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Beschreibung

Von der bedingungslos unterstützenden Mutter über die schweigsame Versorgerin der Familie bis hin zur distanzier-ten Frau, zu der nie eine tiefere Bindung entsteht – Tochter-Mutter-Beziehungen haben unzählige Gesichter und Facetten. 21 Töchter* mit Lebensgeschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, schreiben ehrliche und offene Briefe an ihre Mütter. Sie erzählen, wie sie aufgewachsen sind, wie ihre Mütter sie geprägt haben, was sie in der Beziehung überrascht, bewegt, enttäuscht oder entfremdet hat. Eines haben alle 21 Autor*innen gemeinsam: Sie engagieren sich auf unterschiedliche Weise für die Gesellschaft und machen dabei auf Missstände aufmerksam. In diesem Buch ergründen sie ihre Herkunft, ihre Erziehung und die Beziehung zur Mutter mit Blick auf ihr jetziges Wirken. Welche Bedeutung Tochter-Mutter-Beziehungen einerseits und aktivistisches Engagement andererseits in unserer Gesellschaft haben, reflektiert die Herausgeberin mithilfe von Expertinnen auf psychologisch-soziologischer Ebene.Ein Buch über Liebe und Zerwürfnis, über Nähe und Abgrenzung und die vielleicht komplexeste Verbindung unserer Kindheit. Mit Illustrationen von Azar Kazimir. * Geschlechterkategorien sind vielfältig und bewegen sich jen-seits der Binariät »Frau – Mann«. In diesem Buch bezieht sich der Begriff »Tochter« auf Personen, die sich ganz oder teilwei-se als Frauen identifizieren, als Frauen gelesen werden und/oder als Frauen sozialisiert wurden.

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1. Auflage 2022

Copyright © 2022 &Töchter UG (haftungsbeschränkt), München

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

Umschlaggestaltung: Sigl Affairs, München

Lektorat: Sarah Zechel, &Töchter

Satz: Sarah Zechel, &Töchter

ISBN 978-3-948819-53-8

www.und-toechter.de

Herausgegeben von Wiebke Dierks

nachkommen

Wenn Töchter ihren Müttern schreiben

INHALT

Vorwort

Wem gehört der Aktivismus?

LUISA L’AUDACE

BIRGIT LOHMEYER

FRÄNZI KÜHNE

SERPIL UNVAR

CLAUDINE NIERTH

DÜZEN TEKKAL

VALERIE SCHÖNIAN

ROMY STANGL

HADIJA HARUNA-OELKER

JULIA MONRO

KARIN BERGDOLL

SHAMMI HAQUE

LYDIA MEYER

RICARDA LANG

SOOKEE

TINA K.

JACQUELINE STRAUB

JEANNINE FASOLD

THERESA BREUER

CLARA MAYER

YUSRA MARDINI

Interview mit Claudia Haarmann

Nachwort

Danksagung

Endnoten

Für alle Töchter

VORWORT

Die Idee zu diesem Buch entstand, als er mal wieder aufblitzte, um dann, wie so oft zuvor, aus meinem Blickfeld zu verschwinden. Er – ein Briefumschlag frankiert und adressiert an meine Mutter. Nur der Briefbogen darin war noch leer. Mehrere Jahre führte der Umschlag ein stilles Dasein in einer Schale mit Krimskrams auf meinem Schreibtisch. Immer mal wieder lugte er hervor, ließ meine Gedanken kreisen, aber sonst passierte nichts. Nur um ihn herum veränderte sich die Welt: Zweimal ist er umgezogen und auch die Anschrift meiner Mutter ist nicht mehr aktuell. In der Zwischenzeit ist mein Vater verstorben, ich habe zwei Neffen und eine Nichte bekommen, habe geheiratet und bin selbst Mutter einer Tochter geworden. Den Mut, meiner Mama endlich all das zu schreiben, was mir schon so lange auf das Herz drückte, diesen Mut hatte ich bislang nicht gefunden.

Ich fragte mich, wie vielen FrauenA es wohl so ergeht wie mir? Wie viele umschiffen elegant die schwierigen Themen, kehren Probleme bereitwillig unter den Teppich oder gehen zu einer*m Psychotherapeut*in, um Konflikte durchzuarbeiten, ohne diese jemals offen bei ihrer Mutter ansprechen zu können? Wieso gelingt es nur selten, den Koffer gefüllt mit Erwartungen zu Hause stehen zu lassen? Warum gehen wir nicht selbstbewusst, offen und frei mit unserer Mutter ins Gespräch, um neue Seiten an der Beziehung zu entdecken? Warum ist das Verhältnis zwischen Tochter und Mutter manchmal so verdammt kompliziert und wieso ist es so schwierig, eine Sprache für die eigenen Gefühle und für wichtige persönliche Themen zu finden?

Zu Beginn der Coronakrise, als wir auf Distanz zu unseren Eltern und Großeltern gehen mussten, telefonierten und zoomten wir und schrieben auch wieder Briefe. Warum also nicht endlich auch meinen Brief schreiben? Ich aber habe mich wieder weggeduckt und stattdessen andere Frauen gefragt. In der Hoffnung, dass ihnen gelingt, wovor ich mich schon so lange drückte: einen ehrlichen Brief an ihre Mutter zu schreiben.

