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Guillaume Musso

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Beschreibung

New York, John-F.-Kennedy-Flughafen. Ein Mann und eine Frau prallen im Schnellrestaurant aufeinander – und fluchen. Ein Sandwich fällt zu Boden, ein Glas Cola wird verschüttet, beide kehren sich den Rücken, um sich nie wiederzusehen. Doch zuhause angekommen – er in San Francisco, sie in Paris – , stellen sie fest, dass sie ihre Handys vertauscht haben. Handys, in denen intimste Informationen gespeichert sind. Sie beginnen, das Telefon des anderen zu durchstöbern, und was sie dort entdecken, erscheint ihnen wie ein Wink des Schicksals: Denn ihre Leben sind bereits seit langer Zeit miteinander verknüpft – durch ein Geheimnis aus der Vergangenheit, das sie nun einzuholen droht. Es beginnt eine atemlose Jagd, bei der die beiden alles riskieren, an ihre Grenzen gehen und das Unmögliche möglich machen.

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Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge, Kollektiv Druck-reif

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95540-9

© XO Éditions, Paris 2011 Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »L’Appel de l’ange« bei XO Éditions, Paris. Deutschsprachige Ausgabe: © Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2012 Published by arrangement with Other Press, LLC Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München Umschlagabbildungen: FinePic®, Trevillion, Getty Images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Prolog

The shore is safer, but I love to buffet the sea.

Das Ufer ist sicherer, aber ich liebe den Kampf mit den Wellen.

Emily Dickinson,The Pagan Sphinx

Ein Handy?

Anfangs sahen Sie nicht die Notwendigkeit, aber weil Sie nicht altmodisch erscheinen wollten, entschlossen Sie sich dann doch für ein einfaches Modell mit einem minimalen Grundtarif. In der ersten Zeit überraschten Sie sich manchmal selbst dabei, wie Sie – vielleicht etwas zu laut – in einem Restaurant, im Zug oder auf der Terrasse eines Cafés telefonierten. Eigentlich ganz praktisch und auch beruhigend, ständig mit der Familie und Freunden kommunizieren zu können.

Wie alle anderen haben Sie gelernt, auf der winzigen Tastatur SMS zu schreiben, und sich daran gewöhnt, sie ständig zu verschicken. Wie alle anderen haben Sie den guten alten Terminkalender durch die elektronische Version ersetzt. Mit Fleiß und Geduld haben Sie die Telefonnummern Ihrer Freunde und Verwandten übertragen. Die Nummer des Liebhabers und der verflossenen Geliebten sowie die Geheimzahl der Kreditkarte, die Sie manchmal vergessen, haben Sie in einer verschlüsselten Datei vermerkt.

Obwohl die Qualität miserabel war, benutzten Sie das Handy, um Fotos zu schießen. Nett, immer ein lustiges Bild zur Hand zu haben, das man dann den Kollegen zeigen kann.

Das machten schließlich alle so. Die Verwendung des Geräts entsprach dem Trend der Zeit: Die Grenzen zwischen privatem, beruflichem und gesellschaftlichem Leben verschwammen. Und vor allem wurden die alltäglichen Dinge dringlicher und mussten flexibler gehandhabt werden, was ein stetiges Jonglieren mit Terminen erforderte.

Unlängst haben Sie das alte Handy gegen einen neues, viel perfekteres ausgetauscht: Ein wahres Wunder der Technik, mit dem man E-Mails abrufen und verschicken, im Internet surfen und auf das man Hunderte von kleinen Anwendungen, sogenannte Apps, herunterladen kann.

Und seither sind Sie quasi süchtig. Als hätte man Ihnen ein Implantat eingepflanzt, eine Art Erweiterung Ihrer selbst, die Sie stets begleitet – bis hin ins Bad und auf die Toilette. Wo auch immer Sie sich gerade befinden, es vergeht selten eine halbe Stunde, ohne dass Sie einen Blick auf das Display werfen, um sich davon zu überzeugen, dass es keine entgangenen Anrufe, keine SMS von Freunden oder dem Liebhaber gibt. Zeigt der Account nichts Neues an, sehen Sie sofort nach, ob keine Mail im Posteingang vorliegt.

Wie in der Kindheit das Plüschtier so gibt Ihnen heute das Handy Sicherheit. Das Display hat eine beruhigende und zugleich hypnotisierende Wirkung. In jeder Lebenslage verleiht es Ihnen Haltung und erleichtert den spontanen Kontakt, der alle Möglichkeiten offenlässt …

Doch eines Abends kommen Sie nach Hause, wühlen in Ihren Taschen und stellen fest, dass Ihr Handy verschwunden ist. Verloren? Gestohlen? Nein, unmöglich. Sie stellen noch einmal alles auf den Kopf – erfolglos – und versuchen sich einzureden, dass Sie es im Büro vergessen haben, aber … Nein, Sie erinnern sich genau, dass Sie es benutzt haben, als Sie im Aufzug nach unten gefahren sind. Dann also zweifellos in der Metro oder im Bus.

Mist!

Zunächst sind Sie wütend wegen des Verlustes an sich, dann beglückwünschen Sie sich dazu, eine Diebstahl-Verlust-Schaden-Versicherung abgeschlossen zu haben. Und zugleich zählen Sie Ihre Treuepunkte, die Ihnen die Möglichkeit geben, sich schon morgen ein neues Hightech-Spielzeug zu besorgen – diesmal mit Touchscreen.

Und doch sind Sie um drei Uhr morgens noch immer nicht eingeschlafen.

Sie stehen leise auf, um den Mann an Ihrer Seite nicht zu wecken.

In der Küche holen Sie die alte Schachtel Zigaretten vom Schrank, die Sie dort verstecken, für den Fall, dass es Ihnen einmal wirklich schlecht geht. Sie rauchen eine und trinken – wenn schon, denn schon – ein Glas Wodka dazu.

Scheiße …

Sie sitzen zusammengesunken auf einem Stuhl und frieren, denn wegen des Rauchs mussten Sie das Fenster öffnen.

Sie gehen im Geist durch, was Ihr Smartphone so alles enthält: ein paar Videos, etwa fünfzig Fotos, den Browserverlauf, Ihre Adresse (inklusive Zugangscode zum Haus), die Adresse Ihrer Eltern, einige Nummern von Leuten, die eigentlich nicht gespeichert sein dürften, Nachrichten, die die Vermutung nahelegen könnten, dass …

Jetzt werd nicht hysterisch …

Sie nehmen einen tiefen Zug an der Zigarette und einen Schluck Wodka.

Auf den ersten Blick scheint nichts wirklich Kompromittierendes gespeichert zu sein, doch Sie wissen, dass der Schein oft trügt.

Schon bereuen Sie, bestimmte Fotos, E-Mails und Nachrichten gespeichert zu haben. Die Vergangenheit, die Familie, Geld und auch Sex … Würde Ihnen jemand schaden und den Inhalt genau unter die Lupe nehmen wollen, könnte er Ihr Leben zerstören. Sie bereuen so manches, aber das hilft jetzt auch nichts mehr.

Sie frösteln und erheben sich, um das Fenster zu schließen. Die Stirn an die Scheibe gedrückt, betrachten Sie die wenigen Lichter, die noch in der Nacht leuchten, und sagen sich, dass am anderen Ende der Stadt vielleicht ein Mann interessiert auf den Bildschirm Ihres Smartphones starrt und es dann genussvoll durchforstet, um die dunklen Zonen Ihres Privatlebens und Ihre dirty little secrets zu erkunden.

Erster Teil

Katz und Maus

Kapitel 1

Der Austausch

Es gibt Menschen, deren Bestimmung es ist, einander zu begegnen. Wo sie auch sind. Wohin sie auch gehen. Eines Tages treffen sie sich.

Claudie Gallay,Seule Venise

New York

Flughafen JFK

Eine Woche vor Weihnachten

SIE

»Und dann?«

»Dann hat Raphael mir einen Diamantring von Tiffany geschenkt und mich gefragt, ob ich seine Frau werden will.«

Das Smartphone ans Ohr gepresst, lief Madeline vor der großen Fensterfront, die auf die Startbahn hinausging, auf und ab. Fünftausend Kilometer entfernt saß ihre beste Freundin in ihrer kleinen Wohnung im nördlichen Teil Londons und lauschte gespannt der detaillierten Schilderung ihres romantischen Ausflugs nach Big Apple.

