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Britisch-Malaya in den 30er Jahren: Ein chinesischer Houseboy ist in geheimem Auftrag unterwegs: Er soll den amputierten Finger seines Herrn finden, um ihn mit dem Rest des Körpers zu bestatten. Nur so kann die Seele des Toten Ruhe finden. Neunundvierzig Tage bleiben Ren für seine Mission, die ihn zu einem britischen Arzt und schließlich zu der Tänzerin Ji Lin führt. Zwischen Kolonialvillen, Tanzpalästen und dem Dschungel werden Ren und Ji Lin in eine Serie mysteriöser Todesfälle hineingezogen. Und Ren läuft die Zeit davon ...
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Buch
Britisch-Malaya in den 1930er-Jahren: Der chinesische Houseboy Ren ist in geheimem Auftrag unterwegs: Er muss den letzten Willen seines Herrn erfüllen, damit dessen Seele Ruhe finden kann. Seine Mission führt ihn zu einem britischen Arzt und schließlich zu der jungen Tänzerin Ji Lin. Gemeinsam geraten sie in eine dramatische Welt von Herrschaft und Bediensteten, Aberglaube, Liebe und Verrat. Denn zwischen Dschungel und Kolonialvillen lauert nicht nur ein menschenfressender Tiger, sondern auch böse Geister – und böse Menschen ...
Autorin
Yangsze Choo ist eine Malaysierin chinesischer Abstammung. Da sie ihre Kindheit in den unterschiedlichsten Ländern verbracht hat, versteht sie (notfalls) mehrere Sprachen. Sie studierte in Harvard und arbeitete als Management Consultant sowie bei einem Start-up-Unternehmen, bevor sie ihren ersten Roman schrieb, »The Ghost Bride«. Mit »Nachttiger«, ihrem zweiten Buch, erscheint sie erstmals auf Deutsch. Yangsze Choo lebt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Kalifornien.
Weitere Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Aus dem Englischen übersetzt von Heike Reissig und Stefanie Schäfer
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Night Tiger« bei Flatiron Books, New York.
Published by arrangement with Flatiron Books. All rights reserved.
Dieses Werk wurde im Auftrag von Flatiron Books durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.
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Wunderraum-Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Random House GmbH.
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2019
Copyright © der Originalausgabe 2018 by Yangsze Choo
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München, Covermotiv: Pflanzen: FinePic®, München; Frau: ILINA SIMEONOVA / Trevillion Images
Redaktion: Bärbel Brands
AB · Herstellung: ik
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-24281-7V004
www.goldmann-verlag.de
Dieses Buch ist für meine Eltern,
die im Kinta-Tal geboren wurden
und aufwuchsen.
Mai 1931
Der alte Mann liegt im Sterben. Ren sieht es an der flachen Atmung, dem eingefallenen Gesicht und der Haut, die sich dünn über die Wangenknochen spannt. Die Fensterläden will der alte Mann dennoch offen haben. Ungeduldig winkt er den Jungen zu sich, und mit zugeschnürter Kehle schlägt Ren einen der Läden auf.
Draußen leuchtet ein Meer aus Grün: die wogenden Wipfel der Bäume des Dschungels vor einem Himmel so blau wie ein Fiebertraum. Das grelle Tropenlicht blendet Ren. Er will seinen Herrn mit dem eigenen Schatten dagegen abschirmen, doch der alte Mann winkt ab. Im Sonnenlicht scheint seine Hand mit dem hässlichen Fingerstumpf noch stärker zu zittern. Nur wenige Monate zuvor hat diese Hand noch Babys beruhigt und Wunden genäht.
Der alte Mann öffnet seine wässrig blauen Augen, diese hellen, fremden Augen, die Ren anfangs so große Angst gemacht hatten, und flüstert etwas. Der Junge beugt seinen kurz geschorenen Kopf zu ihm.
»Vergiss es nicht.«
Der Junge nickt.
