Was wäre ich ohne dich? - Guillaume Musso - E-Book

Was wäre ich ohne dich? E-Book

Guillaume Musso

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Beschreibung

Martin, engagierter Polizist in Paris, konzentriert sich nach einer enttäuschten Liebe voll und ganz auf seine Arbeit. Das muss er auch, denn zurzeit hat er es mit einem besonders schwierigen Fall zu tun: Er ist dem berühmt-berüchtigten Archibald MacLean auf den Fersen, dem größten Kunstdieb aller Zeiten. Martins abenteuerliche Jagd führt ihn bis nach San Franciso, wo er ausgerechnet Gabrielle wieder über den Weg läuft – der Frau, die ihm vor fünfzehn Jahren das Herz gebrochen hat. Und auch sie hat eine Verbindung zu Archibald …

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Für Ingrid

Diese Geschichte, niedergeschrieben in der schmerzlichen Magie jenes Winters . . .

Übersetzung aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge, Kollektiv Druck-Reif

© XO Éditions 2009

Titel der französischen Originalausgabe:

»Que serais-je sans toi?«, XO Éditions, Paris 2009

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Getty Images / Ketty Benne / EyeEm; FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Cover & Impressum

1   In jenem Sommer ...

2   Der Meisterdieb

3   Bruder der Einsamkeit

4   Zwei Männer in einer Stadt

5   Die Liebenden von Pont-Neuf

6   Paris erwacht

7   Die Duellanten

8   Der Schlüssel zum Paradies

9   Mademoiselle Ho

10   Strudel des Lebens

11   Der Tag, an dem du gehst

12   Lass mich eine Träne vergießen

13   Die fehlende Hälfte

14   Valentine

15   Alter Ego

16   California, here I come

17   Das Verlangen nach dem anderen

18   Erinnerungen und Bedauern

19   Siehst du, ich habe nichts vergessen ...

20   Zwei Liebende

21   Wir haben uns so sehr geliebt

22   Der Brief von Valentine

23   HALFWAY TO HELL

24   Der große Ausbruch

25   Abflugbereich

26   Zum Wiedersehen der Sterne

27   Anywhere out of the world

28   Ich werde dich immer lieben ...

29   Für immer dein

EPILOG

Unter uns

Quellenverzeichnis

Ich bevorzugte immer die Tollheit der Leidenschaften

vor der Weisheit der Gleichgültigkeit.

Anatole France, Die Schuld des Professors Bonnard

Wir kennen sie alle ...

diese Einsamkeit, die uns bisweilen zermürbt,

die unseren Schlaf sabotiert oder uns den Morgen verdirbt.

Es ist die Tristesse des ersten Schultags,

oder wenn er auf dem Schulhof ein Mädchen küsst, hübscher als du.

Es ist Orly oder die Gare de l’Est am Ende einer Liebe.

Es ist das Kind, das man niemals zusammen haben wird.

Manchmal bin ich es.

Manchmal seid ihr es.

Doch manchmal bedarf es nur

einer Begegnung ...

1   In jenem Sommer ...

Die erste Liebe ist immer die letzte.

Tahar Ben Jelloun

San Francisco, Kalifornien

Sommer 1995

Gabrielle ist zwanzig Jahre alt

Sie ist Amerikanerin, Studentin im dritten Jahr an der Universität von Berkeley. In jenem Sommer trägt sie oft helle Jeans, eine weiße Hemdbluse und einen taillierten Lederblouson. Mit ihrem langen glatten Haar und ihren grünen, funkelnden Augen erinnert sie an Françoise Hardy auf Fotos von Jean-Marie Perrier aus den 1960er-Jahren. In diesem Sommer teilt sie ihre Tage auf zwischen der Arbeit in der Campus-Bibliothek und ihrer Tätigkeit bei der Freiwilligen Feuerwehr in der Kaserne der California Street. In diesem Sommer wird sie ihre erste große Liebe erleben.

Martin ist einundzwanzig Jahre alt

Er ist Franzose, hat soeben an der Sorbonne seinen Abschluss in Rechtswissenschaften gemacht.

In diesem Sommer ist er allein in die USA gereist, um seine Englischkenntnisse zu verbessern und das Land richtig kennenzulernen. Da er kein Geld hat, schlägt er sich mit kleinen Jobs durch und arbeitet über siebzig Stunden die Woche: als Kellner, Eisverkäufer, Gärtner ...

In diesem Sommer ähnelt er mit seinen halblangen schwarzen Haaren dem jungen Al Pacino. In diesem Sommer wird er seine letzte große Liebe erleben.

Cafeteria der Universität von Berkeley

»Hey, Gabrielle, ein Brief für dich!«

Die junge Frau, die an einem der Tische sitzt, hebt den Blick von ihrem Buch.

»Wie bitte?«

»Ein Brief für dich, meine Schöne!«, wiederholt Carlito, der Geschäftsführer, und legt einen cremefarbenen Umschlag neben ihre Teetasse.

Gabrielle runzelt die Stirn. »Ein Brief von wem?«

»Von Martin, dem kleinen Franzosen. Er arbeitet nicht mehr hier, ist aber heute Morgen noch mal vorbeigekommen, um ihn abzugeben.«

Gabrielle starrt verblüfft auf den Umschlag, schiebt ihn in ihre Tasche und verlässt das Café.

Beherrscht von seinem Campanile, ist der riesige, üppig begrünte Campus in eine sommerliche Atmosphäre getaucht. Gabrielle läuft durch die Alleen des Parks, bis sie im Schatten der hundertjährigen Bäume eine freie Bank findet.

Dort, ganz für sich allein, öffnet sie mit einer Mischung aus Sorge und Neugier den Briefumschlag.

*

26. August 1995

Liebe Gabrielle,

ich wollte Dir nur sagen, dass ich morgen nach Frankreich zurückfahre.

