Schattenbraut - Yangsze Choo - E-Book
SONDERANGEBOT

Schattenbraut E-Book

Yangsze Choo

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Eines Abends fragte mich mein Vater, ob ich die Braut eines Geistes werden wolle ...«

Malaya 1893. Die 17-jährige Li Lan aus gutem, aber verarmten Hause erhält einen ungewöhnlichen Antrag: Sie soll den kürzlich verstorbenen Sohn der wohlhabenden Familie Lim heiraten. Aber Li Lan zögert. Kann sie sich wirklich einem Geist versprechen? Um sich auf die Probe zu stellen, taucht sie Nacht für Nacht ein in eine Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen. Das Schattenreich ist ein Ort des Schreckens, aber auch der Versuchung und der Freude. Dort deckt Li Lan nicht nur die Wahrheit über ihre eigene Familie und die ihres Verlobten auf – sie erkennt auch die Macht wahrer Liebe …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 588

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Im Malaya der 1890er-Jahre erhält die siebzehnjährige Li Lan einen ungewöhnlichen Heiratsantrag: Sie soll die Frau des kürzlich verstorbenen Sohnes der angesehenen Familie Lim werden. Eine hohe Auszeichnung für Li Lans verarmte Familie. Doch Li Lan zögert. Kann sie sich wirklich einem Geist versprechen? Um sich auf die Probe zu stellen, taucht sie Nacht für Nacht in eine andere Welt ein. Eine, in der die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen und in der sich das Leben nach dem Tod als Ort des Schreckens, aber auch der Versuchung und der Freude erweist. In dieser schattenhaften Parallelwelt deckt sie die dunkelsten Geheimnisse der Lims auf – und die Wahrheit über ihre eigene Familie.

Autorin

Yangsze Choo ist Malaysierin chinesischer Abstammung. Sie studierte in Harvard und arbeitete als Management Consultant und bei einem Start-up-Unternehmen, bevor sie ihren ersten Roman schrieb. Heute lebt Yangsze Choo mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Kalifornien.

Von Yangsze Choo außerdem als E-Book lieferbar

Nachttiger. Roman

Yangsze Choo

Schattenbraut

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Reissig und Stefanie Schäfer

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Ghost Bride« bei William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Diese Übersetzung wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Deutsche Erstveröffentlichung September 2022

Copyright © 2013 der Originalausgabe by Yangsze Choo

Published by Arrangement with Yangsze Choo.

All rights reserved.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Frau: GettyImages/ViewStock;

Illustration und Blumen: FinePic®, München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

An · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-26181-8V001

www.goldmann-verlag.de

Dieses Buch ist für James

ERSTER TEILMalaya 1893

KAPITEL 1

Eines Abends fragte mich mein Vater, ob ich die Braut eines Geistes werden wolle. »Fragte« ist vielleicht nicht das richtige Wort. Wir waren in seinem Arbeitszimmer. Ich blätterte eine Zeitung durch, während er auf seiner Rattanliege lag. Es war sehr heiß und still. Die Öllampe brannte, und Motten flatterten in trägen Wirbeln durch die schwüle Luft.

»Was hast du gerade gesagt?«

Mein Vater rauchte Opium. Es war seine erste Pfeife an jenem Abend, er konnte also noch halbwegs klar denken. Mein Vater ist so eine Art Gelehrter, mit traurigen Augen in einem Gesicht wie ein zerfurchter Aprikosenkern. Früher einmal ist unsere Familie reich gewesen, doch mit der Zeit hatten wir so viel Geld verloren, dass wir uns damals nur noch mühsam an die Ehrbarkeit der Mittelschicht klammerten.

»Dass du Geisterbraut werden könntest, Li Lan.«

Ich hielt den Atem an und blätterte weiter. Es war schwer zu sagen, ob mein Vater nur scherzte. Manchmal schien er es selbst nicht zu wissen. Ernste Angelegenheiten wie unsere schrumpfenden Einkünfte spielte er für gewöhnlich herunter. So sagte er zum Beispiel, es sei doch ganz angenehm, in dieser Hitze ein zerschlissenes Hemd zu tragen. Doch wenn das Opium ihn in seinen Nebelschleier hüllte, verstummte er und versank in Gedanken.

»Der Vorschlag wurde heute an mich herangetragen«, fügte er rasch hinzu. »Ich dachte, du wüsstest vielleicht gern Bescheid.«

»Von wem kam der Vorschlag?«

»Von der Familie Lim.«

Die Familie Lim war eine der reichsten in unserer Stadt. Malakka hatte einen Hafen und zählte zu den ältesten Handelsmetropolen des Ostens. Im Laufe der Jahrhunderte war die Stadt erst von den Portugiesen, dann von den Niederländern und zuletzt von den Briten erobert worden. Kleine Häuser mit roten Ziegeldächern zogen sich dicht gedrängt in einer langen Kette die Bucht entlang, von Kokospalmenhainen flankiert und zum Inland hin durch den dichten Dschungel begrenzt, der Malaya wie ein wogendes grünes Meer bedeckte. Malakka war eine sehr stille Hafenstadt, die unter der Tropensonne von ihrer glanzvollen Vergangenheit als Perle der Meeresstraße träumte. Denn die aufkommende Dampfschifffahrt hatte ihren Niedergang besiegelt.

Im Vergleich zu den Dörfern des Dschungels galt Malakka jedoch nach wie vor als Inbegriff der Zivilisation. Die portugiesische Wehranlage hatten die Briten zwar zerstört, aber das Postamt, zwei Märkte und das Krankenhaus hatten sie uns gelassen, selbst unser Rathaus, das Stadthuys. Malakka war sogar Regionalsitz der britischen Kolonialverwaltung. Gemessen an dem, was ich über die großen Metropolen Shanghai, Kalkutta und London gelesen hatte, kam mir unsere Stadt dennoch reichlich unbedeutend vor. Im Bezirksamt hatte man der Schwester unseres Kochs erzählt, dass London der Mittelpunkt der Welt war; das Herz des Britischen Weltreichs, das sich so weit von Osten nach Westen erstreckte, dass die Sonne dort niemals unterging. London lag auf einer weit entfernten Insel (wo es angeblich sehr feucht und kalt war), und von dort aus wurden wir in Malaya regiert.

Obwohl seit Generationen Angehörige verschiedener Völker hier zusammenlebten – Malaien, Chinesen, Inder, auch Araber und Juden –, behielten wir unsere Kleidung und andere Bräuche bei. Mein Vater sprach zwar Malaiisch und auch ein wenig Englisch, las aber ausschließlich chinesische Bücher und Zeitungen. Dabei war es mein Großvater gewesen, der seine Heimat verlassen hatte, um in Malakka als Händler reich zu werden. Leider rann das Vermögen, das er gemacht hatte, meinem Vater durch die Finger. Wäre es anders gewesen, hätte er das Angebot der Lims wohl niemals in Betracht gezogen.