»Sag es.« Das heisere Krächzen wird matter.
»Wenn Sie gestorben sind, werde ich Ihren Finger finden«, antwortet Ren mit klarer, leiser Stimme.
»Und?«
Ren zögert. »Und ihn in Ihr Grab legen.«
»Gut.« Der alte Mann holt rasselnd Luft. »Aber du musst ihn finden, bevor die neunundvierzig Tage meiner Seele abgelaufen sind.«
Der Junge hat schon viele Aufgaben, die ihm aufgetragen wurden, schnell und zuverlässig erledigt. Er wird es auch diesmal schaffen, selbst wenn seine schmalen Schultern nun beben.
»Nicht weinen, Ren.«
In solchen Augenblicken wirkt der Junge so hilflos wie ein kleines Kind. Dem alten Mann tut es leid – er würde sich gern selbst darum kümmern, aber er ist zu erschöpft. Stattdessen dreht er sein Gesicht zur Wand.
Mittwoch, 3. Juni
Die Vierundvierzig ist für Chinesen eine Unglückszahl. Sie klingt wie »doppelt sterben«, weshalb jegliche Erscheinungsform der Vier tunlichst vermieden wird. An jenem Unglückstag im Juni arbeitete ich seit genau vierundvierzig Tagen in der May-Flower-Tanzhalle in Ipoh, um mir nebenbei heimlich etwas dazuzuverdienen.
Heimlich deshalb, weil es sich für anständige Mädchen nicht gehörte, mit Fremden zu tanzen, auch wenn wir offiziell als »Lehrerinnen« bezeichnet wurden. Und vielleicht waren wir das sogar für die meisten unserer Kunden, nervöse Angestellte und Schuljungs, die gleich rollenweise Billetts kauften, um Foxtrott, Walzer oder den faszinierenden malaiischen ronggeng zu lernen. Die anderen Kunden nannten wir buaya oder Krokodile; grinsende Grapscher, gegen deren Zudringlichkeiten nur festes Kneifen half.
Natürlich würde ich nie das große Geld verdienen, wenn ich sie ständig zurückwies, aber das musste ich bald hoffentlich auch nicht mehr. Ich arbeitete dort nur, um die Schulden in Höhe von vierzig Malaya-Dollar zurückzuzahlen, die meine Mutter sich zu einem horrenden Zinssatz geliehen hatte. Eigentlich verdiente ich mein Geld als Lehrmädchen bei einer Schneiderin, doch das reichte nicht aus, um den Schuldenberg abzutragen, und meine arme, törichte Mutter schaffte es nicht aus eigener Kraft, denn beim Glücksspiel hatte sie leider jedes Mal Pech.
Hätte sie das Rechnen bloß mir überlassen, dann wäre uns dieses Unheil bestimmt erspart geblieben. Mit Zahlen konnte ich nämlich schon immer gut umgehen. Nicht dass ich sonderlich stolz darauf wäre. Bisher hat mir diese Begabung nicht viel genutzt. Wäre ich als Junge geboren worden, sähe die Sache anders aus, aber die Begeisterung, mit der ich als Siebenjährige Wahrscheinlichkeiten berechnete, war meiner damals frisch verwitweten Mutter leider keine Hilfe. In der traurigen Leere, die der Tod meines Vaters hinterlassen hatte, verbrachte ich Stunden damit, Zahlen auf Zettel zu kritzeln. Zahlen waren logisch und geordnet, im Gegensatz zu dem Chaos, das nun unser Leben beherrschte. Trotz allem bewahrte meine Mutter sich stets ihr sanftes Lächeln, das sie wie die Göttin der Barmherzigkeit erscheinen ließ, auch wenn sie wahrscheinlich oft nicht wusste, wie sie uns satt bekommen sollte. Ich liebte sie heiß und innig, aber dazu später mehr.