Und tatsächlich: Fünf prominente Töchter sagten zu und schrieben los: für VOGUE online.B Mit dabei waren Nazan Eckes, Luisa Neubauer, Sara Nuru, Düzen Tekkal und Yusra Mardini. So unterschiedlich die Geschichten dieser Frauen sind, eines haben sie alle gemeinsam: ein inniges und schönes Verhältnis zur Mutter. Das ist nicht immer so, viele Töchter haben eine ambivalente Beziehung zu ihrer Mutter. Meine Neugierde war geweckt und schon bald war klar, dass die Briefe der ersten fünf Töchter – zwei davon finden sich auch in diesem Buch wieder – nur der Anfang sein würden. Ich wollte noch tiefer in das Thema einsteigen, nach weiteren Perspektiven suchen und so fragte ich für dieses Buch weitere Töchter an. In insgesamt 21 Briefen kommen nun ganz unterschiedliche Emotionen, Perspektiven und Beziehungen zum Vorschein.

Dementsprechend unterschiedlich waren auch die Reaktionen auf meine Anfragen: Während einige Frauen sofort begeistert ihren Laptop aufklappten und losschrieben, konnten sich andere nicht vorstellen, so viel Persönliches öffentlich zu machen. Einige haben erst zugesagt, dann ihre Teilnahme wieder zurückgezogen und wieder andere haben ihren Brief direkt an ihre Mutter geschickt. Verstehen konnte ich jede einzelne dieser Reaktionen.

Und auch ich habe meinen Briefumschlag aus der Schale genommen, meine Gedanken aufgeschrieben und den Brief zur Post gebracht.

Im Mittelpunkt des Buches stehen die Töchter. Es geht um ihre Sichtweisen, ihre Gefühle und Prägungen durch die Mutter. Es geht um die Frage, was sie stark gemacht, was sie angespornt, enttäuscht oder nachhaltig verletzt hat. Was verbinden sie mit ihrer Mutter, wofür möchten sie sich bedanken und was haben sie noch nie mit ihr besprochen oder erst im Laufe ihres Lebens verstanden?

Gefragt habe ich Töchter, deren Lebensgeschichten mich beeindruckt haben. Mir war wichtig, dass sie sich gesellschaftlich engagieren oder als Aktivist*innen auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen. Dass sie sich beispielsweise in bisher vorwiegend von Männern besetzten gesellschaftlichen Rollen, Funktionen oder Räumen bewegen. Dass sie auf Ungleichheiten oder strukturelle Diskriminierung hinweisen und diese aktiv überwinden wollen, aus unterschiedlichen Milieus und Generationen heraus.

Es kommen Frauen mit unterschiedlichen Blickwinkeln, Hintergründen und Erzählweisen zu Wort, die durch ihre persönliche Perspektive einen Scheinwerfer auf Missstände in der Gesellschaft richten. Sie erklären, warum sie zu den Menschen geworden sind, die sie sind: Wir erfahren, welche Rolle ihre Kindheit, Herkunft, Erziehung und Beziehung zur Mutter in ihrem aktuellen Engagement spielen. Woher sie die Kraft nehmen und was sie antreibt. Nicht wenige von ihnen stehen im Fokus der Öffentlichkeit und werden aufgrund ihres Engagements diffamiert und bedroht. Nicht alle werden davor von ihrer Mutter geschützt. Und dennoch schreiben sie ohne Groll nieder, was sie mit ihrer Mutter verbindet oder was sie entzweit.

In kurzen Texten, die an die jeweiligen Briefe anschließen, gewinnt der*die Leser*in tiefergehende Einblicke in das Leben der Töchter und ihr Engagement für die Gesellschaft. Hier fließen auch Informationen und Anekdoten ein, die mir die Töchter in persönlichen Gesprächen erzählten.

Neben der persönlichen Ebene – abgebildet durch die Briefe der Autor*innen – interessierte mich außerdem, wie der*die Aktivist*in zu der Sozialfigur der Gegenwart werden konnte. Wer definiert, wann man von Aktivismus spricht? Wo verlaufen die Grenzen zwischen der Wahrnehmung von bürgerlichen Rechten in einer Demokratie und aktivistischen Handlungen: Ist die regelmäßige Teilnahme an Demonstrationen für eine zivile Seenotrettung im Mittelmeer oder das Posten einer schwarzen Kachel auf Instagram schon Ausdruck von Aktivismus? Wer galt schon vor 100 Jahren als Aktivist*in oder wer wird rückwirkend als solche*r gelabelt? Wenn man sich heute sogar zum*zur Aktivist*in ausbilden, sprich coachen lassen kann, ist das dann Ausdruck einer notwendigen Professionalisierung oder schon der Beginn der Kapitalisierung und damit womöglich die einhergehende Entleerung des Begriffs? Unter der Fragestellung »Wem gehört der Aktivismus?« blickt Lenya Meislahn auf einen Begriff, der gesellschaftlichen Wandel vorantreibt. Lenya Meislahn ist Journalistin und Historikerin. Inhaltlich befasst sie sich sowohl mit Wirtschafts- und Technologiethemen als auch mit medialer Erinnerungskultur sowie Medienaktivismus.

