Eine Geschichte, die uns verbindet - Guillaume Musso - E-Book

Eine Geschichte, die uns verbindet E-Book

Guillaume Musso

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Beschreibung

Grenzenlos fantasievoll, endlos vielschichtig: Guillaume Musso hat die außergewöhnlichste Belletristik-Neuerscheinung 2021 geschrieben! Ein Mädchen verschwindet, eine Mutter steht am Rande des Zusammenbruchs – doch die eigentliche Geschichte schreibt jemand anderes. Dieser Roman ist außergewöhnlich große Literatur. Eine Geschichte für ein Leben … Jeder Autor ist Herr und Meister über seine Figuren. Doch was passiert, wenn die Konsequenzen jedes geschriebenen Satzes plötzlich ganz real und erschreckend lebensbedrohlich werden? "Eine Geschichte, die uns verbindet" von Frankreichs Erfolgsautor Guillaume Musso hebt den Schleier zwischen Realität und Fiktion nicht nur vorsichtig an. Die außergewöhnliche Erzählung über das Schicksal zweier Literaten reißt diese Grenzen förmlich ein. Schriftstellerin Flora steht in den USA buchstäblich am Rande des Abgrunds: Nach dem Verschwinden ihrer Tochter keimt in ihr der Verdacht, dass jemand ein Spiel mit ihrem Schicksal spielt. Um die Wahrheit zu erkunden, steigt sie auf ein Dach und tritt immer näher an die Kante. Auf der anderen Seite der Welt sitzt Erfolgsautor Romain Ozorski in Frankreich wie gelähmt vor seinem Manuskript: Seine Hauptfigur – Mutter, Schriftstellerin, verschwundenes Kind – droht plötzlich, sich mit einem Schritt über die Dachkante umzubringen … Kein Liebesroman, kein Thriller – und doch alles zusammen. Entdecken Sie das Geheimnis! Mit unbändiger Fantasie und unkonventionellen Wendungen schraubt sich "Eine Geschichte, die uns verbindet" zu neuen literarischen Höhen, die nicht nur von der Kritik begeistert aufgenommen wurden. Dieses Buch ist ein eigenes Genre, ein Rätsel der Literatur, ein französischer Roman mit großem internationalem Flair. So faszinierend wie »Das Papiermädchen«, so spannend wie »Das Mädchen aus Brooklyn« SPIEGEL-Bestsellerautor Guillaume Musso gilt zurecht als Meister der Raffinesse. Seine zahllosen Leser auf der ganzen Welt folgen begeistert seiner intelligenten Form der Frauenunterhaltung, die Gefahren und Selbstbewusstsein zu dichten Werken mit mehr als Schmöker-Potenzial verwebt.

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Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge (Kollektiv Druck-Reif)

Für Nathan

© Calmann-Lévy 2020

© Titel der französischen Originalausgabe:

»La vie est un roman«, Calmann-Lévy, Paris 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2021

Illustrationen: © Matthieu Forichon

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Mark Owen / trevillion images; Brian Kinney / Alamy Stock Photo; FinePic®, München

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Inhalt

Cover & Impressum

Samstag 3. Juni

Die walisische Romanautorin …

Das Mädchen im Labyrinth

1 Versteckt

1.

2.

3.

Auszug aus …

2 Ein Gespinst aus Lügen

1.

2.

3.

4.

3 Das sechsunddreißigste Untergeschoss

1.

2.

3.

4.

5.

6.

4 Tschechows Gewehr

1.

2.

3.

Eine Roma(i)nfigur

5 Zeitenfolge

1.

2.

3.

6 Eine Falle für den Helden

1.

2.

3.

4.

5.

7 Eine Person sucht einen Autor

1.

2.

3.

8 Almine

1.

2.

3.

4.

5.

9 Der Lauf der Geschichte

1.

2.

3.

4.

5.

10 Das Reich des Schmerzes

1.

2.

3.

Bei Tageslicht

Die Tochter der …

11 Das Stundengebet

In New York …

Die dritte Seite des Spiegels

12 Théo

1.

2.

Der Schriftsteller …

13 Der Ruhm meines Vaters

1.

2.

3.

Der Verlag …

14 Die Liebe, die uns folgt

Fantine

Romain

Fantine

Quartier du …

Fantine

Romain

Fantine

Romain

Klinikzentrum Bastia

Das letzte Mal, als ich Flora sah

1.

2.

3.

Samstag, 10. Juni

Anmerkungen

Samstag 3. Juni, 10 Uhr 30 morgens

Furchtbare Angstgefühle. Ich möchte gerne heute nachmittag einen Roman anfangen. Seit zwei Wochen bereite ich mich darauf vor. In den letzten zehn Tagen habe ich mit meinen Personen in ihrer Umgebung gelebt. Ich habe soeben meine vier Dutzend neuen Bleistifte gespitzt, und meine Hand fing dabei so sehr zu zittern an, daß ich ein halbes Belladenal genommen habe.

Werde ich es schaffen? […] Im Augenblick habe ich großen Bammel und spüre jedesmal die Versuchung, das Ganze zu verschieben oder das Schreiben überhaupt aufzugeben.