Als sie mich einstellte, befahl mir die Tanzhallen-Madame als Erstes, mir die Haare abzuschneiden. Dabei hatte ich sie jahrelang wachsen lassen, weil mein Stiefbruder Shin mich ständig hänselte, dass ich wie ein Junge aussähe. Die beiden geflochtenen Zöpfe, die ich immer noch so ordentlich zusammenband wie in meiner Schulzeit an der anglo-chinesischen Mädchenschule, waren ein liebliches Symbol für Weiblichkeit. Ich war überzeugt, dass ich mit ihnen zahlreiche Sünden ausgleichen konnte, einschließlich der undamenhaften Fähigkeit, aus dem Stegreif Zinssätze berechnen zu können.
»Nein«, sagte die Madame. »So kannst du nicht für mich arbeiten.«
»Aber die anderen Mädchen hier haben doch auch lange Haare«, wandte ich ein.
»Ja, aber du nicht.«
Sie schleppte mich zu einer furchteinflößenden Frau, die mir kurzerhand die Zöpfe abschnitt. Sie fielen direkt auf meinen Schoß, schwer, geradezu lebendig. Wenn Shin mich gesehen hätte, er hätte sich kaputtgelacht. Ich saß mit gebeugtem Kopf da, während die Schere an meinem bloßliegenden Nacken entlangklapperte, und betete, dass mein Hals heil blieb. Vorne schnitt die Frau mir zum Schluss einen Pony, und als ich aufblickte, lächelte sie.
»Hübsch«, sagte sie. »Genau wie Louise Brooks.«
Wer, bitte, war Louise Brooks? Anscheinend ein wahnsinnig beliebter Stummfilmstar. Ich wurde vor Verlegenheit knallrot. Es fiel mir schwer, mich an diese neue Mode zu gewöhnen, bei der flachbrüstige, jungenhafte Mädchen wie ich plötzlich als hübsch galten. In Malaya, am Rande des Britischen Weltreichs, war man in Sachen Stil und Eleganz natürlich eher rückständig. Die britischen Ladys, die zu uns kamen, jammerten immer darüber, dass wir der Londoner Mode um ein Jahr hinterherhinkten. Kein Wunder also, dass die Welle der Begeisterung für Paartänze und Bubiköpfe, die anderswo längst zum Alltag gehörten, erst spät nach Ipoh schwappte. Ich strich über meinen kurz geschorenen Nacken. Jetzt sah ich erst recht wie ein Junge aus.
Die Madame verschränkte bedächtig die Arme über dem imposanten Busen und sagte: »Du brauchst einen Namen. Am besten einen, den man in England kennt. Wir nennen dich Louise.«
Und so kam es, dass ich an jenem Nachmittag des 3. Juni als Louise den Tango tanzte. Obwohl der Aktienmarkt schwächelte, befand sich unsere geschäftige kleine Stadt Ipoh, die ihren Reichtum den Zinn- und Kautschukexporten verdankte, in einem Taumel aufschießender Neubauten. Es regnete ungewöhnlich stark für die Tageszeit; ein wahrer Wolkenbruch ging nieder. Der Himmel verfärbte sich eisengrau, und man musste das elektrische Licht einschalten, sehr zum Unmut der Tanzhallenbetreiber. Der Regen trommelte laut auf das Blechdach, während der Orchesterleiter, ein kleiner Goaner mit dünnem Oberlippenbärtchen, sein Bestes gab, ihn zu übertönen.
Tänze aus dem Westen waren der letzte Schrei, weshalb am Rande jeder Stadt öffentliche Tanzhallen wie Pilze aus dem Boden schossen. Manche, etwa das neu errichtete Celestial Hotel, waren geradezu pompös, andere dagegen nichts weiter als große, vom Tropenwind durchwehte Bretterschuppen. Wir Profi-Tänzerinnen wurden in einem Pferch gehalten, als wären wir Hühner oder Schafe. Der Pferch bestand aus einer Stuhlreihe, die durch ein Band abgetrennt war. Auf den Stühlen saßen lauter hübsche Mädchen, alle mit einer an die Brust gehefteten nummerierten Papierrosette. Aufpasser sorgten dafür, dass uns nur Männer ansprachen, die ein Tanz-Billett hatten, doch einige versuchten es auch ohne.