Dir nur sagen, dass unsere wenigen gemeinsam verbrachten Momente in der Cafeteria des Campus, unsere Gespräche über Bücher, Kinofilme, Musik oder darüber, wie wir die Welt verändern wollen, für mich das Wichtigste meines ganzen Kalifornien-Aufenthalts waren.

Dir nur sagen, dass ich gern eine von diesen fiktiven Figuren gewesen wäre. Denn ein Roman- oder Filmheld hätte sich nicht so ungeschickt angestellt, um der Heldin zu verstehen zu geben, dass sie ihm wirklich gefällt, dass er sich gern mit ihr unterhält und etwas ganz Besonderes empfindet, wenn er sie betrachtet. Eine Mischung aus Sanftheit, Schmerz und Intensität. Ein verwirrendes geheimes Einverständnis, eine unglaubliche Vertrautheit. Etwas sehr Seltenes, das er vorher noch nie empfunden hat. Etwas, dessen Existenz er nicht einmal geahnt hat.

Dir nur sagen, dass ich – und ich glaube, auch Du – an jenem Nachmittag, an dem wir im Park vom Regen überrascht wurden und uns unter das Portal der Bibliothek flüchteten, dieselbe Verwirrung und Anziehungskraft verspürte und irgendwie verunsichert war. An jenem Tag hätten wir uns um Haaresbreite geküsst. Ich habe den Schritt nicht gewagt, weil Du mir von Deinem Ferienflirt in Europa erzählt hast, dem Du nicht untreu werden könntest, und weil ich in Deinen Augen nicht ein Typ »wie alle anderen« sein wollte, der Dich ohne Umstände und Respekt anmacht.

Ich weiß jedoch, hätten wir uns geküsst, wäre ich leichten Herzens wieder gegangen, und alles andere wäre mir egal gewesen, weil ich immerhin irgendetwas für Dich bedeutet hätte. Ich weiß, dieser Kuss hätte mich überallhin begleitet wie eine strahlende Erinnerung, an die ich mich in einsamen Augenblicken hätte klammern können. Manch einer aber sagt, die schönsten Liebesgeschichten seien diejenigen, die man nicht wirklich erleben konnte. Vielleicht sind also die Küsse, die man nicht bekommt, die intensivsten ...

Und ich wollte Dir nur sagen, dass ich, wenn ich Dich ansehe, an die vierundzwanzig Bilder pro Sekunde eines Films denken muss. Bei Dir sind die dreiundzwanzig ersten Bilder leuchtend und strahlend, aber vom vierundzwanzigsten geht eine echte Traurigkeit aus, die einen Kontrast zu dem Licht bildet, das Du in Dir trägst. Mehrmals habe ich mich gefragt, was Dich so traurig macht, mehrmals habe ich insgeheim gehofft, Du würdest mir davon erzählen, doch Du hast es nie getan.

Dir nur sagen, dass Du auf Dich aufpassen, Dich nicht von der Melancholie anstecken und nicht das vierundzwanzigste Bild triumphieren lassen sollst. Gib dem Dämon nicht allzu oft den Vorrang vor dem Engel!

Dir nur sagen, dass auch ich Dich großartig und strahlend fand. Aber das hörst Du sicher fünfzig Mal am Tag, was aus mir letzten Endes einen Typen wie alle anderen macht ...

Dir nur sagen, dass ich Dich nie vergessen werde.

Martin

*

Gabrielle hebt den Kopf. Ihr schlägt das Herz bis zum Hals, denn damit hat sie nicht gerechnet.

Schon nach der ersten Zeile wird ihr klar, dass dieser Brief etwas Besonderes ist. Die Geschichte kennt sie natürlich, aber nicht aus diesem Blickwinkel. Sie sieht sich um, aus Angst, ihr Gesicht könnte ihre Emotionen verraten. Als sie spürt, dass ihr Tränen in die Augen steigen, verlässt sie den Campus und nimmt die Subway Richtung Zentrum von San Francisco. Eigentlich hatte sie geplant, in der Bibliothek zu arbeiten, aber sie weiß genau, dass sie jetzt nicht dazu in der Lage ist.

Während sie nach Hause fährt, bewegen sich ihre Gedanken zwischen Erstaunen über den Inhalt des Briefs und dem schmerzlichen Vergnügen, ihn zu lesen. Es kommt nicht alle Tage vor, dass jemand ihr diese Art von Aufmerksamkeit schenkt. Auch nicht, dass man sich mehr ihrer Persönlichkeit als dem Rest von ihr widmet.

Alle halten sie für stark und gesellig, obwohl sie zerbrechlich und ziemlich verloren in ihren Widersprüchen ist. Menschen, die sie seit Jahren kennen, wissen nichts von ihren inneren Qualen, während er innerhalb weniger Wochen in ihr hat lesen und alles verstehen können.

In jenem Sommer hat die sengende Hitze die kalifornische Küste nicht verschont und auch San Francisco gelähmt, und das trotz seines Mikroklimas. Die Menschen in der Subway scheinen völlig kraftlos, wie erschlagen von den Temperaturen. Ganz anders Gabrielle. Sie ist plötzlich zu einer Heldin des Mittelalters und der ritterlichen Epoche mutiert. Einer Epoche, in der die Minne, die höfische Liebe, aufblüht. Chrétien de Troyes, einer der ersten Dichter von Ritterromanen, scheint ihr soeben eine Botschaft gesandt zu haben und fest entschlossen zu sein, die Freundschaft, die sie Martin entgegenbringt, zu verwandeln ...

Sie liest seinen Brief, der ihr guttut und auch wehtut, noch einmal.

Nein, Martin Beaumont, du bist kein Typ wie alle anderen ...

Sie liest seinen Brief, der sie glücklich, verzweifelt und unschlüssig macht, immer und immer wieder.

So unschlüssig, dass sie vergisst, an ihrer Station auszusteigen. So muss sie, um heimzukommen, in der drückenden Hitze eine viel weitere Strecke bewältigen.

