Ein Engel im Winter - Guillaume Musso - E-Book

Ein Engel im Winter E-Book

Guillaume Musso

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Beschreibung

Nathan Del Amico hat viel erreicht: Aus armen Verhältnissen stammend ist er mit 38 Jahren ein erfolgreicher Wirtschaftsanwalt. Doch glücklich ist er nicht. Seine Frau Mallory hat ihn verlassen, mit ihr auch seine Tochter, und als wäre das nicht genug, verspürt er in letzter Zeit merkwürdige Stiche in seiner Brust. Zwei Wochen vor Weihnachten taucht plötzlich ein geheimnisvoller Arzt bei ihm auf, der Nathan ein beunruhigendes Angebot macht – das Nathans Leben auf dramatische Weise verändern wird ...

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Übersetzung aus dem Französischen von Antoinette Gittinger

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96296-4

© 2004 der Originalausgabe by XO Éditions Titel der französischen Originalausgabe: »Et Après …«, XO Éditions, Paris 2004 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2013 Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Antoinette Gittinger liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur Umschlagabbildung: Stephen Mulcahey/Arcangel Images, Ilona Wellmann/Trevillion Images Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Prolog

Insel Nantucket

Massachusetts

Herbst 1972

Der See erstreckte sich im Osten der Insel hinter den Sümpfen mit den Moosbeeren. Das Wetter war strahlend schön.

Nach kühlen Tagen begann es erneut warm zu werden. Die Wasseroberfläche spiegelte die leuchtenden Farben des herbstlich bunten Waldes wider. »Da, schau mal!«

Der kleine Junge ging auf das Ufer zu und blickte in die Richtung, in die seine Freundin zeigte. Inmitten von Blättern schwamm ein großer Vogel. Sein makellos weißes Gefieder, sein pechschwarzer Schnabel und sein langer schlanker Hals verliehen ihm eine majestätische Anmut.

Es war ein Schwan.

Nur wenige Meter von den Kindern entfernt steckte er Kopf und Hals ins Wasser. Dann tauchte er wieder auf und stieß einen lang gezogenen Ruf aus, der weich und melodiös klang, ganz im Gegensatz zum Krächzen der Schwäne mit den gelben Schnäbeln, die in vielen öffentlichen Anlagen zur Zierde gehalten werden.

»Ich werde ihn streicheln!«

Das kleine Mädchen trat ganz nah ans Ufer heran und streckte die Hand aus. Vor Schreck breitete der Schwan seine Flügel aus, mit einer so ruckartigen Bewegung, dass die Kleine das Gleichgewicht verlor. Sie plumpste ins Wasser, und über ihr schwang sich der Vogel mit schwerfälligem Flügelschlag in die Lüfte.

Das kalte Wasser verschlug ihr den Atem, als ob ein Schraubstock ihren Oberkörper zusammenpresste. Für ihr Alter konnte sie sehr gut schwimmen. Im Meer legte sie zuweilen mehrere hundert Meter im Brustschwimmen zurück. Aber das Wasser des Sees war eiskalt und das Ufer schwer zu erreichen. Sie schlug wild um sich, geriet in Panik, als sie erkannte, dass es ihr nicht gelingen würde, ans Ufer zu klettern. Sie fühlte sich so winzig, so ganz und gar verloren in dieser fließenden Unendlichkeit.

Der Junge zögerte nicht, als er sah, dass seine Freundin in Gefahr war: Er zog die Schuhe aus und sprang in voller Kleidung ins Wasser.

»Halt dich an mir fest, hab keine Angst.«

Sie klammerte sich an ihn, und eher schlecht als recht gelangten sie in die Nähe des Ufers. Er hielt den Kopf unter Wasser und schob sie mit aller Kraft nach oben. Dank seiner Hilfe konnte sie sich mit viel Mühe am Ufer hochziehen.

Doch als er selbst aus dem Wasser klettern wollte, fühlte er seine Kräfte schwinden, als zögen ihn zwei kräftige Arme gewaltsam in die Tiefe des Sees. Er rang nach Luft, sein Herz schlug zum Zerspringen, ein unerträglicher Druck lastete auf seinem Gehirn.

Er kämpfte, bis er spürte, wie sich seine Lunge mit Wasser füllte. Dann ließen seine Kräfte nach, er leistete keinen Widerstand mehr und sank nach unten. Seine Trommelfelle platzten, um ihn herum wurde alles schwarz. Eingehüllt in die Dunkelheit erkannte er, wenn auch verschwommen, dass dies vermutlich das Ende war.

