Nacht wird es immer - Willy Vlautin - E-Book

Nacht wird es immer E-Book

Willy Vlautin

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Beschreibung

Lynette ist Ende zwanzig, und versucht, neben zwei Jobs ihren Schulabschluss nachzuholen, denn sie will endlich einen festen Platz im Leben. Als der Vermieter anbietet, ihr das Haus zu verkaufen, in dem die Familie seit Ewigkeiten lebt, erkennt Lynette die einzigartige Chance, sich in der Boomtown Portland, Oregon, zu behaupten. Aber dann lässt ihre Mutter sie plötzlich hängen und der Deal droht zu platzen. In dem verzweifelten Versuch, es allein zuschaffen, steigt Lynette einen Nacht lang in die Abgründe ihrer Vergangenheit, um sich auf der hässlichen Seite der Stadt zu holen, was man ihr schuldet ... Wieder hat der unvergleichliche Willy Vlautin mit seiner kraftvollen Literatur eine jener wunderbaren Figuren erschaffen, die man nie mehr vergessen kann.

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Übersetzung aus dem Englischen von Nikolaus Hansen

 

© Willy Vlautin, 2020

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2021

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Stocksy (Carl Zoch; Juno)

 

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Inhalt

Cover & Impressum

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»Der Punkt ist: Man kann gar nicht gierig genug sein.«

Der 45ste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika

 

Gold ist eine verteufelte Sache … Es ändert den Charakter. Man kann noch so viel haben, noch so viel finden, so viel aufzupacken haben, dass man es allein gar nicht wegschleppen kann, immer denkt man daran, noch etwas hinzuzubekommen. Und um noch etwas hinzuzubekommen, hört man auf, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Wenn man rausgeht, nimmt man sich vor, mit dreißigtausend Dollar zufrieden zu sein. Wenn man nichts findet, setzt man seine Erwartungen herab auf zwanzigtausend Dollar, dann auf zehntausend, und man erklärt, dass man sich mit fünftausend Dollar völlig begnügen würde, wenn man sie nur finden möchte, auch wenn man hart darum arbeiten muss. Findet man dann aber etwas, dann ist man mit den ursprünglich erhofften dreißigtausend Dollar nicht satt zu kriegen, dann geht man immer höher und höher, möchte fünfzig-, hundert-, zweihunderttausend Dollar haben. Dann kommen die Verwicklungen, die einen hin und her schmeißen und nicht mehr zur Ruhe kommen lassen.

B. Traven, »Der Schatz der Sierra Madre«

1

Kenny hatte sie mit den Händen am Knöchel gepackt und fing an, sie vom Bett zu ziehen. Eine kleine Lampe auf der Kommode war das einzige Licht im Zimmer und er stand in seinem Superman-T-Shirt und Pyjamahosen über ihr. Ein tragbarer Heizstrahler mitten im Zimmer gab wenig Wärme und es war Winter und sein Atem kam in kleinen schwindenden Wolken hervor.

Für Lynette war es ein plötzliches Erwachen und sie sah zur Uhr auf dem Nachttisch, drei in der Früh. »Ich kann noch eine Viertelstunde weiterschlafen. Also bis dahin bitte nicht anfassen und kein Wort reden.« Sie war dreißig Jahre alt und stieg in zehn Jahre alten Jogginghosen und Wollsocken aus dem Bett, machte das Licht auf der Kommode aus und kroch wieder unter die Decken.

In der Dunkelheit wurde sein Atem lauter.

»Geh wieder nach oben«, schrie sie.

Er fing an zu quengeln.

»Bitte«, flehte sie, aber er hörte nicht auf. Es wurde nur schlimmer, also knipste sie die Nachttischlampe neben dem Wecker an und musterte ihn. »Herrgott, fang nicht an zu heulen. Es ist zu früh und ich bin erschöpft und du weißt, dass ich fies werden kann, wenn ich erschöpft bin. Und trotzdem kommst du jeden Morgen hierher, obwohl du weißt, dass du das nicht sollst. Jeden Morgen dasselbe.«

Sein Gesicht war rot und ihm quollen Tränen aus den Augen.

»Komm, hör auf damit. Für deine Heulerei bin ich zu müde. Du musst mich noch schlafen lassen.« Sie zog sich das Laken, zwei Wolldecken und die Steppdecke über den Kopf. Aus der Versenkung sagte sie: »Du kennst die Regeln. Du musst warten, bis der Wecker klingelt. So ist die Regel. Wenn der Wecker klingelt, kannst du runterkommen. Vorher nicht. Das hab ich dir schon tausendmal gesagt. Warte einfach oben an der Treppe. Warte, bis du den Wecker hörst. Wir haben das schon x-mal besprochen. Erinnerst du dich?«

Ihr Bruder schüttelte den Kopf.

»Du erinnerst dich, das merke ich daran, wie du atmest.«

Kenny schüttelte den Kopf, fing aber an zu grinsen. Er packte durch das Bettzeug ihr Bein.

Sie zog die Decken zurück. »Herrgott, na gut, okay, du hast gewonnen. Aber ich stehe nur auf, wenn du dir die Zähne putzt.«

Er schüttelte den Kopf.

»Du kannst einen umbringen mit deinem Atem. Ich riech das sogar bei der Kälte. Zieh die saubere Jogginghose an, die ich rausgelegt habe, putz dir die Zähne, und ich mach mich inzwischen fertig für die Arbeit. Okay?«

Er schüttelte den Kopf.

