9,99 €
2015 brechen Tatjana & Oliver mit ihrer zweieinhalb-jährigen Tochter und zwei Chihuahuas einfach auf. Sie spenden, verschenken und verkaufen so gut wie alles, was sie haben und leben fortan in Wohnmobil "Romy". Auf ihrer Reise lernen sie viel über die Freiheit und dass sie ein "Miststück" sein kann. Aber sie lernen auch so liebenswerte Menschen kennen, dass sie eine "Familie auf Reisen" bleiben...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 166
Veröffentlichungsjahr: 2024
Nächste Ausfahrt:Freiheit
Mit dem Wohnmobil ein Jahr durch Europa
Abenteuer & Asphalt-Philosophie
Autor: Oliver Löwenherz & die Pegasus Family
Für alle, die Freiheit suchen. Für alle, die Fassaden scheuen.
Und für Lorena.
„Zu reisen ist zu leben.“
Hans Christian Andersen
Cover
Titelblatt
Widmung
Eine Art Vorwort…
Weihnachten beim Minotaurus Grammeno/ Kreta, Dezember 2015. Seit drei Monaten on-the-road.
I: Allem Anfang wohnt ein…
01. Giftiger Staub & die Karton-Armada
02. Alea Jacta Est!
03. Ausrüsten & Loslassen
04. Schwellenwächter
II: Zugvögel
05. Von Smartphones & schwedischen Beilen
06. Das beste ÖL der Welt
07. Fellinis Gelenke
08. Im Land der fliegenden Pferde
09. Der Mann, der schneller organisiert als sein Schatten November 2015
10. Arzt & Abenteurer
11 Ein kleiner Regisseur
12. Ein Schäfer aus Yorkshire
13. Der-mit-den-13-Hunden-spaziert
14. Schmuckhändler aus Kolumbien & die Monster-Box
15. Der Hundertjährige
16. Heiße Kartoffeln & ein Finanzminister
17. Höhlenbewohner
18. „Lieber Jesus, ich Möchte Boot fahren.“
19. Die lange, dunkle Nacht der Seele
20. Eiserner Vorhang, reloaded
21. Daheim im Arco Rosso
22. DIE Ätna
23. Beinahe im Hundehimmel
24. Das Märchen von der Pegasus-Familie
VORLÄUFIGER EPILOG
Urheberrechte
Cover
Titelblatt
Widmung
Eine Art Vorwort…
VORLÄUFIGER EPILOG
Urheberrechte
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
Eine Art Vorwort…
Valle de Bravo, Mexiko, im März 2024.
Im Oktober 2017 reisten wir fünf – die Menschen Bonnie, Tatjana & Oliver und die Chihuahuas Yannick & Sherry – mit dem Flugzeug nach Mexiko. Mit fünf Koffern und ein bisschen Handgepäck. Mehr hatten wir damals nicht mehr.
Und ein neues Abenteuer begann (dessen Beginn man in “Meine Engel sind Grün” nachlesen kann)…
Eine Art “Level 2” unserer Abenteuer begann, und manchmal vergehen Monate, in denen ich nicht mehr an den ersten Level denke: Unseren Aufbruch 2015, die zwei Jahre Wohnmobil durch Europa, das “Abenteuer Freiheit” und den “Kosmos der Kinder”.
Während ich hier in Mexiko mein nächstes Buch “Das Löwenbuch” vorbereite, “stolperte” ich auf einer Archivplatte über die “Nächste Ausfahrt: Freiheit”.
Ein fertiges Buch (mit Bildern!) über die erste Hälfte dieser Abenteuer mit Wohnmobil Romy und Anhänger Wolfi.
“Warum habe ich das nie veröffentlicht?”, fragte ich mich verwundert und erinnerte mich an meine damalige Literaturagentur, die mich als “Nazi” beschuldigte, weil ich “von jemand interviewt wurde, auf dessen Seiten eine andere Seite empfohlen wird, auf der wiederum angeblich rechtsextreme Inhalte zu bestellen wären”. Man kündigte die Zusammenarbeit.