Denn da war nichts mehr. Nichts als diese kalte und schreckliche Dunkelheit.

Dunkelheit.

Dunkelheit.

Dann plötzlich …

Ein Licht.

Kapitel 1

Manche werden als große Menschen geboren …

Und andere erlangen Größe

Shakespeare

Manhattan

Heute

9.Dezember

Wie jeden Morgen wurde Nathan Del Amico durch doppeltes Klingeln geweckt. Er stellte immer zwei Wecker: einen, der ans Stromnetz angeschlossen war, und einen anderen, der mit Batterien betrieben wurde. Mallory fand das lächerlich. Nachdem er eine halbe Schale Cornflakes verschlungen, in einen Trainingsanzug geschlüpft und ein paar abgenutzte Reeboks angezogen hatte, verließ er die Wohnung für sein tägliches Training.

Der Spiegel im Aufzug zeigte ihm einen jungen Mann mit angenehmem Äußeren, aber erschöpften Gesichtszügen.

Du könntest dringend Urlaub gebrauchen, mein kleiner Nathan, dachte er und betrachtete aus der Nähe die bläulichen Schatten, die sich über Nacht unter seine Augen gelegt hatten.

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kragen hoch, schob seine Hände in gefütterte Handschuhe und stülpte sich eine Wollmütze mit dem Logo der Yankees über.

Nathan wohnte im 23.Stock des San Remo Buildings, jenem Komplex mit luxuriösen Wohnhäusern an der Upper West Side. Er hatte einen Blick direkt auf den Central Park West. Kaum hatte Nathan die Nase zur Tür rausgestreckt, entströmte ein kalter und weißer Dunst seinem Mund. Es war noch nicht richtig hell, und die Wohnhäuser am Straßenrand tauchten erst langsam aus dem Nebel auf. Am Vorabend hatte der Wetterbericht Schnee angesagt, doch bislang war keine einzige Flocke vom Himmel gefallen.

Mit kurzen Schritten lief er die Straße hinauf. Die Weihnachtsbeleuchtungen und die Kränze aus Stechpalmen an den Eingangstüren tauchten das Viertel in festlichen Glanz. Nathan lief am Naturkundemuseum vorbei, und am Ende eines Hundertmetersprints betrat er den Central Park.

Zu dieser Tageszeit und bei dieser Kälte war kaum jemand unterwegs. Ein eisiger Wind kam vom Hudson her und fegte über die Joggingstrecke, die um den Reservoir, den künstlichen See inmitten des Parks, herumführte.

Auch wenn es nicht unbedingt als empfehlenswert galt, diesen Weg zu nehmen, so lange es noch dunkel war, tat Nathan es dennoch ohne Furcht. Seit Jahren joggte er hier, und nie hatte er etwas Unangenehmes erlebt. Nathan hielt sich an einen gleichmäßigen Laufrhythmus. Die Luft war klirrend kalt, aber um nichts in der Welt hätte er auf seine tägliche Stunde Sport verzichtet.

Nach einer Dreiviertelstunde gleichmäßigen Laufens hielt er auf der Höhe der Traverse Road an, löschte seinen Durst und setzte sich einen Moment auf den Rasen.

Er dachte an die milden Winter Kaliforniens, an die Küste von San Diego, wo sich ein kilometerlanger Strand ideal fürs Laufen eignete. Für einen Augenblick sah er in Gedanken seine Tochter Bonnie, wie sie sich vor Lachen schüttelte.

Sie fehlte ihm so sehr, dass es schmerzte.

Das Gesicht seiner Frau Mallory und ihre großen, meerblauen Augen kamen ihm auch in den Sinn, aber er zwang sich, dieses Bild zu verdrängen.

Hör auf, mit dem Messer in der Wunde herumzustochern.

Dennoch blieb er auf dem Rasen sitzen, beherrscht von dieser grenzenlosen Leere, die er empfunden hatte, als sie gegangen war. Eine Leere, die ihn seit mehreren Monaten innerlich verzehrte.

Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass Schmerz solche Ausmaße annehmen konnte.

Er fühlte sich einsam und elend. Einen kurzen Moment lang füllten sich seine Augen mit Tränen, bis der eisige Wind sie vertrieb.