Georges Simenon, Als ich alt war[1]

Die walisische Romanautorin Flora Conway, Trägerin des Franz-Kafka-Preises

AFP, 20. Oktober 2009

Die äußerst publikumsscheue neununddreißigjährige Romanautorin wird mit dem angesehenen Preis ausgezeichnet, der alljährlich für das Gesamtwerk einer Autorin oder eines Autors vergeben wird.

Flora Conway, die unter einer Sozialphobie leidet und Menschenansammlungen, Reisen und Journalisten aus tiefstem Herzen verabscheut, war an diesem Dienstagabend nicht nach Prag gereist, um an der Zeremonie im Rathaus der Stadt teilzunehmen.

An ihrer Stelle nahm ihre Verlegerin Fantine de Vilatte den Preis entgegen – eine kleine Kafka-Statue aus Bronze und das Preisgeld in Höhe von zehntausend Dollar. »Ich habe soeben mit Flora telefoniert. Sie bedankt sich sehr herzlich. Dieser Preis ist ihr eine besondere Freude, da das Werk Kafkas ein nie versiegender Quell der Bewunderung, der Reflexion und Inspiration für sie ist«, versicherte Mme de Vilatte.

Der von der Franz-Kafka-Gesellschaft gemeinsam mit der Stadt Prag verliehene Preis wird seit 2001 von einer internationalen Jury vergeben. Zu den Preisträgern zählen Philip Roth, Václav Havel, Peter Handke oder auch Haruki Murakami.

Flora Conways 2004 erschienener erster Roman, The Girl in the Labyrinth rückte sie ins Rampenlicht der Literaturszene. Das in mehr als zwanzig Sprachen übersetzte und von der Kritik sofort als Klassiker gefeierte Werk schildert das Leben mehrerer New Yorker am Tag vor dem Terroranschlag auf das World Trade Center. Alle begegnen sich im Labyrinth, einer Bar an der Bowery, in der Flora Conway vor der Veröffentlichung ihres Romans als Kellnerin gearbeitet hatte. Es folgten zwei weitere Titel, The Equilibrium of Nash und The End of the Feelings, die ihren Ruf als bedeutende Romanautorin des frühen 21. Jahrhunderts festigten.

In ihrer Dankesrede freute sich Fantine de Vilatte im Übrigen darüber, das baldige Erscheinen eines neuen Romans der Autorin ankündigen zu können. Diese Information verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der literarischen Welt, so sehr gilt das Erscheinen eines neuen Conways als bedeutendes Ereignis.

Ohne je ein Geheimnis um ihre Person gemacht zu haben, trat Flora Conway nie im Fernsehen auf, nahm niemals an einer Rundfunksendung teil, und ihr Verlag verwendete stets dasselbe Foto von ihr.

Bei jeder Neuerscheinung begnügte die Autorin sich damit, homöopathisch dosiert einige Interviews per E-Mail zu geben. Mehrfach erklärte Mrs Conway, sich von den Zwängen und Heucheleien des Ruhms befreien zu wollen. In einer Kolumne des Guardian erklärte sie kürzlich, sie weigere sich, am Medienzirkus teilzunehmen, den sie verabscheut, und sie fügte hinzu, sie schreibe Romane, um eben »dieser von Bildschirmen dominierten, intelligenzlosen Welt zu entfliehen«.

Dieser Entschluss entspringt einer Haltung, die sie mit anderen zeitgenössischen Künstlern teilt – Banksy, Invader, der Gruppe Daft Punk oder auch der italienischen Romanautorin Elena Ferrante –, für die die Anonymität ein Mittel ist, das Werk und nicht den Künstler in den Vordergrund zu stellen. »Sobald mein Buch erschienen ist, genügt es sich selbst«, bekräftigte Flora Conway.

Sicherlich hatten einige Beobachter gehofft, die Verleihung des Kafka-Preises würde die Schriftstellerin dazu bewegen, ihren New Yorker Schlupfwinkel zu verlassen. Doch auch dieses Mal mussten sie sich leider eines Besseren belehren lassen.

Blandine Samson

Das Mädchen im Labyrinth

1 Versteckt

Die Geschichte, die sich direkt vor unserer Nase vollzieht, sollte eigentlich am klarsten sein, und doch ist sie am schwierigsten zu fassen.

Julian Barnes, Vom Ende einer Geschichte[2]

1.

Brooklyn, Herbst 2010

Vor einem halben Jahr, am 12. April 2010, wurde meine dreijährige Tochter Carrie Conway entführt, als wir beide in meiner Wohnung in Williamsburg Verstecken spielten.

Es war ein schöner Nachmittag, hell und sonnig, wie New York im Frühling viele zu bieten hat. Getreu meiner Gewohnheit hatte ich Carrie zu Fuß von ihrer Vorschule abgeholt, der Montessori School am McCarren-Park. Auf dem Rückweg hatten wir bei Marcello’s haltgemacht, um ein Früchtekompott und ein Cannolo, sizilianisches Gebäck mit Zitronenfüllung, zu kaufen. Während Carrie beides verspeiste, hüpfte sie fröhlich neben ihrem Buggy her.