Und dann schlief das Buch einfach ein. Und weckt mich dieser Tage wieder auf.
“Umarme die Ungewissheit, dann wird das Leben zum Abenteuer”, sage ich in Interviews immer wieder. Und stehe dazu. Auch wenn ich selbst diese Weisheit manches mal verfluche…
Aber es ist diese Abenteuerluft, die wir “Erwachsenen” vergessen haben. Die Neugier, das Ausprobieren, das Wilde, das Ungezähmte. Wir haben das alles auf dem Altar der Sicherheit, des Geldes und der Schlipse nur allzu bereitwillig geopfert.
Es ist Zeit, in unseren Herzen dieses Abenteuer wieder zu wecken, und deshalb habe ich beschlossen, “Nächste Ausfahrt: Freiheit” nun zu veröffentlichen. Fast 10 Jahre nachdem es alles geschah.
Einige Passagen - vor allem zum Thema Flüchtlinge - wollte ich umschreiben. Weil ich die Thematik mittlerweile tiefer verstehe. Aber es wäre nicht gut, schließlich geht es um mich damals (lange bevor der Name “Löwenherz” ins Spiel kam). Und damals war ich anders. Wer bin ich, Vergangenheit umzuschreiben? Was sich über die Jahre nicht geändert hat, ist meine tiefe Ablehnung und Abscheu gegenüber Menschen, die ihre Machtinteressen auf dem Rücken und in den Seelen der Kinder austragen. Das muss aufhören, und das ist ein Appell an uns alle!!
Lasst die Abenteuer wieder in eure Herzen, liebe Leser.
Wagt wieder Leben. Es wird nicht immer einfach sein, aber es lohnt sich in einer Weise, die man nicht erklären, sondern eben nur leben kann.
In Liebe, Euer Oliver Löwenherz Mexiko, im März 2024
Weihnachten beim MinotaurusGrammeno/ Kreta, Dezember 2015. Seit drei Monaten on-the-road.
Schwer schlingert der Fahrradanhänger hinter mir und zieht bei jeder noch so kleinen Steigung gen Erdmittelpunkt. Meine zweieinhalbjährige Tochter Bonnie liegt breit im Sitz des Anhängerchens, ein breites Grinsen der Vorfreude die Küste entlang strahlend.
Die Einkäufe für unser gemeinsames Fest und die paar Flaschen Wein und Raki, die der Abend wohl gut vertragen kann, sind fest im Chariot-Anhänger verstaut, der uns von Freunden in Falkensee fast aufgeschwatzt worden ist, den wir jetzt aber nicht mehr missen mögen.
Weihnachtlich ist mir. Nicht wie im einstigen Zuhause, wo Glühwein- und Nelkenduft die Adventsluft schwängern. Wo man auf das erste Zeichen von Schnee wartet, wo das Fest in Schaufenstern vorgefeiert wird und spätestens ab dem 20. in Stress ausartet.
Nein, dieses Weihnachten wird anders sein…
Die Sonne scheint, ich trage nur mein gelbes Hawaii-Hemd – das mit dem Motorblock und den Barbusigen; dreimal habe ich es den Händen meiner Frau Tatjana entrissen und vor der Entsorgung gerettet.
Das Meer glitzert zur Linken, rechts meckern uns ein paar Ziegen hinterher, aus Gewohnheit.
Ein LKW mit prall gefüllten Säcken überholt uns, wirbelt Staub auf. Ein Hund bellt von einem Wellblechdach herunter.
Es ist eine besondere Zeit, auch hier an der Südwestspitze von Kreta. Für wenige Tage scheint die Welt still zu stehen. Familie und Freunde klopfen an die Tür, und man lässt sie herein. Ob man nun an den Christengott glaubt oder nicht, ob man seine Familie ungeduldig erwartet oder zum Teufel wünscht.
Es ist halt Weihnachten.
