Nacht der Bestimmung - Anar Ali - E-Book

Nacht der Bestimmung E-Book

Anar Ali

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Beschreibung

»Eine wahrhaft kanadische Familiengeschichte, voller unvergesslicher Figuren.« Naheed Nenshi, Mayor of Calgary »Nacht der Bestimmung« ist die berührende Geschichte eines Generationenkonflikts innerhalb einer Familie von Einwanderern. Einfühlsam beschreibt Ali das Scheitern und Wachsen an den Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, eine neue Heimat zu gewinnen und dabei die eigene Herkunft nicht zu verlieren. Es ist das Jahr 1998. Mansoor Visram lebt nun schon seit 25 Jahren in Kanada, seit Diktator Idi Amin sämtliche Südostasiaten aus Uganda vertrieben hat. Mansoor, seine Frau Layla und ihr kleiner Sohn Ashif mussten ein erfolgreiches Leben hinter sich lassen und fliehen. Aber an alte Erfolge anzuknüpfen und die Familie in Kanada zusammenzuhalten ist viel schwieriger, als er erwartet hatte. Immer deutlicher treten die Risse zutage, die bereits vor Generationen – und auf anderen Kontinenten – entstanden sind. Vor allem der Konflikt zwischen Mansoor und seinem inzwischen erwachsenen Sohn spitzt sich immer weiter zu. In der Nacht der Bestimmung, der wichtigsten Nacht des Ramadan, in der sich das Schicksal für das kommende Jahr entscheidet, ereignet sich eine schreckliche Tragödie, die das Leben der Visrams für immer verändern wird, und die sie zwingt, sich endlich den Geistern der Vergangenheit zu stellen. »Gerade heutzutage sind die Themen dieses elegant, vielschichtig und filmisch erzählten Romans von größter Relevanz: Die Lebenswelten von Zuwanderern, Familienkonflikte, die Erfahrungen religiöser und kultureller Minderheiten, die Zweischneidigkeit des Erfolgs von Migranten erster und zweiter Generation.« David Chariandy, Autor von »Francis«

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Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2021

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2019 by Anar Ali, this translation is published by arrangement with Viking Canada, an Imprint of Penguin Canada, a division of Penguin Random House Canada Limited and Liepman AG.

Translated from the English language: NIGHT OF POWER

First Published by Viking Canada in 2019

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts.

Übersetzung: Jan Karsten

Redaktion: Zoë Beck

Umschlaggestaltung: Cordula Schmidt Design, Hamburg

Erscheinungsdatum: September 2021

ISBN 9-783-95988-203-3

Über das Buch

»Eine wahrhaft kanadische Familiengeschichte, voller unvergesslicher Figuren.« Naheed Nenshi, Mayor of Calgary

»Nacht der Bestimmung« ist die berührende Geschichte eines Generationenkonflikts innerhalb einer Familie von Einwanderern. Einfühlsam beschreibt Ali das Scheitern und Wachsen an den Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, eine neue Heimat zu gewinnen und dabei die eigene Herkunft nicht zu verlieren.

Es ist das Jahr 1998. Mansoor Visram lebt nun schon seit 25 Jahren in Kanada, seit Diktator Idi Amin sämtliche Südostasiaten aus Uganda vertrieben hat. Mansoor, seine Frau Layla und ihr kleiner Sohn Ashif mussten ein erfolgreiches Leben hinter sich lassen und fliehen. Aber an alte Erfolge anzuknüpfen und die Familie in Kanada zusammenzuhalten ist viel schwieriger, als er erwartet hatte. Immer deutlicher treten die Risse zutage, die bereits vor Generationen – und auf anderen Kontinenten – entstanden sind. Vor allem der Konflikt zwischen Mansoor und seinem inzwischen erwachsenen Sohn spitzt sich immer weiter zu.

In der Nacht der Bestimmung, der wichtigsten Nacht des Ramadan, in der sich das Schicksal für das kommende Jahr entscheidet, ereignet sich eine schreckliche Tragödie, die das Leben der Visrams für immer verändern wird, und die sie zwingt, sich endlich den Geistern der Vergangenheit zu stellen.

»Gerade heutzutage sind die Themen dieses elegant, vielschichtig und filmisch erzählten Romans von größter Relevanz: Die Lebenswelten von Zuwanderern, Familienkonflikte, die Erfahrungen religiöser und kultureller Minderheiten, die Zweischneidigkeit des Erfolgs von Migranten erster und zweiter Generation.« David Chariandy, Autor von »Francis«

Über die Autorin

Anar Ali lebt in Toronto und arbeitet als Drehbuchautorin für Film und Fernsehen. Ihr erstes Buch, der Kurzgeschichtenband »Baby Khaki’s Wings«, stand auf der Shortlist für den Commonwealth Writer’s Prize, den Trillium Book Award und den Danuta Gleed Literary Prize. »Nacht der Bestimmung« (Night of Power, 2019) ist ihr Romandebüt.

