziale und politische) Probleme, die den Klimawandel eventuell weiter befördern, unbewusst oder bewusst zur Verdrängung kommen. Ein Stoppen der Aufheizung ist kurzfristig nicht möglich, da über time lags der CO2-Ausstoß von heute über viele Jahre wirksam bleibt. Es geht daher um Mitigation (‚Zwei-Grad-Ziel‘; Wynes & Nicholas 2017) und Adaption (Sietsma et al. 2021), also Maßnahmen, den Klimawandel besser verträglich zu machen (z. B. Begrünung von Städten). Benchmark ist die ‚Klima-‘ oder ‚CO2-Neutralität‘ durch Nicht-Emission oder Kompensation (Luhmann & Obergassel 2020).

3.4 Biodiversität

Unter Biodiversität fasst man (1.) die genetische Zahl der Varianten unter den Mitgliedern derselben Pflanzen- oder Tierart, (2.) die Artenvielfalt, (3.) die Menge der Ökosysteme und (4.) die funktionale Biodiversität als die Vielfalt realisierter ökologischer Funktionen und Prozesse im Ökosystem. Biodiversität hat eine zentrale Bedeutung für die Stabilität von biologischen Systemen3, für Ökosystemleistungen, für die Sicherung der Ernährung und für die Pharmazie. Eine hohe Biodiversität ist sehr oft an traditionelle Landnutzungsformen gekoppelt, welche die Landschaftsstrukturen auflockern und für kleinräumig wechselnde Lebensbedingungen sorgen. Der Wert von ‚Biodiversität‘ wurde schon von Herder erkannt („Selten hat man eine Gewächs- oder Thierart dieses und jenes Erdstrichs ausgerottet, ohne nicht bald die offenbarsten Nachtheile für die Bewohnbarkeit des Ganzen zu erfahren“; Herder 1784, 77) und steht im wissenschaftlichen Fokus seit den Arbeiten vor allem der amerikanischen Landschaftsökologie sowie speziell einem Buch des Evolutionsbiologen Wilson (1986). Ihre Schutzwürdigkeit wird mit der UN-Biodiversitätskonvention von Rio 1992 anerkannt.

Wir verzeichnen aktuell einen massiven Artenverlust, und möglicherweise gehen wir auf das sechste ‚Massenaussterben‘ zu (über 75 % Artenverlust), das diesmal anthropogen induziert ist. Diese Prognose ist noch umstritten, zumal zunächst vielfach ignorierte Arten betroffen sind (Cowie et al 2022). Sie betrifft aktuell aber auch Nutzpflanzen und -tiere, was letztlich zu einer Gefährdung unserer traditionellen Ernährungsgrundlage führt (Pallinger, 06.02.2022).

Der Artenschwund steht in Wechselwirkung mit der Dezimierung von natürlichen oder naturnahen Ökosystemen und von traditionellen Landnutzungsformen, mit der Erhöhung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre und Klimaveränderungen, mit der Eutrophierung beziehungsweise Umweltverschmutzung bis hin zur Toxizität sowie mit der Ausbreitung von konkurrenzstarken Neophyten/Neozoen. Ein Beispiel bildet die agrarische Nutzung tropischer Ökosysteme (Regenwald) durch die wandernde Brandrodungswirtschaft (shifting cultivation), die eine Regeneration des Sekundärwaldes erlaubt, also nachhaltig bleibt, insoweit die Umtriebszeit lang beziehungsweise die Bevölkerungsdichte in der Region gering genug sind (vgl. Arnold 1997, 159ff.).

3.5 Bevölkerungswachstum

In der Bevölkerungsgeographie gibt die Tragfähigkeit die maximale Bevölkerungszahl an, die in einem bestimmten Raum unter Wahrung eines bestimmten Lebensstandards (optimale) beziehungsweise des Existenzminimums (maximale Tragfähigkeit) leben kann. Eine regional chronische Unterversorgung sowie periodisch wiederkehrende Hungersnöte in Entwicklungsländern zeigen auf, dass die Problematik von Malthus bis heute nicht vollständig überwunden ist (vgl. ‚The Population Bomb‘; Ehrlich 1968), sei es, weil die Nahrungsmittelproduktion trotz der ‚Grünen Revolution‘ entsprechend den gewählten Lebensstandards nicht ausreicht oder die Verteilung der Nahrungsgüter nicht optimal funktioniert (vgl. Bommert 2009).

Im Rahmen des demographischen Übergangs geht die ‚Bevölkerungsschere‘ speziell in Afrika offenbar viel langsamer zu, als dies bei einer nachholenden Entwicklung gegenüber den höher entwickelten Kontinenten zunächst erwartet worden war – die Gründe dafür scheinen im Wesentlichen unklar: „Afrikas Bevölkerungsexplosion ist in jedem Fall außergewöhnlich“ und wird es die nächsten 40 Jahre bleiben. „Die UN-Projektion sieht Nigerias Bevölkerung, mittlere Fertilität vorausgesetzt, zum Ende unseres Jahrhunderts bei ca. 800 Millionen“ (Morland 2019, 366ff.). Der Kontinent ist schon jetzt bei weitem nicht in der Lage, seiner übermäßig wachsenden Bevölkerung Ernährung, Arbeit und Lebensqualität zu bieten: Laut einer Studie von Afrobarometer erwägen 37 % seiner Einwohner, meist als ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ Afrika zu verlassen (Appiah-Nyamekye Sanny et al. 2019).