Ich war ziemlich überrascht, als mich jemand zum Tango aufforderte. Tango hatte ich nämlich nie richtig gelernt. In Miss Lims Tanzschule, wo ich zum Trost dafür, dass mein Stiefvater mich gegen meinen Willen von der Schule genommen hatte, Walzer und sogar den geradezu verwegenen Foxtrott hatte lernen dürfen, war Tango nicht unterrichtet worden. Er galt als viel zu verrucht, obwohl wir alle gesehen hatten, wie Rudolph Valentino ihn in den Schwarz-Weiß-Filmen tanzte.
»Du musst Tango lernen«, sagte meine Freundin Hui, als ich im May Flower anfing.
»Du siehst wie ein modernes Mädchen aus«, meinte sie. »Du wirst bestimmt oft aufgefordert.«
Die gute Hui. Sie brachte mir den Tango schließlich selbst bei. Sie gab sich wirklich Mühe, doch wir torkelten herum wie zwei Betrunkene.
»Vielleicht fragt dich ja doch keiner«, sagte sie hoffnungsvoll, als wir bei einer ruckartigen Drehung beinahe gestürzt wären.
Natürlich kam es anders. Ich merkte schnell, dass die Typen, die Tango tanzen wollten, meistens zur Sorte buaya gehörten, und der Mann, der mich an jenem unglückseligen vierundvierzigsten Tag aufforderte, bildete keine Ausnahme.
Er sagte, er sei Händler, spezialisiert auf Schul- und Bürobedarf. Sofort stieg mir der holzige Pappgeruch meiner Rechenhefte in die Nase. Ich war sehr gern zur Schule gegangen, aber diese Tür war mir nun verschlossen. Stattdessen musste ich das Geschwätz dieses Händlers ertragen, der mir ständig auf die Füße trat und mir dabei erzählte, dass das Geschäft mit Schreibwaren zwar stabil sei, er aber hochfliegende Pläne habe.
»Du hast schöne Haut.« Sein Atem roch nach knoblauchtriefendem hainanesischem Hühnchenreis. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, konzentrierte ich mich auf meine armen geschundenen Füße. Es war hoffnungslos. Der Händler glaubte offenbar, Tango bestünde aus jähen, möglichst dramatisch aussehenden Verrenkungen.
»Früher habe ich Kosmetikartikel verkauft.« Wieder kam er mir viel zu nah. »Mit der Haut von Frauen kenne ich mich also aus.«
Ich lehnte mich zurück, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern. Doch bei der nächsten Drehung schleuderte er mich so heftig herum, dass ich mit ihm zusammenstieß. Das hatte er natürlich absichtlich gemacht, aber seine Hand wanderte unwillkürlich zu seiner Tasche, als hätte er Angst, dass etwas herausgefallen wäre.
»Wusstest du«, sagte er lächelnd, »dass es eine Methode gibt, die Frauen zu ewiger Jugend und Schönheit verhilft? Sie funktioniert mit Nadeln.«
»Nadeln?«, fragte ich neugierig, obwohl dies zweifellos die dümmste Anmache war, die ich je gehört hatte.
»Im Westen von Java gibt es Frauen, die sich hauchdünne Goldnadeln ins Gesicht stechen, so tief, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Diese magische Methode hält das Altern auf. Einmal bin ich einer bildschönen Witwe begegnet, die schon fünf Ehemänner überlebt hatte. Zwanzig Nadeln steckten in ihrem Gesicht. Sie sagte allerdings, die Nadeln müssten nach ihrem Tod unbedingt wieder entfernt werden.«
»Warum?«
»Weil der Körper unversehrt sein muss, wenn man stirbt. Alles, was hinzugefügt wurde, muss entfernt, und alles, was fehlt, muss wiederbeschafft werden – sonst kann die Seele keine Ruhe finden.« Er weidete sich an meinem Staunen und fuhr fort, mir den Rest seiner Reise in aller Ausführlichkeit zu erzählen.