Er trank noch einen Schluck Wasser. Seit er am Morgen erwacht war, fühlte er einen seltsamen Schmerz in der Brust, etwas wie Seitenstechen, das seine Atmung behinderte.

Die ersten Flocken fielen. Nun erhob er sich doch, lief mit langen Schritten zum San Remo Building zurück, weil er noch duschen wollte, bevor er zur Arbeit aufbrach.

Nathan schlug die Tür des Taxis zu. Im dunklen Anzug und frisch rasiert betrat er den Glasturm an der Ecke Park Avenue und 52.Straße, in dem sich die Büros der Kanzlei Marble & March befanden. Von allen Anwaltskanzleien der Stadt war Marble die erfolgreichste. Sie beschäftigte über neunhundert Angestellte in allen Teilen der Vereinigten Staaten, und fast die Hälfte arbeitete nur in New York.

Nathan hatte seine Karriere bei Marble & March in San Diego begonnen, wo er so schnell zum Star der Kanzlei wurde, dass der Hauptgesellschafter Ashley Jordan ihn als Teilhaber vorschlug. Die Kanzlei in New York befand sich zu jener Zeit im Ausbau, sodass Nathan mit einunddreißig Jahren seine Koffer packte, um in die Stadt zurückzukehren, in der er aufgewachsen war und in der seine neue Stelle als stellvertretender Leiter der Abteilung Fusionen/Akquisitionen auf ihn wartete.

Eine ungewöhnliche Karriere für sein Alter.

Nathan hatte sein ehrgeiziges Ziel erreicht: Er war ein Rainmaker, einer der angesehensten und jüngsten Anwälte in seinem Bereich. Er hatte es ganz nach oben geschafft. Nicht durch Börsengewinne oder Erbschaften. Nein, er hatte das Geld mit seiner Arbeit verdient. Indem er einzelne Menschen und Gesellschaften verteidigte und dafür sorgte, dass Gesetze befolgt wurden.

Brillant, reich und hochmütig.

Das war Nathan Del Amico.

Von außen betrachtet.

Nathan beschäftigte sich den ganzen Vormittag mit den Mitarbeitern und kontrollierte ihre Arbeiten, um die laufenden Fälle auf den Punkt zu bringen. Gegen Mittag brachte Abby ihm einen Kaffee, Sesambrezeln und cream cheese.

Abby war seit mehreren Jahren seine Assistentin. Sie stammte aus Kalifornien und war bereit gewesen, ihm nach New York zu folgen, weil sie gut miteinander auskamen. Als Single mittleren Alters ging sie in ihrer Arbeit auf und besaß Nathans ganzes Vertrauen. Er zögerte niemals, ihr Verantwortung zu übertragen. Abby war außerordentlich fleißig und hatte eine Arbeitsmoral, mit der sie das Tempo ihres Chefs mühelos halten oder sogar beschleunigen konnte, selbst wenn sie sich dafür insgeheim mit Vitaminsäften und reichlich Koffein traktieren musste.

Da Nathan in der folgenden Stunde keinen Termin hatte, lockerte er seine Krawatte. Wirklich, der stechende Schmerz in der Brust war immer noch da. Er rieb sich die Schläfen und spritzte sich ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht.

Hör auf, an Mallory zu denken.

»Nathan?«

Abby trat ein ohne anzuklopfen, wie üblich, wenn sie allein waren. Sie besprach mit ihm seine Termine für den Nachmittag und fügte dann hinzu:

»Heute Morgen hat ein Freund von Ashley Jordan angerufen, er wollte dringend einen Termin. Ein gewisser Garrett Goodrich …«

»Goodrich? Nie gehört.«

»Ich glaube, er ist ein Sandkastenfreund von ihm, ein berühmter Arzt.«

»Und was kann ich für diesen Herrn tun?«, fragte Nathan und runzelte die Stirn.

»Ich weiß nicht, er hat sich nicht geäußert. Er sagte lediglich, Jordan meinte, Sie seien der Beste.«

Und das stimmt: Ich habe in meiner ganzen Karriere keinen einzigen Prozess verloren. Keinen einzigen.

»Versuchen Sie bitte, Ashley zu erreichen.«

»Er ist vor einer Stunde nach Baltimore gefahren. Sie wissen doch, der Fall Kyle …«

»Ach ja, genau … Wann wird dieser Goodrich kommen?«

»Ich habe ihm siebzehn Uhr vorgeschlagen.«

Sie stand bereits auf der Türschwelle, als sie sich umwandte.