»Ihr Sohn starb vor einigen Monaten«, sagte er. »Ein junger Mann namens Lim Tian Ching – erinnerst du dich an ihn?«

Ich hatte Lim Tian Ching vielleicht ein- oder zweimal auf irgendeiner Feier gesehen. Abgesehen davon, dass er den Namen seiner wohlhabenden Sippe trug, hatte er allerdings keinen Eindruck auf mich gemacht. »Er war noch recht jung, oder?«, erwiderte ich.

»Kaum älter als du, soweit ich weiß.«

»Woran ist er denn gestorben?«

»An einem Fieber, heißt es. Er ist jedenfalls der Bräutigam.« Mein Vater wählte seine Worte sorgsam, als bereue er bereits, etwas gesagt zu haben.

»Und die Lims wollen, dass ich ihn heirate?«

Vor lauter Schreck stieß ich den Reibstein auf dem Schreibtisch meines Vaters um. Die Tusche landete auf meiner Zeitung und hinterließ einen unheilverkündenden schwarzen Fleck. Die Verheiratung von Toten war ein ungewöhnlicher Brauch, der vor allem den Zweck erfüllen sollte, Geister zu besänftigen. So kam es etwa vor, dass man eine Konkubine, die einen Sohn geboren hatte und gestorben war, durch eine offizielle Heirat in den Status einer Ehefrau erhob. Oder man vermählte ein Liebespaar, das auf tragische Weise umgekommen war. Doch Eheschließungen zwischen Lebenden und Toten geschahen höchst selten; allein die Vorstellung war entsetzlich.

Mein Vater rieb sich das Gesicht. Aus Erzählungen wusste ich, dass er ein sehr gutaussehender Mann gewesen war, bis er die Pocken bekam. Zwei Wochen später war seine Haut so dick wie die eines Krokodils und von tausend Narbenkratern übersät. Seine Geselligkeit nahm ein abruptes Ende; er zog sich völlig zurück, gab die Leitung des Familiengeschäfts an Fremde ab und flüchtete sich in Bücher und Gedichte. Vielleicht hätte sich alles zum Besseren gewendet, wenn meine Mutter nicht auch an den Pocken erkrankt und daran gestorben wäre. Zu dem Zeitpunkt war ich vier Jahre alt. Ich steckte mich ebenfalls an, behielt aber nur eine kleine Narbe hinter dem linken Ohr zurück. Ein Wahrsager sagte mir damals ein glückliches Leben voraus, aber vermutlich wollte er nur etwas Hoffnung verbreiten.

»Ja, sie möchten, dass du seine Braut wirst.«

»Warum ausgerechnet ich?«

»Das weiß ich nicht. Sie fragten mich nur, ob ich eine Tochter namens Li Lan hätte und ob du schon verheiratet wärst.«

»Nun, ich halte ganz und gar nichts davon.« Ich rieb heftig auf dem Tuschfleck herum, als könnte ich das Thema auf diese Weise aus der Welt schaffen. Woher kannten die Lims überhaupt meinen Namen?

Ich wollte gerade meinen Vater danach fragen, als er sagte: »Willst du etwa nicht mit knapp achtzehn Witwe werden und in die Villa der Lims ziehen? Und jeden Tag Seide tragen? Etwas Farbenfrohes wäre allerdings tabu.« Er lächelte melancholisch. »Natürlich habe ich abgelehnt. Wie hätte ich zustimmen können? Wenn du auf Liebe und Kinder verzichten willst, wäre das Angebot aber gar nicht so übel. Immerhin hättest du für den Rest deines Lebens ein Dach über dem Kopf und wärst im Besitz schöner Kleider.«

»Haben wir denn inzwischen so wenig Geld?«, fragte ich. Die Armut schwebte schon seit Jahren wie ein Damoklesschwert über unserem Haus.

»Tja, Eisblöcke können wir uns jetzt nicht mehr leisten.«

Im britischen Laden gab es Eisblöcke zu kaufen: mit Sägemehl bestreute und in Packpapier verschnürte Überbleibsel von Ladungen, die per Dampfschiff die halbe Welt umrundet hatten. An Bord verwendete man das saubere Eis zur Konservierung frischer Lebensmittel und verkaufte die Blöcke danach an jeden, der ein Stück vom frostigen Westen wollte. Mein Vater hatte meiner Mutter früher exotische Früchte besorgt, Äpfel und Birnen aus kühleren Gefilden. Das wusste ich von meiner Amah; mir selbst fehlte die Erinnerung daran. Doch wenn wir gelegentlich einen Block kauften, liebte ich es, daran zu kratzen und mir vorzustellen, ich befände mich in der Eiswüste.

Ich überließ meinen Vater seiner Opiumpfeife. Als Kind hatte ich Stunden in seinem Arbeitszimmer verbracht, um dort Gedichte zu lernen oder Tusche für ihn zu zerreiben, damit er sich seiner Kalligrafie widmen konnte. Auf Sticken und Haushaltsführung verstand ich mich dagegen weniger gut, obwohl mich das zu einer besseren Partie gemacht hätte. Meine Amah gab ihr Bestes, doch ihr Wissen war begrenzt. Früher stellte ich mir oft vor, wie das Leben wohl gewesen wäre, wenn meine Mutter noch gelebt hätte.

Als ich aus dem Zimmer trat, stürzte Amah sich auf mich. Ich fuhr vor Schreck zusammen. Sie hatte draußen auf mich gewartet. »Was wollte dein Vater von dir?«, fragte sie.

Meine Amah war sehr alt und so klein wie ein Kind. Manchmal benahm sie sich auch wie eins. Sie war ein despotischer Dickkopf, doch sie liebte mich von ganzem Herzen. Bevor sie mich unter ihre Fittiche genommen hatte, war sie das Kindermädchen meiner Mutter gewesen. Eigentlich hätte sie sich längst zur Ruhe setzen können, doch in ihrer schwarzen Hose und weißen Bluse wuselte sie weiterhin wie ein Aufziehpüppchen im Haus umher.

»Nichts«, sagte ich.

»War es ein Heiratsangebot?« Dafür, dass Amah angeblich schwerhörig war, bekam sie erstaunlich viel mit. Keine Kakerlake konnte im Dunkeln durchs Zimmer huschen, ohne von ihr zertreten zu werden.

»Quatsch«, sagte ich. Als Amah mich ungläubig ansah, fügte ich hinzu: »Es war nicht ernst gemeint.«

»Es war nicht ernst gemeint? Seit wann ist deine Heirat denn ein Scherz? Für eine Frau ist die Heirat überaus wichtig. Ihre ganze Zukunft hängt davon ab, ihr Leben, ihre Kinder …«

»Es ging aber nicht um eine richtige Heirat.«

»Sollst du etwa Konkubine werden?« Amah schüttelte den Kopf. »Nein, nein, kleine Miss. Du musst unbedingt Ehefrau werden. Ehefrau Nummer eins, wenn möglich.«

»Es ging nicht darum, ob ich Konkubine werde.«

»Von wem kam das Angebot denn?«

»Von der Familie Lim.«

Amah riss die Augen so weit auf, dass sie wie ein Koboldmaki aussah. »Die Familie Lim? Oh! Kleine Miss, du wurdest nicht umsonst mit der Schönheit eines Schmetterlings geboren …« Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als sie lauter gute Eigenschaften aufzählte, die bisher nie der Rede wert gewesen waren. Plötzlich hielt sie inne. »Ist der Sohn der Familie Lim nicht vor Kurzem verstorben? Allerdings gibt es noch einen Neffen. Dann wird er wohl der neue Erbe sein.«

»Es ging um den Sohn«, erwiderte ich zögernd. Ich fühlte mich wie eine Verräterin, als ich zugab, dass mein Vater dieses ungeheuerliche Angebot überhaupt in Betracht gezogen hatte. Amah reagierte wie erwartet. »Was hat dein Vater sich dabei gedacht? Wie können die Lims es wagen, unsere Familie zu beleidigen?«

»Beruhige dich, Amah. Er wird das Angebot der Lims nicht annehmen.«

»Du verstehst das nicht! Das bringt großes Unglück. Weißt du denn nicht, was das bedeutet?« Amah zitterte am ganzen Leib. »Dein Vater hätte dir niemals davon erzählen dürfen, selbst wenn es ein Scherz ist.«

»Das macht mir keine Angst«, sagte ich und verschränkte die Arme.