Anar Ali

Nacht der Bestimmung

Roman

für meine familiey mi familia

Prolog

Mansoor Visram erwacht vom Klang einer Flöte, einer fernen Melodie, wie der Ruf eines Muezzins. Langsam öffnet er die Augen. Schwarze Felder erstrecken sich bis an den Horizont und verschwimmen mit dem Nachthimmel; ein vollkommener Kreislauf. Die Präriehügel sind gewaltige gefrorene Wellen. Er spürt, wie etwas an seinen Knöcheln pickt, und hebt den Kopf. Eine kleine, gewölbte Gestalt wippt zu seinen Füßen auf und ab und hämmert heftig gegen seinen eisigen Körper. Der Vogel fliegt auf und schwebt über seiner Brust. Sein Körper ist strahlend blau, seine Krone golden; statt Federn baumeln Strassquasten von seiner vorgewölbten Brust. Mansoor ist erstaunt, dass er überhaupt fliegen kann. Er streckt die Hände in die Luft und versucht, ihn zu fangen, aber er flattert davon, außer Reichweite. Mansoor stützt sich im Schnee ab und rappelt sich langsam auf, seine Adern bilden ein Netz aus gefrorenen Flüssen. Der Vogel fliegt ein Stück voran und wartet, wie eine Sirene, die ihn vorwärts lockt. Nach ein paar Schritten fällt Mansoor auf die Knie. Seine Kleidung ist ein Panzer aus Eis. In der Ferne schimmern die Lichter der Stadt als blasser Fleck am Horizont. Er versucht, wieder auf die Beine zu kommen, aber sein Körper ächzt und knackt wie ein Schiff, das im Eis gefangen ist. »Steh auf, Visram«, befiehlt er sich. »Beweg dich!« Stattdessen sinkt er in den weichen Schnee, rollt sich zusammen und dämmert erneut weg. Der Vogel landet auf seiner Schulter. Er nähert sich seinem Ohr und beginnt zu singen.

Kapitel 1

Mansoor versucht, den Frost an der Glastür seines Geschäfts mit einem Taschentuch zu entfernen, aber er produziert bloß ein Muster aus Halbkreisen über dem Firmenschild auf der Vorderseite: M. G. Visram & Sohn Textilpflege GmbH, im Dienste Kanadas seit 1987. Draußen fällt ein dünner, scharfer Schnee, dessen Fäden nur im Licht der Straßenlaternen sichtbar sind. Es ist kurz nach sieben Uhr morgens und noch immer stockdunkel. Die winterliche Sonne wird frühestens in einer Stunde aufgehen. Die meisten Geschäfte der Shopping Plaza in einem der besseren Viertel im Südwesten Calgarys sind geschlossen: das Reisebüro, der Friseur, die Zahnarztpraxis, die Videothek. Nur die Reinigung und der 24-Stunden-Minimarkt sind geöffnet.

Mansoor dreht sich um und inspiziert sein Geschäft wie jeden Morgen. Es ist ein kleiner Raum, nur einundfünfzig Quadratmeter groß, aber alles hat seinen Platz, und das erfüllt ihn mit großer Befriedigung. Goldfarbene Bilderrahmen prangen an der Wand über der Kasse wie eine Collage aus Familienfotos. In einem ein Dollarschein, der erste, den er in Kanada verdient hat, im August 1973. In einem anderen sein Gewerbeschein und in einem weiteren sein Versprechen an die Kunden: »Vielleicht kenne ich die Antwort noch nicht, aber ich werde sie finden. Vielleicht habe ich keine Zeit, aber ich werde sie mir nehmen.« An einer anderen Wand steht ein niedriges Regal, darin Bücher mit Titeln wie »Auf der Suche nach Exzellenz«, »Kraft- & Leistungstraining für Männer« und Biografien von Männern wie Henry Ford, Bill Gates und Neil Armstrong. Der hintere Teil des Geschäfts ist durch eine Glaswand vom Kundenbereich abgetrennt, damit man sehen kann, wie gut sein Betrieb organisiert ist. Reihen von Anzügen und Hemden, eingeschlagen in Plastikfolie, hängen wie kopflose Menschen an einem Transportband.

Im hinteren Raum schlägt er einen Kalender auf, und das Bild eines einsamen arktischen Wolfes ist zu sehen. Eine Notiz neben dem Datum von heute, dem 21. Januar, ist rot eingekreist und mit einem Sternchen versehen. Bank, 15.30 Uhr. Mansoor ist bereit. Bis ins Detail vorbereitet. Schon seit Monaten. Er benötigt die Gelder für eine Trockenreinigungsanlage, die im Mittelpunkt seines neuen Geschäftsmodells stehen soll. Noch länger als auf diesen Termin wartet er darauf, seinen Sohn Ashif in seinen Plan einzuweihen. Er ist der Einzige, der die Größe und Bedeutung seines geschäftlichen Vorhabens wirklich zu erfassen vermag. Schließlich ist er ein hervorragender Geschäftsmann. Genau wie sein Vater. Morgen wird Mansoor endlich die Gelegenheit haben. Ashif kommt zum Mittagessen nach Hause. Er fliegt aus Toronto ein, um einige wichtige Meetings wahrzunehmen.

Über Mansoors Schreibtisch hängt ein riesiges Porträt seines Vaters, eine Kopie des Originalfotos, das in allen ihren Geschäften in Uganda hing, neben einem Bild von Adi Amin, wie es das Gesetz wollte, und einem des Imam, wie es die Gemeinde erwartete. Eine Dreifaltigkeit von Männern. Auf dem Foto steht sein Vater stolz vor seiner Hauptfiliale in Kampala. Er ist groß und kräftig, seine Körperfülle ist Nachweis seines Reichtums. Er trägt einen elfenbeinfarbenen Dreiteiler; an seiner Westentasche hängt eine goldene, in London gekaufte Taschenuhr. Die Hände ruhen majestätisch auf einem Gehstock mit silbernem Löwenkopf. Auf einem Schild hoch über seinem Kopf ist zu lesen: Visram P. Govindji & Sohn, gegründet 1929.