Am Nachmittag strolchen wir zum geplanten Foto-Shooting an den Strand, der sich direkt vor dem fast verlassenen Campingplatz bis zur Grammeno-Halbinsel streckt. Meine Füße drücken sich in den feinen Sand, in der Ferne sehe ich Chris, der seine 13 Hunde ausführt.
Tatjana und Bonnie kuscheln sich in die Hängematte unserer neuen kolumbianischen Freunde Yolanda und Raffa. Ich drücke den Selbstauslöser und eile zu unseren beiden Chihuahuas.
Halte sie rechtzeitig hoch, um unseren sonnigen Gruß festzuhalten, den wir heute Abend über die sozialen Kanäle hinausschicken, die uns mit der alten Heimat noch verbinden.
„Ameisenscheiße“, flötet Bonnie. Das hat ihr ein Fotograf in Berlin beigebracht. „Cheese“ war ihm zu banal.
Wir knipsen und knipsen, und jedes Bild wird von Tatjana kritisch unter die Lupe genommen. Sie hat früher Make-up und Hairstyling an großen Foto-Sets gemacht. Kann also dauern…
Wir verbringen fast drei Stunden hier am Strand, spielen nach dem Fotografieren mit den Welpen, die Chris vorausgelaufen sind. Dann helfen wir ihm, die Energiebündel irgendwie in ihr Gehege zu bringen. Jagen einem Ausreißer nach, und zählen immer wieder durch.
Abendliche Routine, mittlerweile.
Was wird Chris eigentlich machen, wenn wir weiterziehen? Dann machen wir uns auf den Weg zu den anderen paar Gästen hier auf dem Platz, um unter Johannisbrot-Bäumen und Palmen Heiligabend zu feiern.
Vor der Hütte von Yolanda und Raffa stellen wir Tische zusammen, schleppen Stühle herbei, improvisieren eine Buffetfront, die die etablierte Gastronomie Europas um Längen, Farbenfreude und Fülle schlagen würde.
Es gibt angebratenen Reis, Okra in Tomatensalsa, Salat in allen Farbnuancen, gedämpfte Süßkartoffeln, süße und salzige und scharfe Saucen, Schokoladen-Kokos-Kuchen, und noch so vieles mehr.
Es gibt sizilianischen und griechischen Wein aus schönen Glasflaschen und Wein, der keinen Euro gekostet haben dürfte.
Es gibt spanische, französische und englische Weihnachtslieder. Natürlich „Stille Nacht“ und „Jingle Bells“, aber auch „Feliz Navidad“ und „Mon beau sapin“ dürfen nicht fehlen. Es gibt Samba & Merengue aus Raffas Monster-Lautsprecherbox und gelegentlich eine Mundharmonika- Improvisation von Bonnie in Kleinkind-Dur.
Aber vor allem – es gibt uns:
Den Kolumbianer Miguel, mit dem sich unsere Tochter Bonnie angefreundet hat. Die beiden sind zusammen 100 Jahre alt. Sie sind unzertrennlich geworden, verstehen sich ohne Worte oder Verhaltensregeln. Suchen sich den ganzen Abend mit Blicken und nachgeahmten Tierlauten. Liegen sich in den Armen und kichern sich durch die Feiertage.
Dennis aus Yorkshire, der sich kurz vor Mitternacht umzieht, um dem Vorurteil entgegenzuwirken, er hätte nur ein einziges T-Shirt. „E-oop“, ruft er aus dem Dunkeln und präsentiert stolz das zweite. Bei der Gelegenheit hat er gleich noch eine Plastikgallone Weißwein mitgebracht, die man nur mit scharfer Salsa runterkriegt.
Da sind Yolanda und Raffa, die Liebenden. Die nur Jetzt sind. Und Hier. Die tanzen und lachen und wirbeln und die Zukunft ganz bewusst ausschließen aus dieser illustren, bunten Runde. Die sich über Kontinente hinweg gefunden haben und in ihrem umgebauten Bus durch die Welt reisen.