»In fünf Sekunden werd ich wieder böse.« Sie zeigte zur Treppe und schließlich setzte sich ihr Bruder in Bewegung. Sie blieb im Bett liegen und sah ihm zu, wie er wegging. Er war zweiunddreißig Jahre alt und legte Jahr für Jahr an Gewicht zu. Sein Körper hatte inzwischen die Form einer Birne. Er war ein Meter achtundsiebzig groß und hatte einen watscheligen Gang. Sein braunes Haar wurde zunehmend schütter und mitten auf dem Schädel bildete sich eine kahle Stelle. Er hatte mehrmals im Monat Anfälle und konnte nicht sprechen, stieß lediglich Töne aus, die Wörtern ähnelten. Die Ärzte sagten, er sei auf dem geistigen Stand eines Dreijährigen. Manchmal schien das untertrieben, manchmal übertrieben zu sein.

Er trampelte die Treppe rauf und sie stieg aus dem Bett.

*

Das Fundament des Hauses war 1922 geschüttet worden, mit minderwertigem Beton. Bei winterlichen Regengüssen leckte es an einem halben Dutzend Stellen. Im Laufe der Jahre waren kleine Abschnitte der Betonwände durchweicht, der Putz begann zu bröckeln. Ihr erster Vermieter beauftragte eine Firma, das Fundament auszubessern, aber er war gestorben und sein Sohn, der an der Küste nicht weit von Astoria lebte, erbte das Haus. Er hatte unter der stillschweigenden Übereinkunft, dass sie ihn mit Reparaturforderungen verschonten, in elf Jahren kein einziges Mal die Miete erhöht. Also verschonten sie ihn und im Souterrain suppte es weiter rein.

In Lynettes Zimmer gegenüber dem Bett standen ein funktionierender Waschtrockner, ein Ölofen von 1960, ein Waschbecken aus Beton und Regale voller Kartons. Während der Highschool hatte sie ihren Teil des Fußbodens dunkelblau und die Wände hellblau gestrichen. Sie hatte Poster aufgehängt. Der Fußboden war zwar immer noch blau gestrichen, aber die Poster waren verschwunden und die Wände waren weiß und kahl. Sie schlief im zwanzig Jahre alten Bett ihrer Mutter und benutzte eine Kommode, die sie mit dem Haus übernommen hatte und von deren Füßen inzwischen zwei durch Ziegelsteine ersetzt worden waren, sowie eine zwei Meter lange Holzstange, die zwischen die vom Boden zur Decke reichenden Stützbalken genagelt war und an der sie ihre Sachen aufhängte.

Sie zog ihre Arbeitshosen und ein marineblaues T-Shirt mit der cremefarbenen Aufschrift »9th Street Bakery« an. In einen Rucksack packte sie Kleider zum Wechseln und ihre Collegesachen und ging nach oben, wo im Wohnzimmer ihre Mutter schlafend auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher lag. Lynette machte ihn aus und ging ins Badezimmer. Die Toilette war nicht aufgezogen und auf dem Boden lag benutztes Klopapier. Sie hob es auf und spülte. Sie wischte die Brille sauber, ging auf die Toilette, dann wusch sie sich das Gesicht und putzte die Zähne und bürstete ihr Haar.

Ihr Bruder saß in einer roten Portland-Trail-Blazers-Jogginghose und dazu passendem Kapuzenpulli auf seinem Bett. Die Wände seines Zimmers waren gepflastert mit zwanzig Jahre alten Portland-Trail-Blazers-, Winterhawks- und Beavers-Postern. Auf dem schmalen Bett in der Zimmerecke lag eine schwarz-rot-weiße Trail-Blazers-Überdecke. Auf einer Kommode stand eine Superman-Lampe. In zwei Wandsteckdosen steckten Superman-Nachtlichter.

»Schuhe«, sagte Lynette.

Kenny grinste, schüttelte aber den Kopf.

»Trödel nicht rum. Sonst kommen wir zu spät.« Sie sammelte zwei Jogginghosen vom Boden auf, roch an ihnen und faltete sie zusammen und legte sie auf die Kommode. Sie fand seine rot-schwarze Blazers-Strickmütze und setzte sie ihm auf. »Nicht abnehmen. Das ist ein Befehl. Wir können nicht am laufenden Band Mützen verlieren.«

Sie suchte den Boden nach Socken ab, fand zwei, roch prüfend an ihnen und zog sie ihm an die Füße. »Morgen schneiden wir dir die Nägel.«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie sind langsam eklig. Lass mal sehen, was du in den Rucksack gepackt hast.«

Er nahm ihn fest in den Arm.

»Komm schon, Kenny.«

Er schüttelte den Kopf.

»Na gut. Wie du willst. Dann ziehen wir uns jetzt die Schuhe an und los geht’s.«

Sie nahm seine Hand und sie gingen ins große Zimmer, wo schon wieder der Fernseher lief.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Lynette.

Ihre Mutter sah vom Sofa zu ihnen herüber. Sie lag unter einer elektrischen Heizdecke mit Leopardenmuster. »Ich vergess immer wieder, wie früh du aufstehst.« Sie griff hinüber zum Couchtisch, tastete nach ihren Zigaretten, einem Feuerzeug, und steckte sich, auf dem Rücken liegend, eine an. »Wann bringst du ihn nach Hause?«

»Ich bin um zwei mit dem College fertig. Um Viertel nach zwei bin ich hier, und um halb vier fängt meine Schicht an. Ich hab Sally angerufen, aber sie kann nicht auf ihn aufpassen. Ich würde sagen, ich schließ ihn in sein Zimmer ein und lass ihn einen Film gucken. Er ist dann knapp über zwei Stunden allein, wenn du gleich nach der Arbeit nach Hause kommst.«

Ihre Mutter hustete. »Ich geh wahrscheinlich heute nicht zur Arbeit.«

»Bist du krank?«

Sie nickte und ein Rauchfaden stieg aus ihrem Mund.