Im letzten Teil des Buches erklärt die Psychotherapeutin Claudia Haarmann in einem Interview die psychologische Dimension der Tochter-Mutter-Beziehung und erläutert detailliert deren Auswirkungen auf das Erwachsenenleben.

Entstanden ist ein Buch mit Gedanken und Reflexionen von Töchtern über die Beziehung zu ihrer Mutter. Es ist ein Buch, das Mut macht, versöhnt und andere Frauen zum Schreiben motivieren soll. Es ist ein persönliches und zugleich kämpferisches Buch geworden.

Wiebke Dierks, Februar 2022, Berlin

A Geschlechterkategorien sind vielfältig und bewegen sich jenseits der Binariät »Frau – Mann«. In diesem Buch beziehen sich die Begriffe »Frau« und »Tochter« auf Personen, die sich ganz oder teilweise als Frauen identifizieren, als Frauen gelesen und/oder als Frauen sozialisiert wurden.

B Die Briefe der Töchter sind auf VOGUE online zu lesen:https://www.vogue.de/lifestyle/artikel/liebe-mama-briefe-muttertag.

WEM GEHÖRT DER AKTIVISMUS?

Ein bisschen ist es so wie mit den Feminismus-T-Shirts von H&M. Designer*innen des schwedischen Textilgroßkonzerns hatten den Begriff »Feminism« kombiniert mit dem Claim »The radical notion that women are people«A im Jahr 2017 als Dekor für die Jerseys verwendet. Während den Käufer*innen die Idee gefiel, regte sich in den Feuilletons und in der Wissenschaft Empörung.1 In Sachen Aktivismus hatte der US-amerikanische Sender CBS im Herbst 2021 noch größeres vor als H&M mit den »Feminism«-Shirts. Mit The Activist sollte eine Fernsehsendung mit Weltveränderungscharakter an den Start gehen. Das Konzept: Sechs Aktivist*innen und ihre gemeinnützigen Projekte miteinander im Wettstreit und sogenannte Challenges, ohne die Reality-TV-Formate nicht auskommen, inklusive. Als Juror*innen hatten unter anderem der US-amerikanische R&B-Sänger Usher und die indische Sängerin und Schauspielerin Priyanka Chopra zugesagt. Doch schon vor dem Start war es vorbei. Nach einer medial lautstarken Diskussion um eine Kapitalisierung der guten Sache ruderten Sender und Produktionsfirma zurück, entschuldigten sich2 und statt der Show wurde eine mehrteilige Dokumentation über die Aktivist*innen ausgestrahlt. Die Kritiker*innen hatten insbesondere darauf verwiesen, wie wenig vereinbar mit dem Sinn des Aktivismus es sei, dessen Protagonist*innen und ihre Projekte miteinander konkurrieren zu lassen. Die kanadische Filmemacherin, Publizistin und Aktivistin Naomi Klein fragte via Twitter rhetorisch, ob es sich bei der Show um eine komplexe marxistische Kritik handele, die den Wettbewerb um Geld und Aufmerksamkeit entlarve, oder ob schlicht das Ende der Welt nahe.3

Aktivismus und Aktivist*innen begegnen uns heute überall. Sie machen sich für die Umwelt, den Klimaschutz, ein positives Körperbild, Inklusion stark. Daneben gibt es Modeaktivist*innen, Hashtagaktivist*innen. Während es vielen aktiven Menschen um nicht weniger geht, als die Welt zu verändern, sind einige Initiativen seltsam inhaltsleer und der Kapitalisierungsvorwurf liegt nicht fern. Wieder andere Gruppen, die sich selbst Aktivist*innen nennen, schreiben sich demokratiefeindliche Ziele auf die Fahnen. Aber ist Aktivismus nicht für alle da?

Gerade unter jungen Menschen ist eine aktive Welle des Engagements zu spüren. Beispielsweise die Klimabewegung Fridays for Future animierte, ausgehend von der schwedischen Schülerin Greta Thunberg und ihrem zuerst solo absolvierten »Schulstreik fürs Klima«4, innerhalb weniger Monate junge Menschen weltweit zum Engagement und Aktivismus. Auf dem Weg dahin können Praktika helfen. So lautet zumindest ein wiederkehrender Tipp in den unzähligen Artikeln, Büchern und Blogeinträgen, die sich mit der Frage beschäftigen »Wie werde ich Aktivist*in?«.5 Sein Thema zu finden, sich zu engagieren und mit anderen Menschen zusammenzutun sind weitere Ratschläge für angehende Weltveränder*innen. Weniger konkret als der Rat, sich mit Praxiszeiten in NGOs, Organisationen und Institutionen weiterzubilden, dafür deuten sie genau das an, was Aktivismus sein kann: Raum für viele und vieles. Das schließt die digitalen Sphären mit ein. Auch wenn Hashtag-Aktivismus eine oft negative Konnotation besitzt und als »Mit einem Klick bist du dabei«-Engagement gelten mag, haben soziale Medien für Aktivist*innen auch positive Effekte, ebenso wie der Hashtag. Die Technik macht auffindbar und somit sichtbar, was sonst vielfach an den Rand gedrängt wird. So kann eine Auseinandersetzung auch möglich werden.6

Doch ist ein Like schon Aktivismus, das Versehen eines Beitrags mit einem Hashtag, den jemand anderes oder die Mitglieder einer Bewegung vorformuliert haben, schon Protest? Die Antwort auf die Frage, wer Aktivist*in ist und wer nicht, kann recht kleinteilig werden.