Bravo, Heldin, well done!

*

Am nächsten Tag

9 Uhr morgens

Airport San Francisco SFO

Es regnet.

Noch nicht richtig wach, unterdrückt Martin ein Gähnen und klammert sich bei jeder Kurve an die Haltestange. Er trägt einen Moleskin-Mantel, löcherige Jeans, abgenutzte Turnschuhe und ein T-Shirt mit dem Bild einer Rockgruppe.

In diesem Sommer zeigt jeder Jugendliche irgendetwas von Kurt Cobain.

In seinem Kopf wirbeln die Erinnerungen dieser zwei in den USA verbrachten Monate wie wild umher. Augen und Herz sind erfüllt davon. Kalifornien hat ihn unendlich weit von Évry und den Pariser Vororten entfernt. Zu Beginn des Sommers hatte er noch vor, die Aufnahmeprüfung für den Polizeidienst zu durchlaufen, doch dieser Aufenthalt, der wie eine Art Übergangsritus war, hat alles auf den Kopf gestellt. Der Junge aus dem Vorort hat Selbstvertrauen gewonnen in jenem Land, in dem das Leben ebenso schwer ist wie anderswo, in dem sich aber die Menschen die Hoffnung bewahrt und den Ehrgeiz haben, ihre Träume zu verwirklichen.

Und sein persönlicher Traum ist es, Geschichten zu schreiben. Geschichten, die den Leser berühren, Geschichten über gewöhnliche Menschen, denen Außergewöhnliches widerfährt. Weil die Realität ihm nicht genug ist und weil die Fiktion in seinem Leben allgegenwärtig war. Von klein auf haben ihn seine Lieblingshelden sooft von seinen Sorgen befreit, ihn bei Enttäuschungen und Kummer getröstet. Sie haben seine Fantasie beflügelt, seine Gefühle vervollkommnet und ihn das Leben durch einen Filter sehen lassen, der ihm das Leben erträglich machte.

Der Pendelbus aus der Powell Street spuckt seine Reisenden am Internationalen Terminal aus. In dem Gedränge schnappt sich Martin seine Gitarre aus dem Gepäcknetz. Beladen wie ein Muli, verlässt er als Letzter den Bus, wühlt in seiner Tasche auf der Suche nach seinem Ticket und versucht, sich mit hocherhobenem Kopf in dem urbanen Labyrinth zurechtzufinden.

Er sieht sie nicht sofort.

Sie hat ihren Wagen in zweiter Reihe geparkt, den Motor laufen lassen.

Gabrielle.

Sie ist vom Regen durchnässt. Ihr ist kalt. Sie zittert ein wenig.

Sie erkennen sich. Sie laufen aufeinander zu.

Sie umarmen sich mit klopfendem Herzen wie beim ersten Mal, wenn man noch daran glaubt.

Dann lächelt sie und provoziert ihn: »Nun, Martin Beaumont, glaubst du wirklich, dass die Küsse, die man nicht bekommt, die intensivsten sind?«

Und sie küssen sich.

Ihre Lippen suchen sich, ihr Atem vermengt, ihr nasses Haar verwirrt sich. Seine Hand liegt auf ihrem Nacken, die ihre auf seiner Wange. In der Eile wechseln sie ein paar unbeholfene Worte der Liebe.

Sie bittet ihn: »Bleib noch!«

Bleib noch!

Er weiß es noch nicht, doch in seinem ganzen Leben wird ihm nichts Besseres widerfahren. Nichts Reineres, nichts Leuchtenderes oder Intensiveres als die grünen Augen von Gabrielle, die an diesem Sommermorgen im Regen funkeln.

Und ihre Stimme, die ihn anfleht: Bleib noch!

*

San Francisco

28. August – 7. September 1995

Gegen einen Aufpreis von hundert Dollar kann Martin seinen Abreisetag verschieben. Eine Summe, die es ihm ermöglicht, die wichtigsten zehn Tage seines Lebens zu verbringen.

Sie lieben sich.

In den Buchhandlungen der Straßen von Berkeley, in denen noch ein Duft von Bohème zu spüren ist.

In einem Kino in der Reid Street, wo sie nicht viel von dem Film Leaving Las Vegas sehen, so sehr sind sie beschäftigt mit Küssen und Liebkosungen.

In einem kleinen Restaurant vor einem riesigen Hamburger »Hawaii« und einer Flasche Sonoma-Wein.

Sie lieben sich.

Sie sind ausgelassen wie kleine Kinder, halten sich fest bei der Hand und rennen über den Strand.

Sie lieben sich.

In einem Studentenheimzimmer, in dem er für sie auf seiner Gitarre eine noch unveröffentlichte Version des Valse à mille temps von Jacques Brel improvisiert. Sie tanzt für ihn, zunächst sinnlich, dann immer schneller, die Arme ausgebreitet, die Handflächen dem Himmel zugewandt wie ein wirbelnder Derwisch.

Er legt sein Instrument zur Seite und folgt ihr in ihrer Trance. Sie drehen sich wie ein Kreisel und sinken auf den Boden, wo sie ...

... sich lieben.

Sie schweben, sie fliegen.

Sie sind Gott, sie sind Engel, sie sind allein.

Um sie herum zieht sich die Welt zurück und verwandelt sich in eine simple Theaterkulisse, deren einzige Akteure sie sind.

Sie lieben sich.

Eine versteckte Liebe.

Ein nicht endender Rausch.

Jetzt und für immer.

Und gleichzeitig ist die Angst überall.

Die Angst vor dem Alleinsein.

Es ist zugleich klar und verwirrend.

Zugleich Blitzschlag und Untergang.

Der schönste Frühlingstagund zugleich das heftigste Gewitter.

Und dennoch lieben sie sich.

*

Sie liebt ihn.

Mitten in der Nacht.