»Dann bleibt er bei dir.«

Ihre Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Nee … ist bloß ein frommer Wunsch. Ich muss hingehen.« Sie legte die Zigarette in einen Aschenbecher, setzte sich auf und sagte, »Komm her, Superman«. Sie klopfte mit der Hand auf das Sofa und Kenny kam zu ihr. »Du bist heute ein braver Junge. Tu, was deine Schwester dir sagt.« Sie küsste ihn auf die Stirn und ließ sich wieder zurücksinken.

*

Lynette schloss die Haustür ab und zog auf der Veranda die Reißverschlüsse von ihrer und Kennys Jacke zu. Die Außenwände des alten Hauses hinter ihnen waren mit Asbestschindeln verkleidet und die einfach verglasten Fenster noch original und weiß gestrichen. Das Haus hatte dreiundneunzig Quadratmeter und auf der anderen Straßenseite war eine Betonmauer, die vor Einblicken und einem Teil des Verkehrslärms von der Interstate 5 schützte.

Es war Januar und es regnete und es waren neun Grad, als Lynette und ihr Bruder über den Rasen zu ihrem roten 1992er Nissan Sentra gingen. Sie öffnete die Beifahrertür und Kenny stieg ein. Sie schnallte ihn an und ging auf die Fahrerseite. Der Wagen sprang beim zweiten Versuch an. Die Heizung war seit einem Jahr kaputt und ihr Atem ließ die Scheiben von innen beschlagen. Sie fuhr mit einer Hand am Lenkrad, in der anderen hielt sie einen Lappen, mit dem sie die Windschutzscheibe wischte.

»Da überholt uns ein rotes Auto«, sagte Lynette lustlos zu ihrem Bruder. »Siehst du?«

Kenny lächelte und zeigte auf den Wagen.

Sie legte ihm die Hand auf den Arm und drückte ihn. »Dass schon jetzt das Auto mit deiner Lieblingsfarbe gekommen ist, könnte bedeuten, dass wir einen Glückstag haben.«

Es war noch pechschwarze Nacht, als sie die Fremont Bridge überquerten und das Radio spielte und der Regen fiel. Kenny sah aus dem Fenster auf die verschwommenen Lichter von Portland und Lynette lehnte sich gegen die Fahrertür und seufzte.

2

Der Mitarbeiterparkplatz der 9th Street Bakery war vor zwei Jahren verkauft worden. Dort stand nun ein halb fertiges zehnstöckiges Gebäude mit Eigentumswohnungen. Lynette war daher gezwungen, auf der Straße zu parken. Das war bis acht Uhr umsonst, danach musste sie stundenweise zahlen, bis sie mittags wegfuhr. An jenem Morgen fand sie einen Platz direkt gegenüber der Bäckerei und sie und Kenny stiegen aus und sie nahm ihn bei der Hand und trug seinen Rucksack, während sie über die Straße gingen. Die Bäckerei war geschlossen, aber ein Seiteneingang war offen und sie durchquerten ein Lager auf dem Weg zum Pausenraum, wo sie ihren Bruder an einen Tisch setzte, vor sich ihr Handy, ein Blatt Fleischpapier und eine Schachtel mit Buntstiften.

»Du bleibst hier im Zimmer, außer du musst auf die Toilette«, sagte sie, »aber vorher kommst du zu mir. Und nicht zu lange warten, so wie gestern, weil ich vergessen hab, Sachen zum Wechseln für dich mitzunehmen. Also halt es zurück und komm zu mir. Du weißt, wo ich bin. Ich werd auch nicht sauer. Bestimmt nicht. Ich freu mich, wenn du mir Bescheid sagst. Verstanden?«

Er nickte und sie startete den Film Toy Story auf ihrem Handy und ging. Um 4.00 Uhr stempelte sie ein und begann ihre Schicht als leitende Konditorin und holte Tabletts mit Croissants und Gebäck aus dem Gärautomaten und schob sie in den Ofen. Einmal pro Stunde ging sie in den Pausenraum, um nach ihrem Bruder zu sehen. Sie brachte ihn zur Toilette und versuchte, ihn zu überzeugen, sein Geschäft zu erledigen, oder sie lud ihm einen neuen Film aufs Handy. Um sieben machte sie zum ersten Mal richtig Pause und setzte sich zu ihm.

Kenny zeigte durchs Fenster nach draußen.

»Ich hab heute keine Zeit, aber du darfst um den Block gehen. Wenn ich dir das erlaube, muss ich allerdings das Handy behalten.«

Kenny schüttelte den Kopf.

»Beides geht nicht, das weißt du. Du musst dich entscheiden.«

Kenny gab ihr das Handy.

»Du bleibst nirgends stehen, außer du siehst Karen draußen vor Fuller’s warten, okay? Wenn du sie siehst und sie bittet dich rein, dann darfst du mitgehen. Aber wenn sie nicht da ist, lass dich nicht von irgendwelchen Pennern ansprechen, vor allem nicht von jungen. Und wenn sie Hunde dabeihaben, also, dann kehrst du einfach um und kommst wieder her. Solche Hunde mögen nicht, wenn man sie streichelt. Weißt du noch, was letztes Mal passiert ist? Der Biss hat echt wehgetan und du hattest echt Angst. Also keine Hunde streicheln. Vor allem keine Pennerhunde.« Sie zog ihm die Jacke an und setzte ihm die Mütze auf und gab ihm einen Kuss. Sie schloss die Seitentür auf und sah ihm nach, wie er den Bürgersteig hinunterging. Sie nahm sich eine Tasse Kaffee, setzte sich an den Pausentisch und rief in Fuller’s Restaurant an.