»Aiya! Wenn deine Mutter nur hier wäre! Diesmal ist dein Vater zu weit gegangen.«

Trotz meiner Bemühungen, Amahs Bedenken zu zerstreuen, war mir beklommen zumute, als ich zu Bett ging und meine Lampe gegen die flackernden Schatten abschirmte. Unser Haus war groß und alt, doch seit es mit unseren Finanzen bergab ging, hatten wir kaum noch ein Zehntel der früheren Dienerschaft. Zur Zeit meines Großvaters war das Haus voller Menschen gewesen; er hatte eine Ehefrau, zwei Konkubinen und mehrere Töchter gehabt. Mein Vater war der einzige noch lebende Sohn. Die Ehefrau und die Konkubinen meines Großvaters hatten inzwischen ebenfalls das Zeitliche gesegnet. Meine Tanten waren vor langer Zeit verheiratet worden, und meine Cousinen, mit denen ich als Kind gespielt hatte, waren mit ihren Familien nach Penang gezogen. Je mehr Geld wir verloren, desto mehr Zimmer wurden geräumt und verriegelt. Manchmal glaubte ich, mich an das geschäftige Treiben unserer Dienerschaft und Gäste erinnern zu können, aber das musste gewesen sein, bevor mein Vater sich zurückgezogen hatte und sich von seinen Geschäftspartnern über den Tisch ziehen ließ. Manchmal erzählte Amah von früher, aber es endete stets damit, dass sie die Torheit meines Vaters ebenso verfluchte wie seine heimtückischen Freunde und nicht zuletzt den Gott der Pocken, der all das herbeigeführt hatte.

Ich glaubte nicht so recht an den Gott der Pocken. Ein Gott hätte sich wohl kaum dazu herabgelassen, den Menschen die Pocken durch Fenster und Türen zu schicken. Die ausländischen Ärzte im Krankenhaus sprachen von einer Seuche, die sich ausbreitete, und von Quarantäne; diese Erklärung erschien mir weitaus vernünftiger. Manchmal überlegte ich, ob ich Christin werden sollte, wie die englischen Ladys, die jeden Sonntag in die anglikanische Kirche gingen. Ich hatte die Kirche noch nie betreten, aber von außen sah sie sehr friedlich aus. Und der christliche Friedhof mit dem gepflegten grünen Rasen und den ordentlichen Grabsteinen unter den Frangipanibäumen wirkte weitaus einladender als unsere chinesischen Grabstätten, die sich in einem wilden Durcheinander an Berghänge drängten.

An Qingming, dem chinesischen Totenfest, gingen wir auf den Friedhof, um unserer Ahnen zu gedenken, ihre Gräber zu fegen, Weihrauchstäbchen anzuzünden und Opfergaben darzubringen. Die Gräber sahen wie kleine Häuser oder große Sessel mit Armlehnen aus, mit einer Grabplatte und einem kleinen Altar in der Mitte. Die Wege auf dem Berghang waren mit Unkraut und lalang überwuchert, scharfkantigem Elefantengras, das einem in den Finger schnitt, wenn man daran entlangfuhr. Überall sah man verwahrloste Gräber, die entweder vergessen worden waren oder nicht mehr gepflegt wurden, weil es an Nachfahren fehlte. Mir schauderte es bei der Vorstellung, als Witwe einem Fremden die Ehre erweisen zu müssen. Und was genau passierte überhaupt, wenn man einen Geist heiratete? Mein Vater hatte das Ganze als Scherz abgetan. Amah hatte nicht darüber reden wollen; in ihrem Aberglauben war sie fest davon überzeugt, dass etwas wahr wurde, sobald sie es nur aussprach. Ich konnte nur hoffen, dass sich das Thema erledigt hatte.

KAPITEL 2

Ich bemühte mich, das verstörende Ansinnen der Familie Lim zu vergessen. Meinen ersten Heiratsantrag hatte ich mir wahrhaftig anders vorgestellt. Natürlich wusste ich, dass ich eines Tages vermählt werden würde, doch noch konnte ich das Leben ohne allzu große Einschränkungen genießen. Im Vergleich zu China ging es bei uns in Malaya nämlich weniger streng zu. Hier geborene Chinesinnen banden sich zum Beispiel nicht die Füße. Tatsächlich erachteten andere Völker den Brauch des Füßebindens sogar als abscheulich, weil Frauen dadurch verkrüppelt und für die Hausarbeit nutzlos wurden. Als die Portugiesen vor über dreihundert Jahren zum ersten Mal in Malakka anlegten, lebten bereits Chinesen in der Stadt, aber die ersten unserer Landsleute, die ihr Glück hier versuchten, kamen ohne Frauen. Einige von ihnen heirateten Malaiinnen, und aus der Vermischung beider Kulturen gingen die Peranakan hervor. Spätere Siedler holten sich Frauen aus der Heimat, die oft bereits älter, geschieden oder verwitwet waren – wer sonst hätte die lange und gefahrvolle Reise auf sich genommen? Es ging hier also weniger streng zu, weshalb sich unverheiratete Mädchen aus gutem Hause draußen frei bewegen durften, selbstverständlich in Begleitung einer Anstandsdame. Mein Vater legte zwar großen Wert auf die Bewahrung der chinesischen Kultur, doch Malaya stand unter der Herrschaft der Briten. Sie machten hier die Gesetze und leiteten die Behörden, ja, sie errichteten sogar englische Schulen für die Einheimischen. Unsere talentierten jungen Männer waren ganz wild darauf, für die britische Regierung zu arbeiten.

Ich fragte mich, was dem armen Lim Tian Ching wohl zugestoßen war. Hatte er auch den Wunsch gehegt, als Beamter Karriere zu machen? Oder wäre das als Sohn aus reichem Hause unter seiner Würde gewesen? Sein Vater besaß mehrere Zinnminen sowie Kaffee- und Kautschukplantagen. Warum hatte seine Familie sich eigentlich an meinen Vater gewandt? Ich hatte doch nie etwas mit ihrem Sohn zu tun gehabt.