»Bestimmt handelt es sich um einen Prozess gegen einen Arzt«, vermutete sie.

»Zweifellos«, pflichtete er ihr bei und versenkte sich wieder in seine Akten. »Wenn das zutrifft, verweisen wir ihn in die Abteilung im vierten Stock.«

Goodrich traf kurz vor siebzehn Uhr ein. Abby brachte ihn in Nathans Büro, ohne ihn warten zu lassen.

Er war ein Mann in den besten Jahren, hochgewachsen und kräftig gebaut. Sein eleganter langer Mantel und sein anthrazitfarbener Anzug unterstrichen seine Statur. Sicheren Schrittes betrat er das Büro. Er blieb in der Mitte des Raums stehen. Offensichtlich hatte er die Haltung eines Kämpfers, und das verlieh ihm eine starke Präsenz.

Mit einer lockeren Handbewegung schüttelte er seinen Mantel aus und reichte ihn dann Abby. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein gekonnt zerzaustes, grau meliertes Haar – das trotz seiner schätzungsweise sechzig Jahre sehr voll war –, strich sich über seinen kurzen Bart und musterte den Anwalt durchdringend.

Nathan fühlte sich unter Goodrichs Blick unbehaglich. Sein Atem beschleunigte sich auf seltsame Weise, und in Sekundenschnelle gerieten seine Gedanken durcheinander.

Kapitel 2

Dann sah ich einen Engel,

der in der Sonne stand.

Offenbarung, 19,17

»Geht es Ihnen gut, Sir?«

Du lieber Himmel, was ist mit mir los?

»Ja, ja … nur eine kleine Schwäche«, erwiderte Nathan und fing sich wieder. »Vermutlich ein bisschen überarbeitet .«

Goodrich schien das nicht zu überzeugen.

»Ich bin Arzt. Wenn Sie wollen, untersuche ich Sie, ich tu es gern«, schlug er mit sonorer Stimme vor.

Nathan rang sich ein Lächeln ab.

»Danke, es geht schon.«

»Ehrlich?«

»Seien Sie unbesorgt.«

Ohne darauf zu warten, dass Nathan ihn aufforderte, sich zu setzen, machte Goodrich es sich in einem Ledersessel bequem und betrachtete aufmerksam die Einrichtung des Büros. An den Wänden reihten sich Regale mit alten Büchern, in der Mitte des Raumes befand sich ein imposanter Schreibtisch zwischen einem Konferenztisch aus massivem Nussbaum und einem eleganten kleinen Sofa. Alles wirkte behaglich.

»Also, was erwarten Sie von mir, Dr.Goodrich?«, fragte Nathan nach kurzem Schweigen.

Der Arzt schlug die Beine übereinander und lehnte sich in seinem Sessel zurück, bevor er antwortete:

»Ich erwarte nichts von Ihnen, Nathan … Sie erlauben doch, dass ich Nathan zu Ihnen sage, nicht wahr?«

Sein Ton klang nach einer Feststellung, nicht nach einer Frage.

Der Anwalt ließ sich nicht aus der Fassung bringen:

»Sie haben mich doch aus beruflichen Gründen aufgesucht, nicht wahr? Unsere Kanzlei verteidigt auch Ärzte, die von ihren Patienten verklagt werden …«

»Zum Glück ist das bei mir nicht der Fall«, unterbrach ihn Goodrich. »Wenn ich ein Glas zu viel getrunken habe, lasse ich das Operieren bleiben. Es ist doch peinlich, wenn man das rechte Bein amputiert, obwohl das linke krank ist, oder?«

Nathan zwang sich zu lächeln.

»Was haben Sie dann für ein Problem, Dr.Goodrich?«

»Nun, ich habe ein paar Kilo zu viel, aber …«

». dafür benötigen Sie nicht unbedingt die Dienste eines Anwalts, was Sie mir bestimmt bestätigen werden.«

»Genau.«

Dieser Typ hält mich für einen Idioten.

Eine lähmende Stille breitete sich im Raum aus, obwohl keine große Spannung herrschte. Nathan war nicht leicht zu beeindrucken. Seine berufliche Erfahrung hatte ihn zu einem gefürchteten Gesprächspartner gemacht, und es war schwierig, ihn bei einem Gespräch zu verunsichern.