In ihrem Wagen, den sie auf einem Parkplatz von Tenderloin, dem angesagten Viertel der Stadt, abgestellt hat. Das Autoradio vibriert beim Sound vom Gangsta-Rap und von Smells Like Teen Spirit.

Es ist die Faszination der Gefahr, ihre Körper bewegen sich im Licht der Scheinwerfer und drohen jederzeit, von Gangs überfallen oder den Cops erwischt zu werden.

Dieses Mal ist es keine blumige Liebe mit Worten der Verliebtheit. Es ist eine glühende Liebe, bei der man mehr an sich reißt, als man gibt. Diese Nacht ist es, als wären sie angefixt worden, als hätten sie sich einen Schuss gesetzt. Sie will ihm diese Seite von sich zeigen, das weniger Glatte hinter dem romantischen Bild: den Bruch, das vierundzwanzigste Bild. Sie will sehen, ob er ihr auf dieses Terrain folgen kann oder sie unterwegs fallen lassen wird.

Heute Nacht ist sie nicht die Verliebte, sondern seine Geliebte.

Because the night belongs to lovers

Because the night belongs to us.

*

Er liebt sie.

Ganz sanft.

Im Morgengrauen, am Strand.

Sie ist auf seinem Moleskin-Mantel eingeschlafen. Er hat den Kopf auf ihren Bauch gelegt.

Zwei junge Liebende, umhüllt vom lauen Wind, im rosafarbenen Morgenlicht eines kalifornischen Himmels.

Ihre Körper entspannt, ihre aneinandergepressten Herzen gleichsam miteinander verwoben, während aus dem kleinen Transistorradio neben ihnen eine alte Ballade ertönt.

*

8. September 1995

9 Uhr morgens

Airport San Francisco SFO

Ende des Traums.

Sie stehen in der Flughafenhalle, inmitten der Menschenmenge und des Lärms.

Die Realität hat schließlich den Sieg über die Illusion einer Liebe außerhalb der Zeit davongetragen.

Und das ist brutal, tut weh.

Martin sucht Gabrielles Blick. An diesem Morgen ist das goldene Funkeln aus ihren Augen verschwunden. Sie wissen nicht mehr, was sie sich sagen sollen. Also umarmen sie sich, klammern sich aneinander. Jeder versucht, im anderen die ihm fehlende Kraft zu finden. Bei diesem Spiel ist Gabrielle die Stärkere. Sie wusste, dass diese Tage des Glücks dem Leben geraubt waren, während er glaubte, sie würden ewig andauern.

Und doch ist sie diejenige, der kalt ist. Also zieht er seinen Moleskin-Mantel aus und legt ihn ihr über die Schultern. Zuerst lehnt sie ab, in der Art von ich bin total hart im Nehmen, aber er insistiert, weil er sieht, dass sie zittert. Nun nimmt sie ihre Kette vom Hals, an der ein kleines Kreuz des Südens hängt, und lässt sie in seine Hand gleiten.

Letzter Aufruf. Sie müssen sich trennen.

Und zum x-ten Mal fragt er sie: »Diesen Ferienflirt aus Europa, liebst du ihn?«

Doch wie immer legt sie ihm den Zeigefinger auf die Lippen und senkt den Blick.

Und so lösen sich die beiden Körper voneinander, und er macht sich auf den Weg zum Abflugbereich, ohne sie jedoch aus den Augen zu lassen.

*

9. September 1995

Paris

Airport Charles-de-Gaulle

Nach zwei Zwischenstopps und mehrfachen Verspätungen landet die Maschine der Aer Lingus am späten Nachmittag in Roissy. In San Francisco war noch Sommer gewesen. In Paris ist es schon Herbst. Der Himmel ist dunkel, der Himmel ist schmutzig.

Etwas neben der Spur, die Augen vom Schlafmangel gerötet, wartet Martin auf sein Gepäck. Auf einem Bildschirm brüllt eine Blondine mit Silikonimplantaten »Gott hat mir den Glauben geschenkt«. Heute Morgen hat er das Amerika von Clinton verlassen, und heute Abend ist er im Frankreich von Chirac angekommen. Er hasst sein Land, weil sein Land nicht das von Gabrielle ist.

Nachdem er seinen Koffer und seine Gitarre an sich genommen hat, macht er sich an die letzte Etappe seiner Heimreise: RERB bis Châtelet-Les-Halles, RERD Richtung Corbeil-Essonnes bis nach Évry, dann den Bus bis zur Cité des Pyramides. Liebend gern hätte er sich mithilfe der Musik von der Welt abgekapselt, doch die Batterien seines Walkmans haben schon seit Längerem den Geist aufgegeben. Er ist hilflos, desorientiert, so als hätte man Gift in sein Herz gespritzt. Dann wird ihm bewusst, dass ihm Tränen über die Wangen laufen und die kleinen Idioten aus seinem Viertel sich über ihn lustig machen. Er versucht, die Contenance zurückzugewinnen. In Évry, im Bus Richtung Pyramides, zeigt man keine Schwächen. Also wendet er das Gesicht ab. Und jetzt wird ihm zum ersten Mal klar, dass er diese Nacht ohne sie wird einschlafen müssen.

Und wieder beginnen die Tränen zu fließen.

*

Am nächsten Tag.

Martin verlässt das kleine Schlafzimmer in der Sozialwohnung seiner Großeltern.

Fahrstuhl außer Betrieb. Neun Etagen zu Fuß. Herausgerissene Briefkästen. Streitereien im Treppenhaus. Hier hat sich nichts verändert.

Über eine halbe Stunde sucht er eine Telefonzelle, die nicht verwüstet ist, steckt seine Karte mit fünfzig Einheiten in den Apparat und wählt eine Nummer in den USA.

*

Zwölftausend Kilometer entfernt, in San Francisco, klingelt das Telefon in der Cafeteria des Campus von Berkeley ...

*

49, 48, 47 ...