***

Als Ashif ein Kind war, fand Mansoor im Schreibtisch seines Jungen einen Zeitungsausschnitt, der das Gesicht von Colonel Sanders zeigte, diesem Kerl mit der dicken Brille und dem albernen Bart. Darunter hatte Ashif in seiner kindlichen Handschrift Dadabapa gekritzelt. Mansoor war außer sich vor Wut. Sein Vater war ein angesehener Mann, und sein Sohn hier hielt ihn für einen Amerikaner, der Hühnchen frittierte? Auf der Stelle richtete Mansoor samstagmorgendliche Schulstunden ein, für die er Ashif in sein Büro marschieren ließ, um ihm Nachhilfe in Familiengeschichte zu erteilen. Ashif erklomm den Bürostuhl seines Vaters, und seine Füße baumelten hoch über dem Boden in der Luft, während Mansoor referierte. »Als dein Dadabapa in Afrika ankam, hatte er gerade einmal zwei Rupien in der Tasche. Weißt du, wie viel das ist?«

»Gerade genug, um Kaugummi zu kaufen. Aber keine ganze Packung. Nur einen einzelnen.«

»Ganz genau!« Er tätschelte seinem Sohn die Schulter. »Kannst du dir das vorstellen? Dein Großvater war ein armer Mann aus Indien. Er kämpfte ums nackte Überleben …«, Mansoor drehte den Globus auf seinem Schreibtisch und deutete auf einen Staat, »… hier in Gujarat. Er arbeitete in einem Steinbruch, schuftete den ganzen Tag in der heißen Sonne, zerschlug Steine und ruinierte sich dabei den Rücken. Und wofür? Damit sich die Taschen anderer Menschen füllten.« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Nein, Sir!«

Ashif schlug ebenfalls mit der Faust auf den Tisch. »Nein, Sir!«

»Dadabapa war dreizehn Jahre alt – nur sieben Jahre älter als du, mein Sohn –, als er davon hörte, dass viele Leute in Afrika ein Vermögen verdienten, Männer, denen nun ganze Ladenketten gehörten und die Versicherer von arabischen, indischen und swahilischen Unternehmern waren, an die sich verzweifelte Geschäftsleute wenden konnten, um einen Kredit aufzunehmen. Afrika war ihr Amerika. Dadabapa beschloss, das Risiko einzugehen. Er sparte genug Geld zusammen für eine Schiffspassage raus aus Indien und rein in die neue Welt. Er überlebte die beengte dreimonatige Reise auf einem dwho – die Ruhr, die Ratten und wer weiß, was sonst noch alles – und erreichte im Jahr 1912 die Küste Sansibars. Wie lange ist das her?« Lektionen in Mathematik und Naturwissenschaften waren fester Bestandteil einer jeden Sitzung.

Ashif griff nach dem Taschenrechner auf dem Schreibtisch seines Vaters; Mansoor nahm ihn weg. »Es wird nicht geschummelt!«

»In Ordnung.« Ashif kicherte. Er kritzelte fünfundsechzig Jahre in sein Notizheft.

»Ja, sehr gut! Aber in Sansibar gab es bereits zu viele junge Männer mit ähnlichen Träumen und Ideen. Was hat dein Dadabapa also gemacht? Er war sehr, sehr klug, musst du wissen. Er machte sich auf ins Landesinnere, um dort sein Glück zu suchen. Bis er an eine weitere Grenze stieß: Uganda. In Uganda ging er bei einem indischen Ladenbesitzer in die Lehre und tauschte seine Arbeitskraft gegen einen Schlafplatz auf dem Dach des Ladens und eine Mahlzeit aus Barazi und Mumri, Bohnen in Kokosmilch und frittiertem Brot, die er jeden Mittag zu essen bekam. Er lernte auf Hindi und Gujarati zu lesen und zu schreiben, die Bücher zu führen, mit Verkäufern zu verhandeln und den Kunden Sachen zu verkaufen, von denen sie gar nicht gewusst hatten, dass sie sie überhaupt brauchten. Und er lernte viele neue Sprachen: Suaheli, Englisch, Kikuyu und Buganda. Sogar Japanisch, nach dem Zweien Weltkrieg. Stell dir das vor! Die Japaner arbeiteten hart dafür, ihr Land wiederaufzubauen – gut für sie. Sie boten unschlagbare Qualität und unschlagbare Preise, sodass man nicht drum herumkam, mit ihnen Geschäfte zu machen. Dein Großvater hat seinen Meißel gegen einen Stift und seinen dhoti gegen einen Anzug eingetauscht und ist ein neuer Mensch geworden. Innerhalb weniger Jahre hat er den Verlauf einer tausendjährigen Familiengeschichte verändert, gerade so, als würde er einen stählernen Tanker mit bloßen Händen auf einen neuen Kurs setzen.«

Ashif rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl herum. »Genau wie Superman!«

»Ja, wie ein Superheld aus dem echten Leben. Fünfzehn Jahre nachdem er Afrika das erste Mal betreten hatte, eröffnete Dadabapa im Alter von erst achtundzwanzig Jahren seinen eigenen kleinen Kurzwarenladen in einem winzigen Dorf namens Tororo an der ugandisch-kenianischen Grenze.«

»Toronto?«, fragte Ashif.

»Nein.« Mansoor lachte. »To-ro-ro. Ein ganz ähnlicher Name, stimmt. Aber Welten entfernt. Dieses Dorf war nicht mal so groß wie deine Schule. Stell dir das vor! Als das Geschäft in Tororo erfolgreich lief, folgte er der neuen europäischen Eisenbahnlinie quer durchs Land und baute eine ganze Kette von Kurzwarenläden auf, indem er an jeder Haltestelle einen neuen Laden eröffnete – in Busembatia, Iganga, Jinja und schließlich Kampala. Ein kleines Imperium. Du siehst also, mein Sohn, man kann alles erreichen. Man kann sein, wer immer man will. Aber man darf niemals aufgeben. Niemals! Verstanden?«

Ashif nickte.