»Da hat er ja wirklich alle Register gezogen«, stellte Juliane fest. »Wochenende in Manhattan, Zimmer im Waldorf Astoria, Kutschfahrt, altmodischer Heiratsantrag …«

»Ja«, meinte Madeline, »alles perfekt, wie im Film.«

»Vielleicht etwas zu perfekt, oder?«, stichelte Juliane.

»Kannst du mir erklären, wie es ›zu perfekt‹ sein kann, Miss Neunmalklug?«

Leicht irritiert versuchte Juliane, sich herauszureden.

»Ich meine nur, es hat vielleicht an Überraschungen gefehlt. New York, Tiffany, Spaziergang im Schnee und Eisbahn im Central Park … das ist etwas banal oder klischeehaft!«

Verschmitzt ging Madeline zum Gegenangriff über.

»Wenn ich mich recht entsinne, hat Wayne dir nach einem Saufabend im Pub einen Heiratsantrag gemacht. Er war voll wie eine Strandhaubitze und ist direkt, nachdem er um deine Hand angehalten hatte, auf die Toilette gerannt, um sich zu übergeben, oder nicht?«

»Okay, eins zu null für dich.« Juliane kapitulierte.

Madeline lächelte und näherte sich dem Eincheckbereich, um Raphael in der dichten Menge der Reisenden zu suchen. Zu Beginn der Weihnachtsferien drängten sich Tausende am Flughafen, wo es zuging wie in einem Bienenstock. Einige Leute wollten ihre Familie besuchen, andere strebten paradiesischen Zielen am anderen Ende der Welt zu, weit entfernt vom grauen New Yorker Alltag.

»Ach, übrigens«, fuhr Juliane fort, »du hast mir nicht gesagt, was deine Antwort war.«

»Soll das ein Witz sein? Ich habe natürlich Ja gesagt!«

»Hast du ihn nicht ein wenig hingehalten?«

»Hingehalten? Jul, ich bin fast vierunddreißig! Glaubst du nicht, dass ich lange genug gewartet habe? Ich liebe Raphael, ich bin seit zwei Jahren mit ihm zusammen, und wir wünschen uns ein Kind. In ein paar Wochen ziehen wir in das Haus, das wir gemeinsam ausgesucht haben. Juliane, zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich beschützt und glücklich.«

»Das sagst du jetzt, weil er neben dir steht, oder?«

»Nein«, rief Madeline lachend, »er gibt gerade unser Gepäck auf. Und ich sage das, weil ich es so empfinde.«

Sie blieb an einem Zeitungskiosk stehen. Wenn man alle Schlagzeilen der verschiedenen Blätter zusammennahm, entstand das Bild einer abdriftenden Welt, die ihre Zukunft schwer belastet hatte: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, politische Skandale, gesellschaftliche Entrüstung, ökologische Katastrophen …

»Hast du keine Angst, dass dein Leben mit Raphael zu vorhersehbar ist?«, gab Juliane zu bedenken.

»Das ist nichts Schlimmes«, entgegnete Madeline. »Ich brauche jemanden, der solide, zuverlässig und treu ist. Alles um uns herum ist unsicher, prekär und verändert sich ständig. So etwas will ich in meiner Beziehung nicht haben. Ich will sicher sein, dass ich, wenn ich abends nach Hause komme, Ruhe und Frieden habe. Verstehst du das?«

»Hmm …«, machte Juliane skeptisch.

»Da gibt es kein ›Hmm‹, Jul. Du kannst also schon mal anfangen, dich nach einem Brautjungfernkleid umzusehen.«

»Hmm …«, antwortete die junge Engländerin erneut, aber diesmal eher, um ihre Rührung zu verbergen.

Madeline sah auf ihre Uhr.

»Gut, wir müssen aufhören, mein Flugzeug geht um halb sechs, und ich warte noch immer auf … meinen Mann!«

»Deinen zukünftigen Mann«, korrigierte Juliane lachend. »Wann stattest du mir einen kleinen Besuch in London ab? Und warum eigentlich nicht dieses Wochenende?«

»Das würde ich gern, ist aber leider nicht möglich. Wir landen früh in Roissy, und ich habe dann gerade noch Zeit, zu Hause zu duschen, bevor ich mein Geschäft aufmache.«

»Du arbeitest nur noch.«

»Ich bin Floristin, Jul! Die Zeit vor Weihnachten ist sehr lukrativ.«

»Versuch wenigstens, während des Flugs zu schlafen.«

»Mache ich! Ich ruf dich morgen wieder an«, versprach Madeline, ehe sie das Gespräch beendete.

ER

»Bedräng mich nicht, Francesca. Kommt nicht infrage, dass wir uns treffen!«

»Aber ich bin nur zwanzig Meter von dir entfernt. Ich stehe hier unten an der Rolltreppe …«

Das Handy ans Ohr gepresst, trat Jonathan mit gerunzelter Stirn an das Geländer oberhalb der Rolltreppe. Unten telefonierte eine junge dunkelhaarige Frau, die einer Madonna glich. An der Hand hielt sie ein Kind, das in einen zu großen Parka gehüllt war. Sie hatte langes Haar, war in Hüftjeans und eine taillierte Daunenjacke gekleidet und trug eine große Markensonnenbrille mit breitem Gestell, die wie eine Maske einen Teil ihres Gesichts verdeckte.

Jonathan winkte seinem Sohn zu, der den Gruß schüchtern erwiderte.

»Schick mir Charly rauf und verschwinde«, befahl er aufgebracht.

Jedes Mal, wenn er seine Exfrau sah, überkam ihn dumpfer Zorn, vermischt mit Schmerz. Ein übermächtiges Gefühl, das er nicht unter Kontrolle hatte und das ihn aggressiv und zugleich deprimiert machte.

»Du kannst mich nicht immer so behandeln«, protestierte sie mit einem leichten italienischen Akzent.

»Wage es ja nicht, mir irgendwelche Lektionen zu erteilen«, tobte er los. »Du hast eine Entscheidung getroffen, und nun musst du auch die Konsequenzen tragen. Du hast unsere Familie verraten, Francesca! Du hast uns verraten, Charly und mich.«

»Lass Charly aus dem Spiel!«

»Obwohl er der Hauptbetroffene ist? Wegen deiner Eskapaden sieht er seinen Vater nur noch wenige Wochen im Jahr!«

»Es tut mir le…«

»Und das Flugzeug!«, fiel er ihr ins Wort. »Muss ich dich daran erinnern, dass Charly Angst hat, allein zu fliegen, und ich in allen Schulferien quer durchs Land reise, um ihn abzuholen?«

»Was mit uns passiert ist … ist das Leben, Jonathan. Wir sind erwachsene Menschen, und es gibt nicht auf der einen Seite den Guten und auf der anderen die Böse.«

»Das war aber nicht die Auffassung des Richters, oder hast du das bereits vergessen?«, bemerkte er mit plötzlichem Überdruss.

Nachdenklich blickte Jonathan zur Startbahn. Es war erst halb fünf Uhr, und doch würde es bald dunkel werden. Auf der erleuchteten Piste wartete eine eindrucksvolle Reihe von großen Maschinen auf den Abflug nach Barcelona, Hongkong, Sidney, Paris …

»Gut, das reicht. Die Schule fängt am dritten Januar wieder an. Ich bringe Charly am Vorabend zurück.«

»In Ordnung«, stimmte Francesca zu. »Noch eine letzte Sache. Ich habe ihm ein Handy gekauft, ich möchte ihn immer erreichen können.«

»Soll das ein Witz sein? Kommt überhaupt nicht infrage! Mit sieben Jahren hat man kein Handy!«

»Darüber ließe sich diskutieren«, entgegnete sie.

»Wenn sich darüber diskutieren ließe, hättest du diese Entscheidung nicht allein treffen dürfen. Wir können später vielleicht darüber reden, aber jetzt packst du dein Spielzeug wieder ein und schickst Charly zu mir!«

»Na gut«, gab sie nach.