Aktivismus ist nicht bloß das Gegenteil von passiv sein, er verlangt mehr: ein Ziel. Im reinen Wortsinn definiert der Duden den Begriff als »aktives Verhalten, zielstrebiges Handeln, Betätigungsdrang«.7 Beim Wort »Aktivist*in« kommt noch der Zusatz »politisch aktiv« hinzu. Inhaltsgetriebene Definitionen benennen gar die Ziele des Handelns von Aktivist*innen: sozial, ökologisch, politisch.8 Zusammengenommen ist Aktivismus ein Handeln, das auf gesellschaftlichen Wandel gerichtet ist.

So die heutige Lesart. Noch vor 100 Jahren war Aktivismus als Begriff nicht derart omnipräsent wie heute. Um 1910 war er zunächst einer philosophischen Haltung zugeordnet, im »wissenschaftlichen Gesinnungsdiskurs«. Selbst Bertha von Suttner, Pazifistin der ersten Stunde, 1905 für ihr Engagement gegen den Krieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, nannte sich selbst nie Aktivistin. Dies ist eine spätere Zuschreibung. Von der Philosophie ging der Begriff Aktivismus ab den späten 1920er Jahren in den politischen Zusammenhang über. Unter den Nationalsozialist*innen konnte ein »Aktivist« jemand sein, der sich gegen politische Gegner*innen des faschistischen Regimes – meist mit Gewalt – zur Wehr setzte. Auf der anderen Seite wurden als Aktivisten auch jene sowjetischen Kommissare bezeichnet, die von den Mitgliedern der SS während des Russlandfeldzugs sofort zu erschießen waren, wurden diese ihrer habhaft. Ebenso wie Militaristen und Nutznießer wurden »Aktivisten« in den Entnazifizierungsverfahren der Nachkriegszeit als Belastete der zweiten Kategorie qualifiziert, direkt nach denen der ersten Kategorie: den Hauptschuldigen. In der DDR war »Aktivist« eine Auszeichnung, ein Ehrentitel, verliehen für besondere Verdienste um den Aufbau und Erhalt des sozialistischen Systems.9 Mit den 1960er Jahren wurde der englische Begriff »Activist« auch in der deutschen Diskurslandschaft, der politischen und medialen Öffentlichkeit, präsenter. Bürgerrechtskämpfer*innen wie Martin Luther King wurden auch im Sprachgebrauch als Aktivisten*innen bezeichnet.

Heute wird Aktivismus meist abgegrenzt von Engagement in die eine und politischem Handeln in die andere Richtung. Die Grenzen sind fließend. Aktivismus und Engagement können politisch sein und auch eine politische Relevanz haben. Auf den Weltklimakonferenzen sind stets auch Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen anwesend, die in direkten Dialog mit den Repräsentant*innen der Staaten treten. Gleichwohl per definitionem Aktivist*innen außerhalb der Parteipolitik handeln. Ihre Mittel sind Worte und Taten, online wie offline, Demonstrationen ebenso wie Blockaden und Petitionen.

Aktivismus hat viele Formen. Geprägt sind diese aber durch den zivilen Ungehorsam. Dabei werden Regeln gebrochen, die durch Gesetze und Gesellschaft vorgegeben sind. Diese Brüche sind dabei jedoch nie willkürlich, sie sind auf das anvisierte Ziel gerichtet.10 Der bewusste Regelbruch zielt darauf ab, bestehende Regeln infrage zu stellen, sie sind somit Ausdruck von Protest gegen gesellschaftliche Normen oder Realitäten. Die variantenreichen Facetten des Aktivismus haben alle etwas gemeinsam: Den Willen, etwas zu verändern und der Welt diesen Willen durch den Widerstand gegen gesellschaftliche Regeln zu zeigen. Und all das in der Hoffnung, dass das Ziel erreicht wird. Die Motivation ist das ausschlaggebende Element im Aktivismus, nicht die Größe oder Reichweite der Handlung.

Die Motivation kann aus der persönlichen Betroffenheit im engsten Sinne entstehen wie beispielsweise bei Nimko Ali. Die im Sudan geborene und heute in Großbritannien lebende Frauenrechtsaktivistin hat als Mädchen Gewalt durch Genitalverstümmelung erlebt. Die persönliche Erfahrung kann aber auf einer ganz anderen Ebene auch sein, dass es für eine*n Vegetarier*in schwierig ist, in der Schuloder Mitarbeitendenkantine satt zu werden. Die Motivation kann auch beobachtetes Unrecht sein. Eine innere Haltung ist ausschlaggebend.

Auch die*der südafrikanische Fotograf*in Zanele Muholi, die*der seit rund 20 Jahren die Schwarze LGBTQIA+-Community in Südafrika dokumentiert und sichtbar macht, bezeichnet sich selbst als »visuelle:r Aktivist:in«. Es geht darum, die Stimme zu erheben, nicht mehr leise zu sein.

Aktivist*innen eint, dass sie aus dem Gefühl der Not heraus handeln, sie sagen sich »So kann es nicht weitergehen« oder »Das müssen wir verändern«. Wie kommt es vom Gedanken zum Handeln?