Manche Männer waren sehr redselig, andere tanzten lieber schweigend, während sie einen mit ihren Schweißpfoten umklammerten. Die Schwätzer waren mir lieber, denn sie waren in ihre eigene Welt vertieft und schnüffelten nicht in meiner herum.
Wenn meine Familie dahintergekommen wäre, dass ich stundenweise im May Flower arbeitete, hätte es furchtbaren Ärger gegeben. Den Zornausbruch meines Stiefvaters und die Tränen meiner Mutter, wenn sie ihm ihre Mah-Jongg-Spielschulden würde beichten müssen, wollte ich mir lieber gar nicht erst vorstellen. Und dann war da noch Shin, mein Stiefbruder. Er war am selben Tag wie ich geboren worden, weshalb die Leute oft fragten, ob wir Zwillinge seien. Er war immer mein treuer Verbündeter gewesen, früher jedenfalls. Aber nun war er weit weg, denn er hatte einen Studienplatz für Medizin am King Edward VII Medical College in Singapur bekommen, wo einheimische Talente ausgebildet wurden, um den Ärztemangel in Malaya zu bekämpfen. Ich war stolz, weil Shin es geschafft hatte, doch zugleich schrecklich neidisch, denn in der Schule hatte ich immer bessere Noten als er gehabt. Aber es hatte keinen Sinn, verpassten Gelegenheiten nachzutrauern. Shin reagierte nicht mehr auf meine Briefe.
Der Händler redete und redete. »Glaubst du an Glück?«
»Eigentlich nicht.« Ich hätte fast aufgeschrien, weil er mir heftig auf den Fuß trat.
»Solltest du aber, denn ich werde bald richtig Glück haben.« Mit einem Grinsen riss er mich einmal mehr herum. Aus dem Augenwinkel nahm ich die wütenden Blicke der Madame wahr. So wie wir herumschwankten, gaben wir ein peinliches Bild auf der Tanzfläche ab, was überhaupt nicht gut fürs Geschäft war.
Ich biss die Zähne zusammen und versuchte das Gleichgewicht zu halten, während der Kaufmann eine gefährlich tiefe Beuge vollführte. Es war unter aller Würde, wie wir abwechselnd wild umhertaumelten und uns dann wieder aneinanderkrallten. Plötzlich packte er mich am Hintern, während er in meinen Ausschnitt schielte. Ich stieß ihn mit dem Ellbogen zurück, aber meine andere Hand verhedderte sich in seiner Tasche. Als ich sie hastig herauszog, geriet etwas Kleines, Leichtes zwischen meine Finger. Das Ding fühlte sich länglich an, schmal und glatt. Ich umschloss es mit der Faust und zögerte. Besser, ich steckte es schnell wieder zurück; wenn er merkte, dass ich es herausgenommen hatte, beschimpfte er mich womöglich als Taschendiebin. Manche Männer legten es förmlich darauf an, Theater zu veranstalten; das gab ihnen Macht über uns Mädchen.
Der Händler lächelte dreist. »Wie heißt du?«
Ich war so durcheinander, dass ich ihm dummerweise meinen richtigen Namen, Ji Lin, statt Louise nannte. Zum Glück hörte in diesem Moment die Musik auf, und er ließ mich schlagartig los. Sein Blick war auf einen Punkt hinter mir geheftet, als hätte er jemanden erkannt, und mit einem Mal war er weg.