Zu Hause, am Eingang des Lancaster Building, Berry Street 396, angekommen, schenkte der neue Portier, Trevor Fuller Jones, der erst seit knapp drei Wochen hier Dienst tat, Carrie einen Honig-Sesam-Lutscher, allerdings verbunden mit dem Versprechen Carries, nicht gleich alles aufzuessen. Dann meinte er, es sei doch ein großes Glück, eine Schriftstellerin als Mama zu haben, weil sie ihr sicher beim Zubettgehen schöne Geschichten erzählte. Lachend wies ich ihn darauf hin, dass er, um so etwas sagen zu können, wohl noch nie einen Blick in einen meiner Romane geworfen habe, was er auch zugab.

»Das stimmt, ich habe keine Zeit zum Lesen, Mrs Conway«, behauptete er.

»Sie nehmen sich nicht die Zeit, Trevor, das ist nicht dasselbe«, antwortete ich ihm, während sich die Aufzugtüren schlossen.

Wie es unser bewährtes Ritual verlangte, hob ich Carrie hoch, damit sie auf den Knopf für die sechste und oberste Etage drücken konnte. Die Kabine setzte sich mit einem metallischen Knarren in Bewegung, das uns beide inzwischen nicht mehr erschreckte. Das Lancaster war ein altes Gebäude in Gusseisen-Architektur, das gerade renoviert wurde. Ein unglaublicher Palast mit großen, von korinthischen Säulen umrahmten Fenstern. Früher hatte es einmal als Lager für eine Spielzeugfabrik gedient, die es seit Anfang der 1970er-Jahre nicht mehr gab. Aufgrund der Deindustrialisierung hatte das Gebäude beinahe dreißig Jahre lang leer gestanden, bis man es schließlich zum Wohnhaus umbaute, als es Mode wurde, in Brooklyn zu wohnen.

Sobald wir das Apartment betraten, zog Carrie ihre kleinen Turnschuhe aus, um in ihre hellrosa Hausschuhe mit Bommeln zu schlüpfen. Sie folgte mir zur Stereoanlage, schaute zu, wie ich eine Schallplatte auflegte – das Klavierkonzert in G-Dur von Ravel – und den Tonabnehmer beim zweiten Satz aufsetzte. Vor Vorfreude auf die Musik, die gleich ertönen würde, klatschte sie in die Hände. Anschließend hing sie einige Minuten an meinem Rockzipfel, während sie wartete, bis ich die Wäsche fertig aufgehängt hatte, um mich dann zum Versteckspielen aufzufordern.

Es war mit Abstand ihr Lieblingsspiel. Ein Spiel, das eine große Faszination auf sie ausübte.

In ihrem ersten Lebensjahr beschränkte sich das Spiel »Kuckuck, wo bin ich« für Carrie darauf, ihre kleinen Hände mit gespreizten Fingern vor die Augen zu halten, sodass diese nur halb verdeckt waren. Ich verschwand für wenige Sekunden aus ihrem Blickfeld, bis mein Gesicht wie durch Zauberei wieder vor ihr auftauchte, woraufhin sie in lautes Lachen ausbrach. Mit der Zeit hatte sie schließlich das Prinzip, sich selbst zu verstecken, in ihr Spiel integriert. Sie verkroch sich hinter einem Vorhang oder unter einem niedrigen Tisch. Immer schaute jedoch ein Stück ihres Fußes, ein Ellenbogen oder ein nur halb angewinkeltes Bein heraus, um ihre Anwesenheit zu signalisieren. Gelegentlich, wenn sich das Spiel zu lange hinzog, wedelte sie sogar mit der Hand, damit ich sie schneller fand.

Je größer sie wurde, desto komplexer wurde das Spiel. Carrie hatte sich andere Zimmer der Wohnung erschlossen, was die Möglichkeiten vervielfachte: hinter einer Tür kauernd, zusammengerollt in der Badewanne, unter der Bettdecke verborgen, flach unter ihrem Bett liegend.

Auch die Regeln hatten sich verändert. Das Verstecken war inzwischen eine ernste Angelegenheit.

Bevor ich sie zu suchen begann, musste ich mich nun zur Wand drehen, die Augen schließen und laut und deutlich bis zwanzig zählen.

Genau das tat ich an diesem Nachmittag des zwölften April, während die Sonne hinter den Wolkenkratzern strahlte und die Wohnung in einem warmen, fast unwirklichen Licht badete.

»Nicht schummeln, Mummy!«, schimpfte sie, obwohl ich das Ritual genau befolgte.

Die Hände vor den Augen, begann ich in meinem Zimmer laut zu zählen, nicht zu langsam, nicht zu schnell.

»Eins, zwei, drei, vier, fünf …«

Ich erinnere mich genau an das gedämpfte Geräusch ihrer kleinen Schritte auf dem Parkett. Carrie hatte den Raum verlassen. Ich hörte, wie sie das Wohnzimmer durchquerte, den Eames-Sessel zur Seite schob, der vor der großen Glaswand thronte.