Die Motive sind vielfältig. Es gibt den biografischen Aktivismus, den politischen Aktivismus, den privaten Aktivismus und noch weitere Spielarten dazwischen. Einige sind emotional gefestigt und agieren aus der Stärke heraus, andere erkämpfen für sich und andere genau das, was sie nicht haben.

Mit einem ersten Schritt beginnt es und oft auch mit einem ersten Menschen, der diesen Schritt allein geht. Um für eine Sache aktiv zu werden, eine Veränderung anzustoßen, braucht es aber nicht immer diesen Pioniergeist. Wer sich für ein Ziel engagieren möchte, kann sich auch einer bestehenden Gruppe anschließen. Oder sich von Beginn an mit Gleichgesinnten zusammentun. Gemeinsamkeit stärkt auch gegen Anfeindungen. Denn eines ist gewiss: Je öffentlicher ein Mensch und seine Meinung wird, desto mehr Mitmenschen werden sich bemüßigt fühlen, wiederum ihre Meinung zu dieser Meinung kundzutun. Während die einen beipflichten oder sich gar davon animieren lassen, selbst aktiv zu werden, sparen andere nicht mit Kritik oder Häme. Manche Charaktere lassen daher von vornherein die Finger vom Aktivismus, aus Sorge, die Kritik nicht aushalten zu können. Aber laut sein hilft. Und gemeinsam sein auch. Da kann es um gemeinsame Ziele gehen, die zwei oder mehr Gruppen miteinander teilen, oder auch gemeinsame Aktionen, die auf dieses Ziel hinarbeiten. Auch hier gilt: Abgrenzung führt nicht zum Ziel.

Dennoch ist es wichtig, sich nicht nur auf Zustimmung zu verlassen. Das kann bestärken, ja. Aber es kann auch eine falsche Sicherheit vorgaukeln, die im schlimmsten Falle lähmen kann. Der Austausch ist wichtig. Thesen und Aktionen immer wieder zu hinterfragen und sich mit Antithesen und Kritiker*innen auseinanderzusetzen, solange es sachlich zugeht, bringt Aktivist*innen dem Ziel stets näher.

Aktivist*in zu werden sei darin begründet, nie mit der Arbeit an sich selbst fertig zu sein, nennt es der Kulturgeograf Ted Rutland.11 Die Motivation fürs Engagement entsteht daneben durch Erziehung, Perspektive, Nachahmen, Abgrenzen.

Gerade das Nachahmen macht den Aktivismus zum Massenphänomen, als das er heute gilt. Im Jahr 2021 gaben laut einer Studie des IfD Allensbach 17,17 Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum an, sich für Natur- und Umweltschutz einzusetzen.12 Inwieweit sie nach gängigen Definitionen auch Aktivist*innen sind, sagt die Studie nicht. Sie fühlen sich aber aktiv. Der US-amerikanische Soziologe John Wilson hatte in seinem Werk über soziale Bewegungen angemerkt, dass es kaum ein gesellschaftliches Phänomen gebe, das nicht irgendwann einmal zur Erscheinungsform einer sozialen Bewegung zurechtdefiniert worden wäre.13 Analog kann das für den Aktivismus der heutigen Zeit gelten: Wo ein Missstand, da auch ein*e Aktivist*in. Positiv gewendet drückt es die Demokratisierung des Begriffs aus, inhaltlich eine Kapitalisierung, da noch jede kleinste Aktion vermarktet werden kann.

Zugleich gibt es immer mehr Menschen, die sich nicht »Aktivist*in« nennen lassen möchten, ihr Engagement dadurch bisweilen reduziert, gar diskreditiert sehen.14 So hat die Autorin Alice Hasters, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung stark macht, bei Twitter explizit erklärt, Autorin zu sein und keine Aktivistin. Mit diesem von ihr abgelehnten Zusatz war sie oft versehen worden, wenn sie in Talkshows, Podcasts oder Podiumsdiskussionen eingeladen war oder über sie berichtet wurde.15

Aktivismus wird oft mit einer eher linken Schlagseite wahrgenommen respektive auch von Gegner*innen als solche verteufelt. Ist es ein Ausdruck von linker Gesinnung, für Klimaschutz einzutreten? Es geht dann wohl eher um die Wege, die Aktivist*innen einschlagen und die Wortwahl. Wer sich gegen den Ausverkauf der Welt stemmt, ist in einer bestimmten Lesart gleichzeitig Kapitalismusgegner*in. Mit anderem Vokabular treten Bewegungen auf, die ebenfalls auf die Veränderung der Gesellschaft aus sind, mitnichten aber als links zu qualifizieren sind. Hierzulande sind es Gruppierungen wie Pegida, die sich klar gegen Migration und eine pluralistische Gesellschaft stellen oder in der andauernden Coronakrise die Impfgegner*innen, die sich mit dem Label »libertäre Aktivist*innen« versehen. Wer hat also ein Monopol auf Aktivismus? Keine*r. Dennoch ist festzuhalten, dass rechte Initiativen sich oft nur den Anschein von Aktivismus geben. Sie sind in ihren Zielen auf Exklusivität im wahrsten Wortsinn gerichtet, grenzen sich ab. Das sind Merkmale des Populismus. Viele Aktivist*innen dagegen eint, dass sie inklusiv sind, sich gegen Ausgrenzung stark machen und sich nicht abgrenzen. Eine Lehre Buddhas handelt von den Six Perfections, auch Paranitas genannt. In der vierten dieser Perfektionen geht es um »courageous energy«, die wagemutige Energie, und darum, diese zu nutzen, um die Welt zu einem besseren Ort fürs Leben zu machen. Das ist das, was Aktivismus ausmacht.