»Merk dir meine Worte, mein Sohn. Wir waren Könige in Uganda, und wir werden auch in Kanada wieder Könige sein.«

»Ich auch, Papa?«

»Natürlich!« Mansoor hob seinen Sohn in seine Arme. »Eines Tages wird alles einmal dir gehören!«

***

Mansoor greift nach dem Stapel mit Businessplänen auf seinem Schreibtisch. Zwei legt er für den Termin mit dem Banker zur Seite, dann nimmt er einen weiteren für seinen Sohn. Er schreibt die Initialen AMV darauf. Ashif M. Visram. Es gibt so viele Dinge, die er mit seinem Sohn teilen möchte, nicht nur den Businessplan. Wenn der Junge ihn nur ließe. Er weiß nicht genau, wann die Probleme begannen, aber schon seit geraumer Zeit hat Ashif eine Mauer zwischen ihnen errichtet. Was hat den Jungen nur so verändert? Früher hatten sie sich immer alles sagen können. Wenn Ashif ihm jetzt etwas mitteilen möchte, erzählt er es erst seiner Mutter, und die gibt es dann weiter an ihn. Wer ist sie – seine Übersetzerin? Aber er fragt sich, ob wohl einzelne Informationen bei der Weitergabe verloren gehen wie bei einer Partie Stille Post. Er ist sich auch gar nicht sicher, ob sie ihm alles sagt. Vielleicht lässt sie bewusst Teile der Nachricht aus. Was ihn aber vor allem stört, ist das Gefühl, dass sie ständig zwischen ihnen steht. Wenn sie nicht wäre, davon ist er überzeugt, hätten sie noch immer dieselbe Beziehung wie damals, als Ashif ein Kind war. Als sein Sohn ihn noch für einen Helden hielt, als er ihm noch zuhörte, wenn er sprach, als er noch über seine Witze lachte und seine Gesellschaft suchte. Ashif als kleiner Junge, der ihm in seinem Schneeanzug und seinen Mukluks mit offenen Armen entgegenläuft. Dieses Bild taucht jedes Mal auf, wenn er an seinen Sohn denkt, sogar jetzt. Wie ein Vater, der die letzte Erinnerung an das Kind, das er verloren hat, für immer bewahren will.

Die Idee für sein neues Geschäftsvorhaben war ihm fast beiläufig gekommen. Er hatte nach einem Weg gesucht, sein Unternehmen zu vergrößern, sich einen Namen zu machen. Als sein Auto in der Werkstatt war, kam er dann darauf. Zum ersten Mal hatte er die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen müssen, und dabei waren ihm die ganzen leer stehenden Flächen in den Bahnhöfen der LRT aufgefallen. Es gab einen Fahrkartenschalter, manchmal noch einen kleinen Lebensmittelladen, aber das war’s dann auch schon. Nichts weiter. Kein privater Betreiber würde solche Verschwendung zulassen. Aber das hier war die Regierung. Ineffiziente Dummköpfe. Sie hatten keinen Sinn für Profit. Warum sollten sie auch? Es war ja nicht ihr Geld, das sie hier liegen ließen. Nicht ihr Name, der auf dem Spiel stand.

Wie wär’s mit einer Schnellreinigung? Pendler könnten ihre schmutzige Wäsche auf dem Weg zur Arbeit abgeben und auf dem Heimweg sauber wieder einsammeln. Niemand hat Zeit zu verschwenden, viel beschäftigte Berufstätige erst recht nicht. Und sie sind es auch, die am häufigsten einen Reinigungsservice in Anspruch nehmen. Sie müssen jederzeit wie aus dem Ei gepellt aussehen. Das sollte er nun gerade wissen. Genau deshalb hat er ja seine Reinigung hier in Canyon Creek eröffnet, einem Viertel mit vielen jungen Geschäftsleuten. Sein Geschäft hat sich etabliert, weil er es vollkommen auf sie ausgerichtet hat. Sie wissen Qualität zu schätzen und sind bereit, dafür zu zahlen. Mansoors Vorhaben bietet den Kunden Vorteile, der Stadt eine Möglichkeit für zusätzliche Einnahmen und ihm einen Weg, sein kleines Geschäft auf einen Schlag zu einem stattlichen Unternehmen mit einer Kette aus fünfzehn Filialen auszubauen. Nur Vorteile für alle Seiten!

Um diesen Plan auszuarbeiten, hat er über mehrere Monate hinweg intensive Marktforschungen durchgeführt. Er hat den Fußgängerverkehr eines jeden Bahnhofs untersucht, ebenso wie die Demografie der einzelnen Viertel, und diese Daten um eigene Erkundungsmissionen ergänzt. Er sprach mit den Pendlern an den Bahnhöfen über ihren Bedarf an Textilreinigung und ihre Einkaufsvorlieben. Dann trug er die gesammelten Daten in Kalkulationstabellen ein (mit Excel und PowerPoint, neue Programme, die er sich im Selbststudium beigebracht hatte) und stellte ein Cluster-Diagramm der Bahnhöfe mit dem besten Potenzial zusammen. Diese Haltestellen bildeten die Grundlage seines dreistufigen Entwicklungsplans. Erst die Innenstadt von Calgary, dann die wohlhabenden Vororte und schließlich alle anderen.

Der Schlüssel war die Zentralisierung der Abläufe. Eine Trockenreinigungsanlage, die alle Standorte bediente. Wirtschaftsexperten nannten es vertikale Integration, aber er brauchte keinen ausgefallenen Begriff, um den darin liegenden Sinn zu begreifen. Statt einen Lieferanten zu bezahlen, würde Mansoor sein eigener Lieferant werden, was ihm erlaubte, die Kosten zu senken und den Profit zu maximieren. Außerdem würde er sich die neuesten Technologien zunutze machen. Ein zentrales Computersystem würde alle Annahmestellen über das Internet mit der Reinigungsanlage verbinden. Auf lange Sicht, so schwebt ihm vor, würden die Kunden sogar in der Lage sein, ihre Artikel online einzuchecken und zu bezahlen. Das nennt sich E-Commerce. Die Geschäftswelt steht am Anfang eines neuen Zeitalters – ohne Angst vor blitzschnellen Fortschritten. Wenn Männer wie Edison und Bell die Industrielle Revolution beflügelt hatten, so sind es nun Männer wie Steve Jobs, Bill Gates und Sabeer Bhatia, die die digitale Revolution anführten. Und er würde ein Teil davon sein - schon bei dem Gedanken daran zittert er vor Aufregung. Genau so muss sich sein Vater gefühlt haben, als er die Küste von Sansibar erreichte. An der Schwelle zu einem Aufbruch ins Unbekannte.