»Hier ist Lynette. Kenny ist unterwegs. Kannst du ihm einen Pfannkuchen mit zwei Rühreiern machen? Das Rührei muss oben auf dem Pfannkuchen liegen, sonst isst er die Eier nicht. Und kannst du ihm wie immer den Sirup drübertun? Wenn er es selbst macht, trinkt er das ganze Ding leer. Wenn er sauer wird, sag ihm einfach, dass ich sehen kann, wenn er zu viel nimmt. Dass ich es sehen kann, von wo ich bin … Ich weiß, immer dasselbe … Und lass den Sirup nicht in seiner Nähe. Ich hab schon erlebt, dass er die ganze Flasche trinkt … Ich weiß, das ist ekelhaft … Danke noch mal. Ich bring dir ein bisschen was zu naschen, wenn ich hier fertig bin. Und ich zahl auch für diese Woche … Schick mir ne SMS, wenn er wieder geht, okay?«

Sie legte auf, trank einen Schluck Kaffee und ließ den Kopf auf den Tisch sinken und schloss die Augen. Ihre Pause war vorbei und sie ging wieder an die Arbeit. Weitere Mitarbeiter trudelten ein, auch der Besitzer, und die Bäckerei wurde geöffnet. Sie arbeitete noch mal eine Dreiviertelstunde, dann kam eine SMS und sie ging nach draußen und traf ihren Bruder auf der Straße.

»Bist du bereit für dein Schläfchen?«

Kenny nickte.

Sie kamen an ihren Wagen, sie machte die Beifahrertür auf und Kenny stieg ein. Sie holte einen Schlafsack vom Rücksitz und deckte ihn damit zu. »Der Besitzer ist jetzt da, du kannst also nicht reinkommen. Schlaf einfach, okay? In meiner letzten Pause komm ich nach dir sehen, und dann gehen wir zu Fuller’s auf die Toilette. Wir haben jetzt nur noch vier Stunden zu überstehen. Wir haben’s fast geschafft. Ich komm nach dir sehen, wenn immer es geht. Im äußersten Notfall, wenn du auf Klo musst, steig aus dem Auto und komm zu mir. Das gilt aber nur für den Notfall. Und denk dran, niemandem die Tür aufmachen. Und zwar wirklich niemandem, klar? Auch nicht, wenn sie nett aussehen oder wenn sie Schutzhelme tragen. Nicht mal, wenn sie aussehen wie Polizisten und an die Tür klopfen und lächeln. Okay? Und ich hab auf meinem Weg zu Fuller’s ein rotes Auto gesehen. Das macht also schon zwei. Ganz schön aufregend. Sag mir, wenn du noch mehr siehst.« Er streckte die Arme aus und umarmte sie und ließ sie nicht wieder los. »Komm, Schluss mit dem Quatsch. Ich muss arbeiten.« Er ließ sie los und sie sagte, »Okay, Superman, Zeit zum Schlafen. Das ist ein Befehl«. Sie gab ihm einen Kuss und schloss die Wagentür.

Dreimal sah sie nach ihm und die ganze Zeit schlief er. Um zwölf stempelte sie aus, zog sich auf der Damentoilette um und machte sich, im Gepäck zwei Käseschinkensandwiches, einen Kaffee, einen Orangensprudel und zwei Rosinenbrötchen, auf den Weg.

*

Es war ein düsterer Tag, es regnete pausenlos und sie fuhr durch den Pearl District Richtung Freeway. Vor zwanzig Jahren hatte die Gegend hauptsächlich aus leer stehenden Lagerhäusern bestanden, jetzt gab es hier Luxuslofts und -geschäfte, Restaurants und Eigentumswohnungen. Mit dem Lappen in der rechten Hand wischte sie die Innenseite der Windschutzscheibe und sie überquerten die Broadway Bridge in östlicher Richtung und fuhren auf der Williams Avenue nach Norden. Auch hier neue Wohngebäude und Restaurants und Bars. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie es hier an der Williams oder der Mississippi Avenue oder an der Interstate vor fünf Jahren ausgesehen hatte. Vor zwanzig Jahren hätte ihre Mutter keinen Fuß auf die Mississippi gesetzt und jetzt gingen sie an Wochenenden dort spazieren. Sie sahen sich die Schaufensterauslagen mit Klamotten und Schuhen an, die sie sich niemals leisten konnten, und die Speisekarten von Restaurants, in die sie niemals gehen würden. Ihr Familientreff, ein griechischer Diner namens The Overlook, hatte vor Kurzem dichtgemacht. Dort hatten sie fünfundzwanzig Jahre lang zweimal im Monat gegessen. Den Eigentümern waren für das Grundstück immer höhere Summen geboten worden, und irgendwann war es so viel, dass sie verkauften. Das Restaurant wurde abgerissen und die Bauarbeiten an einem Wohnblock begannen.

Sie parkte am Portland Community College und sie stiegen aus. Sie aß ihr Sandwich, während sie den Campus überquerten. In einem Hörsaal in der Cascade Hall setzten sie sich ganz hinten ans Ende eines langen Tisches. Sie packte Kennys Sandwich aus und machte ihm die Brauseflasche auf, während sich nach und nach fünfundsiebzig Studenten zum Einführungskurs Buchhaltung einfanden.

Sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr, »Denk dran, wir müssen still sein, okay? Das bedeutet keinen Pieps. Auch nicht pupsen«. Aber nach zwanzig Minuten Vorlesung fing Kenny an zu furzen. Studenten in ihrer Nähe warfen ihnen Blicke zu und Kenny zog Lynette an der Bluse.

»Ist das ein Notfall, oder kannst du noch warten?«, fragte sie.

Kenny machte ein besorgtes Gesicht, zog wieder an ihrer Bluse, also ging sie mit ihm aus dem Hörsaal und zur Herrentoilette. Sie schob ihn in eine Kabine und lehnte sich davor an ein Waschbecken und wartete. »Vergiss nicht, Hose und Unterhose runterzuziehen. Vergiss nicht, dich hinzusetzen, bevor es losgeht. Hose, Unterhose, hinsetzen und los.«

Ein Student kam herein, benutzte das Urinal und verschwand wieder. Fünf Minuten vergingen.

»Los jetzt, ich muss wenigstens noch ein bisschen was von der Vorlesung mitkriegen. Bist du bald fertig?« Sie öffnete die Tür der Kabine, wo er nach wie vor saß und sie angrinste.

»Los jetzt, mach keinen Quatsch. Auf geht’s und abwischen.« Sie schloss die Kabinentür, wartete weitere zwei Minuten und öffnete sie wieder. »Bist du fertig?«

Kenny schüttelte den Kopf und grinste wieder.

»Also gut, noch einmal abwischen nur für mich.«

Kenny zog eine Handvoll Papier von der Rolle und wischte sich ab.

»Sehr gut, Unterhose und dann die Hose.«

Kenny zog die Unterhose hoch, dann die Jogginghose, und kam aus der Kabine. Sie sah ins Klo, zog auf, half ihm beim Händewaschen, und sie gingen zurück in die Vorlesung.

Der Dozent, ein Mann mittleren Alters aus Indien, hatte einen starken Akzent und sprach sehr leise, sodass er dort, wo sie saß, kaum zu verstehen war, und im Raum war es warm und Müdigkeit überkam sie. Ihr Bruder spielte mit ihrem Handy und sie begann einzunicken und dann war die Vorlesung vorbei. Ein Assistent stand beim Ausgang und gab die erste Klausur des Semesters zurück. Sie hatte bestanden, aber nur mit dreiundsiebzig Prozent. Eine ganze Woche lang hatte sie gelernt und trotzdem nur dreiundsiebzig geschafft.

Sie gingen über den Campus zurück zu ihrem Wagen. Die Scheiben beschlugen, während sie auf dem Parkplatz standen, und Lynette stiegen Tränen in die Augen und sie ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. Kenny zog sie an der Jacke. »Keine Sorge«, flüsterte sie. »Ich bin bloß müde. Halt mir einfach ein bisschen die Hand.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Ich hab mir immer gewünscht, dass ich klug bin, aber ich muss wohl einsehen, dass dem einfach nicht so ist. Ich brauch nur ne Minute, okay? Gib mir bloß ne Minute.« Sie schloss die Augen. Im Radio spielte ein Song und sie nahm sich die Zeit, bis er vorbei war, dann schlug sie die Augen wieder auf und versuchte zu lächeln. »Alles klar«, sagte sie. »Jetzt geht’s mir besser. Bringen wir dich nach Hause.«

3

Im Carport rechts vom Haus stand ein Auto, das sie noch nie gesehen hatte, ein weißer Toyota Avalon Limited. Statt eines Kennzeichens war am Heck lediglich ein Werbeschild, auf dem Toyota of Portland stand, und in der Rückscheibe klebte eine weiße Kurzzeitzulassung für Überführungsfahrten. Lynette parkte auf der Straße, stieg aus, machte Kenny die Beifahrertür auf und half ihm aus dem Auto. Sie überquerten den Vorgartenrasen und sie blieb stehen und sah ins Innere des Toyota. Die Sitze waren aus schwarzem Leder und eine durchsichtige Schutzfolie bedeckte den Teppichboden. Der Wagen war nagelneu.

Im Haus waren die Vorhänge zugezogen und nirgends brannte Licht. Ihre Mutter lag auf dem Sofa unter der elektrischen Heizdecke und sah fern. Sie setzte sich auf, als sie hereinkamen. »Komm her und gib deiner Mutter einen Kuss«, sagte sie zu Kenny. Er ging langsam zu ihr und ihre Hände zitterten ein wenig, als sie sich eine Zigarette anzündete, sie sich in den Mund steckte und ihn am Arm fasste. »Setz dich zu mir.« Sie klopfte mit der freien Hand auf das Sofa. »Setz dich hier gleich neben Mami.«

Kenny schüttelte bloß den Kopf.

»Ab und zu musst du mal das tun, was jemand anderer von dir will, und nicht, was du willst. Also, setz dich.« Sie drückte sein Handgelenk so fest, wie sie konnte, und zog ihn zu sich runter. Er maulte, setzte sich aber.

Lynette legte Handtasche und Schlüssel auf einen Tisch bei der Haustür. »Wessen Auto ist das?«

Ihre Mutter schwieg.

»Mein Gott, es ist heute so scheußlich draußen.« Lynette kam ins Wohnzimmer. »Ich versteh nicht, warum du die ganze Zeit hier im Dunkeln sitzt. Hast du was dagegen, wenn ich die Heizung aufdrehe, wenigstens ein bisschen? Ich werde heute irgendwie nicht richtig warm.«

»Meinetwegen«, sagte ihre Mutter.