Das Orchester stimmte nun »Yes Sir, That’s My Baby!« an, als Ausgleich für den Tango. Neue Paare eilten auf die Tanzfläche, während ich mich zurück auf meinen Platz begab. Das Ding in meiner Faust brannte wie Feuer. Der Händler kam bestimmt gleich zurück; er hatte ja noch eine ganze Rolle Billetts. Ich musste nur abwarten, dann konnte ich ihm das Ding zurückgeben. Und so tun, als wäre es ihm aus der Tasche gefallen.
Der Geruch von Regen wehte durch die offenen Fenster herein. Nervös schlüpfte ich unter dem Band hindurch, das unseren Pferch von der Tanzfläche trennte, setzte mich hin und strich meinen Rock glatt.
Dann öffnete ich meine Faust und erblickte ein zylinderförmiges Glasfläschchen. Es war knapp fünf Zentimeter lang und hatte einen metallenen Schraubverschluss. Irgendetwas Leichtes klapperte darin. Als ich es erkannte, hätte ich fast aufgeschrien.
Es war ein abgetrennter, verschrumpelter Finger.
Mittwoch, 3. Juni
Als der ratternde Zug Batu Gajah erreicht, springt Ren von seinem Sitz auf und drückt die Nase an die Scheibe. Die florierende kleine Stadt, Sitz der britischen Verwaltung im Staat Perak, hat einen sonderbaren Namen: batu bedeutet Stein, und gajah Elefant. Es heißt, die Stadt sei nach einem Elefantenpaar benannt, das einst den Fluss Kinta durchquerte. Der Gott Sang Kelembai sei darüber so erzürnt gewesen, dass er die beiden Elefanten in zwei große Felsen verwandelte, die bis heute aus dem Wasser ragen. Die armen Elefanten, denkt Ren bei sich. Sie hatten es bestimmt nicht verdient, dafür in Stein verwandelt zu werden.
Ren hat den alten Doktor etliche Male am Bahnhof von Taiping abgeholt, aber heute fährt er zum ersten Mal selbst mit dem Zug. Im Waggon der dritten Klasse sind einige Fenster geöffnet, trotz der Rußpartikel von der Dampflok, die bei jeder Kurve hineinfliegen; manche sind so groß wie ein Fingernagel. Ren kann die bleierne Schwüle des Monsuns, die in der Luft liegt, förmlich schmecken. Er legt die Hand auf seine Tasche. Darin bewahrt er den wertvollen Brief auf. Wenn es stark regnet, könnte die Tinte verlaufen. Bei dem Gedanken, die zittrige Handschrift des alten Doktors könnte verschwinden, überkommt ihn ein stechendes Heimweh.
Mit jeder Meile, die der Zug dahinrattert, entfernt Ren sich weiter von Doktor MacFarlanes Haus. Drei Jahre lang war dieser große Bungalow, in dem stets Unordnung geherrscht hatte, Rens Zuhause gewesen. Doch der Doktor ist gestorben, und Rens kleines Zimmer im Dienstbotentrakt, gleich neben dem von Tante Kwan, ist nun leer. Am Morgen hat Ren ein letztes Mal den Fußboden gewischt und die alten Zeitungen schön ordentlich für den karang guni, den Lumpensammler, verschnürt. Als er die Tür mit der abblätternden grünen Farbe zuzog, fiel sein Blick auf seine Zimmergenossin, die große Spinne, die oben in der Ecke still ihr Netz flickte.
Rens Augen füllen sich mit Tränen. Doch er hat einen Auftrag zu erfüllen; zum Weinen bleibt keine Zeit. Denn mit dem Tod von Doktor MacFarlane beginnen die neunundvierzig Tage seiner Seele abzulaufen. Die Stadt mit dem sonderbaren Namen ist nicht der erste Ort, an dem Ren ohne seinen Bruder Yi zurechtkommen muss. Ren denkt wieder an die steinernen Elefanten. Ob sie Zwillinge waren wie Yi und er? Manchmal spürt Ren ein Kitzeln, wie von den Schnurrhaaren einer Katze, als wäre Yi noch bei ihm. Als würde das eigenartige Gespür, das ihn mit seinem Zwilling verband und ihn stets vor Gefahren warnte, wieder aufflackern. Doch wenn er sich umschaut, ist niemand da.