»… sechs, sieben, acht, neun, zehn …«

Alles war gut. Meine Gedanken schweiften ab, getragen von den kristallklaren Klängen, die aus dem Wohnzimmer herüberkamen. Meine Lieblingsstelle in diesem Adagio. Der Dialog zwischen Englischhorn und Klavier.

»… elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn …«

Eine lange dahinperlende musikalische Phrase, die mit einem sanften Regen verglichen worden war, gleichmäßig und ruhig.

»… sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig.«

Augen auf.

2.

Ich öffnete die Augen und verließ den Raum.

»Achtung, aufgepasst, Mummy kommt!«

Ich ließ mich auf das Spiel ein. Lachend übernahm ich die Rolle, die sie von mir erwartete. Ich lief durch die Zimmer und kommentierte scherzend meine Versuche: »Unter den Kissen, keine Carrie … hinter dem Sofa, keine Carrie …«

Psychologen behaupten, dass Versteckspiele eine pädagogische Bedeutung haben: Sie sind eine Möglichkeit, das Kind auf positive Weise mit Trennung experimentieren zu lassen. Durch die Wiederholung dieser temporären und spielerischen Entfernung soll das Kind die Stärke der Bindung zu seinen Eltern erfahren. Um seine Wirkung zu entfalten, muss das Spiel nach einer echten Dramaturgie funktionieren und innerhalb kurzer Zeit eine breite Palette an Emotionen liefern: Aufregung, Erwartung und einen Hauch von Angst, die jedoch bald der Freude des Wiedersehens wichen.

Damit sich alle diese widersprüchlichen Gefühle entfalten können, muss das Vergnügen eine Weile andauern, und die Spannung darf nicht zu schnell aufgelöst werden. Natürlich wusste ich meistens, wo Carrie sich versteckt hatte, noch bevor ich die Augen wieder öffnete. Dieses Mal jedoch nicht. Und nach zwei oder drei ein wenig theatralischen Minuten beschloss ich, nicht länger so zu tun, als ob, sondern ich begann sie zu suchen. Wirklich zu suchen.

Auch wenn die Räumlichkeiten weitläufig sind – eine Art großer Glaswürfel mit zweihundert Quadratmetern in der Westecke des Gebäudes –, sind die Versteckmöglichkeiten dennoch nicht unbegrenzt. Ich hatte die Wohnung einige Monate zuvor gekauft und dafür meine gesamten Tantiemen investiert. Der Ansturm auf das zu Apartments umgebaute und sanierte alte Lancaster Building war groß gewesen, und obgleich die Arbeiten noch längst nicht abgeschlossen waren, war die Wohnung, die ich im Blick hatte, bereits die letzte, die noch zum Verkauf stand. Gleich bei der ersten Besichtigung hatte ich mich in das Ambiente verliebt, und um die Wohnung zu bekommen und möglichst schnell einziehen zu können, sogar akzeptiert, dem Bauträger ein Schmiergeld zu zahlen. Sofort nach dem Einzug hatte ich sämtliche Wände einreißen lassen, um ein Loft mit honigblondem Parkettboden und minimalistischer Einrichtung zu erhalten. Die letzten Male, als ich mit Carrie gespielt hatte, war es ihr gelungen, ausgeklügelte Verstecke zu finden: erfindungsreich war sie hinter den Wäschetrockner oder in den Besenschrank geschlüpft.

Geduldig, wenn auch inzwischen ein wenig ungehalten, suchte ich sie weiter in allen Ecken und Winkeln, hinter jedem Möbelstück. Dann begann ich von vorn. In meiner Hektik stieß ich gegen die Eichenkonsole, auf der die Schallplatten und der Plattenspieler standen. Dadurch sprang der Tonabnehmer aus der Rille, die Musik verstummte, und der Raum war in Stille getaucht.

In diesem Augenblick bekam ich ein flaues Gefühl im Magen.

»Es ist gut, mein Schätzchen, du hast gewonnen. Komm jetzt bitte aus deinem Versteck!«

Ich eilte in den Vorraum, um die verstärkte Eingangstür zu überprüfen: sie war doppelt abgeschlossen. Der Schlüssel, der an einem Bund hing, steckte im oberen Schloss, also außerhalb der Reichweite eines Kindes.

»Carrie! Komm aus deinem Versteck, habe ich gesagt, du hast gewonnen!«

Mit aller Vernunft, zu der ich fähig war, versuchte ich die Panik, die mich zu überwältigen drohte, unter Kontrolle zu halten. Carrie musste in der Wohnung sein. Da der Schlüssel im Schloss steckte, konnte die Tür auch mit einem Zweitschlüssel nicht von außen geöffnet werden. Die Fenster konnte man seit der Renovierung des Gebäudes nicht mehr öffnen. Also hatte weder Carrie die Wohnung verlassen, noch hatte jemand anderes sie betreten können.