Lynette drehte den Thermostaten hoch auf zwanzig. »Also, wessen Auto ist das? Feines Ding. Ist es Cheryls? Ist deins kaputt?«

Ihre Mutter hielt die Zigarette in der Linken und hatte die Rechte weiterhin um Kennys Handgelenk geschlossen. Sie hatte den Blick auf den Fernseher gerichtet und sprach mit leiser, kaum hörbarer Stimme. »Es ist meins.«

Lynette lachte. »Es ist deins? Das wüsst ich aber.«

Die Stimme ihrer Mutter wurde lauter, begann aber zu zittern. »Ich … ich hab’s gekauft.«

Lynette sah sie an, plötzlich besorgt. »Was soll das heißen, du hast es gekauft? Du meinst, du hast heute ein Auto gekauft? Während ich unterwegs war? Du warst, anders als abgemacht, nicht bei der Arbeit, und du hast einfach mal eben ein nagelneues Auto gekauft?«

Ihre Mutter war siebenundfünfzig Jahre alt und hatte zwanzig Kilo Übergewicht. Sie hatte braun gefärbtes Haar und trug ihre Arbeitskleidung, einen schwarzen Hosenanzug mit cremefarbener Bluse. An den Füßen hatte sie dicke Wollsocken. Sie zog Kenny die Heizdecke über die Beine, rückte dichter an ihn heran und hielt sein Handgelenk fest umklammert. »Ich hab dir nichts gesagt, weil ich wusste, dass du dich aufregst. Aber ich will schon lange ein neues Auto, das weißt du, und die Leute bei Toyota of Portland sind nett. Schleimen kein bisschen rum. Also hab ich einen Termin ausgemacht und sie hatten den, den ich wollte. Ich musste nicht mal was anzahlen. Keinen Cent, und die Raten sind niedriger, als man meint. Sie haben mir sogar noch tausendfünfhundert für den Saturn gegeben und du weißt genau, das Auto war lebensgefährlich. Die Bremsen waren runter und die Lenkung hat auch nicht mehr richtig funktioniert. Und er brauchte neue Reifen. Die Leute bei Schwab haben gesagt, den sollte ich besser gar nicht mehr fahren.«

»Was hat er gekostet?«

»War echt günstig.«

»Wie viel?«

»Mit allem Drum und Dran und der umfangreicheren Garantie neununddreißigtausend.«

Lynette setzte sich auf einen Holzstuhl neben der Tür. Sie legte die Hände vors Gesicht und ihr Herz begann zu rasen. »Ich bin fassungslos … Nächste Woche sollen wir die Verträge für das Haus unterschreiben. Platzt uns damit der Kredit? Hast du mal an den Kredit gedacht?«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch, wie wir es mal für neunzigtausend kaufen sollten und jetzt will er dreihundert? Der ist ganz schön unverschämt.«

»Das ist fünfzehn Jahre her, als er neunzig gesagt hat. Das ist lange her. Außerdem verkauft er’s uns für zweihundertachtzig. Er lässt uns zwanzigtausend Dollar von dem Preis nach, zu dem er es auf den Markt bringen würde. Plus es sind keine Makler im Spiel, wodurch wir noch mehr sparen. Es ist ein echt guter Deal, und das weißt du. Ich hab dir erzählt, das blaue Haus hinten an der Straße ist gerade letzte Woche für vierhundert weggegangen.«

»Das Ding ist verdammt viel hübscher und liegt nicht am Freeway.«

»Ich weiß, aber trotzdem … Mein Gott, warum musstest du heute ein Auto kaufen?«

»Ich will schon lange ein neues«, sagte ihre Mutter. »Also hab ich jetzt eben eins gekauft.«

»Das ist alles? Kein Gedanke daran, was das für uns und den Hauskauf bedeutet?«

Ihre Mutter schwieg.

Kenny wollte vom Sofa aufstehen, aber sie ließ ihn nicht.

»Heißt das, du willst das Haus nicht mehr kaufen?«, fragte Lynette.

Wieder sagte ihre Mutter nichts.

»Dir ist doch klar, dass er es an jemand anderen verkauft, wenn wir es nicht kaufen, oder etwa nicht? Und du weißt so gut wie ich, dass wir uns hier in der Gegend kein anderes Haus leisten können. Wir müssen uns eine Wohnung suchen und die Wohnung wird uns mehr Miete kosten als die Hypothek. Schon eine lausige Dreizimmerwohnung hier in der Gegend kostet tausendfünfhundert, und das nur mit Glück. Jetzt zahlen wir bloß achthundert. Wenn wir dieses Haus kaufen, müssen wir ungefähr tausendzweihundert im Monat zahlen, aber das ist immer noch billiger. Das ist dreihundert Dollar im Monat weniger als jede Wohnung, und am Ende gehört uns wenigstens was.«

Ihre Mutter klopfte die Asche von ihrer Zigarette in eine leere Coladose. »Der quatscht viel, aber glaub mir, am Ende wird er doch nicht verkaufen. Er hat uns all den Mist schon ein paarmal erzählt.«

»Aber diesmal liegen die Dinge anders, und das weißt du. Er hat schon zugesagt, dass er es uns verkauft. Wenn wir einen Rückzieher machen, bringt er es auf den Markt. Er hat schon die Maklerin bestellt. Sie hat Fotos gemacht und all so was. Du warst hier, als sie es besichtigt hat. Er ist müde und alt und will verkaufen.«

Die Hand ihrer Mutter zitterte, als sie einen Starbucks-Becher vom Sofatisch nahm. Kenny wollte ihn packen, griff aber vorbei. »Nicht«, schrie sie ihn an.