In den folgenden Tagen versuchte ich, meinem Vater mehr Informationen darüber zu entlocken, doch anstatt mir zu antworten, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, wo er sicherlich mehr Opium rauchte, als ihm guttat. Er schien ein schlechtes Gewissen zu haben, als täte es ihm leid, die Sache überhaupt erwähnt zu haben. Amah ließ ihn auf ihre Weise spüren, wie empört sie war. Da es ihr nicht zustand, ihn zu tadeln, wuselte sie mit dem Staubwedel um ihn herum und ließ ihren Unmut brummelnd an diversen Gegenständen aus. Dagegen war mein Vater wiederum machtlos, und so legte er sich irgendwann die Zeitung aufs Gesicht und tat, als schliefe er.

Nach einer Weile war ich mir sicher, dass die Angelegenheit sich erledigt hatte. Doch einige Tage später überbrachte uns ein Bote eine Nachricht der Lims: eine persönliche Einladung von Madam Lim zum Mah-Jongg-Spiel.

»Oh, ich spiele nicht«, platzte es aus mir heraus.

Der Diener, den man geschickt hatte, lächelte nur und meinte, das sei egal, ich solle trotzdem kommen und zuschauen. Eigentlich brannte ich vor Neugier darauf, das Anwesen der Lims einmal von innen zu sehen. Amah verzog zwar das Gesicht, machte sich aber sogleich an meiner Kleidung und meinen Haaren zu schaffen. Es war ihre Art, sich in alles einzumischen, und da sie mich aufgezogen hat, befürchtete ich, dass dieser Wesenszug leider auf mich übergegangen war.

»Wenn du unbedingt dorthin willst, solltest du zumindest einen guten Eindruck machen«, sagte sie und holte mein zweitbestes Kleid hervor. Ich besaß zwei gute Kleider: Das eine war aus dünner fliederfarbener Seide mit aufgestickten Kaiserwinden am Kragen und an den Ärmeln, das andere hellgrün mit Schmetterlingen. Beide hatten meiner Mutter gehört. Ich hatte schon eine Weile nichts Neues aus Seide bekommen. Meistens trug ich entweder ein locker sitzendes, baumwollenes Cheongsam, eine Art langes Kleid, oder einen Sam Foo, einen Anzug aus Bluse und Hose, wie ihn Arbeiterinnen trugen. Wenn die guten Kleider abgetragen waren, trennten wir die bestickten Kragen und Ärmelaufschläge immer ab, um sie noch einmal zu verwenden.

»Lass mich dir schnell die Haare machen«, sagte Amah. Dass sie meinen Besuch bei den Lims missbilligte, war längst vergessen. Normalerweise trug ich zwei geflochtene Zöpfe und nur bei besonderen Anlässen eine Hochsteckfrisur. Von den langen Haarnadeln bekam ich Kopfschmerzen, denn Amah steckte sie immer sehr fest, damit sich keine Strähne lösen konnte. Sie trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten und es durch einige Goldnadeln mit Jade-Schmetterlingen zu ergänzen. Die Haarnadeln hatten ebenfalls meiner Mutter gehört. Als Amah fertig war, hängte sie mir ganze fünf Ketten um den Hals: zwei goldene, eine aus Granatsteinen, eine aus kleinen Süßwasserperlen und die letzte mit einem schweren scheibenförmigen Jade-Anhänger. Ich fühlte mich bepackt wie ein Lastesel, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was wohlhabendere Frauen trugen. Schmuck war in der Regel die einzige Sicherheit, die Frauen besaßen, weshalb selbst die Ärmsten ihre goldenen Ketten, Ohrstecker und Ringe zur Schau stellten. Was die Reichen betraf, würde ich ja bald sehen, welche Juwelen Madam Lim aufbieten konnte.

Das Anwesen der Lims lag etwas außerhalb der Stadt, nicht im nahe gelegenen Viertel zwischen Jonker und Heeren Street, wo vermögende chinesische Kaufleute die alten niederländischen Shophouses übernommen hatten. Die Lims besaßen dort zwar auch eines, aber ihr Hauptdomizil hatten sie nach Klebang verlegt, wo immer mehr Reiche sich niederließen. Es war nicht allzu weit von unserem Haus entfernt und sah angeblich ganz anders aus als die Villen und Bungalows im europäischen Viertel, die wirklich imposant waren mit großer Dienerschaft, Ställen und weitläufigen Rasenflächen. Das Anwesen der Lims war wohl ebenfalls beeindruckend, aber im chinesischen Stil errichtet worden. Amah rief eine Rikscha für uns herbei, was mir als Verschwendung erschien; wir hätten auch zu Fuß gehen können. Doch Amah erwiderte, der Weg sei recht weit, und außerdem mache es keinen guten Eindruck, wenn wir schweißgebadet und staubbedeckt bei den Lims ankämen.

Die Nachmittagssonne stand schon recht tief, als wir losfuhren. Flimmernde Hitze stieg von der Straße auf, weiße Staubschleier gesellten sich dazu. Der Mann, der unsere Rikscha zog, bewegte sich in gleichmäßigen Schritten voran, und der Schweiß rann ihm in Strömen den Rücken hinunter. Mir taten diese Männer leid, die sich als Lastträger verdingten. Es war hart, sich seinen Lebensunterhalt so zu verdienen, aber immer noch besser als die Arbeit in den Zinnminen, wo die Sterberate angeblich bei fast fünfzig Prozent lag. Die Rikschazieher waren sehr mager, mit eingefallenem Brustkorb, ledriger Haut und nackten Füßen, die so verhornt waren, dass sie Hufen glichen. Aber sosehr ich die Männer auch bedauerte, ihre neugierigen Blicke waren mir trotzdem unangenehm. Ich durfte das Haus schließlich nur in Begleitung verlassen und musste mein Gesicht dabei unter einem Ölpapierschirm verbergen. Bevor ich diesen Gedanken weiter nachhängen konnte, hatten wir das Anwesen der Lims erreicht. Während Amah den Rikschazieher streng anwies, vor dem Haus auf uns zu warten, betrachtete ich die schweren Eisenholztüren, die geräuschlos aufgingen.

Ein Diener nahm uns schweigend in Empfang und führte uns durch einen Innenhof, der von Bougainvillea-Sträuchern in großen Porzellantöpfen gesäumt wurde. Allein die Töpfe waren ein Vermögen wert; sie wurden aus China hierher verschifft, sorgfältig in Kisten mit Teeblättern verpackt, damit sie beim Transport nicht zerbrachen. Die blau-weiße Glasur sah aus wie bei den wenigen kleinen Porzellanteilen, die mein Vater noch besaß. Ich war verblüfft, denn normalerweise setzte man derart kostbare Objekte weder Sonne noch Regen aus. Wahrscheinlich wollten die Lims ihre Gäste damit beeindrucken. Wir warteten im prächtigen Foyer, während der Diener vorausging, um unsere Ankunft zu melden. Der Boden sah wie ein schwarz-weißes Schachbrett aus, und die Balustraden der breiten Teakholztreppe waren mit kunstvollen Schnitzereien verziert. Und überall gab es Uhren zu sehen.