Der Bahnhof von Batu Gajah ist ein lang gestrecktes, niedriges Gebäude mit einem Schrägdach, das wie eine schlafende Schlange an den Gleisen liegt. Überall in Malaya haben die Briten solche Bahnhofsgebäude errichtet. Auch die Städte sehen fast identisch aus, mit weißen Regierungsbauten und padangs, Grasflächen, die so akkurat geschnitten sind wie der Rasen eines englischen Stadtparks.
Am Fahrkartenschalter ist der malaiische Bahnhofsvorsteher so freundlich, Ren einen kleinen Stadtplan zu zeichnen. Er trägt einen stattlichen Schnurrbart und eine Hose mit messerscharfen Bügelfalten. »Es ist ziemlich weit. Bist du sicher, dass dich keiner abholen kommt?«
Ren schüttelt den Kopf. »Ich kann laufen.«
Ein Stück weiter die Straße hinunter reihen sich chinesische Shophouses dicht aneinander, oben die leicht vorstehenden Wohngeschosse, unten verschiedene kleine Geschäfte mit überquellenden Auslagen. Die Straße führt in die Stadt, doch Ren biegt nach rechts ab, vorbei an der englischen Schule. Sehnsüchtig streift sein Blick das Holzgebäude mit der weiß gekalkten, eleganten Fassade, und er stellt sich vor, wie andere Jungs in den hohen luftigen Räumen lernen oder draußen auf dem großen Rasenplatz spielen.
Der Hügel führt hinauf nach Changkat, wo die Europäer wohnen. Ren hat jedoch keine Zeit, die vielen Bungalows im Stil britischer Kolonialarchitektur zu bewundern. Sein Ziel liegt hinter Changkat, bei den Kaffee- und Kautschukplantagen.
Der Regen prasselt wütend auf die rote Erde. Ren beginnt zu rennen und hält seine Reisetasche aus gewebtem Teppich fest umklammert. Kurz bevor er einen großen Angsana-Baum erreicht, hört er das Knattern eines kleinen Lastautos, das den Hügel heraufkommt. »Los, steig ein!«, ruft ihm der Fahrer durch das Fenster zu.
Ren klettert in das Auto, völlig außer Atem. Sein Retter ist ein dicker Mann mit einer Warze auf der Wange.
»Danke, Onkel«, sagt Ren, so wie es sich gehört, wenn man einen älteren Herrn anredet. Der Mann lächelt. Wasser tropft von Rens Hose auf den Boden.
»Der Bahnhofsvorsteher hat mir gesagt, dass du in diese Richtung willst. Zum Haus des jungen Doktors?«
»Er ist jung?«
»Nicht so jung wie du. Wie alt bist du denn?«
Ren überlegt, ihm die Wahrheit zu sagen. Sie sprechen Kantonesisch, und der Mann wirkt freundlich. Aber Ren bleibt lieber vorsichtig.
»Fast dreizehn.«
»Bist wohl noch nicht in die Höhe geschossen, hm?«
Ren nickt. In Wahrheit ist er elf. Selbst Doktor MacFarlane wusste das nicht. Ren hatte ein Jahr hinzugeschummelt, als der alte Doktor ihn bei sich aufnahm. Das machten viele Chinesen so.
»Hast du dort Arbeit gefunden?«
Ren drückt die Reisetasche fest an sich. »Ich muss dort etwas abgeben.«
Und etwas wiederbeschaffen.