Jonathan beugte sich über das Geländer und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie Charly Francesca einen kleinen bunten Apparat reichte. Dann umarmte der Junge seine Mutter und trat mit unsicherem Schritt auf die Rolltreppe.

Jonathan drängte einige Reisende zur Seite, um seinen Sohn in Empfang zu nehmen.

»Hallo, Papa.«

»Hallo, mein Junge«, rief er und schloss ihn in die Arme.

BEIDE

Madelines Finger glitten blitzschnell über die Tastatur. Mit dem Smartphone in der Hand lief sie an den Schaufenstern des Duty-free-Shops vorbei und schrieb sozusagen blind eine Antwort-SMS an Raphael. Ihr Zukünftiger hatte das Gepäck aufgegeben und wartete jetzt vor der Sicherheitsschleuse. In ihrer Nachricht schlug Madeline ihm vor, sie in der Cafeteria zu treffen.

»Papa, ich habe ein bisschen Hunger, kann ich bitte ein Panino haben?«, fragte Charly wohlerzogen.

Die Hand auf die Schulter seines Sohnes gelegt, steuerte Jonathan durch das Labyrinth aus Glas und Stahl, das zu den Abfluggates führte. Er hasste Flughäfen, vor allem um diese Jahreszeit, denn Weihnachten und Airports erinnerten ihn an die düsteren Umstände, unter denen er zwei Jahre zuvor von der Untreue seiner Frau erfahren hatte. Doch die Freude, Charly wiederzuhaben, war so groß, dass er ihn hochhob.

»Ein Panino für den jungen Mann!«, rief er schwungvoll und wandte sich in Richtung Restaurant.

Heaven’s Door, die größte Cafeteria des Terminals, war rund um ein Atrium angeordnet, in dessen Mitte auf verschiedenen Theken kulinarische Köstlichkeiten angeboten wurden.

»Einen Schokoladenfondant oder eine Pizza?«, fragte sich Madeline, während sie am Buffet entlangschlenderte. Natürlich wäre es sinnvoller, Obst zu nehmen, aber sie hatte einen Bärenhunger. Sie legte ein Stück Schokoladenkuchen auf ihren Teller, legte es allerdings sofort wieder zurück, als ihr eine innere Stimme zuflüsterte, wie viele Kalorien eine solche Versuchung hatte. Etwas missmutig nahm sie einen Apfel aus dem Korb, bestellte einen Tee mit Zitrone und ging zur Kasse, um zu bezahlen.

Ein Ciabatta mit Pesto, getrockneten Tomaten, Parmaschinken und Mozzarella: Angesichts des italienischen Sandwichs lief Charly das Wasser im Mund zusammen. Von klein auf hatte er seinen Vater in die Küchen der Restaurants begleitet, was sein Gefühl für gutes Essen und seine Neugier auf alle neuen Geschmacksrichtungen entwickelt hatte.

»Aber pass auf, dass du dein Tablett gerade hältst, okay?«, sagte Jonathan, nachdem er bezahlt hatte.

Der Junge nickte und balancierte sein Panino und die Wasserflasche auf dem Tablett.

Das ovale Restaurant mit Blick auf die Start- und Landebahnen war voll besetzt.

»Wohin setzen wir uns, Papa?«, fragte Charly etwas verloren in der Menschenmenge.

Nervös sah sich Jonathan um. Ganz offensichtlich gab es wesentlich mehr Gäste als freie Plätze. Doch plötzlich, wie durch ein Wunder, wurde ein Tisch an der Fensterfront frei.

»Kurs nach Osten, Matrose!«, rief er und zwinkerte seinem Sohn zu.

Als er eiligen Schrittes die angegebene Richtung einschlug, klingelte plötzlich sein Handy. Jonathan zögerte, den Anruf anzunehmen. Doch schließlich versuchte er, obwohl er keine Hand frei hatte – in der einen hielt er das Tablett, mit der anderen zog er Charlys Rollkoffer –, den Apparat aus seiner Jackentasche zu fischen.

Meine Güte, ist das ein Gedränge! Madeline stöhnte, als sie die vielen Reisenden in der Cafeteria sah. Sie hatte gehofft, sich vor dem Abflug ausruhen zu können, doch nun fand sie nicht einmal einen Stuhl.

Autsch! Ein junges Mädchen hatte ihr auf den Fuß getreten, ohne sich zu entschuldigen.

Kleines Miststück! Sie bedachte die Jugendliche mit einem strengen Blick, den diese mit einem Stinkefinger quittierte.

Madeline hatte keine Zeit, weiter auf die Frechheit einzugehen, denn sie hatte entdeckt, dass an der Fensterfront gerade ein Tisch frei wurde. Um sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, beschleunigte sie den Schritt. Doch plötzlich vibrierte das Handy in ihrer Tasche.

Ausgerechnet jetzt!

Zunächst wollte sie nicht antworten, besann sich dann aber anders: Vermutlich war das Raphael, der sie suchte. Unsicher hielt sie das Tablett in einer Hand – Meine Güte, ist die Teekanne schwer! – und suchte mit der anderen in ihrer Handtasche nach dem Apparat, der unter einem großen Schlüsselbund, ihrem Terminkalender und einem Buch vergraben war. Gerade wollte sie das Handy ans Ohr führen und das Gespräch annehmen, als …

Madeline und Jonathan stießen mit voller Wucht zusammen. Teekanne, Apfel, Wasserflasche, Sandwich und Weinglas landeten auf dem Boden.

Charly war derart überrascht, dass auch er sein Tablett fallen ließ und zu weinen begann.

Was für eine dumme Kuh! Jonathan fluchte innerlich und rappelte sich auf.

»Können Sie nicht aufpassen?«, schimpfte er.

Was für ein Trottel!, dachte Madeline verärgert.

»Ach, ist das etwa meine Schuld? Jetzt verdrehen Sie bloß nicht die Tatsachen«, konterte sie, bevor sie ihre Tasche, ihr Handy und ihre Schlüssel einsammelte.

Jonathan beugte sich zu seinem Sohn, um ihn zu beruhigen, und hob dann das in Plastik verpackte Sandwich, die Wasserflasche und sein Handy auf.

»Ich habe den Tisch zuerst gesehen«, empörte er sich. »Wir haben fast schon gesessen, als Sie plötzlich wie ein Wirbelsturm herangetobt sind, ohne auch nur …«

»Das soll wohl ein Witz sein. Ich habe ihn lange vor Ihnen gesehen!«

Ihr Zorn ließ den bislang kaum zu bemerkenden, englischen Akzent hervortreten.

»Wie dem auch sei, Sie sind allein, und ich bin mit einem Kind unterwegs.«

»Na, das ist ja ein schöner Vorwand! Ich wüsste nicht, warum ein Kind Ihnen das Recht geben sollte, mich anzurempeln und meine Bluse zu versauen«, schimpfte sie, als sie den Weinfleck auf ihrem Ärmel entdeckte.

Fassungslos schüttelte Jonathan den Kopf und verdrehte die Augen. Doch als er protestieren wollte, kam ihm Madeline zuvor, die gerade Raphael entdeckt hatte.

»Außerdem bin ich nicht allein!«

Jonathan zuckte mit den Schultern und nahm Charly bei der Hand.

»Komm, wir gehen woandershin. Die ist wirklich zu blöd …«, sagte er und verließ das Restaurant.

Der Flug Delta 4565 nach San Francisco ging um siebzehn Uhr in New York ab. Vor Freude, seinen Sohn bei sich zu haben, wurde Jonathan die Zeit nicht lang. Seit der Trennung seiner Eltern litt Charly unter panischer Flugangst. Es war ihm unmöglich, allein eine Maschine zu besteigen oder unterwegs zu schlafen. Also verbrachten sie die siebenstündige Reise damit, sich Geschichten zu erzählen, zum x-ten Mal auf dem Tablet-PCSusi und Strolch anzusehen und dabei kleine Töpfchen Häagen-Daz-Eiscreme zu löffeln. Solcher Luxus war normalerweise der Businessclass vorbehalten, doch die verständnisvolle Stewardess hatte Charlys flehendem Blick und dem ungeschickten Charme seines Vaters nicht widerstehen können und gerne eine Ausnahme gemacht.