Da ist Jean, der Globetrotter aus Frankreich, der nach und nach seine Schnapsvorräte anschleppt und zu jedem Brand eine Geschichte bereithält. Aus Vietnam, aus Mauretanien (wo er den Polizeipräsidenten kennt), aus Albanien. Und der uns Reisenden eine ganz einfache Botschaft schenkt:
„Es gibt keine gefährlichen Länder. Es gibt nur ortsübliche Regeln, an die man sich besser hält. Dann kannst du überall hingehen.“
Neben ihm sitzen Steve aus England und seine Frau Sarah aus Neuseeland, beide seit Jahren in Kallyves an der Nordküste Kretas gestrandet, im besten Sinne des Wortes. Sie wollen hier nicht wieder weg, und wir werden sie im Januar besuchen.
Dann ist da natürlich Chris, der in Miene und Wort wieder ein kleiner Junge wird, ganz ohne Alkohol oder Maske. Der seine dreizehn Hunde schlafen gelegt hat und mir seine zwanzig Lieblingsfernsehserien aus England nacherzählt.
Der als IT- Experte über das Internet arbeitet und hinter den Waschräumen in einem alten Camper wohnt.
Der auf die Frage, ob er Weihnachten nicht noch einmal in „Good old England“ verbringen möchte, lapidar antwortet: „Why would I?“.
Und mittendrin staunen Tatjana und ich. Die „Verrückten“, die „Verantwortungslosen“, die „Mutigen“, die „Zigeuner“. Je nachdem, wen man in der alten Heimat fragen würde.
Es ist unser erstes Weihnachten ohne „Familie“, fern der „Heimat“.
Ja, ein wenig seltsam fühlt es sich an. Und einmal wird mir schwer ums Herz, ganz kurz nur. Aber dann holen mich Bonnies und Miguels Gepruste und der viel zu laute Salsa aus Raffas Monster-Box wieder zurück in diesen wunderschönen Abend.
„Heimat ist, wo dein Herz ist.“ Auf einmal versteht man diese in Schlagern hingeworfenen, vermeintlichen Plattitüden und entlarvt sie als tiefe Weisheit, versteckt im Gewand des Kalenderspruchs.
Sieben Nationen aus vier Kontinenten feiern Weihnachten und Sirius strahlt heller als zuvor. Als ob er nur darauf gewartet hat, dass wir alle uns hier und jetzt unter seinem wachsamen Blick treffen.
Gegen Mitternacht übertreffen sich Bonnie und Miguel im Grimassenschneiden, Raffa und Yolanda tanzen den letzten Salsa in die Carob-Schoten unter ihren Füßen, und dann trollt sich einer nach dem anderen. Zurück in VW-Busse, Wohnwagen, Camper und Hütten.
Der kleine Jesus hätte Spaß gehabt heute Abend, denke ich kurz vor dem Einschlafen. Und er hätte Dennis das letzte Stück Schoko-Kokos-Kuchen weggeschnappt.
Nächstenliebe hin oder her.
Unsere Weihnachtskarte 2015 aus Kreta…
I
Allem Anfang wohnt ein…
01
Giftiger Staub & die Karton-Armada
September 2013 - Juni 2015
Berlin
Der Zauber einer Reise fängt ja meistens nicht mit dem ersten Reisetag an.
Das war bei Kolumbus so und bei der ersten Mondmission auch (wenn es sie denn gab). Und so war es auch bei uns. Wobei der Zauberer in unserem Fall leider einen schwarzen Hut aus Giftfasern auf dem Haupt trug.
2010 waren wir nach Berlin gezogen, und ich hatte mich in der pulsierenden, dynamischen Metropole relativ bald eingelebt.
Zwei, drei Agenturen versorgten mich regelmäßig mit Jobs, die die Miete bezahlten – auch wenn ich vor den Industrie- und Werbefilmen eigentlich aus Stuttgart geflohen war. Ich hatte zudem mit einem befreundeten Produzenten eine Filmproduktionsfirma gegründet, um Spielfilme zu produzieren. Drehbücher waren zur Förderung eingereicht, die ersten Allianzen mit ausländischen Produktionen geknüpft.