»Carrie! Sag mir, wo du bist.«

Ich war außer Atem, als sei ich durch den halben Central Park gerannt. Auch wenn ich den Mund öffnete, um Luft zu holen, drang diese nicht bis in meine Lunge vor. Das ist doch unmöglich. Man kann nicht bei einem Versteckspiel in der Wohnung verschwinden. Es ist ein Spiel, das immer gut endet. Das Verschwinden ist eine symbolische und vorübergehende Inszenierung. Anders kann es nicht sein. Dies ist in der DNA des Spielkonzepts verankert: Man akzeptiert dieses Spiel nur, weil man die Gewissheit hat, den anderen wiederzufinden.

»Carrie, es reicht jetzt! Mummy mag nicht mehr!«

Mummy mochte nicht mehr, vor allem jedoch hatte Mummy Angst. Ein drittes und viertes Mal überprüfte ich alle üblichen Verstecke, dann kontrollierte ich alle ungewöhnlichen: die Waschmaschinentrommel, den Kaminabzug, der seit Ewigkeiten verschlossen war. Ich schob den schweren Kühlschrank zur Seite, schaltete sogar die Hauptsicherung aus, um das Gehäuse im Zwischenboden öffnen zu können, in dem sich die Leitungen für die Klimaanlage befanden.

»CARRIE!«

Mein Schrei hallte in der gesamten Wohnung wider, bis die Scheiben vibrierten. Aber das Echo verlor sich, und es wurde wieder still. Draußen war die Sonne verschwunden. Es war kalt. Als würde der Winter ohne Vorwarnung erneut zuschlagen.

Einen Moment lang stand ich wie erstarrt da, in Schweiß gebadet, Tränen liefen mir über die Wangen. Als ich wieder zur Besinnung kam, bemerkte ich einen von Carries Hausschuhen im Eingangsflur. Ich hob den kleinen Pantoffel aus hellrosa Velours auf. Es war der linke. Ich suchte den anderen Hausschuh, aber er schien ebenso wie Carrie verschwunden zu sein.

Da beschloss ich, die Polizei zu rufen.

3.

Der erste Polizist, der eintraf, war Detective Mark Rutelli vom 90. Polizeirevier, das für den Norden von Williamsburg zuständig war. Der Beamte war offensichtlich nicht mehr weit vom Ruhestand entfernt. Obgleich er müde aussah und dunkle Schatten unter den Augen hatte, begriff er die Dringlichkeit der Situation sofort und gab sich jede erdenkliche Mühe. Nach einer erneuten eingehenden Inspektion der Wohnung forderte er Verstärkung an, um das gesamte Gebäude zu durchsuchen,zog die Spurensicherung hinzu, schickte zwei Beamte los, um die Bewohner des Lancaster Buildings zu befragen, und sah sich persönlich zusammen mit dem Hausmeisterteam die Überwachungsvideos an.

Von Anfang an hatte ihn der einzelne Hausschuh dazu bewogen, einen »Entführungsalarm« auszulösen, doch die State Police benötigte für eine solche Genehmigung konkrete Fakten.

Je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde meine Angst. Ich war völlig verloren, unfähig, herauszufinden, wie ich mich nützlich machen könnte, und dennoch begierig darauf, es zu sein. Ich hinterließ meiner Verlegerin eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: »Fantine, ich brauche deine Hilfe, Carrie ist verschwunden, die Polizei ist da, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich bin krank vor Sorge, bitte rufe mich sofort zurück.«

Bald wurde der Himmel über Brooklyn dunkel. Carrie war nicht nur verschwunden, sondern die Ermittlungen der NYPD, der New Yorker Polizeibehörde, hatten bisher nicht die geringste Spur ergeben. Meine Tochter schien sich in Luft aufgelöst zu haben, von einem Erlkönig in die Dunkelheit davongetragen, der einen Augenblick meiner Unaufmerksamkeit genutzt hatte.

Um zwanzig Uhr traf Rutellis Vorgesetzte, Lieutenant Frances Richard, auf dem Vorplatz des Lancaster Buildings ein, wohin man auch mich geschickt hatte, während meine Wohnung und der Keller durchsucht wurden.

»Wir überwachen Ihren Telefonanschluss«, informierte sie mich. Sie schlug den Kragen ihrer Regenjacke hoch. Die Straße war abgeriegelt, und ein eisiger Wind fegte durch die Berry Street.

»Es ist nicht auszuschließen, dass der- oder diejenige Person, die Ihre Tochter entführt hat, versuchen wird, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, entweder um ein Lösegeld zu fordern, oder aus einem anderen Grund. Im Moment müssen Sie jedoch mit uns aufs Kommissariat kommen.«

»Warum denn? Wie hätte sie entführt werden können? Die Tür war …«

»Genau das wollen wir herausfinden, Ma’am.«

Ich hob den Kopf zu der massigen Silhouette des Gebäudes, das sich gegen die Dunkelheit abzeichnete. Irgendetwas sagte mir, dass Carrie noch im Haus war und ich einen Fehler beging, wenn ich mich entfernte. In der Hoffnung auf Unterstützung suchte ich Rutellis Blick, aber er schlug sich auf die Seite seiner Vorgesetzten.