Sein Plan ist bombensicher, das weiß er. Die Zahlen sprechen für sich. Jetzt muss er nur noch an die richtigen Leute im Rathaus herankommen. Ein mühseliger Prozess. Aber das ist es immer, wenn Behörden im Spiel sind. Hier oder in Uganda. Dieselben Hürden der Bürokratie, wie eine Reihe von Toren, die aufgestoßen werden müssen, bevor der Stier die Arena betreten darf.

Sobald er einen Fuß in der Tür hat, muss er die Stadt dazu bringen, ihn als ernsthaften Akteur zu sehen. Nicht als Einmannbetrieb, als einen Niemand, sondern als Lenker eines großen Unternehmens, der in der Lage ist, seinen ehrgeizigen Geschäftsplan auch umzusetzen. Als Federal Express ins Geschäft einstieg, ließen sie im Hintergrund Aufnahmen von klingelnden Telefonen, läutenden Türglocken und dem Stimmenteppich eines Großraumbüros laufen. Wenn Kunden anriefen, bekamen sie den Eindruck, sie hätten es mit einem Großunternehmen zu tun. Nicht mit einer zweifelhaften Eintagsfliege, sondern mit einer Firma, der sie vertrauen konnten. Ein Schnellreinigungsbetrieb wird bei der Stadt dasselbe Vertrauen hervorrufen. Er wird es Mansoor erlauben, seine Muskeln spielen zu lassen. Macht mit Macht zu beantworten.

Im Anhang des Businessplans findet sich sogar ein Betriebshandbuch für einen seiner Bahnhofsläden, etwas, das er sich von Franchise-Unternehmen abgeschaut hat, und in dem er sein Geschäft als ein Vorbild für höchste Standards und Effektivität darstellt. Baugleiche Kopien seines Ladens werden sich wie DNA-Stränge von Bahnhof zu Bahnhof verbreiten, bis ganz Calgary abgedeckt ist. Dann wird er über die Stadt hinaus expandieren, nach Edmonton, Vancouver, Toronto und Montreal. Er sieht seinen Namen überall im ganzen Land aufleuchten. M. G. Visram & Sohn, im Dienste Kanadas seit 1987. Täglich gesehen von Hunderten von Pendlern. Von Tausenden. Von Millionen. »Dann wird jeder meinen Namen kennen!« Siegessicher ballt er eine Hand zur Faust.

Das Lachen eines Mannes dröhnt durchs Geschäft.

Mansoor dreht sich um und sieht seinen Vater aus dem Rahmen der Fotografie in den Raum steigen, als wäre es ein Fenster. Sein Kopf stößt fast gegen die Decke.

Mansoor tritt einen Schritt zurück.

»Die Zeit läuft ab, Junge«, sagt sein Vater und lässt seine goldene Taschenuhr hin- und herpendeln. Tick-tack, tick-tack.

Er fühlt den stechenden Blick seines Vaters. Und schlägt die Augen nieder.

»Wie oft muss ich es dir noch sagen, Junge? Ein Mann darf niemals mit weniger abtreten, als ihm mitgegeben wurde.«

»Ja, Sir.«

»Die Zukunft der Familie hängt von dir ab, Junge. Das Schicksal deines Sohnes hängt von dir ab. Begreifst du das nicht?«

»Doch, Sir.«

»Fünfundzwanzig Jahre in diesem Land und das hier ist alles, was du vorzuweisen hast?« Govindji durchquert das Geschäft mit einem einzigen riesigen Schritt. »Ein Laden nicht größer als eine Abstellkammer? Erbärmlich.«

»Ich kann das erklären, Papa …«

Govindji hebt seine Hand. »Keine Ausreden mehr, Junge. Ich habe deine Ausflüchte bis oben hin satt.«

»Ich werde dich nicht enttäuschen, Papa. Diesmal nicht. Ich verspreche es dir.«

Tick-tack, tick-tack.

»Bist du dir sicher?«

»Ja, Sir, Papa-Sir.«

»Wie sicher?« Sein Vater tritt näher. Mansoors Herz rast. »Einhundertfünfzig Prozent sicher. Du kannst mir vertrauen.«

Govindji schlägt seinen Stock gegen Mansoors Waden. Er stöhnt und sinkt auf die Knie.

»Zeig mir, was du draufhast, Junge!«, ruft sein Vater.

Mansoor wirft sich auf den Boden und fängt an, Liegestütze zu machen wie auf dem Kasernenhof. Rauf, runter, rauf, klatschen, rauf, runter, rauf, klatschen.

Sein Vater klopft mit dem Stock einen Takt auf den Boden. »Schneller, Junge. Du hast keine Zeit zu verlieren.«

Mansoor hat Schwierigkeiten mitzuhalten. Schweiß tropft auf den Boden.

Sein Vater drückt ihm einen Fuß auf den Rücken. »Oder schaffst du es nicht?«

Mansoors Beine zittern, seine Arme ebenfalls. Er bekommt kaum noch Luft.

»Ich … schaffe … es, Pa… pa. Ich ver… spreche es. Ich schaffe es.«

Die Glocke an der Eingangstür läutet.

»Hallo?«, ruft eine Frauenstimme.

Mansoor bricht auf dem Boden zusammen. Er hebt den Kopf und sieht eine Kundin am Tresen stehen. Er kämpft sich hoch. Seine Beine sind schwach. Sein Hemd ist klatschnass. Als er den Tresen erreicht, ist sie schon wieder zur Tür hinaus.

»Ich bin hier«, ruft er und folgt ihr nach draußen, aber sie bleibt nicht stehen.

Augenblicklich versteift sich sein Hemd, wie Wasser in einem Schockfroster. Schnell geht er wieder hinein. Kunden! Er schüttelt frustriert den Kopf. Eines Tages werden sie ihn noch umbringen.