Lenya Meislahn

A Übersetzt: »Feminismus – die radikale Vorstellung, dass Frauen Menschen sind.«

LUISA L’AUDACE

Meine liebe Mimama,

wenn du das hier liest, wirst du vielleicht ein bisschen überrascht sein. Schließlich habe ich dir hiervon bis zu diesem Zeitpunkt gar nichts erzählt. Und das, obwohl ich dir doch normalerweise von so gut wie allem erzähle, was ich so mache. Ich weiß nicht, ob es dir gefällt, dass ich dir hier so öffentlich schreibe. Aber ich halte dies für eine angemessene Art, dir zu sagen, was du mir bedeutest, denn seitdem ich denken kann, bist du einfach da. Und mit dir dieses sichere vertraute Gefühl, dass ich mich immer auf dich verlassen kann.

Ich kann nur erahnen, wie viele Stunden du schon mit mir in Krankenhäusern, bei Therapeut*innen, Ärzt*innen, und im Auto auf dem Weg zu genau diesen Terminen verbracht hast. Dabei hast du dich kein einziges Mal darüber beklagt. Generell hast du aus meiner Behinderung nie einen Hehl gemacht. Für dich schien das nichts Negatives oder Schambehaftetes zu sein. Zumindest hast du mir das nie so vermittelt. Dabei will ich mir nicht ausmalen, welche unmöglichen Sprüche du dir als Mutter eines behinderten Kindes oft anhören musstest. Und auch, wenn unsere Gesellschaft auch heute noch ein gewaltiges Ableismus-Problem hat, so war es in den 1990ern sicher noch mal verschärfter.

Und gerade deshalb bist du für mich eine Pionierin, denn du hast die Begriffe »Behinderung« und »behindert« schon immer ganz selbstverständlich benutzt. Sogar dann, als ich es selbst nicht konnte, weil diese doch eigentlich neutralen Wörter so negativ belegt sind. Heute weiß ich, dass ich diese Begriffe gerade deswegen verwenden sollte. Dass andere es sind, die sie falsch benutzen und nicht ich. Und dass es sich bei Ersatzbegriffen, wie »Handicap« oder »besondere Bedürfnisse«, lediglich um unnötige Beschönigungen handelt. Euphemismen, die nichtbetroffene Menschen erschaffen haben, um sich bloß nicht damit auseinandersetzen zu müssen oder unbehaglich zu fühlen – unbehaglich durch ein Wort, das sie selbst erst so negativ belegt haben. Heute benutze ich es voller Stolz und kann mir kaum vorstellen, wie schwer es gewesen sein muss, vor 25 Jahren daran festzuhalten. Als Teil einer Gesellschaft, in der die Aussage »Hauptsache gesund!« schon fast zum guten Ton gehört, wenn Kinder geboren werden.

Du hast mich in allem unterstützt, was ich tun wollte. Als ich als Kind unbedingt Ballett tanzen wollte, hast du mich beim Ballett angemeldet. Auch, wenn dir klar war, dass dies so ziemlich die ungeeignetste Sportart für mich ist. Und auch, als ich das ein paar Monate später selbst merkte, hast du meine Tränen getrocknet. Ein »Ich hab’s dir ja gleich gesagt«, hörte ich nie von dir. Und auch, als mich als Jugendliche erneut der unrealistische Wunsch packte, Balletttänzerin werden zu wollen, dauerte es nicht lang, bis du die Halterungen meiner ganz eigenen Ballettstange mit den alten Wänden unseres Fachwerkhauses verschraubt hattest. Und auch, als ich dieses Mal noch viel schneller merkte, dass es sich bei der Vorstellung von mir als Ballerina um Wunschdenken handelt, so hast du mir das doch nie vorgehalten.

Grundsätzlich hatte ich nie das Gefühl, dass du ein festes Bild davon hast, wie mein Leben aussehen soll. Ich hatte nie das Gefühl, irgendeiner Rolle nacheifern zu müssen, die du dir für mich ausgemalt hast. Erst vor Kurzem gab es wieder einen gewaltigen Richtungswechsel in meinem Leben, der mir das noch einmal klar vor Augen führte. Ich musste mich beruflich entscheiden, ob ich weitermache wie bisher, oder ob ich die Resettaste drücke und nichts mehr in der Hand habe, außer der Freiheit, mich voll und ganz darauf zu konzentrieren, wofür mein Herz schlägt. Und während mir andere Mütter wahrscheinlich eine Predigt darüber gehalten hätten, wie wichtig Sicherheit ist, und dass man nicht immer nur das tun kann, wonach einem ist, sagtest du: »Hör auf dein Herz! Das Leben ist schon schwer genug. Da solltest du tun, was dich glücklich macht.«