Der Flug Air France 29 verließ um 17:30 Uhr den Flughafen JFK. In der komfortablen Businessclass – Raphael hatte wirklich an alles gedacht – schaltete Madeline ihren Fotoapparat ein und sah sich die Aufnahmen von ihrem Trip nach New York an. Eng aneinandergeschmiegt durchlebten die beiden Verliebten genussvoll noch einmal die schönsten Momente einer Zeit, die einen Vorgeschmack auf ihre Hochzeitsreise bot. Dann schlief Raphael ein, während sich Madeleine begeistert zum x-ten Mal die alte Lubitsch-Komödie Rendezvous nach Ladenschluss ansah, die als Video on demand angeboten wurde.

Dank der Zeitverschiebung war es nicht einmal einundzwanzig Uhr, als Jonathans Maschine in San Francisco landete.

Von seiner Angst befreit, schlief Charly beim Aussteigen auf dem Arm seines Vaters ein.

In der Ankunftshalle hielt Jonathan nach seinem Freund Marcus Ausschau, mit dem er eine kleine französische Brasserie im Herzen von North Beach führte und der ihn eigentlich abholen sollte. Er reckte sich auf die Zehenspitzen, um über die Menge hinwegzusehen.

»Hätte mich auch gewundert, wenn der pünktlich wäre«, knurrte er.

Schließlich konsultierte er sein Smartphone, um zu sehen, ob Marcus eine SMS geschickt hatte. Sobald der Flugmodus wieder deaktiviert war, erschien auf dem Bildschirm ein langer Text:

Willkommen in Paris, meine Liebe! Ich hoffe, Du hast Dich während des Flugs ausruhen können, und Raphael hat nicht zu sehr geschnarcht. Entschuldige wegen vorhin, ich freue mich wirklich, dass Du heiratest und den Mann gefunden hast, der Dich glücklich machen kann. Ich verspreche Dir, meiner Rolle als Brautjungfer mit Ernst und Anstand gerecht zu werden!

Deine Freundin fürs Leben, Juliane.

Was soll denn der Quatsch?, dachte er und las die Textnachricht noch einmal. Ein schlechter Witz von Marcus? Das war sein erster Gedanke, doch bei genauerer Inspektion des Handys stellte er fest, dass es nicht das Seine war: Modell und Farbe waren zwar gleich, aber es war nicht seins! Ein schneller Blick auf die E-Mail-Funktion offenbarte ihm die Identität der Besitzerin: eine gewisse Madeline Greene, die in Paris lebte.

Verdammt!Das ist das Telefon der blöden Kuh vom Airport JFK!

Madeline sah auf ihre Uhr und unterdrückte ein Gähnen. Der Flug hatte nur gut sieben Stunden gedauert, aber durch die Zeitverschiebung war die Maschine am Samstagmorgen um halb sieben in Roissy gelandet. Wie in New York herrschte auch hier trotz der frühen Stunde bereits reges Treiben.

»Bist du sicher, dass du heute arbeiten willst?«, fragte Raphael vor dem Gepäckband.

»Natürlich, Darling«, antwortete sie und schaltete ihr Smartphone ein, um ihre E-Mails abzurufen. »Ich bin sicher, dass schon mehrere Aufträge auf mich warten.«

Zunächst hörte sie die Mailbox ab, auf dem eine schleppende, schläfrige Stimme, die ihr total unbekannt war, eine Nachricht hinterlassen hatte:

»Hallo Jon’, ich bin’s, Marcus. Ähm … Ich habe ein kleines Problem mit dem R4: Er verliert Öl und … na, ich erkläre es dir dann. Also, damit wollte ich nur sagen, dass ich vielleicht etwas zu spät komme, Tschuldigung …«

Was ist denn das für ein Spinner?, fragte sie sich und löschte die Nachricht. Ob sich da jemand verwählt hat? Hmm …

Zweifelnd untersuchte sie das Smartphone genauer: Modell und Farbe waren zwar gleich, aber es war nicht ihres!

»Verdammt!«, sagte sie laut. »Das ist das Handy von diesem Verrückten am Flughafen!«

Kapitel 2

Separate Lives

Es ist furchtbar, allein zu sein, wenn man zu zweit war.

Paul Morand,L’Homme pressé

Jonathan schickte die erste SMS …

Ich habe Ihr Telefon, haben Sie meines? Jonathan Lempereur.

… auf die Madeline sofort antwortete:

Ja, wo sind Sie? Madeline Greene.

In San Francisco. Und Sie?

In Paris. Was machen wir?

Na, es wird doch wohl auch in Frankreich eine Post geben? Ich schicke Ihnen Ihres gleich morgen mit FEDEX zu.

Zu freundlich! Ich tue sobald wie möglich dasselbe. Wie lautet Ihre Adresse?

Restaurant French Touch, 1606 Stockton Street, San Francisco, CA.

Hier meine: Le Jardin Extraordinaire, 3 bis Rue Delambre 75014 Paris.

Sie sind also Blumenhändlerin? Wenn ja, erhalten Sie jetzt eine dringende Bestellung: Oleg Mordhorov: 200 rote Rosen sollen für die Schauspielerin, die sich im dritten Akt auszieht, ins Théâtre du Châtelet geliefert werden. Unter uns gesagt, ich bezweifele, dass es sich um seine Frau handelt …

Mit welchem Recht hören Sie meine Mailbox ab?

Um Ihnen einen Gefallen zu tun, Sie dummes Ding!

Wie ich sehe, sind Sie am Telefon ebenso ungehobelt wie in natura! Sie haben also ein Restaurant, Jonathan?

Ja.

In diesem Fall ist in Ihrer Kneipe ein Tisch mehr reserviert: Für zwei Personen morgen Abend auf den Namen Mr und Mrs Strzechowski oder so ähnlich – der Empfang war miserabel.

Danke. Gute Nacht.

In Paris ist es 7 Uhr morgens …

Jonathan schüttelte verärgert den Kopf und schob das Handy in die Innentasche seiner Jacke. Diese Frau ging ihm auf die Nerven.

San Francisco

21:30 Uhr

Ein uralter knallroter R4 verließ den Highway 101 und fuhr Richtung Zentrum. Das Gefährt quälte sich wie im Zeitlupentempo über den Embarcadero entlang der San Francisco Bay. Obwohl die Heizung voll aufgedreht war, blieben die Scheiben feucht beschlagen.

»Du baust noch einen Unfall mit deiner Rostlaube!«, klagte Jonathan, der sich auf den Beifahrersitz gezwängt hatte.

»Aber nein, mein Schmuckstück fährt eins a«, verteidigte sich Marcus. »Ich hege und pflege es!«

Mit seinem struppigen, ungepflegten Haar, den buschigen Brauen, dem Zwei-Wochen-Bart und den à la Droopy hängenden Augenlidern wirkte Marcus wie ein Fossil aus vergangener Zeit – an manchen Tagen gar wie von einem anderen Stern. Sein hagerer Körper, bekleidet mit einer ausgebeulten Hose und einem weiten, bis zum Bauchnabel geöffneten Hawaii-Hemd, schien nur mehrfach zusammengeklappt Platz in dem kleinen Auto zu finden. Die Pedale betätigte er mit einem Fuß, der in einem Gummischlappen steckte: mit der Ferse trat er auf die Kupplung, mit den Zehen wahlweise auf Gas- oder Bremspedal.

»Ich mag das Auto von Onkel Marcus!«, rief Charly, der auf dem Rücksitz herumhampelte, begeistert.

»Schnall dich an, Charly, und sitz still!«, befahl Jonathan.

Dann fuhr er, an seinen Freund gewandt, fort:

»Warst du heute Nachmittag im Restaurant?«

»Ähm … heute ist doch Ruhetag, oder?«

»Aber hast du wenigstens die Entenlieferung in Empfang genommen?

»Welche Enten?«

»Die Entenschenkel und den Rucola, die uns Bob Woodmark jeden Freitag bringt.«

»Ach, wusste ich doch, dass ich was vergessen habe!«

»Du alte Schlafmütze!«, schimpfte Jonathan. »Wie konntest du das Einzige, worum ich dich gebeten habe, vergessen?«

»Ist ja nicht weiter schlimm …«, brummte Marcus.