Vor allem in den höher entwickelten Ländern führt ein rasches und anhaltendes Absinken der Geburtenrate langfristig zur Überalterung – dies ist vor allem in Europa, Japan und zuletzt auch China zu beobachten. Der geringere Anteil von Menschen im arbeitsfähigen Alter stellt ein Nachhaltigkeitsproblem für die Volkswirtschaft dar, das unter anderem durch eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität und der Frauenerwerbsquote lösbar ist. Eine Lösung über Zuwanderung erscheint speziell für die Arbeitgeberseite erstrebenswerter, da sie damit die Lohnkosten niedriger halten kann (Hofbauer 2018, 184f.).

3.6 Politik und Wirtschaftsordnung

Politische Nachhaltigkeit wäre gegeben, wenn „politische Verfassungen, Institutionen, Entscheidungen und Maßnahmen dem Gebot des Erhalts der Lebensgrundlagen und der intra- und intergenerationalen Gerechtigkeit entsprechen“ (von Winterfeld & Biermann 2015, 195). Politik muss demnach – mit anderen normenorientierten Lebensbereichen wie Rechtswesen und Religion – die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele betreiben, sie operationalisieren (in erfüllbare Maßnahmen umsetzen), die Akzeptanz dazu herstellen und sie letztlich durchsetzen. Lange Zeit wurde die Verantwortung den Konsumenten zugeschoben, welche die meist billigeren nicht-nachhaltigen Produkte nicht mehr nachfragen sollten. Dies konnte in einer neoliberalen Wirtschaftsordnung mit dem Glauben an den Homo oeconomicus schwerlich funktionieren: „Nicht so ‚grün‘ wie gedacht. Die große Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland ist nicht dazu bereit, ihr Konsumverhalten für den Klimaschutz zu verändern“ (Christner, 22.11.2021), wie eine Studie zeigt (Schnetzer & Hurrelmann 2021).

Politik betrifft aber nicht nur die ökologischen Nachhaltigkeitsziele, die in den letzten 20 Jahren im Fokus standen, sondern auch sozioökonomische Ziele wie Teilhabe und Ausgleich (vgl. Latour 2017; Reich 2021b, 118ff.). Politik muss daher zunächst mit sich selbst im reinen sein (Ist Demokratie eine geeignete Staatsform, ist Populismus geeignet zur Durchsetzung von Nachhaltigkeitszielen?), also die Systemfrage klären, und diese Frage löst sich mit der Globalisierung zunehmend vom bloßen politischen System beziehungsweise der politischen Kultur einer territorialen Einheit. Das ‚moderne Weltsystem‘ ist geprägt von Kapitalismus, Ungleichheit, Ausbeutung und Krieg (Wallerstein 1974ff., Scheidler 2015). Echte Demokratie hingegen könnte Macht begrenzen (Bender 2021), Sozialismus Ungleichheit eindämmen. Doch mit dem Liberalismus wurde die ‚unsichtbare Hand des Marktes‘ zur Selbststeuerung der Wirtschaft propagiert (vgl. Smith 1776) und damit letztlich die ökonomische Stärke Einzelner, das Primat des Ökonomischen und die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche generell durchgesetzt (Neoliberalismus als ‚autoritärer Kapitalismus‘; Reich 2021b, 190ff.).

Die Lehre aus der Verwaltung der commons ist allerdings, dass auch das größte Gemeinwesen, ein demokratisch geführter Staat, der Regulation bedarf, am besten in einer auf vielfachen Ausgleich bedachten ökosozialen Marktwirtschaft, und damit – in Abgrenzung zu jeder Form von ‚ökologischem Autoritarismus‘ (Neckel 2020) – den Nachhaltigkeitsagenden am besten gerecht zu werden scheint (Vieweg 2017). Wichtig in allem ist das Streben nach dem ‚Guten Handeln‘ beziehungsweise der politischen Ethik, wie es zum Beispiel Kaiser Karl V. in seinen politischen Testamenten betont hat (Kohnle 2005), aber zeitlebens aufgrund der ‚politischen Zwänge‘ nicht umsetzen konnte.

4 Diskussion der Lösungsansätze

4.1 Globalisierung versus Regionalisierung

Die Verheißung der Globalisierung bestand darin, in einer vernetzten Welt Güter dort zu produzieren, wo dies am geeignetsten zu bewerkstelligen ist, und sie dorthin zu bringen, wo sie am meisten gebraucht werden. Defacto wurden unter dem Primat des Ökonomischen überwiegend Kostenvorteile ausgenutzt, soziale Ungleichheiten verstärkt, noch nicht global umgesetzte Umweltstandards unterlaufen und immense externe Umweltkosten für den mit fossiler Energie betriebenen Verkehr nicht beglichen (vgl. Kapp 1950). Die ‚Theorie der fragmentierenden Entwicklung‘ nach Scholz (2002) besagt, dass am globalen Wettbewerb und seinen Wohlfahrtseffekten nie ganze Länder, sondern immer nur bestimmte Orte, und auch dort nur Teile der Bevölkerung, teilhaben. ‚Bringing the third world home‘ (Goldsmith 1982), bedeutet die Entwicklung einer Wohlstandsschwelle nun auch innerhalb der westlichen Gesellschaft. Die Wohlhabenden schotten sich innerhalb der Städte ab, und man kann sagen, dass sich ganze Weltregionen zu gated communities entwickeln.

Seit etwa der Jahrtausendwende kommen deshalb regionale Wirtschaftskonzepte wieder verstärkt ins Blickfeld der Wirtschaftswissenschaften (vgl. Ritter & Zeitler 2000). Ein primärer Anstoß dazu mag die nachholende Entwicklung der Arbeitskosten in Schwellenländern gewesen sein, die bereits über einige Jahrzehnte als ‚verlängerte Werkbänke‘ gedient hatten (