Als wir uns neulich über meinen bisherigen beruflichen Weg unterhielten, sagtest du: »Ich könnte das niemals, so wie du. Vor so vielen Leuten sprechen.« Als ich jedoch erwiderte, dass ich früher auch nie gedacht hätte, dass ich zu den Dingen fähig bin, die ich heute mache, fingst du an zu lachen, schütteltest den Kopf und sagtest: »Du hast Ungerechtigkeiten noch nie ertragen. Schon als Kind hast du dich lautstark darüber beschwert, wenn dir irgendetwas nicht richtig vorkam.« Das war mir zuvor nie bewusst gewesen. Ich dachte lange, dass ich introvertiert bin. Allerdings könnte man sagen, dass ich viel eher dazu gebracht wurde, leise und unauffällig sein zu wollen. Nachdem mir besonders in meiner Jugend massiv viel Diskriminierung und Mobbing entgegengeschlagen war, dachte ich lange, dass ich es nicht anders verdient hätte. Dass ich nicht gut genug sei und dass ich diejenige sei, die sich ändern müsse. Als hätte ich mich zwischenzeitlich einfach verloren, in dem Drang nach Selbstoptimierung und Veränderung.

Doch als ich anfing, mich mit anderen chronisch Kranken und behinderten Menschen auf Social-Media-Kanälen zu vernetzen, begann ich endlich zu verstehen, dass diese Dinge aus einem anderen Grund geschahen und dass ich nicht die Einzige war, die diese Art von Erfahrungen gemacht hatte. Endlich verstand ich, dass nicht ich das Problem war, sondern der Umgang der Gesellschaft mit Behinderung. Ich fing an, mich über Ableismus zu informieren, also der strukturellen Diskriminierung behinderter Menschen, und plötzlich wurde mir alles immer klarer. Ich verspürte den Drang, dieses kürzlich erlangte Wissen in die ganze Welt herauszuschreien, weil der Gedanke unerträglich war, dass sich noch mehr Menschen so schuldig und beschämt fühlen könnten, wie ich mich zuvor gefühlt hatte. Es war so, als hätte ich einen zuvor verloren gegangenen Teil von mir wiedergefunden.

Vermutlich wirken meine Beschreibungen bisher so, als hättest du alles sehr locker gesehen. Allerdings gab es da schon eine Sache, auf die du immer sehr viel Wert gelegt hast. Und zwar, dass ich stets mein Bestes tue und mich nicht zu schnell mit etwas zufriedengebe. Malte ich als Kind ein Bild, lobtest du mich nicht überschwänglich, wie so manch andere Mutter. Du sagtest mir lieber, wie ich es noch verbessern könnte. Das Gleiche galt für Schularbeiten und viele andere Bereiche. Und auch wenn mir ein Lob oft besser gefallen hätte, und dies der einfachere Weg gewesen wäre, so hat mir diese Umgangsweise für mein Leben wahrscheinlich doch mehr gebracht. Hat mich zu der selbstkritischen Person gemacht, die sich selten mit einem Erfolg zufriedengibt und währenddessen schon wieder den nächsten Schritt plant. Als hättest du mich vorbereiten wollen, in dem Wissen, dass ich mich als behinderte Frau immer einmal mehr beweisen werden muss.

Mein Leben lang schon bist du mein Fels in der Brandung und, meine Güte, die Wellen waren auch manchmal hoch. Und ich weiß, ich habe es dir nicht immer leicht gemacht. Doch du hast dich immer auf die Situation eingelassen und während ich noch in der Verzweiflung versunken war, suchtest du schon wieder nach einem neuen Weg heraus. Letztlich haben wir das zusammen dann doch ganz schön gut hinbekommen. Ohne dich stünde ich nicht dort, wo ich heute stehe. Ich danke dir mehr, als ich es jemals in Worte fassen kann.

In Liebe, deine IdaA

A Weil Luisa L’Audace als Kleinkind ihren Namen nicht aussprechen konnte und stattdessen »Ida« sagte, wird sie so manchmal von ihrer Mutter genannt.

ÜBER LUISA L’AUDACE

Aktivistin und Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung

»Mein Name ist Luisa L’Audace. Ich bin 25 Jahre alt und behindert.« Bis Luisa L’Audace sich selbstbewusst vorstellen konnte, hat sie viele Jahre gebraucht.

Sie wuchs mit ihrer Mutter in einem kleinen Dorf in Hessen auf und weiß, wie es sich anfühlt, wenn die neutrale Selbstbezeichnung »behindert« als Schimpfwort missbraucht wird. Während ihrer Kindheit hörte sie das Wort täglich auf dem Schulhof. Jedes Mal zog sich alles in ihr zusammen. Starkes Mobbing und Diskriminierung prägten ihren Schulalltag. Sie wechselte mehrere Male die Schule und verließ die letzte, ohne an der Abschlussprüfung teilzunehmen. Ihren Abschluss holte sie in einem dreijährigen Fernstudium nach und bilanziert: »Für meinen Realschulabschluss habe ich länger gebraucht als jede Abiturientin für ihre Hochschulreife.« Sie fügt hinzu: »Bildung ist auch heute noch ein Privileg, das vielen Menschen mit Behinderung verwehrt bleibt.«

»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Dieser Satz wurde erst 1994 ins deutsche Grundgesetz aufgenommen. Seit 2009 gilt zusätzlich die UN-Konvention für Menschen mit Behinderung. Ziel ist die gleichberechtige und aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, kein Nebeneinander von Menschen mit und Menschen ohne Behinderung, sondern ein gleichberechtigtes Miteinander: Inklusion eben. Im Alltag bedeutet dies beispielsweise keine gesonderten Förderschulen im Bildungsbereich und keine Werkstätten für Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben. Stattdessen gemeinsames Lernen in einer Schule und eine Beschäftigung im sogenannten ersten Arbeitsmarkt.