Er musterte sein Gegenüber aufmerksam. Wo nur hatte er diese hohe, breite Stirn schon mal gesehen, diesen kräftigen Kiefer, diese buschigen, eng zusammenstehenden Augenbrauen? Goodrichs Blick verriet keine Spur von Feindseligkeit, dennoch fühlte sich der Anwalt bedroht.

»Wollen Sie etwas trinken?«, bot er in einem, wie er hoffte, ruhigen Ton an.

»Gern, ein Glas San Pellegrino, wenn es möglich ist.«

»Das wird zu beschaffen sein«, versicherte Nathan, griff nach dem Hörer, um Abby darum zu bitten.

Während er auf sein Mineralwasser wartete, erhob sich Goodrich, trat vor das Regal und studierte nun interessiert die Bücher.

Ja doch, fühl dich ganz wie zu Hause, dachte Nathan gereizt.

Als der Arzt wieder Platz genommen hatte, betrachtete er aufmerksam den Briefbeschwerer – einen Schwan aus Silber –, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

»Damit könnte man durchaus einen Menschen töten«, bemerkte er und wog ihn in der Hand.

»Zweifellos«, stimmte Nathan mit gequältem Lächeln zu.

»In den alten keltischen Texten findet man viele Schwäne«, murmelte Goodrich wie zu sich selbst.

»Sie interessieren sich für die keltische Kultur?«

»Die Familie meiner Mutter stammt aus Irland.«

»Die Familie meiner Frau ebenfalls.«

»Sie meinen wohl Ihre Ex-Frau.«

Nathans Blick durchbohrte seinen Gesprächspartner.

»Ashley hat mir erzählt, dass Sie geschieden sind«, erklärte Goodrich seelenruhig und drehte sich auf seinem bequem gepolsterten Sessel.

Das fehlt noch, dass du diesem Kerl dein Leben beichtest.

»In den keltischen Texten«, fuhr Goodrich fort, »nehmen die Wesen aus der anderen Welt häufig die Form eines Schwans an, wenn sie auf die Erde kommen.«

»Sehr poetisch, aber können Sie mir erklären, was .«

In diesem Augenblick kam Abby mit einem Tablett herein, auf dem eine Flasche und zwei große Gläser mit Mineralwasser standen.

Der Arzt legte den Briefbeschwerer zurück und trank sein Glas aus – so langsam als genieße er jeden Tropfen.

»Haben Sie sich verletzt?«, fragte er und deutete auf eine Schramme an der linken Hand des Anwalts.

Dieser zuckte die Achseln.

»Das ist gar nichts: Ich habe beim Joggen ein Drahtgitter gestreift.«

Goodrich stellte sein Glas zurück und schlug einen belehrenden Ton an:

»In dem Augenblick, in dem Sie das sagen, erneuern sich Hunderte Ihrer Hautzellen. Wenn eine Zelle abstirbt, teilt sich eine andere, um sie zu ersetzen: Das ist das Phänomen der Gewebehomöostase.«

»Freut mich zu hören.«

»Gleichzeitig werden jeden Tag viele Neuronen Ihres Gehirns zerstört, und das seit Ihrem zwanzigsten Lebensjahr …«

»Ich denke, das ist das Schicksal aller menschlichen Wesen.«

»Genau, das ständige Pendeln zwischen Schöpfung und Zerstörung.«

Der Typ ist wahnsinnig.

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Weil der Tod überall ist. In jedem menschlichen Wesen, in allen Phasen seines Lebens herrscht eine Spannung zwischen zwei widersprüchlichen Kräften: den Kräften des Lebens und denen des Todes.« Nathan erhob sich und deutete auf die Tür des Büros. »Sie erlauben?«

»Bitte sehr.«

Er verließ den Raum und ging zu einem freien Arbeitsplatz im Zimmer der Sekretärinnen. Schnell klickte er sich ins Internet ein und durchforstete die Seiten der New Yorker Krankenhäuser.

Der Mann, der in seinem Büro saß, war kein Betrüger. Es handelte sich weder um einen Prediger noch um einen Geisteskranken, der einer Nervenheilanstalt entflohen war. Er hieß wirklich Garrett Goodrich, war Doktor der onkologischen Chirurgie, ehemaliger Assistenzarzt am Medical General Hospital in Boston, jetzt Chefarzt am Staten Island Hospital und Leiter der Abteilung Palliativmedizin dieses Krankenhauses.