Ein flaues Gefühl im Magen, schließt er die Augen und sagt ganz einfach nur: »Ich bin’s, Gabrielle. Pünktlich zur mittäglichen Verabredung.«

Sie lacht zunächst, weil sie überrascht und weil sie glücklich ist, dann bricht sie in Schluchzen aus, weil es zu schwer ist, nicht mehr zusammen zu sein.

... 38, 37, 36 ...

Er sagt ihr, dass sie ihm unendlich fehlt, dass er sie liebt, dass er nicht weiß, wie er ohne sie ...

... sie sagt ihm, wie sehr sie sich wünscht, bei ihm zu sein, wirklich neben ihm, um mit ihm zusammen einzuschlafen, ihn zu küssen, zu liebkosen, zu beißen, ihn vor lauter Liebe zu töten.

... 25, 24, 23 ...

Er lauscht ihrer Stimme, und alles wird wieder spürbar: ihre zarte Haut, der Geruch nach Sand, der Wind in ihrem Haar, ihre gehauchten Worte ...

... sein »Ich liebe dich«, seine Hand, die ihren Hals umfasst, seine Augen, die die ihren suchen, die Heftigkeit und Sanftheit ihrer Umarmungen ...

... 20, 19, 18 ...

Entsetzt starrt er auf das LCD-Display der Kabine und beobachtet fassungslos, wie die Einheiten seiner Telefonkarte schnell verschwinden.

... 11, 10, 9 ...

Dann nur noch Schweigen, denn ihre Stimmen versagen.

Sie lauschen ausschließlich dem Klopfen ihrer Herzen, die im Takt schlagen, und der Sanftheit ihrer Atemzüge, die sich trotz dieses verdammten Telefons vermischen.

... 3, 2, 1, 0 ...

*

Zu jener Zeit kannte man weder Internet, E-Mail, Skype noch WhatsApp.

Zu jener Zeit brauchten die Liebesbriefe aus Frankreich zehn Tage, um in Kalifornien anzukommen.

Zu jener Zeit musste man, wenn man »ich liebe dich« geschrieben hatte, drei Wochen auf eine Antwort warten.

Und drei Wochen lang auf ein »ich liebe dich« zu warten, das ist kaum auszuhalten, wenn man zwanzig Jahre alt ist.

*

Und so werden die Briefe von Gabrielle allmählich immer seltener, bis sie schließlichganz versiegen.

Dann geht sie nicht mehr ans Telefon – weder in der Cafeteria noch in ihrem Studentenheimzimmer – und lässt meist ihre Mitbewohnerin die Nachrichten notieren. Eines Nachts reißt Martin in seiner Verzweiflung den Hörer aus seiner Verankerung, um die Glasscheiben der Telefonzelle zu zertrümmern. Der Zorn hat ihn zu dem getrieben, was er bei anderen stets verurteilt hat. Er ist wie diejenigen geworden, die er verachtet: Jene, die öffentliche Einrichtungen beschädigen, die ein 6er-Pack Bier vor dem Einschlafen trinken müssen, die den ganzen Tag Joints rauchen und denen alles egal ist: das Leben, das Glück, das Unglück, das Gestern und das Heute.

In seiner Verzweiflung bedauert er bereits, der Liebe begegnet zu sein, denn nun weiß er nicht mehr, wie er weiterleben soll. Jeden Tag versucht er, sich davon zu überzeugen, dass morgen alles besser wird, dass die Zeit alle Wunden heilt, aber am folgenden Tag versinkt er nur noch tiefer in seinem Schmerz.

*

Irgendwann jedoch sagt sich Martin, dass er Gabrielle nur zurückerobern kann, wenn er sein ganzes Herz einsetzt. Und so findet er die Kraft, wieder an der Oberfläche aufzutauchen. Er kehrt in die Uni zurück, nimmt beim Carrefour von Évry einen Job als Lagerarbeiter an. Nachts arbeitet er als Wächter auf einem Parkplatz und fängt an, richtig zu sparen.

In dem Moment hätte er einen älteren Bruder, einen Vater, eine Mutter, einen besten Freund haben müssen, jemanden, der ihm den Rat gibt, niemals »sein ganzes Herz einzusetzen«. Denn wenn man das tut, läuft man Gefahr, anschließend nie mehr lieben zu können.

Doch Martin hat niemanden, auf dessen Rat er hören könnte, bis auf sein »großes idiotisches Herz«.

*

10. Dezember 1995

Gabrielle, mein Liebling,

lass mich Dich noch einmal so nennen, auch wenn es vielleicht das letzte Mal ist.

Ich mache mir kaum noch Illusionen, ich spüre, dass Du Dich mir entziehst.

Für mich hat Deine Abwesenheit meine Gefühle für Dich nur noch verstärkt, und ich hoffe, dass ich Dir noch ein wenig fehle.

Ich bin da, Gabrielle, bei Dir.

Näher, als ich es je gewesen bin.

Zurzeit sind wir wie zwei Menschen, die sich von beiden Ufern eines Flusses Zeichen geben. Manchmal begegnen sie sich kurz auf der Mitte der Brücke, dann kehrt jeder an sein Ufer zurück und wartet auf ein erneutes, dieses Mal längeres Treffen. Wenn ich die Augen schließe und mir vorstelle, wie wir in zehn Jahren leben, habe ich Bilder von großem Glück im Sinn, die mir nicht unrealistisch vorkommen: Sonne, lachende Kinder, verständnisinnige Blicke eines Paars, das noch immer verliebt ist.

Ich will diese Chance nicht versäumen.

Ich bin da, Gabrielle, am anderen Ufer des Flusses.

Ich warte auf Dich.

Die Brücke zwischen uns scheint in schlechtem Zustand zu sein, doch es ist eine solide Brücke, gebaut aus Baumstämmen, die so manchem Sturm getrotzt haben.

Ich kann verstehen, dass Du Angst hast, sie zu überqueren.