Besonders im Bildungsbereich hat Deutschland einiges aufzuholen: Der Anteil der Schüler*innen, die an Förderschulen unterrichtet werden, ist seit der Ratifizierung der UN-Konvention kaum gesunken und in manchen Bundesländern sogar gestiegen. Im Schuljahr 2008/09 wurden 4,8 Prozent aller Kinder der Jahrgangsstufen 1 bis 10 in Förderschulen unterrichtet, zehn Jahre später waren es immer noch 4,2 Prozent.16

Mit Anfang 20, als es Luisa L’Audace gesundheitlich schlecht ging und sie viel Zeit zu Hause verbrachte, entdeckte sie Instagram als ihre Plattform, um sich mit anderen Menschen auszutauschen, Diskriminierungserfahrungen zu teilen und über Ableismus – der strukturellen Diskriminierung von Menschen mit BehinderungA – aufzuklären. Sie hält nicht-behinderten Menschen den Spiegel vor, räumt auf ihren Social-Media-Kanälen mit gängigen Vorurteilen auf: Nein, Menschen mit Behinderung leiden nicht unter ihrer Behinderung und müssen auch nicht bemitleidet werden. Man sollte ihnen nicht ungefragt helfen oder übertriebene Komplimente machen, nur damit man sich selbst besser fühlt. Personen marginalisierter Gruppen sollen als Individuen wahrgenommen werden und nur sie entscheiden, was ihnen gegenüber diskriminierend ist. Und wer auf Diskriminierung aufmerksam gemacht wird, sollte nicht dagegen andiskutieren, sondern zuhören.

Luisa L’Audace möchte erreichen, dass das Wort »behindert« ohne negative Assoziationen in unserer Alltagssprache benutzt wird. Wie schwierig das ist, weiß sie, denn oft haben auch Menschen mit Behinderung negative Denkmuster verinnerlicht, fühlen sich minderwertig und trauen sich nicht für ihre Rechte einzustehen.

So, wie sie selbst lange Zeit versuchte, ihre Behinderung zu verstecken oder sich nicht traute, etwas zu sagen, wenn sie auf Barrieren stieß, nicht in ein Restaurant kam und sich aus Angst, sie könnte als »zu anstrengend« gelten, nicht beschwerte.

Als Aktivistin und Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung tritt Luisa L’Audace dafür ein, Betroffenen offen zu begegnen. Sie fordert dazu auf, Unsicherheiten anzusprechen und sich vor allem gegenseitig zuzuhören. Sie wünscht sich, dass sich auch Menschen ohne Behinderung solidarisieren und gegen Ableismus einsetzen. Ihre Ausbildung zur Logopädin hat sie abgebrochen, um sich als Vollzeitaktivistin zu engagieren. Denn sie könne ja eh keine Pause von strukturellen Diskriminierungen machen. Auf ihren Social-Media-Kanälen kritisiert sie fehlende Barrierefreiheit und diskriminierende Inhalte, führt Gespräche mit Verantwortlichen und berät Unternehmen beim Thema Inklusion. Sie moderiert Veranstaltungen, hält Vorträge und leitet Workshops.

Zuletzt gründete sie mit Alina Buschmann die Empowerment-Plattform »Angry Cripples«, »Wütende Krüppel«. Der provokative Name sei bewusst gewählt, um struktureller Diskriminierung lautstark Gegenwehr zu leisten. Das Ziel von Luisa L’Audace ist, »dass sich kein Mensch mit Behinderung jemals wieder so einsam fühlen muss, wie ich mich so viele Jahre gefühlt habe«.

A Der Begriff »Ableismus« ist vom englischen Wort »Ableism« abgeleitet. Gemeint ist die Reduzierung und Stereotypisierung von Menschen aufgrund bestimmter normativer Fähigkeiten und die gleichzeitige Abwertung von Menschen, die diese Fähigkeiten nicht besitzen. Diversity Arts Culture: Wörterbuch. Begriff »Ableismus«. https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/ableismus (31.1.2022).

BIRGIT LOHMEYER

Liebe Mutti,

mir geht es gut.

Etwas anderes oder auch nur Detaillierteres scheint dich kaum jemals interessiert zu haben. War es das Unvermögen, mir gedanklich auf meinem Lebenslauf durch Studium, Therapieausbildung, Partnerwechsel und künstlerischer Karriere zu folgen? Habe ich dich überfordert? Dich vielleicht auch nur zu sehr auf Distanz gehalten? Gesteigertes Interesse an allem, was mich tatsächlich bewegt hat, hast du jedenfalls nie gezeigt. Hattest du Angst, mich danach zu fragen?