Kapitel 2

Als Layla aufwacht, liegt auf dem Küchentisch eine goldene Taschenuhr, die aufgeschraubt und zerlegt worden ist und deren Einzelteile eine Art Muster bilden wie ein halb fertiges Puzzle. Das Ziffernblatt, die Zeiger, Federn und Spiralen. Dazwischen ein winziger Schraubenzieher und Hammer. Vielleicht läuft die Uhr nicht mehr, und Mansoor versucht, sie zu reparieren? Sie weiß es nicht. Aber sie wird sich umhören oder im Telefonbuch der ismailitischen Gemeinde nachsehen, um jemanden zu finden, der sie zum Laufen bringen kann, damit er das nicht tun muss.

Layla bevorzugt Ismailiten für alle Besorgungen des täglichen Lebens – sei es der Gang zur Näherin (Habiba in der Änderungsschneiderei Auf Kante genäht), zum Lebensmittelhändler (Sultan im Spice Village für die indischen und afrikanischen Einkäufe und Poojani im P. D. Wholesale Superstore für alle anderen) oder zur Ärztin (Dr. Jenny Kara in der örtlichen Ambulanz). Es geht nicht nur darum, als Gemeinschaft zusammenzuhalten, was natürlich sehr wichtig ist, es ist auch eine Frage des Komforts – sie muss nicht herumdrucksen und lange erklären, was sie will. Alle wissen schon Bescheid. Außerdem ist es auch eine Kostenfrage. Sie bekommt dort einen Sonderrabatt, genau wie alle anderen Gemeindemitglieder – je nach ihrem individuellen Verhandlungsgeschick. Das sollte man mal in einem normalen Geschäft versuchen! Mansoor lehnt diese Einstellung ab und schimpf mit ihr, weil sie keine »Brücken zu anderen« baut. »Wieso sind wir dann überhaupt in dieses Land gekommen?«, fragt er. Aber wer sagt denn, dass sie überhaupt herkommen wollte?

Layla schnürt ihre Schürze fest um ihre schmale Taille, sodass sie weit über ihre ausladenden Hüften fällt. Sie steckt sich ihr kurzes, langsam ergrauendes Haar nach hinten und macht sich an die Arbeit. Sie läuft mit einem Arm voll Tupperdosen kreuz und quer durchs Haus und stellt einen Behälter auf jeden freien Fleck, den sie finden kann. Sie beginnt in der Küche mit den Arbeitsflächen, der Mikrowelle und dem kleinen Beistellwagen, in dem sie Zwiebeln und Kartoffeln aufbewahrt. Danach ist das Esszimmer dran, wo sie sich vom Esstisch über die Stühle zu dem Schränkchen mit den Gläsern und dem Festtagsgeschirr vorarbeitet. Dann folgt das Wohnzimmer mit der sargartigen Tiefkühltruhe an einer Wand, dem Couchtisch und den Beistelltischen. Sie fährt fort, bis auch die letzte freie Stelle des Hauses bedeckt ist – bis auf das Bad und die Schlafzimmer natürlich. Ein ganzes Haus voller Behälter. Eine kleine Fabrik, in der sie ihr selbst gekochtes Essen produziert: ostafrikanisch-indische Küche.

Durch das Küchenfenster erspäht sie ihre Freundinnen Shamma und Almas, zwei unverheiratete Schwestern, die in dem Reihenhaus gegenüber wohnen. Ein feiner Schnee liegt auf den Gehsteigen der Reihenhaussiedlung. In der Dunkelheit sehen die großen, schmalen Häuser aus wie Schatten, die man vom Boden aufgehoben und aufrecht hingestellt hat. Jetzt sieht Shamma sie auch. Sie hält drei Finger hoch und winkt. Layla ballt die Hand und bewegt ihren Arm auf und ab, um zu bestätigen, dass sie um drei Uhr zum Teetrinken zu ihnen kommen wird. Sie kennt alle hier in der Siedlung, und alle kennen sie; nicht nur weil sie täglich zum Abendgebet und, wenn irgend möglich, auch zum Morgengebet ins Jamatkhana geht, sondern auch weil sie bei allen Ismailiten in ganz Calgary, eigentlich im ganzen Land, für ihre sagenhaften Hähnchen-Samosas berühmt ist. Nicht dass irgendjemand sie schon einmal nachzukochen versucht hätte. Das Rezept ist streng geheim. Es ist ausschließlich dem Imam vorbehalten. Dem hochverehrten Aga Khan.

Auch die Schwestern in ihren rosa Kittelschürzen und den passenden Hauben sehen aus, als würden sie gerade erst ihren Tag beginnen. Sie betreiben einen Friseursalon im Keller ihres Hauses. Wenn Mansoor wüsste, dass sie sich immer noch im Pinken Kamm die Haare machen lässt, wäre er außer sich. »Die betreiben ihr Geschäft illegal, Layla. Geh bitte zu einem ordentlichen Friseur, ja?« Aber die beiden sind mehr als nur Freundinnen. Sie sind fast schon Familie. Sie erinnern Layla an ihre Schwestern. Und an ihre Mutter. Die vermisst sie am meisten. Ihr fehlt die Gesellschaft von Frauen, die sie liebt, Frauen, mit denen sie lachen kann, Frauen, die alles über sie wissen. Ohne sie fühlt es sich an, als wäre ein Teil von ihr verlorengegangen.

Als sie Shamma und Almas erzählt hat, dass Ashif nach Hause kommt, haben sie sie darum gebeten, ihn zum Teetrinken mitzubringen. Sie hatte es nicht über sich gebracht, Nein zu sagen, und nur geantwortet, sie würde ihr Bestes versuchen.