Ein wahres Sammelsurium an Uhren! Allein an den Wänden hingen Dutzende in den unterschiedlichsten Stilen. Dazu gesellten sich mehrere große Standuhren und kleinere Exemplare auf diversen Kommoden. Es gab Kuckucksuhren, Porzellanuhren, filigrane Uhren aus vergoldeter Bronze und ein geradezu winziges Exemplar, kaum größer als ein Wachtel-Ei. Die Glasgehäuse funkelten mit den Messingornamenten um die Wette. Das Ticken der Uhrwerke war allgegenwärtig. Zeit schien in diesem Haus eine große Rolle zu spielen.

Ich bewunderte das Spektakel, bis der Diener zurückkehrte und uns durch eine lange Reihe von Räumen führte. Wie viele chinesische Häuser besaß auch dieses Gebäude mehrere Innenhöfe und Verbindungsflure. Wir durchquerten Steingärten, die Miniaturlandschaften glichen, und üppig mit antiken Möbeln ausgestattete Salons, bis schließlich Frauenstimmen und das Klackern von Mah-Jongg-Steinen ertönten und wir ein Zimmer mit fünf Spieltischen betraten. An den Tischen saßen Frauen, die so vornehm gekleidet waren, dass ich mir wie eine Bettlerin vorkam. Der Diener näherte sich einer der Damen und murmelte ihr etwas zu – Madam Lim.

Auf den ersten Blick war ich enttäuscht. Nachdem ich so weit in dieses Heiligtum vorgedrungen war, hatte ich, wohl etwas naiv, niemand Geringeren als die Himmelskaiserin erwartet. Stattdessen sah ich eine Frau mittleren Alters, die ein wenig in die Breite gegangen war. Sie trug ein sehr elegantes Kleid, eine Baju Panjang in Tiefschwarz, der Farbe der Trauer. Ihr Sohn war vor neun Monaten gestorben, doch sie würde mindestens ein Jahr lang Trauerkleidung tragen. Sie wurde fast von ihrer Sitznachbarin überschattet, die ihre Wespentaille mit einer eng anliegenden Kebaya betonte. Sie trug ebenfalls Trauerfarben, Blau und Weiß, dazu edelsteinbesetzte Haarnadeln, die ihr ein insektenartiges Glitzern verliehen. Hätte sie Madam Lim nicht angeblickt, als wartete sie wie die anderen Frauen am Tisch auf ein Zeichen von ihr, hätte ich sie für die Hausherrin gehalten. Später erfuhr ich, dass sie die dritte Frau war.

»Schön, dass du kommen konntest«, sagte Madam Lim. Ihre Stimme war leise und klang überraschend jung, fast wie das Gurren einer Taube. Ich musste mich anstrengen, um sie bei dem Geschnatter, das an den anderen Tischen herrschte, überhaupt verstehen zu können.

»Danke, Tante«, erwiderte ich, denn so wurden ältere Frauen angesprochen, um ihnen den nötigen Respekt zu erweisen. Ich war unsicher, ob ich nun den Kopf neigen oder mich verbeugen sollte. Hätte ich in der Vergangenheit bloß mehr auf solche Umgangsformen geachtet!

»Ich kannte deine Mutter schon vor ihrer Heirat; wir waren damals noch Kinder«, sagte Madam Lim. »Hat sie das nie erwähnt?« Als sie meine Überraschung bemerkte, lächelte sie kurz und ließ ihre Zähne aufblitzen. »Deine Mutter und ich waren entfernte Verwandte«, fügte sie hinzu. Auch das war mir neu. »Ich hätte mich früher nach dir erkundigen sollen«, fuhr Madam Lim fort. »Wie konnte ich nur so nachlässig sein.« Um sie herum ging das Mah-Jongg-Spiel klackernd weiter. Sie bedeutete einem Diener, einen Marmorhocker herbeizuholen. »Komm, Li Lan. Wie mir berichtet wurde, spielst du nicht, aber vielleicht möchtest du ja zuschauen.«

Ich setzte mich also neben sie und sah ihr beim Spielen zu, während ich Konfekt knabberte, das in einem unaufhörlichen Strom aus der Küche serviert wurde. All meine Lieblingssorten kuih waren dabei, gedämpfte Törtchen aus Klebreismehl, gefüllt mit Palmzucker oder Kokosraspeln. Es gab zarte Waffelröllchen, Liebesbriefe genannt, und köstliches Ananasgebäck. Schüsseln mit gerösteten Wassermelonenkernen wurden herumgereicht, dazu fächerförmige Mango- und Papayascheiben. Es war lange her, dass es solche Köstlichkeiten bei uns zu Hause gegeben hatte; ich kam einfach nicht umhin, wie ein Kind davon zu naschen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Amah den Kopf schüttelte, aber hier stand es ihr nicht zu, mich davon abzuhalten. Nach einer Weile verschwand sie in der Küche, um dort zu helfen. Ohne ihre missbilligenden Blicke schmeckte alles noch viel besser.

Ab und zu richtete Madam Lim das Wort an mich, doch so leise, dass ich sie kaum verstand. Ich lächelte und nickte, während ich mich mit unverhohlener Neugier umschaute. Die Gelegenheit, an solchen Gesellschaften teilzunehmen, bot sich mir nur selten. Wäre meine Mutter noch am Leben gewesen, hätte ich ihr vielleicht beim Setzen der elfenbeinernen Spielsteine zugeschaut und dabei dem neuesten Tratsch gelauscht. Die Frauen würzten ihre Unterhaltung mit vielsagenden Anspielungen auf wichtige Leute und Orte, während sie ganz beiläufig schwindelerregend hohe Spielschulden erwähnten.

Madam Lim hielt mich sicher für einfältig oder zumindest für naiv. Ab und zu sah ich, wie sie mich mit ihren Taubenaugen musterte. Seltsamerweise schien meine linkische Art ihr zu gefallen. Erst viel später begriff ich, warum. Um uns herum plauderten die anderen Frauen, während sie ihre Spielsteine legten; ihre Jade-Armreifen klackerten dazu im Takt. Die dritte Frau saß inzwischen an einem anderen Tisch. Das war schade, denn ich hätte sie gern weiter beobachtet. Sie war zweifellos attraktiv, galt jedoch als schwierig. Das wusste ich von Amah, die es von der Dienerschaft erfahren hatte. Die zweite Frau war nicht zu sehen. Wie ich gehört hatte, pflegte der Hausherr das Privileg des reichen Mannes, sich neben seinen Ehegattinnen mehrere Konkubinen zu halten. Mit all diesen Frauen hatte er insgesamt vier Töchter. Er hatte zudem drei Söhne gehabt, doch zwei waren bereits als Babys gestorben und der letztgeborene, Lim Tiang Ching, vor einem Dreivierteljahr. Ich hatte Amah nach den Umständen seines Todes gefragt, aber sie weigerte sich, darüber zu reden. Es spiele keine Rolle, da ich ihn niemals heiraten würde. Nun war Lims Neffe der einzige Erbe.

»Er ist jedenfalls der rechtmäßige Erbe«, hatte Amah auf unserem Weg zu den Lims gesagt.