»Eben doch! Auch wenn Woodmark unausstehlich ist, bekommen wir von seinem Hof unsere besten Produkte. Wenn du ihn versetzt hast, ist er sicher stocksauer und will uns nicht mehr beliefern. Fahr am Restaurant vorbei, ich bin sicher, dass er die Kisten einfach im Hinterhof abgeladen hat.«

»Darum kann ich mich allein kümmern«, versicherte Marcus. »Ich bringe euch zuerst nach Hause …«

»Nein!«, unterbrach ihn Jonathan. »Du bist ein Luftikus, auf den man sich nicht verlassen kann. Also nehme ich die Dinge selbst in die Hand.«

»Aber der Kleine ist müde!«

»Nein, nein!«, rief Charly. »Ich will auch ins Restaurant.«

»Damit ist die Sache klar. Bieg hier in die Third Street ein«, befahl Jonathan und wischte über die beschlagene Windschutzscheibe.

Doch der alte R4 mochte keine unvorhergesehenen Änderungen, und bei dem plötzlichen Richtungswechsel geriet der Wagen fast ins Schleudern.

»Da haben wir es! Du hast also doch keine Kontrolle über deine alte Kiste!«, schrie Jonathan. »Verdammt noch mal, du fährst uns noch in den Tod.«

»Ich tue mein Bestes«, versicherte Marcus und versuchte, den Wagen wieder in den Griff zu bekommen, während hinter ihm ein aufgebrachtes Hupkonzert entbrannte.

Auf der Kearney Street hatte er den Wagen wieder unter Kontrolle.

»Hat dich das Treffen mit meiner Schwester in diesen Zustand versetzt?«, fragte Marcus nach längerem Schweigen.

»Francesca ist nur deine Halbschwester«, korrigierte Jonathan.

»Wie geht es ihr?«

Jonathan warf ihm einen feindseligen Blick zu.

»Wenn du glaubst, wir hätten uns unterhalten …«

Da Marcus wusste, wie heikel das Thema war, insistierte er nicht weiter, sondern konzentrierte sich ganz auf den Verkehr. Vor einer Brasserie mit dem Namen French Touch Ecke Union/Stockton Street parkte er sein Schmuckstück.

Jonathans Vermutung erwies sich als richtig: Bob Woodmark hatte seine Lieferung einfach vor der Hintertür des Restaurants abgestellt. Die beiden Männer nahmen die Kisten und trugen sie in den Kühlraum, ehe sie sich davon überzeugten, dass in der Gaststube alles in Ordnung war.

French Touch war ein Stückchen Frankreich im Herzen von North Beach, dem italienischen Viertel von San Francisco. Es war ein kleiner Raum, eingerichtet wie ein französisches Bistro der Dreißigerjahre: Holztäfelung, Stuck, Mosaikboden und große Spiegel im Stil der Belle Époque, dazu alte Plakate von Josephine Baker, Maurice Chevalier und Mistinguett. Hier wurde traditionelle französische Küche serviert. Auf der Tafel an der Wand stand: »Schnecken in Honig-Blätterteig, Entenbrust mit Orange, St.-Tropez-Torte …«

»Krieg ich ein Eis, Papa?«, fragte Charly, während er sich an der glänzenden Zinktheke niederließ, die sich durch den ganzen Raum zog.

»Nein, mein Liebling, du hast im Flugzeug schon Tonnen von Eis verdrückt. Außerdem ist es spät, und du müsstest längst im Bett sein.«

»Aber es sind doch Ferien …«

»Na komm, Jon, sei cool!«, stimmte Marcus ein.

»Jetzt fängst du auch noch an!«

»Aber es ist Weihnachten!«

»Zwei Kinder!«, meinte Jonathan und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Er trat hinter den Tresen, der zur offenen Küche führte, sodass die Gäste die Zubereitung der Gerichte beobachten konnten.

»Was hättest du denn gern?«, fragte er seinen Sohn.

»Eine Dame Blanche!«, rief der Junge begeistert.

Der »Koch« gab ein paar Stückchen dunkle Schokolade in eine kleine Kasserolle und ließ sie im Wasserbad schmelzen.

»Und du?«, fragte er Marcus.

»Wir könnten eine Flasche Wein aufmachen …«

»Wenn du willst.«

Ein breites Lächeln erhellte Marcus’ Gesicht. Er sprang von seinem Hocker, um seinen Lieblingsort aufzusuchen: den Weinkeller des Restaurants.

Inzwischen gab Jonathan unter Charlys wachsamem Blick zwei Kugeln Vanilleeis und einige Baisers in einen Becher. Als die Schokolade geschmolzen war, rührte er einen Löffel flüssige Sahne unter, dann goss er die warme Schokolade über das Eis und bedeckte alles mit Schlagsahne und gerösteten Mandeln.

»Lass es dir schmecken«, sagte er und steckte ein kleines Schirmchen in den Sahneberg.

Vater und Sohn ließen sich nebeneinander auf der weichen Bank an einem der Tische nieder. Mit strahlenden Augen griff Charly nach dem langen Löffel und begann, sein Eis zu essen.

»Nun sieh dir mal dieses Prachtstück an!«, rief Marcus entzückt, als er aus dem Keller kam.

»Ein Screaming Eagle von 1997! Bist du verrückt geworden? Solche Flaschen sind den Gästen vorbehalten.«

»Nun komm schon, das ist mein Weihnachtsgeschenk«, drängte sein Freund.

Nach kurzem, rein formalem Widerstand erklärte sich Jonathan bereit, den Grand Cru zu öffnen. Letztlich war es besser, wenn Marcus ein paar Gläser im Restaurant trank. So hatte er ihn wenigstens unter Kontrolle. Ansonsten könnte der Kanadier womöglich beschließen, durch die Bars zu ziehen, und wenn er dann betrunken war, zog eine Katastrophe die andere nach sich. Mehr als ein Mal hatten seine Saufkumpanen seine Freundlichkeit und Gutgläubigkeit ausgenutzt, um ihn beim Poker auszunehmen und ihn unglaubliche Schuldanerkenntnisse über horrende Summen unterschreiben zu lassen, die Jonathan anschließend nur mit Mühe hatte annullieren können.

»Schau her, was für eine Farbe dieser edle Tropfen hat!«, begeisterte sich Marcus, als er den Wein zum Dekantieren in eine Karaffe goss.

Als unehelicher Sohn aus einer Liaison von Francescas Vater mit einer Quebecer Country-Sängerin hatte er beim Tod seines Erzeugers – ein steinreicher New Yorker Geschäftsmann – keinen Cent geerbt. Seine Mutter war vor Kurzem gestorben, und er unterhielt nur eine sporadische Beziehung zu seiner Halbschwester. Der junge Mann führte ein sorgloses Leben in einer Traumwelt und ignorierte sein Äußeres ebenso wie die gesellschaftlichen Regeln und Anstandsgebote. Er schlief zwölf Stunden am Tag und half bisweilen im Restaurant aus, doch die Zwänge eines geregelten Arbeitslebens schienen ihm fremd zu sein. Seine einfache, verrückte Art und seine Anhänglichkeit hatten etwas Rührendes und Entwaffnendes, auch wenn die Folgen seiner Lebensweise im Alltag oft schwer zu ertragen waren.

Während seiner Ehe hatte Jonathan in Marcus nur einen Idioten gesehen, mit dem er nichts gemein hatte. Doch als Francesca ihn verlassen hatte, war sein Schwager der Einzige gewesen, der sich um ihn gekümmert hatte. Auch Charlys Existenz hatte damals nicht verhindern können, dass Jonathan in das schwarze Loch der Depression abglitt. Ohne Arbeit und tief verzweifelt, hatte er sich ganz seinem Kummer hingegeben und einen etwas zu engen Kontakt mit den Herren Jack Daniels und Johnny Walker gepflegt.

Glücklicherweise hatte Marcus wie durch ein Wunder seine Trägheit überwunden und zum ersten Mal im Leben die Dinge in die Hand genommen. Er hatte ein schlecht gehendes, italienisches Restaurant entdeckt und alles darangesetzt, die Käufer zu überreden, es in ein französisches Bistro umzubauen und seinem Schwager die Küche anzuvertrauen. Durch diese Initiative hatte Jonathan wieder Fuß gefasst. Sobald er spürte, dass sein Freund gerettet war, hatte sich Marcus erneut dem Müßiggang hingegeben.