Und mir ist bewusst, dass Du sie vielleicht niemals überqueren wirst.

Aber lass mir ein wenig Hoffnung.

Ich bitte Dich nicht um ein Versprechen, nicht um eine Verpflichtung, nicht um eine Antwort.

Ich will nur ein Zeichen von Dir.

Und dieses Zeichen kannst Du mir sehr leicht zukommen lassen. Du findest zusammen mit diesem Brief ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk: ein Flugticket nach New York datiert auf den 24. Dezember. Ich werde am 24. in Manhattan sein und den ganzen Tag im Café DeLalo, am Fuß des Empire State Building, auf Dich warten. Triff Dich dort mit mir, wenn Du glaubst, wir könnten eine gemeinsame Zukunft haben ...

Ich umarme Dich,

Martin

*

24. Dezember 1995

New York

9 Uhr morgens

Martins Schritte knirschen im frischen Schnee. Es herrscht sibirische Kälte, doch der Himmel ist strahlend blau, kaum getrübt von der leichten Brise, die ein paar Flocken durch die Luft wirbelt.

Die New Yorker befreien ihre Bürgersteige gut gelaunt vom Schnee, aufgeheitert noch durch die Weihnachtsdekoration und die Weihnachtslieder, die aus jedem noch so kleinen Laden dringen.

Martin öffnet die Tür zum Café DeLalo. Er zieht seine Handschuhe aus, legt Schal und Mütze ab und reibt sich die Hände, um sich aufzuwärmen. Er hat seit zwei Tagen nicht geschlafen und fühlt sich fiebrig und erregt.

Das Lokal ist gemütlich und weihnachtlich geschmückt mit Girlanden, Zuckerengeln und Lebkuchenmännchen. In der Luft liegtein Duft nach Zimt, Kardamom und Bananenpfannkuchen. Als Hintergrundmusik dringen abwechselnd Weihnachtslieder und aktuelle Popsongs aus den Lautsprechern. In diesem Winter steht Oasis ganz hoch im Kurs, und Wonderwall läuft stündlich im Radio.

Martin bestellt eine heiße Schokolade, bedeckt mit Mini-Marshmallows, und lässt sich an einem Tisch nahe dem Fenster nieder.

Gabrielle wird kommen, da ist er ganz sicher.

Gegen zehn Uhr überprüft er zum hundertsten Mal die Uhrzeiten auf dem Ticket, das er ihr geschickt hat.

Abflug

– 23. Dezember:

22:55 Uhr

– San Francisco

SFO

Ankunft

– 24. Dezember:

07:15 Uhr

– New York

JFK

Er ist zuversichtlich: Bei den Schneeverhältnissen haben die Flüge mit Sicherheit Stunden Verspätung. Auf der anderen Seite der Fensterfront ergießt sich ein Menschenstrom auf den Bürgersteig, eine friedliche Armee, die ihre Gewehre gegen Pappbecher mit einem Plastikdeckel eingetauscht haben.

Gegen elf Uhr überfliegt Martin die USA Today, die ein Gast auf dem Tisch zurückgelassen hat. In dem Blatt debattiert man noch immer über den Freispruch von O. J. Simpson, über den rasanten Höhenflug der Börse und die neue TV-Serie Emergency Room, die die USA begeistert. In jenem Winter ist Bill Clinton noch nicht Monica Lewinsky begegnet und stellt sich mutig dem Kongress, um seine sozialen Maßnahmen durchzusetzen.

Gabrielle wird kommen.

Gegen Mittag setzt er die Kopfhörer seines Walkmans auf. Den Blick ins Leere gerichtet, läuft er mit Bruce Springsteen durch die Streets of Philadelphia.

Sie wird kommen.

Um dreizehn Uhr beginnt er mit der Lektürevon Der Fänger im Roggen; das Buch hat er sich im Flughafen-Shop gekauft.

Eine Stunde später hat er gerade mal vier Seiten gelesen ...

Sie kommt bestimmt.

Um sechzehn Uhr holt er seinen Gameboy heraus und verliert fünf Partien Tetris innerhalb von knapp zehn Minuten.

Sie kommt vielleicht ...

Gegen siebzehn Uhr fängt das Personal des Cafés an, ihn mit skeptischen Blicken zu betrachten.

Eine fünfzig/fünfzig Chance, dass sie kommt.

Um achtzehn Uhr schließt das Lokal seine Pforten. Er verlässt als Letzter das Café.

Selbst als er schon draußen ist, glaubt er noch daran.

Aber ...

*

San Francisco

15 Uhr nachmittags

Gabrielle läuft über den Sandstrand. Das Wetter entspricht ihrer Stimmung: Die Golden Gate Bridge ist in Nebel gehüllt, schwere Wolken umzingeln die Insel Alcatraz, und der Sturm wütet. Um sich gegen die Kälte zu schützen, wickelt sie sich fest in Martins Mantel.

Sie lässt sich im Schneidersitz auf dem Strand nieder und zieht das Paket an Briefen heraus, die er ihr geschrieben hat. Sie liest bestimmte Passagen erneut durch. Der Gedanke an Dich lässt mein Herz schneller schlagen. Ich wünschte, Du wärst hier, mitten in meiner Nacht. Ich möchte die Augen schließen und erst wieder öffnen, wenn mein Blick auf Dich fällt ... Aus einem Umschlag zieht sie kleine Geschenke, die er ihr geschickt hat: ein vierblättriges Kleeblatt, ein Edelweiß, ein Schwarz-Weiß-Foto von Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo in Außer Atem ...

Sie weiß sehr genau, dass zwischen ihnen etwas ganz Besonderes besteht. Eine sehr starke Verbindung, die sie so vielleicht nie wiederfinden wird. Sie stellt sich vor, wie er in New York in diesem Café auf sie wartet, in dem er sich mit ihr verabredet hat. Sie stellt sich ihn vor, und sie weint.