»Was meinst du damit?«

»Er ist der Sohn von Lims älterem Bruder. Lim war der Zweitgeborene. Als sein älterer Bruder starb, ging das Familienvermögen an ihn, aber er versprach, seinen Neffen als Erben großzuziehen. Im Laufe der Zeit hieß es dann, er wolle nun doch nicht, dass seine eigenen Söhne leer ausgingen. Aber es ist sinnlos, darüber zu reden. Lim hat keine Söhne mehr.«

Als ich über dieses Beziehungsnetz nachdachte, überlief mich ein Schauer der Erregung. Es erinnerte mich an die Welt des Reichtums und der Intrigen, die ich aus Heftromanen kannte. Die billigen Hefte waren meinem Vater ein Dorn im Auge, und Amah missbilligte sie natürlich auch, aber insgeheim war sie davon genauso fasziniert wie ich. Diese Romane beschworen eine Welt herauf, die sich von unserem eigenen entbehrungsvollen Dasein vollkommen unterschied. Es deprimierte mich, dass wir Jahr um Jahr nur knapp über die Runden kamen, ständig bemüht, so lange wie möglich mit dem Wenigen, das wir hatten, auszukommen, und uns niemals etwas Neues oder Schönes kaufen konnten. Am schlimmsten für mich war, dass mein Vater untätig blieb. Statt Verträge zu schließen und die Geschäfte weiterzuführen, verbarrikadierte er sich in seinem Arbeitszimmer, um dort stundenlang seine Lieblingsgedichte abzuschreiben und düstere Traktate zu verfassen. Inzwischen hatte ich das Gefühl, als wären wir mit ihm zusammen dort eingesperrt.

»Du siehst traurig aus.« Die Stimme von Madam Lim riss mich aus meinen Gedanken. Dieser Frau schien nichts zu entgehen. Für eine Chinesin hatte sie helle Augen, und ihre Pupillen waren klein und rund, wie bei einem Vogel.

Ich errötete. »Dieses Haus ist voller Leben, im Vergleich zu unserem.«

»Gefällt es dir hier?«, fragte sie.

Ich nickte.

»Bist du eigentlich in jemanden verliebt?«, wollte sie wissen. »Oder sogar schon verlobt?«

»Nein.« Ich starrte auf meine Hände.

»Nun«, sagte sie, »ein junges Mädchen sollte nicht allzu erfahren sein.« Sie lächelte wieder kurz. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich dir so viele Fragen stelle, meine Liebe. Du erinnerst mich wirklich sehr an deine Mutter, und auch an mich selbst, als ich in deinem Alter war.«

Ich hätte Madam Lim gern nach ihren Töchtern gefragt, zögerte jedoch. An den anderen Tischen saßen einige junge Frauen, doch sie waren mir nur flüchtig vorgestellt worden. Ich wusste nicht, ob sie Cousinen, Freundinnen oder Töchter waren.

Das Mah-Jongg-Spiel ging weiter, aber da ich nicht mitmachte, wurde mir bald langweilig. Als ich mich entschuldigte, weil ich zur Toilette musste, winkte Madam Lim eine Dienerin herbei, um mir den Weg zu zeigen. Madam Lim hatte gerade eine Glückssträhne, die hoffentlich noch eine Weile anhielt. Die Dienerin führte mich durch mehrere Korridore zu einer schweren Tür aus chengal-Holz. Als ich fertig war, öffnete ich die Tür einen Spalt. Die Dienerin stand noch da, sie wartete geduldig auf mich. Doch plötzlich rief jemand nach ihr. Sie warf einen kurzen Blick in meine Richtung, dann ging sie davon.

Aufgeregt schlüpfte ich hinaus und begann, das Haus auf eigene Faust zu erkunden. Es war um eine Reihe von Innenhöfen erbaut worden, die Räume gingen darauf zu. Ich kam an einem kleinen Salon vorbei, danach an einem weiteren mit einem Marmortisch, der halb eingedeckt war. Als ich Stimmen hörte, bog ich rasch in einen Flur ab, der mich zum nächsten Innenhof führte. Dort entdeckte ich einen kleinen Teich mit Lotusblumen, die ihre milchweißen Köpfe im Blättergrün neigten. Eine gleißende, traumgleiche Stille lag über allem. Besser, ich kehrte wieder um, bevor man mich vermisste. Doch irgendetwas ließ mich zögern.

Als ich die Blütenstempel der Lotusblumen betrachtete, die Gießkannentüllen glichen, hörte ich einen schwachen silbrigen Glockenschlag. Befand ich mich etwa in der Nähe der Uhrenhalle? Neugierig folgte ich dem Geräusch. Es kam aus einer Art Arbeitszimmer. Eine der beiden Flügeltüren war zum Hof hin geöffnet. Ich betrat den Raum. Drinnen war es kühl und dunkel; meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Prompt stieß ich gegen etwas – genauer gesagt, gegen einen jungen Mann, der an einem niedrigen Tisch saß und ein schäbiges blaues Baumwollgewand trug. In meiner Ungeschicklichkeit fegte ich die kleinen Zahnräder, die vor ihm lagen, auf den Boden, und sie rollten in alle Winkel des Zimmers.

»Verzeihung, Miss«, sagte der junge Mann und schaute entschuldigend zu mir auf.

»Ich war neugierig, woher der Glockenschlag kam«, sagte ich verlegen und half ihm, so gut ich konnte, die Teile wieder einzusammeln.

»Mögen Sie Uhren?«, fragte er.

»Ehrlich gesagt, kenne ich mich damit nicht aus.«

»Nun, ohne diese beiden Zahnräder bleibt die Uhr stehen.« Der junge Mann sammelte zwei glänzende Teile, die offenbar zu einer Taschenuhr aus Messing gehörten, mit einer Pinzette ein und legte sie nebeneinander.

»Können Sie sie reparieren?«, fragte ich. Eigentlich gehörte es sich nicht, dass ich mit dem jungen Mann sprach, selbst wenn er zur Dienerschaft gehörte. Ich war erleichtert, als er sich wieder über seine Arbeit beugte.

»Ich bin zwar kein Experte, aber ich kann sie wieder in Gang bringen«, erwiderte er. »Mein Großvater hat mir gezeigt, wie das geht.«

»Das ist eine sehr nützliche Fähigkeit«, sagte ich. »Sie könnten Ihre eigene Werkstatt eröffnen.«

Er schaute auf und runzelte belustigt die Stirn. Dann lächelte er, und mir schoss das Blut in die Wangen.

»Putzen Sie die Uhren auch?«, fragte ich.