»Auf dein Spezielles!«, rief er und reichte Jonathan sein Glas.

»Wir feiern also Weihnachten vor!«, meinte der Franzose und schaltete das Art-déco-Radio ein, das er auf einem Flohmarkt in Pasadena gefunden hatte. Er suchte einen Rocksender, der die Lifeversion von Light My Fire spielte.

»Ah! Das ist gut …« Marcus seufzte – ohne dass ersichtlich war, ob er den Wein oder die Musik der Doors meinte – und lehnte sich auf seiner Bank zurück.

Jonathan versuchte ebenfalls, sich zu entspannen. Er knöpfte seinen Hemdkragen auf und zog das Jackett aus. Doch der Anblick von Madelines Telefon auf dem Tisch irritierte ihn. Durch diese Sache mit dem Handygehen mir x Reservierungen verloren! Einige seiner Stammkunden hatten seine Privatnummer: ein Privileg, das ihnen die Möglichkeit gab, sich auch bei großem Andrang einen Tisch zu sichern.

Während Marcus nach dem Smartphone griff, betrachtete Jonathan seinen Sohn, der auf der Bank eingeschlafen war. Er hätte gerne zehn Tage Urlaub genommen, um sich Charly widmen zu können, doch das konnte er sich nicht leisten. Eben erst hatte er sich aus dem finanziellen Abgrund befreit, der ihn einige Jahre zuvor zu verschlingen drohte. Der Vorteil war, dass er nach diesem Desaster ein für alle Mal gegen Kredite, überzogene Konten, unbezahlte Rechnungen und Ähnliches gefeit war.

Erschöpft schloss er die Augen und sah Francesca vor sich, wie sie ihm am Flughafen begegnet war. Auch nach zwei Jahren war der Schmerz noch immer intensiv. Fast unerträglich. Er öffnete die Augen wieder und nahm einen Schluck Wein, um das Bild zu vertreiben. Er lebte zwar nicht so, wie er es sich erhofft hatte, aber immerhin war es sein Leben.

»He, gar nicht übel, die Kleine!«, rief Marcus, während seine Finger über den Touchscreen glitten, um die Fotosammlung zu öffnen.

Neugierig beugte sich Jonathan vor.

»Zeig mal.«

Bei einigen Bildern handelte es sich eindeutig um erotische Posen, die in Schwarz-Weiß aufgenommen waren: feine Spitze, Satinstrapse, Hände, die schamhaft die nackten Brüste bedeckten oder das Venusdelta streiften. Nicht weiter schlimm zu einer Zeit, da manche Menschen ihr Sex-Tape online stellten …

»Darf ich auch sehen, Papa?«, fragte Charly, der aufgewacht war.

»Nein, nein, schlaf weiter. Das ist nichts für Kinder.«

Erstaunlich, dass diese verklemmte Kuh vom Airport mit ihrem Schickimicki-Gehabe sich zu so einer kleinen Sexy-Session bereit erklärt hatte.

Jonathan, der eher erstaunt als angeregt war, zoomte das Gesicht des Models heran. Ganz offensichtlich amüsierte sie das Spielchen, dem sie sich da hingab, hinter der Fassade aber erahnte man eine gewisse Scham. Vermutlich waren die Aufnahmen eher auf Wunsch ihres Mannes entstanden, der sich für Helmut Newton gehalten hatte. Wer befand sich hinter dem Objektiv? Ihr Mann? Ihr Liebhaber? Jonathan glaubte, am Flughafen kurz ihren Begleiter gesehen zu haben, konnte sich jedoch nicht an sein Gesicht erinnern.

»So, das reicht!«, entschied er und legte das Smartphone unter Marcus’ enttäuschtem Blick zurück auf den Tisch.

Er fühlte sich plötzlich als Voyeur und fragte sich, mit welchem Recht er in das Privatleben der jungen Frau eindrang.

»Glaubst du etwa, dass sie nicht dasselbe tut?«, fragte der Kanadier.

»Das ist mir völlig egal! Solche Fotos findet sie in meinem Handy garantiert nicht!«

Während er sich Wein nachschenkte, dachte Jonathan darüber nach, was sein Smartphone so alles enthielt. Ehrlich gesagt, wusste er es nicht mehr genau.

Jedenfalls nichts Intimes oder Kompromittierendes, beruhigte er sich.

Doch da täuschte er sich gewaltig.

Paris

7:30 Uhr

Der schnittige Jaguar fuhr durch die metallisch blaue Kälte über den Pariser Périphérique. Mit seiner edlen Ausstattung – weißes Leder, Wurzelnussbaum, gebürstetes Aluminium – strahlte das Innere Luxus und schützenden Komfort aus. Auf dem Rücksitz lag das Reisegepäck von Louis Vuitton neben einer Golftasche und einer Ausgabe des Figaro-Magazins.

»Bist du sicher, dass du heute dein Geschäft aufmachen willst?«, fragte Raphael erneut.

»Darling«, rief Madeline, »darüber haben wir doch schon gesprochen.«

»Wir könnten den Urlaub verlängern …«, beharrte er. »Ich fahre weiter nach Deauville, wir übernachten im Normandy und essen morgen mit meinen Eltern zu Mittag.«

»Sehr verlockend … aber nein. Noch dazu hast du einen Termin mit einem Kunden auf der Baustelle.«

»Du entscheidest«, kapitulierte der Architekt und bog in den Boulevard Jourdan ein.

Der Wagen fuhr durch das 15. Arrondissement und hielt schließlich bei der Nummer 13 in der Rue Campagne-Première vor einer dunkelgrünen Tür.

»Soll ich dich heute Abend mit dem Wagen abholen?«

»Nein, ich komme mit dem Motorrad zu dir.«

»Es ist eiskalt!«

»Vielleicht, aber ich liebe meine Maschine!«, antwortete sie und küsste ihn.

Ihre Umarmung dauerte an, bis das Hupen eines ungeduldigen Taxifahrers sie unterbrach. Madeline stieg aus, schlug die Wagentür zu und warf ihrem Liebsten zum Abschied einen letzten Kuss zu. Dann drückte sie den Zugangscode und trat in einen baumbestandenen Hof. Hier bewohnte sie, seit sie in Paris war, eine Wohnung mit Gartenzugang.

»Brrrr! Hier drin sind höchstens – fünfzehn Grad!«, rief sie zitternd, als sie die kleine Maisonette-Wohnung betrat. Es handelte sich um eines der typischen Künstlerateliers, die Ende des 19. Jahrhunderts in diesem Viertel entstanden waren.

Mit einem Streichholz zündete sie die Flamme des Durchlauferhitzers an und setzte den Wasserkessel auf, um sich Tee zu machen.

Das ehemalige Maleratelier war vor langer Zeit zu einer hübschen Zwei-Zimmer-Wohnung umgebaut worden, die über einen Salon, eine kleine Küche und ein Schlafzimmer im Zwischengeschoss verfügte. Doch die hohen Decken, die großen Fenster und der gestrichene Dielenboden erinnerten noch an die ursprüngliche Bestimmung und machten den typischen Charme aus.

Madeline suchte im Radio den Sender TSF Jazz, überzeugte sich, dass alle Heizkörper voll aufgedreht waren, und trank ihren Tee, während sie sich im Rhythmus von Louis Amstrongs Trompetenklängen wiegte und darauf wartete, dass es in der Wohnung wärmer wurde.

Dann duschte sie kurz, verließ fröstelnd das Badezimmer und nahm ein Fleeceshirt, eine Jeans und einen dicken Shetland-Pullover aus dem Schrank. Bevor sie aufbrach, aß sie einen Schokoriegel, schlüpfte in ihre Lederjacke und band den wärmsten Schal um.

Es war kurz vor acht Uhr, als sie sich auf den Sattel ihres kanariengelben Motorrads schwang. Ihr Geschäft lag zwar in der Nähe, doch sie wollte nicht noch einmal zu Hause vorbeigehen, bevor sie sich abends mit Raphael traf. Das Haar im Wind flatternd, fuhr sie die gut hundert Meter durch die kleine Straße, die sie so sehr liebte. Hier hatten Rimbaud und Verlaine ihre Gedichte geschrieben, hier hatten sich Aragon und Elsa geliebt, und Godard hatte das Ende seines ersten Films gedreht: Die traurige Szene, in der Jean-Paul Belmondo »außer Atem« von einer Kugel getroffen vor den Augen seiner amerikanischen Verlobten zusammenbricht.