Sie kennen Ashif schon seit seiner Kindheit; er nennt sie sogar masi, die offizielle Bezeichnung für Schwester der Mutter. Aber dafür würde keine Zeit bleiben. Er wird nur kurz zum Mittagessen vorbeikommen, obwohl er zwei volle Tage in Calgary bleibt, bevor er für zwei weitere nach Vancouver fliegt. Sie war todunglücklich, als er damit rausrückte. Sie hat ihn nun schon seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.

»Dann begleite mich wenigstens am Mittwoch ins Jamatkhana. Das ist so ein wichtiger Abend«, hatte sie gesagt und mühsam ihre Tränen zurückgehalten. »Es ist Lailat al-Qadr, die Nacht der Bestimmung, und alle werden dort sein.« Schließlich war ein Gebet während der Nacht der Bestimmung so viel wert wie die Gebete in tausend anderen Nächten. Es ist die wichtigste Nacht des Ramadan, des Monats, in dem Allah dem Propheten die ersten Kapitel des Korans offenbarte.

»Aber ich bin zum Arbeiten hier, Mama«, antwortete Ashif. »Ich bin von morgens bis abends beschäftigt.«

»Warum kommst du dann nicht am Freitag wieder, nachdem du in Vancouver alles erledigt hast? Bleib übers Wochenende bei uns. Das wäre doch schön.«

»Mein Rückflug nach Toronto ist schon gebucht. Die Firma würde die Umbuchungsgebühr ganz bestimmt nicht übernehmen. Und die hat sich gewaschen.«

»Na gut«, sagte sie, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, was »hat sich gewaschen« bedeutete. Ihr Sohn spricht mit seinem Vater Englisch und mit ihr eine Mischung aus Englisch und Kutchi. Ihr Englisch ist gut, aber manchmal fällt es ihr schwer, ihm zu folgen – nicht nur wegen der Wörter, die er benutzt, sondern auch wegen seines kanadischen Akzents. Als käme er aus einem anderen Land; aber das ist natürlich Quatsch! Manchmal muss sie sich seine Worte zusammenreimen. Sie stimmt ihm zu, unabhängig davon, ob sie ihn versteht oder nicht. Aber wenn er sie dabei erwischt, schimpft er mit ihr und sagt, sie müsse lernen, den Mund aufzumachen. »Dies ist ein freies Land, Mama! Du kannst sagen, was du willst.« Sie akzeptiert seine Ermahnungen. Auch wenn sie ihn manchmal daran erinnern möchte, dass sie schließlich immer noch seine Mutter ist.

»Ich will ja kommen, Mama«, hatte Ashif beteuert. »Aber ich habe wahnsinnig viel zu tun. Das weißt du doch.«

»Ja, das weiß ich, bheta«, hatte sie geantwortet, auch wenn ihr nicht klar ist, warum ihr Sohn immer so beschäftigt ist. Sie versteht nicht so richtig, was genau er arbeitet. Aber sie weiß, er hat einen wichtigen Job bei einer großen Firma.

Layla sehnt sich danach, das Gesicht ihres Sohnes zu sehen, ihn in den Arm zu nehmen und an sich zu drücken wie damals, als er noch ein kleiner Junge war. So müssen sich alle Mütter fühlen, die von ihren Kindern getrennt sind, davon ist sie überzeugt. Ein ständiges Gefühl von Verlust und Sehnsucht. Wenn er doch nur in der Nähe geblieben wäre, anstatt so weit wegzuziehen. »Calgary ist viel besser«, hatte sie ihn gedrängt, als er ihr von seinen Plänen erzählte, nach dem Abschluss des Wirtschaftsstudiums in Toronto zu bleiben. »Aber alle wirklich guten Jobs sind in Toronto. Ich muss dortbleiben.«

Sein Vater hatte ihm zugestimmt. »Lass ihn einfach in Ruhe, ja, Layla? Der Junge versucht, etwas aus sich zu machen«, hatte er gesagt und seinem Sohn den hochgestreckten Daumen gezeigt.

Wenn damals in der Heimat jemand in eine andere Stadt zog, war diese immer nur eine kurze Autofahrt entfernt. Oder einmal mit der Fähre über den Victoriasee. Aber hier ist es eine ganz andere Geschichte. Der Flug von Calgary nach Toronto dauert mindestens fünf Stunden. Fünf Stunden! Toronto könnte genauso gut in einem anderen Land liegen. Schon viele Male hat sie auf der Karte an der Wand in Ashifs ehemaligem Schlafzimmer, das jetzt ihres ist, die Entfernung gemessen. Wie oft ist sie schon mit ihrer ausgestreckten Handfläche quer durch Kanada gereist. Vier Handflächen hintereinander! Uganda ist gerade mal einen Zeigefinger breit, ihre Heimatstadt Kisumu in Kenia nicht größer als die Spitze ihres Fingernagels. Nimmt man noch die verschiedenen Zeitzonen hinzu, dann muss man fast schon einen Termin vereinbaren, nur um ein einfaches Telefonat mit jemandem aus einer anderen Stadt zu führen. Nicht dass sie viele Leute zum Anrufen hätte. Alle, mit denen sie in Kontakt steht, leben hier in Calgary. Nur ihr Sohn nicht. Ihre Brüder sind noch in Kenia. Ihre Mutter auch. Ihre Schwester Shenaz lebt in Australien. Ihre Schwester Gulnar in Pakistan. Ihre Familie ist über den Globus verteilt wie die Sterne am Himmel. Die meisten hat sie über fünfundzwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Noch nicht einmal, als sie Uganda verlassen musste. Dafür war keine Zeit gewesen.