Meine Frau Tatjana arbeitete freiberuflich als Makeup-Artist und Hairstylistin, vor allem bei den Catwalk-Shows der Fashion Week. Wir hatten uns in diesem Leben ziemlich gut eingerichtet. Mit kreativ gestalteten Visitenkarten und regelmäßigen Besuchen von Filmpremieren und Vernissagen.
Im Mai 2013 wurde dann unsere Tochter Bonnie geboren. Misstrauisch beäugte sie unter dem dicken, weichen, weißen Handtuch die neue Welt, in die sie gerade geboren worden war. Dann schrie sie den Planeten erst einmal an. Ihr gutes Recht!
Zu dem Zeitpunkt wäre uns nicht im Traum eingefallen, die Stadt zu verlassen und mit dem Wohnmobil quer durch Europa zu reisen.
Nestplanung war angesagt: wir recherchierten KiTas, die auch veganes Essen anbieten würden, fanden Eltern & Kind- Gruppen, mit denen man sich regelmäßig traf. Und wir grasten die Stadt nach Second-Hand-Läden, Geschäften mit ökologischem Holzspielzeug und Cafés mit Spielecken ab.
Wir hatten im Klausener Kiez in Berlin-Charlottenburg unsere Traumwohnung gefunden und nach etlichen Schwierigkeiten und Rückschlägen tatsächlich auch bekommen.
Wir würden die nächsten Jahre in einer pittoresken Fußgängerzone leben, je zehn Geh-Minuten vom großzügigen Schlosspark und dem zauberhaften Lietzensee entfernt.
Würden den Ziegenhof besuchen, der im Innenhof unseres Blocks seit den 80er Jahren Ziegen und Hühnern ein Zuhause bietet. Würden die geräumige Wohnung genießen und uns hier ein Nest auf viele Jahre einrichten. Mindestens fünf Jahre, eher zehn. Oder zumindest bis 2020, denn so lange, sagte der Vertrag, würde die Miete auf diesem Niveau bleiben.
Zumindest räumlich war unser Lebens- Claim also schon mal abgesteckt.
Dachten wir.
Bis man im September 2013 Spuren von Asbest unter dem Dielen-Fußboden fand.
Auf die Asbest-Untersuchung hatten wir pro forma bestanden. Einfach, um kein Risiko einzugehen, und weil etliche Altbauwohnungen Berlins diese Gefährdung aufweisen.
Man versicherte uns im Vorfeld, die Wohnung sei sicher. Und „nächste Woche kommt jemand vorbei, der prüft das. Damit Sie und Ihre Kleine ruhig schlafen können.“
Die „nächste Woche“ dauerte drei Monate, und dann wurde uns schriftlich mitgeteilt, dass sich die giftigen Fasern direkt unter unseren Füßen befänden. In vollem Ernst bot man an, die Fugen zwischen den Dielenbrettern mit Isolierband abzukleben. Mehr wäre nicht drin.
„So schlimm ist das auch gar nicht mit dem Asbest. Da machen die Medien immer unnötige Panik drum.“
Im Vorfeld hatten wir im Internet seitenweise Berichte über Asbest und dessen Verharmlosung recherchiert, und von unnötiger Panik konnte nun wirklich nicht die Rede sein. Noch in dieser Nacht packten wir ein paar Reisetaschen zusammen, das Nötigste eben. Wir rechneten mit zwei bis drei Wochen, die wir irgendwo verbringen würden, bis wir in unser Nest zurückkehren könnten.
Aus diesen zwei Wochen wurden am Ende sieben lange, erschöpfende Monate, bis die Wohngesellschaft endlich ein Einsehen hatte und sich bereit erklärte, das Asbest zu entfernen.