*

Das Café in New York hat vor einer halben Stunde geschlossen, doch Martin, vor Kälte erstarrt, wartet noch immer. In diesem Augenblick weiß er nichts von Gabrielles wahren Gefühlen. Er weiß nicht, wie gut ihr diese Beziehung getan hat, wie sehr sie sie brauchte, wie verloren sie sich gefühlt hat, bevor sie ihn kannte. Er weiß nicht, dass er sie in einem schwierigen Moment ihres Lebens davor bewahrt hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren ...

*

Der Regen prasselt auf den Sand von San Francisco. In der Ferne hört man den finsteren Gesang der Meeresorgel, die im Klang der Wellen, die in ihre steinernen Rohre gelangen, vibriert. Gabrielle steht auf, um die cable car zu erwischen, die sich die steile Fillmore Street hinaufhangelt. Wie ferngesteuert legt sie diese Strecke zurück, die sie zwei Häuserblocks hinter der Grace Cathedral ins Lenox Medical Center führt.

Fest in Martins Mantel gehüllt, passiert sie eine Schiebetür nach der anderen. Trotz der weihnachtlichen Dekoration wirkt die Klinikhalle trist und abweisend.

Doktor Elliott Cooper, der vor einem der Getränkeautomaten steht, sieht an ihrem Gesicht, dass sie geweint hat.

»Guten Tag, Gabrielle«, sagt er, um ein beruhigendes Lächeln bemüht.

»Guten Tag, Herr Doktor.«

*

Allein in der beißenden Kälte der Nacht hat Martin bis dreiundzwanzig Uhr auf sie gewartet. Jetzt ist sein Herz leer, und er schämt sich. Schämt sich, alles auf eine Karte gesetzt zu haben, mit all seinem jugendlichen Enthusiasmus und seiner Arglosigkeit, ohne sein Herz zu schützen.

Ja, er hat alles auf eine Karte gesetzt, und er hat alles verloren.

Und so irrt er durch die Straßen: 42nd Street, die Bars, die Kneipen, der Alkohol, die Zufallsbegegnungen, von denen man weiß, dass sie einem nicht guttun. In diesem Winter ist New York noch New York. Nicht mehr das von Andy Warhol oder von Velvet Underground, aber noch nicht das sterile, in das es sich später verwandeln wird. Es ist ein New York, das noch immer gefährlich für jene ist, die bereit sind, die Tür den Dämonen zu öffnen.

In dieser Nacht wird in Martins Blick zum ersten Mal die Melancholie und das Unerbittliche sichtbar.

Er wird niemals Schriftsteller sein. Nein, er wird Polizist – ein Jäger werden.

In dieser Nacht hat er nicht nur die Liebe verloren.

Er hat auch die Hoffnung verloren.

*

Diese Geschichte erzählt nur von den Dingen des Lebens.

Die Geschichte von einem Mann und einer Frau, die sich zueinander hingezogen fühlen.

Alles begannmit einem ersten Kuss an einem Sommermorgen, unter dem Himmel von San Francisco.

Alles wäre beinahe gescheitert an einem Weihnachtsabend, in einer New Yorker Bar und einer kalifornischen Klinik.

Die Jahre vergehen ...

Erster Teil

Unter dem Pariser Himmel

2   Der Meisterdieb

Wir verabscheuen eine Person aus denselben

Gründen, aus denen wir sie lieben.

Russell Banks, The Reserve

Paris, linkes Seine-Ufer

29. Juli

3 Uhr morgens

Der Dieb

Paris war in das klare Licht der Sommernacht getaucht. Auf dem Dach des Musée d’Orsay glitt ein flüchtiger Schatten hinter eine Säule und zeichnete sich dann deutlich im Schein des Halbmonds ab.

Archibald McLean, bekleidet mit einem dunklen Overall, befestigte zwei Seile an seinem Hüftklettergurt. Dann zog er die dunkle Wollmütze bis zu den Augen herunter, die hell in seinem geschwärzten Gesicht leuchteten. Der Dieb schnallte den Rucksack fest und schaute über die Stadt, die sich unter ihm ausbreitete. Vom Dach des bekannten Museums aus hatte er einen eindrucksvollen Blick über das rechte Seine-Ufer: der riesige Louvre mit seinen zahlreichen Statuen, die Zuckerbäcker-Basilika von Sacré-Coeur, die Kuppel des Grand Palais, das Riesenrad vor dem Jardin des Tuileries und die grüne Kuppel der Opéra Garnier. In das Halbdunkel der Nacht getaucht, schien die Stadt zeitlos – es war das Paris von Arsène Lupin und des Phantom der Oper.

Dann streifte er seine Schutzhandschuhe über, entspannte die Muskeln und ließ das Seil an der Steinwand hinab. Heute Abend erwartete ihn eine schwierige und riskante Aufgabe, aber gerade das machte sie auch so aufregend.

Der Polizist

»Das ist doch Wahnsinn!«

Polizeihauptmann Martin Beaumont, der in seinem Wagen die Überwachung übernommen hatte, beobachtete durch sein Fernglas den Mann, den er seit drei Jahren jagte: Archibald McLean, den berühmtesten Gemäldedieb der Gegenwart.

Der junge Ermittler war außer sich vor Aufregung. Heute Abend würde er einen außergewöhnlichen Dieb festnehmen, einen, wie man ihn in einem Polizistenleben nur ein Mal trifft. Schon so lange wartete er auf diesen Augenblick und hatte die Szene bereits x-mal in Gedanken durchgespielt. Um diese Leistung würden ihn Interpol beneiden, ebenso wie die zahlreichen Privatdetektive, die die von Archibald bestohlenen Milliardäre engagiert hatten.