»Mr. Claremont war nett zu uns«, sagte Lynette. »Er versucht, uns zu helfen.«

»Uns zu helfen? Das Haus ist eine Bruchbude und er hat seit Jahren nichts mehr reparieren lassen. Und das nennst du nett?«

»Das ist ungerecht.«

»Na ja, es ist die Wahrheit.«

Lynette schloss die Augen. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie meinte, sich übergeben zu müssen. »Wir haben beschlossen, ihm nichts von irgendwelchen Mängeln zu sagen, weil wir Angst hatten, dass er dann anfängt, die Miete zu erhöhen, so wie alle anderen. Also haben wir uns nicht bei ihm gemeldet und er hat die Miete nicht erhöht. Es war eine Art stille Übereinkunft. Das weißt du, und es hat funktioniert. Deswegen kannst du ihn doch nicht zum Arschloch stempeln. Bonnies Miete hat sich in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt. Sogar nebenan sind sie um vierhundert Dollar hochgegangen, und das Haus ist schlimmer als unseres. Er hat seit fast elf Jahren nicht an unserer Miete geschraubt. Elf Jahre … Er ist nicht übel. Er ist einfach nur fünfundsiebzig Jahre alt. Das Haus kümmert ihn nicht und das Geld braucht er nicht. Er will, dass wir dieses Haus kriegen. Das ist der Grund, warum er uns den ersten Zugriff lässt und einen guten Preis macht.«

»Dann kauf du es doch«, sagte ihre Mutter und stieß ein gemeines Lachen aus.

Plötzlich liefen Lynette Tränen übers Gesicht. »Du weißt, dass ich keinen Kredit kriege«, sagte sie mit untröstlicher Stimme. »Wir haben das hundertmal besprochen. Ich versteh ja bloß nicht, warum du das ausgerechnet jetzt machst. Ich hab so hart gearbeitet, um die Anzahlung zusammenzukriegen.«

»Du hast keine achtzigtausend Dollar.«

»Hab ich, und das weißt du. Ich hab dir meinen Bankauszug gezeigt. Er ist da drin.«

Ihre Mutter stellte den Starbucks-Becher ab. »Aber ich bin diejenige, die an den Kredit gefesselt ist.«

»Das ist also das Problem?«

Ihre Mutter schwieg.

»Wir versuchen, etwas aufzubauen«, sagte Lynette. »Wir versuchen, uns eine Zukunft aufzubauen. Das ist eine große Sache. Mir gefällt es hier und Kenny gefällt es hier und alle in der Nachbarschaft kennen ihn und passen auf ihn auf.«

Ihre Mutter drückte die Zigarette aus. »Ich bin siebenundfünfzig Jahre alt und ich kaufe meine Sachen immer noch bei Goodwill. Für mich ist es ein bisschen spät, damit anzufangen, mir eine Zukunft aufzubauen. Und Kenny wird es überall gefallen.« Sie sah weiter zum Fernseher und hustete. »Du weißt nicht, wie das ist. Andere Frauen in meinem Alter fahren mit ihren Enkeln in die Ferien, reden über Ruhestand und Kapitalanlagen. Ich, ich hab keine Ferien mehr gemacht, seit wir damals in San Francisco waren, und das ist über fünfzehn Jahre her. Ich muss bei Fred Meyer arbeiten, bis ich tot umfalle. Ich werde niemals irgendeinen Ruhestand erleben, und das ist verdammt noch mal Fakt. Also hab ich mich in letzter Zeit manchmal gefragt, warum ich eigentlich noch mehr Opfer bringen soll, als ich schon gebracht habe. Warum muss ich mir Schulden aufhalsen, die für den Rest meines Lebens auf mir lasten? Hab ich nicht genug gegeben? Ich meine, warum darf ich mir zur Abwechselung nicht mal was Hübsches leisten? Nur für mich, nur ein einziges Mal. Ich hab diesen verratzten Saturn siebzehn Jahre lang gefahren. Und Tag für Tag haben alle auf der Straße mich als die gesehen, die ich bin, eine fette, alte Loserin.«

»Es ist doch bloß ein Auto«, sagte Lynette. »Du fährst damit zur Arbeit und zurück. Autos bedeuten gar nichts.«

»Das meinst du«, sagte ihre Mutter. »Aber du hast keine Ahnung. Solche Sachen bedeuten was.«

»Ich glaube nicht, dass sie das tun. Nicht eigentlich.«

»Ich arbeite schon eine Ewigkeit bei Juwelier Fred Meyer, und alles, was ich jetzt vorzuweisen habe, ist die Kreditwürdigkeit für zweihunderttausend Dollar auf eine überteuerte, baufällige Bruchbude?«

»Aber dafür gewinnen wir Sicherheit«, sagte Lynette. »Endlich gibt es etwas, das nur uns gehört, das wir herrichten können und wo uns keiner rausschmeißen kann. Denn wenn wir aus diesem Haus rausmüssen, müssen wir auch raus aus der Gegend.«

Ihre Mutter nahm noch einen Schluck aus dem Starbucks-Becher und Kenny versuchte wieder, danach zu greifen. »Hör verdammt noch mal auf damit«, keifte sie. »Ich bin grad nicht in der Stimmung.« Sie sah zu Lynette. »Meinst du, ich wüsste nicht, dass das Haus in Wahrheit für dich ist? Dass es dabei nicht um mich geht.«

»Mein Gott«, schrie Lynette. »Warum sagst du so was? Bist du verrückt geworden?«

»Ich, verrückt?« Wieder stieß sie ein gemeines Lachen aus. »Ich bin hier nicht diejenige mit psychischen Problemen. Ich bin hier nicht diejenige, die eingewiesen wurde.«

Lynette sprang von ihrem Stuhl auf. Sie hatte die Fäuste geballt und ihr Gesicht lief rot an. »Warum sagst du das gerade jetzt?«, kreischte sie. »Verfluchte Scheiße, warum schmeißt du mir das ausgerechnet jetzt an den Kopf?«

Ihre Mutter sah zu Kenny und lehnte sich an ihn. »Da haben wir’s«, flüsterte sie. »Ich wusste, dass diese Szene kommen würde. Ganz ruhig bleiben.« Sie ließ Kennys Handgelenk los, nur kurz und griff nach ihrer Zigarettenpackung. Ihre Hände zitterten heftig, während sie sich eine ansteckte. Dabei sah sie weiter zum Fernseher und Kenny griff nach dem Starbucks-Becher, stieß ihn aber um. Er fiel zu Boden und der Inhalt ergoss sich über den Teppich.