Wir hatten unser Hab und Gut zurückgelassen und in den Passat gepackt, was eben so in einen Passat reinpasst.
Kleidung, Laptop, ein bisschen Geschirr, Stofftiere und den Inhalt des Kühlschranks. Diese „Mitgift“ begleitete uns in mehrere über Airbnb gebuchte Ein- oder Zweizimmerwohnungen und über Weihnachten zu meiner Mutter nach Schleswig-Holstein.
Unser Anwalt, der sich anfangs sehr kämpferisch zeigte („Da gehen wir bis nach Karlsruhe!“), hatte nach zwei Monaten unsere Akten nicht mehr präsent und konnte mit meinem Namen nichts anfangen. Dann wurden wir mit einem anderen Mandanten verwechselt.
Schließlich nahmen wir die Verhandlungen selbst in die Hand.
Das alles mit unserer neugeborenen Bonnie, zwei kleinen Chihuahuas und der finanziellen Belastung durch zwei Mieten. Die Traumwohnung wollten wir nicht hergeben, und den Mieterlass bekamen wir erst sehr viel später zugesprochen.
Im Februar 2014 war Tatjana mit den Nerven fertig und reiste mit Bonnie und den Hunden zu ihren Eltern nach Süddeutschland.
„Ich komme zurück, wenn wir wieder ein Zuhause haben“; ich konnte es ihr nicht verdenken.
Nach über einem halben Jahr begannen endlich die Renovierungsarbeiten. Unsere Sachen wurden von einer Spedition eingelagert und Anfang März 2014 zogen wir schließlich ein zweites Mal in unser Nest ein.
Nie werde ich den Moment vergessen, als wir im noch leeren Wohnzimmer auf einer Decke saßen und die breitschultrigen Männer Dutzende von Kartons, Möbel und Kram hereinschleppten.
Die letzten sieben Monate hatten wir mit dem Inhalt eines Passats leben können.
Wozu bitte schön sollten jetzt all diese Sachen dienen, die offensichtlich unser Eigentum waren?
Wir packten aus und staunten.
Staunten, wie viel man haben kann. Staunten, wie viel davon nie gebraucht, nicht einmal benutzt wurde. Sechzehn Jacken hatte ich, für einen einzigen Oberkörper. Vier pro Jahreszeit. Von Tatjanas Schuh-Sammlung ganz zu schweigen.
Kein Klischee…
„Aber man weiß ja nie, ob man das nicht doch noch einmal…“ Und so weiter.
Besitz besitzt.
Eine sehr einfache, knappe Aussage, die so viel Wahrheit in sich birgt.
Mit jedem Karton, jeder Winterjacke und jedem IKEA- oder Design-Möbel spürten wir, wie die Dinge, die wir angesammelt und gehortet hatten, uns an unseren Status quo fesselten. Uns Bewegungsspielraum nahmen, „uns besaßen“.
Als wir das mit Schrecken erkannt hatten, beschlossen wir kurzerhand, für jedes Ding, das wir künftig anschaffen würden, mindestens das Doppelte abzuschaffen.
„Einer darf rein, zwei müssen raus.“
Mit dieser Lösung waren wir erst einmal zufrieden.
Wir hatten unsere Traumwohnung wieder, und wir hatten alle zusammen einen wunderschönen Sommer.
Genossen die beiden Parks, den Ziegenhof und die 125 Quadratmeter „Zuhause“.
Trotzdem hatten sich Zweifel in unsere Köpfe eingenistet. Zweifel daran, ob unser Leben so richtig, ob es das einzig denkbare war.
Wir hatten aus einem Passat gelebt, und ich hatte in dieser Zeit endlich meinen Roman „Ascheland“ fertig geschrieben. Nachts, in Kneipen, auf Parkbänken. Nachdem ich im täglichen Trott nie dazu gekommen war.
Oft lief ich nun nachts durch unsere „Traumwohnung“, beäugte unser Hab und Gut und fragte mich:
„Muss man das haben, um zu leben?“