»Folgen Sie uns, Ma’am. Sie müssen uns noch einige Fragen detaillierter beantworten.«

Auszug aus der Vernehmung von Mrs Flora Conway

Durchgeführt Montag 12. April 2010 durch Detective Mark Rutelli und Lieutenant Frances Richard in den Räumen des 90. Bezirks, 211 Union Ave, Brooklyn, NY 11211.

20:18 Uhr

Lieutenant Richard(in ihren Notizen nachlesend): Sie haben uns gesagt, dass Carries Vater Romeo Filippo Bergomi heißt. Er ist Tänzer an der Pariser Oper, richtig?

Flora Conway: Er ist Tänzer im Rang eines »Coryphée«.

Detective Rutelli: Und was bedeutet das im Klartext?

Flora Conway: In der Hierarchie der Oper gibt es die Solotänzer, die sogenannten »Étoiles«, dann die ersten Tänzer, anschließend die »Sujets«, gefolgt von den »Coryphées«.

Lt. Richard: Wollen Sie damit sagen, dass er ein Loser ist?

Flora Conway: Nein, ich habe lediglich Ihre Frage beantwortet.

Lt. Richard: Mr Bergomi ist heute sechsundzwanzig Jahre alt, richtig?

Flora Conway: Ich vermute, Sie haben das überprüft.

Det. Rutelli: Ja, wir haben Kontakt mit ihm aufgenommen, was Sie auch hätten tun sollen. Er schien sehr beunruhigt. Er hat eiligst einen Flug gebucht und wird morgen Vormittag in New York eintreffen.

Flora Conway: Das wäre allerdings das erste Mal, dass er sich um seine Tochter Sorgen macht. Bisher hat er sich nicht um sie gekümmert.

Det. Rutelli: Nehmen Sie ihm das übel?

Flora Conway: Nein, das ist mir sogar sehr recht.

Det. Rutelli: Glauben Sie, Mr Bergomi oder jemand aus seinem Umfeld könnte Carrie etwas angetan haben?

Flora Conway: Das glaube ich nicht, beschwören könnte ich es allerdings nicht. Ich kenne ihn nicht wirklich.

Lt. Richard: Sie kennen den Vater Ihres Kindes nicht?

20:25 Uhr

Det. Rutelli: Haben Sie Feinde, Mrs Conway?

Flora Conway: Nicht dass ich wüsste.

Det. Rutelli: Aber es gibt doch sicher gewisse Feindschaften. Wer könnte etwas gegen eine anerkannte Romanautorin, wie Sie es sind, haben? Weniger erfolgreiche Kollegen?

Flora Conway: Ich habe keine »Kollegen«. Ich gehe nicht in eine Fabrik oder in ein Büro.

Det. Rutelli: Gut, Sie verstehen, was ich sagen will. Es wird immer weniger gelesen, oder? Demnach müssen die vorderen Ränge doch begehrt sein. Das muss zu Spannungen unter den Autoren führen, zu Eifersüchteleien …

Flora Conway: Mag sein, aber nicht in einem Maß, um deswegen ein Kind zu entführen.

Lt. Richard: Welche Art Romane schreiben Sie?

Flora Conway: Sicher nicht die Art, die Sie lesen.

Det. Rutelli: Und seitens Ihrer Leser? Ist Ihnen da ein verrückter Fan aufgefallen wie in der Geschichte Misery? Haben Sie Briefe oder Mails von Lesern erhalten, die zu aufdringlich waren?

Flora Conway: Ich lese die Post meiner Leser nicht, aber meine Verlegerin macht dies sicherlich. Sie können sie fragen.

Det. Rutelli: Warum lesen Sie diese Post nicht? Interessiert es Sie nicht zu erfahren, was Ihre Leser über Ihre Bücher denken?

Flora Conway: Nein.

Lt. Richard: Warum nicht?

Flora Conway: Der Schriftsteller schreibt, was er kann, der Leser liest, was er will.

20:29 Uhr

Det. Rutelli: Ist die Schriftstellerei ein einträgliches Geschäft?

Flora Conway: Das schwankt.

Det. Rutelli: Wir haben Ihre Bankkonten überprüft, und man kann nicht gerade sagen, dass Sie im Geld schwimmen …

Flora Conway: Ich habe sämtliche Tantiemen dafür verwendet, meine Wohnung zu kaufen und sie zu renovieren.

Det. Rutelli: Stimmt, eine derartige Wohnung muss eine Menge Geld kosten.

Flora Conway: Mir war das wichtig.

Lt. Richard: Was war Ihnen wichtig?

Flora Conway: Wände zu haben, die mich schützen.

Det. Rutelli: Vor wem schützen?

20:34 Uhr

Lt. Richard(In der Hand die Meldung der Agence France-Presse): Wie ich sehe, hat man gestern in der Presse über Sie berichtet. Ich weiß, das ist jetzt nicht der passende Moment dafür, aber Glückwunsch zum Kafka-Preis.

Flora Conway: Stimmt, dafür ist jetzt nicht der passende Moment …

Lt. Richard: Sie sind also nicht nach Prag gereist, um Ihren Preis entgegenzunehmen, weil Sie, ich zitiere die Agenturmeldung, unter einer »Sozialphobie« leiden. Ist das richtig?