Madeline bog in den Boulevard Raspail ein und fuhr dann weiter in die Rue Delambre bis zum Jardin Extraordinaire, jenem Geschäft, das sie vor zwei Jahren eröffnet hatte und das ihr ganzer Stolz war.

Mit Besorgnis zog sie die Eisenjalousie hoch – so lange war sie noch nie fort gewesen. Während ihrer Ferien in New York hatte sie ihrem japanischen Lehrling Takumi, der seine Ausbildung an der Fleuristen-Schule von Paris beendete, die Leitung des Geschäfts anvertraut.

Als sie eintrat, stieß sie erleichtert einen Seufzer aus. Takumi hatte sich genau an ihre Anweisungen gehalten. Der junge Japaner hatte am Vortag in Rungis eingekauft, und der Raum war voller frischer Blumen: Orchideen, weiße Tulpen, Lilien, Weihnachtssterne, Christrosen, Ranunkeln, Mimosen, Osterglocken, Veilchen, Amaryllis. Der große Weihnachtsbaum, den sie gemeinsam geschmückt hatten, blinkte, und von der Decke hingen Mistel- und Ilexzweige.

Madeline hatte ihren Blumenladen zu einem magischen, poetischen Ort gemacht, eine andere Welt, ein Hafen des Friedens, geeignet zum Träumen, der, weit von Tumult und Hektik der Stadt entfernt, Sicherheit bot. Was auch immer der Tag an Kummer bringen mochte, sie wollte, dass ihre Kunden ihre Sorgen draußen vor der Tür ließen. Um die Weihnachtszeit war ihr Jardin Extraordinaire mit seinen Düften, die an Kindheit und alte Traditionen erinnerten, besonders betörend.

Sobald sie die ersten notwendigen Handgriffe verrichtet hatte, reihte Madeline die kleineren Tannenbäume vor der Fassade auf und öffnete um Punkt neun Uhr das Geschäft.

Als sie ihren ersten Kunden eintreten sah, lächelte sie – ein altes Sprichwort besagte, wenn es ein Mann war, würde der Tag gut werden. Doch angesichts seines Anliegens verfinsterte sich ihre Miene: Er wollte seiner Frau einen Blumenstrauß schicken, ohne einen Absender anzugeben. Diese List war bei eifersüchtigen Ehemännern in Mode: Sie warteten die Reaktion ihrer Frau auf solch eine anonyme Blumenzustellung ab. Erzählte ihnen diese nichts von dem Strauß, schlossen sie daraus, dass sie einen Liebhaber hatte. Der Mann bezahlte seinen Auftrag und verließ das Geschäft, ohne sich für die Komposition zu interessieren. Madeline machte sich also allein an die Zusammenstellung des Bouquets, das Takumi nach zehn Uhr in eine Bank in der Rue Boulard liefern würde, als plötzlich die Melodie von Jumpin’ Jack Flash ertönte. Der bekannte Titel der Rolling Stones drang aus ihrer Handtasche, in der sich das Smartphone von diesem Jonathan befand. Sie zögerte, das Gespräch anzunehmen, doch ehe sie sich entschieden hatte, brach die Musik ab. Nach kurzer Stille kündigte ein dumpfer Ton an, dass der Anrufer eine Nachricht hinterlassen hatte.

Madeline zuckte mit den Schultern. Sie würde nicht schon wieder eine Nachricht abhören, die nicht für sie bestimmt war … Sie hatte anderes zu tun! Überhaupt war ihr dieser ungehobelte und unhöfliche Jonathan so egal wie nur was! Und außerdem …

Von unüberwindlicher Neugier getrieben, berührte sie dann doch den Touchscreen und hielt den Apparat ans Ohr. Eine ernste, zögernde Stimme ertönte: Eine Amerikanerin mit italienischem Akzent, die kaum das Schluchzen zu unterdrücken vermochte.

Jonathan, ich bin’s, Francesca. Ruf mich bitte an. Wir müssen miteinander reden, wir müssen … Ich weiß, dass ich dich betrogen habe und dass du nicht verstehen kannst, warum ich alles zerstört habe. Komm zurück, bitte, tu es für Charly und für uns. Ich liebe dich … Du wirst es nie vergessen, aber du wirst mir verzeihen. Wir haben nur ein Leben, Jonathan, und wir sind dazu geschaffen, es gemeinsam zu verbringen und mehr Kinder zu bekommen. Lass uns unsere Pläne wieder aufnehmen und weitermachen wie früher. Ohne dich ist mein Leben nichts wert …

Die Stimme der Italienerin erstarb in unendlicher Traurigkeit, und die Nachricht war beendet.

Kapitel 3

Ein Geheimnis

Jeder Mensch hat Geheimnisse.

Man muss nur herausfinden, welche.

Stieg Larsson, Verblendung

Jonathan schaltete in den dritten Gang. Das Getriebe gab ein schrilles Quietschen von sich, so als wolle der Wagen auf der Stelle den Geist aufgeben. Er hatte darauf bestanden, zu fahren: Selbst wenn sie es nicht weit hatten, war es undenkbar, Marcus das Steuer zu überlassen. Auf dem Beifahrersitz zusammengesunken, lallte sein Freund in seinem Rausch einige anstößige Strophen aus Georges Brassens Repertoire:

Quand je pense a Fernande, je bande, je bande …

Denk’ ich an die Grete, dann steht er, dann steht er.

»Leiser«, befahl Jonathan und warf einen Blick in den Rückspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass sein Sohn noch schlief.

»Entschuldige«, nuschelte Marcus, richtete sich auf, öffnete das Fenster und streckte den Kopf in den Fahrtwind, so als könne ihm dieser helfen, nüchtern zu werden.

Völlig durchgeknallt, dieser Kerl!, dachte Jonathan und fuhr erneut langsamer, bis der Wagen wie eine asthmatische Schnecke dahinkroch.

Dann bog der R4 in die westliche Filbert Street ein, die steilste Straße von ganz San Francisco. Am Anfang der Steigung stotterte die Klapperkiste, als würde der Motor jeden Augenblick aussetzen, erreichte aber schließlich mühsam die Kuppel des Telegraph Hill, auf dem sich der erleuchtete Coit Tower erhob. In einem gefährlichen Manöver parkte er den Wagen in einer schrägen Lücke und schlug die Räder zum Bürgersteig hin ein. Erleichtert, gut angekommen zu sein, nahm er seinen Sohn auf den Arm und ging über den kleinen Weg, der zwischen Eukalyptusbäumen, Palmen und Bougainvilleen hindurchführte.

Marcus folgte ihm schwankend und grölte schon wieder schlüpfrige Lieder vor sich hin.

»Wir wollen schlafen!«, beklagte sich ein Nachbar.

Jonathan nahm Marcus beim Arm und versuchte, ihn möglichst schnell mitzuziehen.

»Du bist mein einziger Freund, mein einziger wirklicher Kumpel …«, lallte der Betrunkene und fiel ihm um den Hals.

Jonathan hatte Mühe, ihn zu halten, und so stiegen die »zweieinhalb Männer« vorsichtig die Holzstufen am Telegraph Hill hinab. Die Treppe, über die man die kleinen bunten Häuser erreichte, schlängelte sich durch eine fast tropische Vegetation. Die ehemals für Dockarbeiter und Seeleute errichteten Holzhäuser hatten dem Erdbeben von 1906 standgehalten und erfreuten sich heute bei wohlhabenden Künstlern und Intellektuellen großer Beliebtheit.

Schließlich erreichten sie das Tor zu dem üppigen wilden Garten, in dem das Unkraut den Kampf gegen Fuchsien und Rhododendren definitiv gewonnen hatte.

»Alle Mann ins Bett!«, rief Jonathan mit der Autorität des Familienoberhaupts.