***

Nur wenige Tage vor dem 8. November 1972, Ablauf der Frist, die General Idi Amin allen Asiaten zur Ausreise aus Uganda gesetzt hatte, traf Layla mit ihrem Baby im Flüchtlingslager der Royal Air Force hundert Kilometer außerhalb von London ein. Schon Monate zuvor war die jüdische Gemeinde aus dem Land geworfen worden. Danach waren dann die Asiaten dran. Sogar die Muslime unter ihnen mussten innerhalb von neunzig Tagen das Land verlassen. Sie hatte Mansoor vorgeschlagen, zu ihrer Familie nach Kenia zu ziehen, aber Mansoor hatte sich geweigert, dem Erlass Glauben zu schenken, und als er nicht länger die Augen vor der Wahrheit verschließen konnte, hatten alle Nachbarländer Ugandas ihre Grenzen bereits geschlossen. »Als wenn er uns rausschmeißen würde. Wir sind schließlich in diesem Land geboren, Herrgott noch mal«, hatte er zu sagen gepflegt. Im Jamatkhana vertraten viele Priester eine ähnliche Meinung. Aber jeden Tag machten neue Geschichten über Amins Terror die Runde: Zwei Männer wurden beim Tanken an der Tankstelle erschossen; ein Mann wurde in einen Kofferraum gesperrt und nie wieder gesehen; Zwillingsschwestern wurden vom Campus der Makerere-Universität aus ihrem Wohnheimzimmer entführt und tagelang von einer Gruppe Armeeoffiziere vergewaltigt, bis einer Schwester schließlich die Flucht gelang – ihre Brustwarzen bluteten noch, als sie am Straßenrand gefunden wurde. Panik breitete sich aus. Die Mitglieder der asiatischen Gemeinde begannen, ihre Sachen zu packen. Die Vereinten Nationen organisierten Lufttransporte, die die Menschen außer Landes brachten. Jeder Flüchtende durfte ein Gepäckstück und 50 Pfund mitnehmen. Layla schmuggelte ihren Brautschmuck hinaus, indem sie Halsketten in Ashifs Windel einnähte, Ohrringe in seiner Milchflasche versteckte und Armbänder auf seine winzigen Oberschenkel schob. »Wenigstens könnt ihr hier raus«, hatte Ashifs ayah Rose, ihr ugandisches Kindermädchen, gesagt, bevor sie sich die Augen an den Ärmeln ihres kanga trocken rieb. »Aber was soll aus uns werden, Mamma?«

Layla hatte Mansoor angefleht, mit ihnen zu kommen: »Bitte, sie werden dich töten.« Mansoor hatte sich geweigert. Er wollte so lange bleiben, wie es eben ging, und versuchen, ihr Vermögen irgendwie zu retten. Außerdem, erinnerte er sie, hatte das Britische Konsulat strengstens davon abgeraten, ohne gültige Papiere einzureisen. Illegale Einreisende, so die Warnung, würden auf unbestimmte Zeit festgesetzt, selbst wenn Frau oder Kinder britische Staatsbürger seien. Eine schreckliche Sache, diese Ausweisung von achtzigtausend Asiaten, hieß es, aber wir haben keine Wahl: Wir müssen an unserer Quotenregelung für die Einreise festhalten. Stadträte wie der von Leicester schalteten Anzeigen in ugandischen Zeitungen, in denen sie die Asiaten nachdrücklich aufforderten, ihrer Stadt fernzubleiben. Layla konterte Mansoors Weigerung, indem sie ihn auf andere Männer hinwies, die ebenfalls keinen britischen Pass besaßen und trotzdem ihre Familien begleiteten. »Ich bin nicht wie andere Männer«, antwortete Mansoor sachlich. »Sei stark, Layla, unserem Sohn zuliebe. Wir werden wieder vereint sein, eh du dich’s versiehst. Das verspreche ich dir.«

In London beobachtete sie neidvoll, wie Familien in der Lager-Cafeteria zusammensaßen und gemeinsam aßen und lachten. Viele der illegal Eingereisten wurden in den Lagern festgehalten, aber wenigstens waren sie als Familie zusammen, und das war doch das Wichtigste. Nach und nach gelang es etlichen von ihnen, erfolgreich in Länder wie Schweden oder Argentinien weiterzureisen, nachdem sie sich auf Anzeigen am Schwarzen Brett des Lagers mit Überschriften wie »Haben Sie schon mal eine Ausreise in Betracht gezogen?« gemeldet hatten. Mansoors drei Schwestern und ihre Familien hatten im selben Flugzeug nach London gesessen, aber sie hatte sie in der Menschenmenge in Heathrow aus den Augen verloren. Als sie sie in einem anderen Lager aufspürte, sagten die Schwestern, sie wünschten wirklich, sie könnten ihr helfen, vielleicht sogar in eine gemeinsame Wohnung ziehen, aber sie dürften das Lager nicht verlassen – ihre Ehemänner wären Gefangene. Jahre später erfuhr sie, dass ihre Männer ihr Vermögen erfolgreich über einen befreundeten Reiseveranstalter aus Uganda herausgeschmuggelt hatten. Sie hatten Dutzende Flüge gebucht, die mehrfach um den Globus führten, als würden sie die Welt in kilometerlange Goldfäden wickeln. Nachdem sie aus den Lagern entlassen worden waren, hatten sie sich in Birmingham niedergelassen, wo sie unauffällig alles stornierten und die Rückzahlungen einstrichen.

Im Lager fühlte sich Layla zutiefst einsam, so wie damals, als sie von Kenia nach Uganda gezogen war, um Mansoor zu heiraten. Sie hatte niemanden in Kampala gekannt; sie hatte auch Mansoor kaum gekannt. Sie hatte ihn nur ein paarmal getroffen, bevor ihr Vater in Mansoors Bitte um die Hand seiner Tochter einwilligte und der Hochzeit zustimmte. Layla erzählte niemandem davon, nicht mal ihrer eigenen Familie, wie sehr sie unter der Trennung litt, wie sehr sie sie alle vermisste. Sie behielt ihre Gefühle für sich. Sie wusste, dass eine Frau nicht erwarten durfte, Teil der Familie zu bleiben, in die sie hineingeboren war. Ihr neues Zuhause musste, wie ihr Name, unweigerlich in dem ihres Mannes aufgehen.