Flora Conway: …

Det. Rutelli: Ist das richtig, Ms Conway?

Flora Conway: Ich würde wirklich gern wissen, was in Ihrem Kopf vorgeht, dass Sie Ihre Zeit damit verplempern, mir solche Fragen zu stellen, anstatt lieber …

Lt. Richard: Wo waren Sie gestern Abend? In Ihrer Wohnung mit Ihrer Tochter?

Flora Conway: Gestern Abend bin ich ausgegangen.

Lt. Richard: Wo waren Sie?

Flora Conway: In Bushwick.

Det. Rutelli: Bushwick ist groß.

Flora Conway: In einer Bar an der Frederick Street, dem Boomerang.

Lt. Richard: Ist es nicht merkwürdig, in eine Bar zu gehen, wenn man unter einer Sozialphobie leidet?

Flora Conway: Okay, diese Geschichte mit der Sozialphobie ist Unsinn, eine Erfindung meiner Verlegerin Fantine, um es mir zu ersparen, Journalisten und Leser treffen zu müssen.

Det. Rutelli: Warum wollen Sie die denn nicht treffen?

Flora Conway: Weil das nicht mein Job ist.

Det. Rutelli: Und was ist Ihr Job?

Flora Conway: Bücher zu schreiben, nicht, sie zu verkaufen.

Lt. Richard: Gut, kommen wir auf die Bar zurück. Wer passt normalerweise auf Carrie auf, wenn Sie weggehen?

Flora Conway: Meistens eine Babysitterin. Oder Fantine, wenn ich niemanden finde.

Det. Rutelli: Und gestern Abend? Während Sie im Boomerang waren?

Flora Conway: Eine Babysitterin.

Det. Rutelli: Wie heißt sie?

Flora Conway: Keine Ahnung. Ich rufe bei Bedarf eine Babysitter-Agentur an, aber sie schicken nie dasselbe Mädchen.

20:35 Uhr

Det. Rutelli: Und in dieser Bar, was haben Sie da gemacht?

Flora Conway: Das, was man üblicherweise in einer Bar macht.

Det. Rutelli: Sie haben also getrunken?

Lt. Richard: Sie haben Typen angebaggert?

Flora Conway: Das gehört zu meiner Arbeit.

Det. Rutelli: Ihre Arbeit besteht darin, etwas trinken zu gehen?

Lt. Richard: Und Typen anzubaggern?

Flora Conway: Meine Arbeit besteht darin, mich an verschiedene Orte zu begeben, um Leute zu beobachten, mit ihnen zu sprechen, zu versuchen, ihr Privatleben zu erraten und mir ihre Geheimnisse vorzustellen. Das ist der Treibstoff, um meine Romane schreiben zu können.

Lt. Richard: Haben Sie gestern Bekanntschaften gemacht?

Flora Conway: Ich wüsste wirklich nicht, inwiefern das …

Lt. Richard: Haben Sie die Bar zusammen mit einem Mann verlassen, Mrs Conway?

Flora Conway: Ja.

Det. Rutelli: Wie hieß er?

Flora Conway: Hassan.

Det. Rutelli: Hassan, und weiter?

Flora Conway: Keine Ahnung.

Det. Rutelli: Wohin sind Sie gegangen?

Flora Conway: Zu mir.

Lt. Richard: Haben Sie Sex mit ihm gehabt?

Flora Conway: …

Lt. Richard: Mrs Conway, hatten Sie mit diesem Unbekannten, den Sie wenige Stunden zuvor kennengelernt hatten, in Ihrer Wohnung, wo Ihre Tochter schlief, Sex?

20:46 Uhr

Det. Rutelli: Bitte schauen Sie sich dieses Video aufmerksam an: Die Aufnahmen wurden heute Nachmittag von einer Überwachungskamera im Flur der sechsten Etage Ihres Wohnhauses aufgenommen.

Flora Conway: Ich wusste gar nicht, dass es dort eine Kamera gibt.

Lt. Richard: Die Eigentümerversammlung hat dies vor sechs Monaten beschlossen. Die Sicherheitsvorkehrungen des Lancaster Buildings wurden deutlich verschärft, seit sich die Reichen dort Wohnungen gekauft haben, um sie zu renovieren.

Flora Conway: Aus Ihrem Mund klingt das wie eine Kritik.

Det. Rutelli: Ihre Wohnungstür befindet sich im Fokus der Kamera. Hier sieht man, wie Sie mit Carrie von der Schule kommen. Achten Sie auf die unten eingeblendete Uhrzeit – 15:53. Dann nichts mehr. Ich habe den Film im Schnelldurchlauf angeschaut. Bis zu meiner Ankunft um 16:58 hat sich niemand Ihrer Tür genähert.

Flora Conway: Das habe ich Ihnen doch gesagt!

Lt. Richard: Diese Geschichte hat weder Hand noch Fuß. Ich glaube, Sie sagen uns nicht die ganze Wahrheit, Mrs Conway. Wenn niemand die Wohnung betreten hat und auch niemand sie verlassen hat, muss Ihre Tochter noch dort sein.