4

Kenny schrie, als er sah, was er angerichtet hatte, und sprang vom Sofa auf und fing an, im Zimmer herumzugehen. Lynette ging zu ihm und hielt ihn auf und griff nach seiner Hand. »Alles gut, Superman«, sagte sie sanft. »Tut mir leid, Buddy, ich wollte nicht schreien. Wir haben uns bloß über wichtige Dinge unterhalten und ich hab die Beherrschung verloren. Und der Teppich ist alt und der Kaffee geht wieder raus. Keine große Sache. Wir sind alle okay, also los, wir gehen in dein Zimmer und machen dir einen Film an.«

Kenny schüttelte den Kopf und Tränen liefen ihm übers Gesicht.

»Keine Sorge, Baby«, sagte ihre Mutter. »Es ist alles okay. Geh ruhig mit deiner Schwester mit.«

Lynette ging in die Küche. In einem verriegelten Schrank war ein Paket mit Pop Tarts. Sie legte eine auf einen Teller, griff sich ein Küchenhandtuch und ging zurück ins Wohnzimmer. Das Handtuch warf sie ihrer Mutter zu.

»Wir wär’s mit einer Pop Tart?«, sagte Lynette.

Als Kenny sie sah, hörte er auf zu weinen und Lynette nahm ihn bei der Hand und brachte ihn in sein Zimmer. Sie schaltete den Heizofen ein, half ihm beim Schuheausziehen und brachte ihn ins Bett. Sie schloss die Tür, setzte sich neben ihn und fing an zu schluchzen.

Kenny zog an ihrem Pullover.

»Keine Sorge«, flüsterte sie. »Ich bin gleich wieder okay. Tut mir leid, dass ich geschrien hab. Das wollte ich nicht. Hat mich einfach überkommen.«

Auf einem Schreibtisch neben dem Bett stand ein Farbfernseher. Sie schob Wall-E in den DVD-Player, setzte Kenny Kopfhörer auf und ließ sich wieder neben ihn aufs Bett sinken. Sie legte den Arm um ihn, aber er schob sie einfach beiseite.

*

Ihre Mutter lag immer noch auf dem Sofa, als sie nach zwanzig Minuten zurückkam. Es brannte keine Zigarette und die elektrische Heizdecke mit dem Leopardenmuster hatte sie bis zum Kinn hochgezogen. Lynette setzte sich wieder auf den Stuhl bei der Tür und sah sie an. »Ich wollte nicht schreien. Tut mir leid. Das musste ich erst mal verkraften. Du hast mich echt überrumpelt … Schau, ich weiß, dass du das Haus nicht ausstehen kannst, und dafür gibt es eine Menge Gründe. Eine Menge. Aber ich sage dir, wenn wir es nicht kaufen, müssen wir ausziehen, und dann haben wir nicht mehr die Wahl, wo wir wohnen wollen. Hier in der Gegend finden wir niemals ein Haus, so viel steht fest. Gut möglich, dass wir in Gresham landen oder an der Columbia Street in irgend so einer Mietskaserne. Ich weiß genau, dass wir das nicht wollen. Wir sind beide in dieser Gegend groß geworden und wir beide wollen hierbleiben. Und vergiss nicht, alle, die ich gefragt habe, sagen, dass wir das Haus kaufen sollen. Der Buchhalter in der Bäckerei hat sich die Unterlagen angesehen und zugeraten. Joe, den Besitzer vom Dutchman, hab ich auch gefragt. Er hat gesagt, wir sind bescheuert, wenn wir nicht kaufen. Sogar meinen Buchhaltungsdozenten hab ich gefragt. Ausnahmslos alle haben zugeraten. Und wenn es erst mal uns gehört, können wir renovieren. Wir müssen die Sachen nicht mehr schleifen lassen, bloß weil wir den Vermieter nicht anrufen wollen. Du wirst staunen, wie hübsch ich hier alles herrichten kann. Im Handumdrehen ist das hier keine alte Bruchbude mehr, sondern etwas ganz anderes. Und es wird uns gehören.«

Im Zimmer war es so dunkel, dass Lynette nicht erkennen konnte, ob ihre Mutter die Augen offen oder geschlossen hatte. Der Ton vom Fernseher war das einzige Geräusch im Raum. Sie wartete darauf, dass ihre Mutter etwas antwortete, aber die schwieg.

»Du musst mir sagen, was hier tatsächlich läuft«, sagte Lynette. »Ich krieg kaum noch Luft. Ich hab wirklich Angst und ich versteh nicht, was du tust. Wir verfolgen diesen Plan seit drei Jahren, und jetzt, eine Woche, bevor wir die Verträge unterschreiben sollen, kaufst du ein schickes Auto und sagst, dass du das Haus nicht willst.«

»Ich bin zu müde, um darüber zu reden«, flüsterte ihre Mutter.

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