»Der Doktor wohnt noch abgelegener als die anderen Fremden«, sagt der Fahrer. »Nachts würde ich hier nicht herumspazieren. Viel zu gefährlich.«
»Warum?«
»In letzter Zeit wurden hier viele Hunde gerissen. Sogar wenn sie angekettet vorm Haus lagen. Nur Kopf und Halsband blieben übrig.«
Rens Herz krampft sich zusammen, und in seinen Ohren beginnt es zu summen. Hat es etwa wieder angefangen? So schnell? »War es ein Tiger?«
»Wohl eher ein Leopard. Die Fremden haben sich vorgenommen, ihn zu jagen. Treib dich besser nicht mehr draußen rum, wenn’s dunkel wird.«
Sie biegen auf eine lang gezogene Auffahrt und fahren an einem gestutzten englischen Rasen vorbei, bis sie vor einem stattlichen weißen Bungalow anhalten. Der Fahrer hupt zweimal kurz. Es vergeht eine ganze Weile, bis endlich ein hagerer Chinese auf der überdachten Veranda erscheint und sich die Hände an einer weißen Schürze abtrocknet. Ren klettert aus dem kleinen Laster und ruft dem Fahrer durch den laut prasselnden Regen seinen Dank zu.
»Pass auf dich auf«, erwidert der Mann.
Ren rennt los und springt unter das rettende Dach der Veranda. An der Tür zögert er, weil er triefnass ist und eine Pfütze auf den breiten Teakholzdielen hinterlässt. Doch der hagere Chinese bedeutet Ren, ihm zu folgen, und führt ihn in ein Zimmer. Dort sitzt ein englischer Herr an einem Tisch; er ist dabei, einen Brief zu schreiben. Doch als Ren hereinkommt, schaut er fragend auf. Er ist dünner und jünger als Doktor MacFarlane. Auf seinen Brillengläsern spiegelt sich das Licht, was es schwer macht, seinen Ausdruck zu deuten.
Ren stellt seine ramponierte Reisetasche ab, holt den Brief daraus hervor und übergibt ihn höflich mit beiden Händen. Der neue Doktor schlitzt ihn mit einem silbernen Brieföffner sorgfältig auf. Doktor MacFarlane hat Briefe immer mit seinem Fingerstummel und dem Daumen geöffnet. Ren schaut zu Boden. Es ist nicht gut, die beiden Männer zu vergleichen.
Jetzt, da er den Brief überbracht hat, wird Ren mit einem Mal sehr müde. Die Anweisungen, die er sich eingeprägt hat, verschwimmen im Nebel, und das Zimmer um ihn herum beginnt zu schwanken.
William Acton betrachtet den Brief, den er gerade entgegengenommen hat. Er kommt aus Kamunting, dem kleinen Dorf nahe Taiping. Die Handschrift ist krakelig und zittrig, die Schrift eines kranken Mannes.
Werter Acton,
leider kann ich mich nicht mehr mit Förmlichkeiten aufhalten. Ich habe zu lange gewartet, und nun kann ich kaum mehr einen Stift halten. Da ich keine Angehörigen habe, die dafür in Frage kämen, lasse ich Ihnen dieses Vermächtnis zukommen: eine meiner bemerkenswertesten Entdeckungen, der Sie, so hoffe ich, ein gutes Zuhause geben werden. Ich kann Ihnen meinen chinesischen Hausdiener Ren nur wärmstens empfehlen. Er ist zwar noch jung, aber gut ausgebildet und zuverlässig. Nehmen Sie ihn auf, bis er volljährig ist. Ich bin sicher, dass er Ihnen gute Dienste leisten wird.
Mit kollegialen Grüßen etc. etc.
Dr. John MacFarlane
William liest den Brief abermals. Dann schaut er wieder auf. Der Junge steht vor ihm, Wassertropfen rinnen über sein Gesicht, den schmalen Hals hinab.
»Bist du Ren?«
Der Junge nickt.
»Und du hast für Doktor MacFarlane gearbeitet?«
Wieder ein stummes Nicken.
William mustert ihn. »Gut, dann arbeitest du ab jetzt für mich.«
Und während er den Jungen betrachtet, fragt er sich, ob es Regentropfen oder Tränen sind, die ihm über die Wangen laufen.
...
Ende der Leseprobe