Flora Conway: Wenn das so ist, dann bringen Sie mir meine Tochter!

Ich erhebe mich von meinem Stuhl. Ich sehe, welches Bild mir der Spiegel zurückwirft: blasses Gesicht, blonder Haarknoten, weiße Bluse, Jeans, Lederjacke. Noch halte ich mich auf den Beinen. Und ich muss mich dazu zwingen, das auch weiterhin zu tun.

Lt. Richard: Setzen Sie sich, Mrs Conway! Wir sind noch nicht fertig. Wir haben weitere Fragen an Sie.

Ich sage mir, dass ich durchhalten werde. Dass ich bereits andere schlimme Dinge erlebt habe. Dass ich schon anderes durchgestanden habe. Und dass dieser Albtraum irgendwann ein Ende haben wird. Und dass …

Det. Rutelli: Bitte, Mrs Conway, setzen Sie sich.

Lt. Richard: Verdammt, sie wird ohnmächtig. Stehen Sie nicht so herum, Rutelli! Rufen Sie den Rettungsdienst. Das wird man sicher uns anlasten. Verdammt!

2 Ein Gespinst aus Lügen

Wenn Sie mit Schriftstellern sprechen,

denken Sie bloß immer daran,

dass es keine normalen Menschen sind.

Jonathan Coe[3]

1.

Vor einem halben Jahr, am 12. April 2010, wurde meine dreijährige Tochter Carrie Conway entführt, als wir beide in meiner Wohnung in Williamsburg Verstecken spielten.

Nachdem ich bei der Vernehmung auf dem Kommissariat ohnmächtig geworden war, kam ich in einem Zimmer des Brooklyn Hospital Center wieder zu mir, wo ich, bewacht von zwei Beamten des FBI, einige Stunden blieb. Die New Yorker Außenstelle der Behörde hatte die Ermittlungen übernommen. Einer der Beamten erklärte mir, ein Team sei dabei, meine Wohnung »auseinanderzunehmen«, und wenn Carrie noch dort sei, würde man sie auch finden. Ich musste eine zweite Vernehmung über mich ergehen lassen, bei der ich mich wieder von ihren Fragen angegriffen fühlte, so als sei ich das Problem. Als hätte ich die Antwort auf dieses Rätsel: Was war mit Carrie passiert?

Sobald ich mich kräftig genug fühlte, bestand ich darauf, das Krankenhaus zu verlassen, und fand bei meiner Verlegerin Fantine de Vilatte Unterschlupf. Dort blieb ich eine Woche lang und wartete darauf, dass man mich ins Lancaster Building zurückkehren ließ.

2.

Seither sind die Ermittlungen keinen Schritt vorangekommen.

Monat für Monat verbringe ich meine Tage in einem Medikamentennebel. Verzweifelt warte ich darauf, dass etwas geschieht: ein Hinweis gefunden oder ein Verdächtiger verhaftet wird, eine Lösegeldforderung eingeht. Ja, ich warte sogar darauf, dass ein Polizist zu mir kommt, um mir zu sagen, dass die Leiche meiner Tochter gefunden worden ist. Alles wäre besser als dieses hoffnungslose Ausharren. Alles wäre besser als diese Leere.

Vor dem Lancaster Building befinden sich zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Kamera, ein Fotograf, ein oder mehrere Journalisten, die mir ihre Mikros entgegenstrecken. Die Meute ist nicht mehr so groß wie in der ersten Zeit, als sie sich zu Dutzenden die Beine in den Bauch standen, aber es sind noch immer ausreichend viele, um mich davon abzuhalten, das Haus zu verlassen.

Was sie die »Affäre Carrie Conway« nennen, ist zu einer Story geworden, die »Amerika leidenschaftlich bewegt«, so die Formulierung, mit der die Nachrichtensender ihr Publikum bombardieren.

Sie schreckten dabei vor nichts zurück: »Das neue Geheimnis des gelben Zimmers«, »Eine Tragödie wie gemacht für Hitchcock«, »Agatha Christie, Version 2.0«, ganz zu schweigen von den Verweisen auf Stephen King wegen des Vornamens meiner Tochter oder den verrückten Theorien, von denen es auf Reddit wimmelt.

Von einem Tag auf den anderen machten sich Leute, die noch nie etwas von mir gehört, nie eines meiner Bücher gelesen, ja, sogar noch nie auch nur irgendein Buch gelesen hatten, daran, kryptische Sätze aus meinen früheren Romanen auszugraben, sie zu verdrehen und lächerliche Hypothesen daraus abzuleiten. Mein Leben und das der Menschen, mit denen ich irgendwann einmal zu tun hatte, wurde von diesen Aasgeiern, auf der Suche nach belastenden Elementen, genauestens unter die Lupe genommen. Denn ich habe sehr wohl begriffen, dass die Schlussfolgerung zwangsläufig immer dieselbe ist: Ich bin schuld am Verschwinden meiner Tochter.

Ende der Leseprobe