»Manchmal. Außerdem kümmere ich mich ein wenig um die Buchhaltung und mache Besorgungen.« Er sah mich unverwandt an. »Ich habe Sie vorhin am Teich gesehen.«

»Oh.« Um mein Unbehagen zu überspielen, fragte ich: »Warum sind eigentlich so viele Uhren in diesem Haus?«

»Das war ein Hobby des ehemaligen Hausherrn, man könnte es auch Besessenheit nennen. Er sammelte mechanische Uhren und war ständig auf der Jagd nach neuen Exemplaren.«

»Warum hat er sich so dafür interessiert?«

»Weil mechanische Uhren viel genauer sind als Wasseruhren oder Kerzenuhren. Die westlichen Uhren sind so präzise, dass man damit beim Segeln sogar den Längengrad bestimmen kann. Wissen Sie, was das ist?«

Das wusste ich allerdings. Mein Vater hatte mir erklärt, dass Seekarten nach Länge und Breite aufgeteilt wurden. »Konnte man den Längengrad vorher denn nicht bestimmen?«

»Nein, wegen des Längenproblems. Das Breitensegeln war die einfachste Navigationsmethode. Stellen Sie sich vor, Sie wären auf hoher See und hätten nur einen Sextanten und einen Kompass. Um die relative Position der Sonne zu berechnen, bräuchten Sie die genaue Uhrzeit. Deshalb sind diese Uhren so wunderbar. Mit ihnen segelten die Portugiesen vom anderen Ende der Welt hierher.«

»Warum haben wir das nicht auch gemacht?«, fragte ich. »Wir hätten sie erobern sollen, bevor sie zu uns nach Malaya kamen.«

»Ach, Malaya ist viel zu rückständig! Aber China hätte das vielleicht hingekriegt. Die Kapitäne der Ming-Dynastie schafften es immerhin bis nach Afrika, nur mit Breitensegeln und Steuermännern, die die örtlichen Gewässer kannten.«

»Ja«, sagte ich eifrig. »Ich habe gelesen, dass sie dem Kaiser eine Giraffe mitbrachten. Aber er hatte an barbarischen Ländern kein Interesse.«

»Jetzt geht es mit China bergab, und Malaya ist bloß irgendeine britische Kolonie«, erwiderte er.

In seinen Worten schwang ein Hauch Bitterkeit mit. Das überraschte mich, zumal er keinen langen geflochtenen Zopf und keine ausrasierte Stirn hatte, wie die meisten in Malaya lebenden Chinesen, sondern das Haar kurz trug. Entweder gehörte er einer niederen Klasse an, oder er rebellierte gegen die alten Bräuche. Er lächelte und fügte hinzu: »Von den Briten kann man allerdings auch viel lernen.«

Es gab so viele Fragen, die ich ihm gern gestellt hätte, doch es wurde höchste Zeit, dass ich mich wieder zu Madam Lim gesellte. Der junge Mann war zwar sehr höflich, aber es gehörte sich trotzdem nicht, dass ich mit ihm sprach, selbst wenn er nur ein Diener war.

»Ich muss jetzt gehen.«

»Warten Sie, Miss. Kennen Sie den Weg?«

»Ich muss zurück zur Mah-Jongg-Gesellschaft.«

»Soll ich Sie hinbringen?« Als er sich halb vom Tisch erhob, kam ich nicht umhin zu bemerken, wie geschmeidig er sich bewegte.

»Nein, nein.« Beschämt winkte ich ab. Wahrscheinlich suchte man schon nach mir. Ich rannte förmlich aus dem Zimmer und lief durch mehrere Flure, doch ich hatte die Orientierung verloren. Als ich ratlos stehen blieb, tauchte zum Glück die Dienerin wieder auf, die mich zur Toilette begleitet hatte.

»Da sind Sie ja, Miss«, sagte sie. »Ich war nur kurz weg, aber als ich zurückkam, waren Sie verschwunden.«

»Tut mir leid«, sagte ich und strich verlegen mein Kleid glatt. »Ich habe mich verlaufen.«

Im Mah-Jongg-Zimmer war das Spiel noch in vollem Gange. Ich nahm wieder auf dem Hocker neben Madam Lim Platz, aber sie schien meine Rückkehr gar nicht zu bemerken. Den Spielsteinen nach, die sich vor ihr stapelten, hielt ihre Glückssträhne tatsächlich an. Nach einer Weile erhob ich mich und verabschiedete mich höflich. Zu meiner Überraschung stand Madam Lim ebenfalls auf, um mich hinauszubringen.

Auf dem Weg zum Ausgang kamen wir an einer Dienerin vorbei, die Opfergaben arrangierte; sie sollten in einem der Innenhöfe verbrannt werden. Die kleinen, mit buntem Papier bespannten Drahtfiguren waren für die Toten in der Unterwelt bestimmt: Papierpferde, auf denen sie reiten konnten, papierne Diener, Nahrungsmittel, Bündel mit Höllengeld, Kutschen, sogar Möbel aus Papier. Ich war erstaunt, die Opfergaben zu sehen, da sie normalerweise nur bei Beerdigungen und am Totenfest Qingming dargebracht wurden. Wer sehr religiös war, konnte sie natürlich jederzeit für seine Ahnen verbrennen. Ohne solche Gaben waren die Toten im Jenseits nämlich mittellos, und ohne Nachkommen oder ein ordentliches Begräbnis mussten sie für immer als hungrige Geister umherwandern, denen die Wiedergeburt verwehrt blieb. Nur an Qingming, wenn generell Opfergaben verbrannt wurden, um das Böse abzuwehren, erhielten diese Unglückseligen etwas Unterstützung. Ich hatte diese Vorstellung stets beängstigend gefunden. Die Opfergaben waren aus buntem Papier und schön gemacht, doch das änderte nichts an meiner Beklommenheit.

Als wir weiter Richtung Ausgang gingen, betrachtete ich Madam Lim verstohlen. Im Licht des Innenhofs traten ihre Augenringe und die welke Haut ihrer Wangen zutage. Sie sah sehr erschöpft aus, doch ihre Körperhaltung leugnete jede Schwäche.

»Und wie geht es deinem Vater?«, fragte sie.

»Es geht ihm gut, danke.«

»Hat er schon Pläne für dich gemacht?«

Ich blickte zu Boden. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Aber du bist im heiratsfähigen Alter. Ein Mädchen wie du hat doch sicher schon viele Angebote bekommen.«

»Nein, Tante«, sagte ich. »Mein Vater lebt recht zurückgezogen.« Und reich sind wir auch nicht mehr, fügte ich im Stillen hinzu.

Madam Lim seufzte. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.« Ich horchte auf, doch ihre Bitte klang seltsam harmlos. »Würdest du mir dein Haarband überlassen? Es passt so gut zu einer neuen Baju, die ich mir schneidern lassen will.«

»Natürlich.« Ich zog das Band heraus und reichte es ihr. Es war nichts Besonderes; die Farbe war ein gewöhnliches Rosa. Außerdem gab es keinen Grund, ihre Bitte abzulehnen. Ihre Hand zitterte, als sie es nahm.

»Geht es Ihnen gut, Tante?«, fragte ich vorsichtig.

»In letzter Zeit schlafe ich schlecht«, erwiderte sie mit ihrer leisen, hauchzarten Stimme. »Aber das geht sicher bald vorbei.«

Kaum saß ich wieder neben Amah in der Rikscha, ging das Gezeter los. »Wie konntest du dich nur so danebenbenehmen?«, ereiferte sie sich. »Nicht nur, dass du dir den Bauch vollgeschlagen hast, auch mit den Augen musstest du alles verschlingen! Jetzt werden sie dich für eine Gans halten. Warum hast du sie nicht mit cleveren Geschichten und Schmeicheleien für dich eingenommen? Cheh! Du hast dich wie ein Bauerntrampel aufgeführt, nicht wie die Tochter der Familie Pan!«

»Das hast du noch nie gesagt – dass ich Leute für mich einnehmen kann«, entgegnete ich beleidigt. Eigentlich hatte ich ihr von meiner heimlichen Hauserkundung berichten wollen, aber sie musste ja nicht alles erfahren.