Er zog Charly aus, deckte ihn zu und gab ihm einen Kuss. Dann tat er dasselbe mit Marcus – den Kuss ausgenommen. Man sollte auch nicht übertreiben …

Als endlich Ruhe herrschte, holte sich Jonathan in der Küche ein Glas Wasser und ging mit seinem Laptop auf die Terrasse. Durch die Zeitverschiebung erschöpft, unterdrückte er ein Gähnen, rieb sich die Augen und ließ sich auf einen Teakholzstuhl fallen.

»Na, mein Junge, gar nicht müde?«

Jonathan hob den Kopf: Es war Boris, der Papagei des Hauses.

Den habe ich ganz vergessen!

Der Vogel hatte dem ehemaligen Besitzer – ein wahres Original – gehört, der in seinem Testament für den künftigen Käufer des Hauses die Verpflichtung festgelegt hatte, sich ad vitam aeternam um sein Lieblingstier zu kümmern. Boris war über sechzig Jahre alt, und sein Besitzer hatte ihm jeden Tag eine Stunde Sprachunterricht erteilt, sodass er etwa tausend Wörter und mehrere hundert Ausdrücke beherrschte, die er mit erstaunlicher Schlagfertigkeit von sich gab.

Phlegmatisch, wie er war, hatte er sich bald an seine neue Familie gewöhnt und war Charlys große Freude. Auch mit Marcus, der ihm eine ganze Reihe von Kapitän-Haddock-Flüchen beigebracht hatte, verstand er sich hervorragend. Aber der Vogel war ein durchtriebener Kauz, und sein übler Charakter und das lose Mundwerk waren Jonathan nicht wirklich angenehm.

»Gar nicht müdeee?«, wiederholte Boris.

»Doch, stell dir vor, ich bin zu müde, um schlafen zu können.«

»Waffeleisen!«, beschimpfte Boris ihn.

Jonathan näherte sich dem Vogel, der mit seinem gekrümmten Schnabel und den kräftigen Krallen majestätisch auf seiner Stange thronte. Trotz seines Alters glänzte sein gold-türkisfarbenes Gefieder noch, und der feine schwarze Flaum um seine Augen gab ihm etwas Stolzes, ja, Überhebliches.

Das Tier wippte mit seinem langen Schwanz und verlangte:

»Ich will Äpfel, Pflaumen und Bananen …«

Jonathan sah sich die Voliere an.

»Du hast deine Gurken und den Chicorée noch nicht gegessen.«

»Widerlich, der Chicorée! Ich will Pinienkerne, Nüsse und Erdnüüüsse!«

»Genau, und ich will Miss Universum in meinem Bett!«

Jonathan schüttelte den Kopf und klappte seinen Computer auf.

Er rief seine E-Mails ab, antwortete zwei Lieferanten und bestätigte mehrere Reservierungen. Dann zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete die unzähligen Lichter, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Von hier aus war der Blick auf die Bucht atemberaubend. Die Wolkenkratzer des Business-Viertels zeichneten sich vor der massiven Silhouette der Bay Bridge ab, die nach Oakland führte. Dieser Moment der Ruhe wurde von einem wenig vertrauten Klingelton unterbrochen: Nach seinen rudimentären Musikkenntnissen zu urteilen, handelte es sich um den Anfang des Caprice von Paganini.

Das Smartphone von Madeline Greene.

Wenn er schlafen wollte, durfte er nicht vergessen, es auszuschalten, denn wegen der Zeitverschiebung würde es sicher mehrere Anrufe geben. Dennoch beschloss er, das Gespräch anzunehmen.

»Ja?«

»Bist du es, meine Hübsche?«

»Ähm …«

»Bist du nicht zu müde? Ich hoffe, du hattest eine gute Reise.«

»Hervorragend! Sehr freundlich, dass Sie sich Sorgen um mich machen.«

»Aber sind Sie nicht Madeline?«

»Wie scharfsinnig.«

»Bist du es, Raphael?«

»Nein, hier ist Jonathan aus San Francisco.«

»Juliane Wood, sehr erfreut. Darf ich fragen, warum Sie am Telefon meiner besten Freundin sind?«

»Weil wir versehentlich unsere Handys vertauscht haben.«

»In San Francisco?«

»Nein, in New York am Flughafen. Aber das ist zu lang, um es jetzt zu erklären.«

»Ach? Na ja, sehr witzig …«

»Ja, vor allem, wenn es anderen passiert. Und Sie …«

»Wie ist das passiert?«

»Also hören Sie, es ist spät, und das ist auch nicht sehr interessant.«

»O doch, ganz im Gegenteil, erzählen Sie es mir.«

»Rufen Sie aus Europa an?«

»Ja, aus London. Ich werde Madeline bitten, es mir zu sagen. Wie ist Ihre Nummer?«

»Wie bitte?«

»Ihre Telefonnummer. Damit ich Madeline anrufen kann …«

»Ich denke nicht daran, Ihnen meine Nummer zu geben, ich kenne Sie nicht mal!«

»Aber Madeline hat doch Ihr Handy!«

»Verflixt, es wird ja wohl eine andere Möglichkeit geben, sie zu erreichen. Rufen Sie zum Beispiel Raphael an.«

Was für eine Quasselstrippe, dachte er und drückte auf die Ende-Taste.

»Hallo, hallo«, rief Juliane am anderen Ende der Leitung.

Was für ein ungehobelter Klotz, schimpfte sie, als ihr klar wurde, dass er das Gespräch einfach beendet hatte.

Jonathan war fest entschlossen, das Handy auszuschalten, doch dann trieb ihn eine plötzliche Neugier dazu, sich noch einmal die Fotos anzusehen. Außer den wenigen erotischen Bildern befanden sich in den meisten Ordnern Reiseaufnahmen, ein richtiges Erinnerungsalbum von den romantischen Trips des verliebten Paars. So sah man Madeline und Raphael auf der Piazza Navona in Rom, in einer Gondel in Venedig, vor den Gaudí-Bauten in Barcelona, in der Straßenbahn in Lissabon oder auf Skiern in den Alpen. Viele dieser Orte hatte auch Jonathan in seiner glücklichen Zeit mit Francesca besucht. Doch das Glück der anderen war schmerzlich für ihn, und so überflog er die Fotogalerie nur.

Trotzdem konnte er es nicht lassen, den restlichen Inhalt von Madelines Telefon, vor allem die Musikbibliothek, zu untersuchen. Nachdem er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte – Best-of-Alben von Mainstream, Pop und R&B –, runzelte er verwundert die Stirn, als er genau die Musik entdeckte, die ihm gefiel: Tom Waits, Lou Reed, David Bowie, Bob Dylan, Neil Young …

Melancholische, künstlerische Songs, die den Verlust besangen, den Blues trostloser Morgen und zerstörter Existenzen.

Das war erstaunlich. Zwar trügt oft der Schein, aber er konnte sich nur schwer vorstellen, dass die versnobte junge Frau vom Flughafen mit ihrem Louis-Vuitton-Gepäck sich auf so qualvolle Welten einließ.

Er setzte seine Inspektion mit den Filmen fort, die Madeline heruntergeladen hatte, und war erneut verblüfft: keine romantischen Komödien oder Folgen von Sex and the City oder Desperate Housewives, sondern anspruchsvollere und umstrittene Spielfilme wie Der letzte Tango in Paris, Crash, Macadam Cowboy und Leaving Las Vegas.

Vor allem der letzte Titel interessierte Jonathan: Die unmögliche Liebesgeschichte zwischen einem selbstmordgefährdeten Alkoholiker und einer Prostituierten gehörte zu seinen Lieblingsfilmen. Das langsame Abgleiten in den Alkohol von Nicolas Cage, um sein Scheitern zu vergessen, war ihm fast vertraut erschienen. Ein Film, der die eigenen Wunden wieder aufriss, alte Dämonen und selbstzerstörerische Instinkte weckte. Eine Geschichte, die einen mit den eigenen verborgenen Ängsten und der Einsamkeit konfrontierte und daran erinnerte, dass niemand gegen einen plötzlichen Absturz in die Hölle gefeit ist. Je nach dem eigenen Befinden konnte dieser Film Depressionen hervorrufen oder einem mehr Klarheit über sich selbst verschaffen. Auf jeden Fall ließ er einen nicht kalt.

Ganz offensichtlich hatte Madeline Greene unerwartete Vorlieben.

Ende der Leseprobe