Dieser Mann war ein hohes Tier, eine echte Koryphäe in der Welt der Medizin. Kein Zweifel: Es gab sogar ein Foto von ihm, und es zeigte eindeutig das gepflegte Gesicht des Sechzigjährigen, der im Nebenraum auf ihn wartete.

Nathan prüfte aufmerksam die Karriere seines Gastes: Seines Wissens war er nie in einem der Krankenhäuser gewesen, die den beruflichen Aufstieg von Doktor Garrett Goodrich markierten. Warum also kam er ihm so bekannt vor?

Diese Frage bewegte ihn, als er in sein Büro zurückkehrte.

»Also, Garrett, Sie haben mir vorhin vom Tod erzählt? Sie erlauben doch, dass ich Garrett zu Ihnen sage, nicht wahr?«

»Ich habe Ihnen vom Leben erzählt, Del Amico, vom Leben und von der Zeit, die vergeht.«

Nathan nutzte diese Worte, um einen ostentativen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen, womit er andeuten wollte, dass »die Zeit tatsächlich vergeht« und seine Zeit kostbar war.

»Sie arbeiten zu viel«, bemerkte Goodrich lakonisch.

»Ich bin sehr gerührt, dass sich jemand um meine Gesundheit sorgt, ehrlich.«

Erneut breitete sich diese Stille zwischen ihnen beiden aus, eine Stille, die gleichermaßen vertraulich und bedrückend wirkte. Dann stieg die Spannung: »Zum letzten Mal: Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«

»Nathan, ich glaube, ich könnte Ihnen dienen.«

»Im Augenblick sehe ich nicht, womit.«

»Das kommt noch, Nathan, das kommt noch. Einige Prüfungen können schmerzlich sein, Sie werden das bald erkennen.«

»Worauf genau spielen Sie an?«

»Auf die Notwendigkeit, gut vorbereitet zu sein.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Wer weiß denn, was morgen sein wird? Es kommt darauf an, im Leben die richtigen Prioritäten zu setzen.«

»Das ist ein sehr tiefsinniger Gedanke«, spottete der Anwalt. »Soll das eine Art Drohung sein?«

»Keine Drohung, Nathan, sondern eine Botschaft.«

Eine Botschaft?

Nach wie vor war in Goodrichs Blick keine Feindseligkeit zu erkennen, was aber nicht unbedingt zu Nathans Beruhigung beitrug.

Wirf ihn raus, Nathan. Dieser Typ redet Unsinn. Spiel nicht sein Spiel.

»Vielleicht sollte ich es Ihnen nicht sagen, aber ich tu es trotzdem: Wenn Sie nicht auf Empfehlung von Ashley Jordan hier wären, würde ich den Sicherheitsdienst rufen und Sie vor die Tür setzen lassen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, lächelte Goodrich.

»Zu Ihrer Information: Ich kenne Ashley Jordan nicht.«

»Ich dachte, Sie seien mit ihm befreundet!«

»Das war nur ein Trick, um bei Ihnen vorgelassen zu werden.«

»Hören Sie, wenn Sie Jordan nicht kennen, wer hat Ihnen dann gesagt, dass ich geschieden bin?«

»Das steht in Ihrem Gesicht geschrieben.«

Damit war das Fass übergelaufen … Der Anwalt erhob sich mit einem Ruck, riss unbeherrscht und heftig die Tür auf.

»Ich habe zu arbeiten.«

»Sie glauben nicht, was man Ihnen sagt, und deshalb verlasse ich Sie … fürs Erste.«

Goodrich erhob sich von seinem Sessel. Seine kräftige Gestalt wirkte im Gegenlicht wie ein unzerstörbarer mächtiger Koloss. Er wandte sich zur Tür und ging hinaus, ohne sich umzudrehen.

»Aber was wollen Sie denn eigentlich von mir?«, fragte Nathan hilflos.

»Ich glaube, Sie wissen es, Nathan, ich glaube, Sie wissen es genau«, rief Goodrich aus dem Flur.

»Ich weiß gar nichts!«, erwiderte der Anwalt mit Nachdruck.

Er schlug die Tür seines Büros zu, riss sie wieder auf, nur um in den Flur zu schreien:

»Ich weiß nicht mal, wer Sie sind.«

Aber Garrett Goodrich war bereits verschwunden.

Lesen Sie weiter in der vollst?ndigen Ausgabe!

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