Martin stellte sein Fernglas ein, um besser sehen zu können, und schließlich tauchte der verschwommene Schatten in der Dämmerung auf. Mit klopfendem Herzen beobachtete Martin, wie Archibald sein Seil herunterwarf und sich bis zu den beiden Uhren hinabließ, die auf die Seine blickten. Einen Moment lang hoffte der Polizist, die Gesichtszüge seiner Beute erkennen zu können, doch Archibald war zu weit entfernt und wandte ihm den Rücken zu. So unglaublich es auch schien, in der fünfundzwanzigjährigen Laufbahn des Archibald McLean war es niemandem gelungen, sein wahres Gesicht zu sehen ...

Am unteren Teil der gläsernen, matt glänzenden Uhr hielt Archibald inne. An das Zifferblatt von sieben Metern Durchmesser gepresst, fiel es ihm schwer, sich nicht von der Zeit gedrängt zu fühlen. Obwohl er wusste, dass er Gefahr lief, jeden Augenblick entdeckt zu werden, warf er einen Blick auf die Straße. Der Quai lag ruhig und verlassen da, nur von Zeit zu Zeit fuhr ein Taxi vorbei, und einige wenige nächtliche Passanten spazierten herum oder kehrten nach einer langen Nacht nach Hause zurück.

Ohne Eile stützte sich der Dieb auf dem Steinsims ab und griff nach einem an seinem Klettergurt befestigten Diamant-Glasschneider. Dann durchzog er mit ausholenden, schnellen Bewegungen das Glas mit Schnitten, in dem Bereich, in dem die Messingstreben sich kreuzten, um die sechste Stunde anzuzeigen. Wie erwartet hatte der Diamant die Scheibe nur angeritzt und einen Kreis gezeichnet. Archibald presste einen dreifüßigen Saugnapf auf die markierte Stelle und griff nach einem Aluminiumrohr, nicht größer als eine Taschenlampe. Dann führte er mit sicheren Bewegungen den Laserstrahl mehrmals über die Bruchlinie, und kurz bevor das Glas nachgab, übte Archibald Druck auf die Saugnäpfe aus, die schwere Platte löste sich und glitt, ohne zu splittern oder gar zu zerbrechen, im Innern zu Boden. Mit dem Geschick eines Akrobaten schob sich Archibald durch die so entstandene runde und scharfkantige Öffnung, die ihm Zutritt zu einem der schönsten Museen der Welt gewährte. Jetzt blieben ihm wenig mehr als sechzig Sekunden, ehe der Alarm ausgelöst würde.

Die Nase an die Autoscheibe gepresst, traute Martin seinen Augen nicht. Natürlich war Archibalds spektakuläres Eindringen in das Museum ein Meisterstück, doch jeden Moment würde der Alarm aufheulen. Das Sicherheitssystem des Musée d’Orsay war drastisch verschärft worden, nachdem es im letzten Jahr einer Bande von Saufkumpanen gelungen war, einen Notausgang zu öffnen und in das Gebäude einzudringen. Die Trunkenbolde waren mehrere Minuten durch die Gänge gelaufen, ehe sie festgenommen werden konnten. Ausreichend Zeit, um Monets berühmtes Gemälde Die Brücke von Argenteuil durch Schnitte zu beschädigen.

Dieser Vorfall hatte großes Aufsehen erregt, und die Kultusministerin fand es skandalös, dass man sich so einfach Zutritt zum Musée d’Orsay verschaffen konnte. In der Folge waren die Mängel des Sicherheitssystems genau untersucht worden. Damals hatte man Martin Beaumont in seiner Eigenschaft als Mitglied des OCBC – die französische Zentralstelle zur Bekämpfung des illegalen Handels mit Kunstgegenständen – konsultiert, um alle Zugänge zu sichern. Theoretisch war die berühmte Impressionisten-Galerie jetzt einbruchssicher.

Aber wenn dem so war, warum wurde dann der verdammte Alarm nicht ausgelöst?

Archibald landete auf einem der Tische in der Cafeteria, da sich die Uhr oberhalb des Café des Hauteurs im obersten Stock des Museums befand, unmittelbar neben den Sälen, in denen die Gemälde der Impressionisten ausgestellt waren. Der Dieb sah auf seine Uhr: noch fünfundzwanzig Sekunden. Er sprang vom Tisch und lief die Stufen hinauf, die zu den Sälen führten. Der fünfzig Meter lange Gang war mit einer unsichtbaren Armada an Infrarotsensoren mit Fernstrahlen ausgestattet. Schnell fand er das Alarmkästchen und schraubte die Schutzklappe ab, um dann einen Minicomputer anzuschließen, der kaum größer war als ein iPod. In rasantem Tempo flimmerten Zahlen über den Bildschirm. Die beiden an der Decke angebrachten Überwachungskameras mit Thermodetektoren würden jeden Augenblick losgehen. Nur noch zehn Sekunden ...

Martin hielt es nicht mehr aus, stieg aus dem Wagen und streckte sich. Die Überwachung dauerte nun schon vier Stunden, und allmählich begannen seine Beine einzuschlafen. So etwas war er nicht mehr gewohnt. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er oft ganze Nächte unter unglaublichen Bedingungen Überwachungen durchgeführt – versteckt im Kofferraum eines Autos, einer Müllkippe oder einer Zwischendecke. Plötzlich kam Wind auf. Er fröstelte und zog den Reißverschluss seines Lederblousons hoch. Eigentlich war das in dieser warmen Sommernacht nicht unangenehm, dennoch bekam er Gänsehaut. Seit er beim OCBC arbeitete, hatte er es nie mit so aufregenden Fällen zu tun gehabt. Seine letzten Adrenalinschübe hatte er vor fünf Jahren während seiner Tätigkeit beim Rauschgiftdezernat erlebt. Ein Drecksjob, der mit einer schwierigen Periode in seinem Privatleben zusammenfiel; heute war er froh, ein neues Kapitel begonnen zu haben. Dieser eigenartige Posten als »Kunst-Bulle« war ihm lieber, denn er gab ihm die Möglichkeit, seine Leidenschaft für die Kunst mit der Arbeit zu verbinden.