»Aber natürlich kannst du Leute für dich einnehmen! Du warst das erste Kind in unserer Straße, das Papierschmetterlinge schneiden und Gedichte aufsagen konnte. Ich habe dir das nur deshalb nie gesagt, damit du dir nichts darauf einbildest.«

Diese Begründung war typisch für Amah. Doch sie hatte das Thema bereits gewechselt und erzählte jetzt den neuesten Tratsch, den sie in der Küche aufgeschnappt hatte. Als ich Madam Lims Bitte erwähnte, ihr mein Haarband für ein neues Kleid zu überlassen, horchte Amah auf. »Wie merkwürdig! Sie hat sich seit Monaten nichts schneidern lassen. Aber falls sie ihren Neffen verkuppeln will, sobald die Trauerzeit vorbei ist, braucht sie natürlich etwas Neues.«

»Er ist noch gar nicht verheiratet?«

»Er ist noch nicht einmal verlobt. Angeblich hätte der Hausherr längst eine Ehe für ihn arrangieren sollen, aber er wollte lieber zuerst seinem eigenen Sohn eine gute Partie besorgen.«

»Wie gemein.«

»Tja, so läuft es nun mal! Doch jetzt, wo ihr eigener Sohn tot ist, haben die Lims ihrem Neffen gegenüber wohl ein schlechtes Gewissen. Außerdem wollen sie bestimmt rasch einen neuen Erben. Denn wenn der Neffe auch noch stirbt, kann ja niemand an seine Stelle treten.«

Das klang plausibel, doch meine Gedanken schweiften zu dem jungen Mann, dem ich zuvor begegnet war. »Amah, wer kümmert sich bei den Lims eigentlich um die Uhren?«

»Die Uhren? Vermutlich einer der Diener. Warum willst du das wissen?«

»Ich bin bloß neugierig.«

»Die Dienstmädchen haben übrigens gesagt, dass Madam Lim sich sehr für dich interessiert«, sagte Amah. »In letzter Zeit hat sie viele Fragen über dich und unser Haus gestellt.«

»Doch nicht etwa wegen dieser Geisterhochzeit?« Schaudernd dachte ich an die vielen Opfergaben für die Toten.

»Unsinn!«, rief Amah. »Madam Lim hat sich mit deinem Vater nur unterhalten. Er muss sie falsch verstanden haben. Kein Wunder, er raucht zu viel Opium!«

Das stimmte zwar, doch ich bezweifelte, dass das Opium ihm an jenem Tag den Verstand vernebelt hatte. »Mir hat Madam Lim auch Fragen gestellt«, sagte ich schließlich.

»Was denn für Fragen?«

»Ob ich verliebt bin oder sogar schon verlobt.«

Amah wirkte mit einem Mal so zufrieden wie eine Katze, die eine Eidechse erwischt hat. »Sieh an! Die Lims sind so wohlhabend, dass ihnen die gute Erziehung der Braut anscheinend wichtiger ist als das Vermögen ihrer Familie.«

Ich entgegnete, dass eine Schwiegertochter aus reichem Hause bei den Lims bestimmt bessere Karten hatte als ich. Vielleicht versuchte ich auf diese Weise auch nur, das Unbehagen zu verscheuchen, das ich in Madam Lims Gegenwart empfunden hatte. Doch Amah hörte mir gar nicht zu.

»Wir sollten dafür sorgen, dass man mehr Notiz von dir nimmt. Wenn bekannt wird, dass die Familie Lim an dir interessiert ist, bekommst du vielleicht noch mehr Angebote.« In mancher Hinsicht war Amah wirklich gerissen. Als Viehhändlerin hätte sie sich eine goldene Nase verdient.

»Morgen kaufen wir Stoff, und dann nähen wir dir neue Kleider!«

KAPITEL 3

An jenem Abend ging ich früh zu Bett, müde und aufgedreht. Es war schwül, und ich zog an den Holzfensterläden. Amah mochte es nicht, wenn ich die Fenster abends zu weit öffnete. Sie behauptete, die Nachtluft sei ungesund, aber wenn kein Monsun war, konnte die Hitze wirklich drückend sein.

Als die Öllampe ausgegangen war, wurde das Mondlicht langsam stärker, bis ein kaltes, blasses Leuchten das Zimmer erfüllte. Für die Chinesen war der Mond yin, weiblich und voller negativer Energie, während die Sonne yang war, männlich und positiv. Ich mochte den Mond mit seinen sanften Silberstrahlen. Sein Licht war rätselhaft und zugleich trügerisch, weshalb verschollene Gegenstände, die sich in den Winkeln eines Zimmers verirrt hatten, nur selten gefunden wurden. Bücher, die man im fahlen Mondschein las, schienen fantastische Geschichten zu enthalten, doch am nächsten Morgen waren sie nicht mehr da. Amah verbot mir, bei Mondlicht zu nähen, damit ich mir nicht die Augen und damit die Chance auf eine gute Partie verdarb.

Falls ich verheiratet wurde, dann hoffentlich mit einem Mann wie dem jungen Diener, der mir bei den Lims begegnet war. Immer wieder ging ich unsere kurze Unterhaltung im Kopf durch, erinnerte mich an den Klang seiner Stimme und seine selbstsichere Art. Es gefiel mir, dass er mich als Gesprächspartnerin ernst genommen hatte, ohne die herablassende Gönnerschaft der wenigen Freunde meines Vaters. Bei der Vorstellung, dass er meine Interessen teilte und vielleicht sogar meine Sorgen verstand, spürte ich ein seltsames Flattern in der Brust. Wäre ich ein Mann gewesen und einer jungen Dienerin begegnet, die mir gefallen hätte, wäre ich sofort bereit gewesen, sie ihrem Herrn abzukaufen. Männer taten das ständig. Frauen hatten es viel schwerer. Es gab Geschichten von untreuen Konkubinen, die man erwürgt oder denen man Ohren und Nase abgeschnitten hatte, bevor sie auf der Straße landeten, wo sie für den Rest ihres Lebens betteln mussten. Ich selbst kannte zwar keine Frauen, denen man so Schlimmes angetan hatte, aber es war klar, dass ich diesen jungen Mann nicht wiedersehen, geschweige denn mich in ihn verlieben durfte. Selbst mein relativ toleranter Vater hätte mir niemals erlaubt, einen Diener zu heiraten.

Ich seufzte. Dabei war der junge Mann für mich eigentlich ein Fremder. Aber falls ich heiratete, würde ich meinen Mann vermutlich auch kaum kennen. Für Mädchen aus guter Familie musste es allerdings nicht zwangsläufig so sein. Einige Familien arrangierten zuvor Verlobungen, andere veranstalteten Empfänge, auf denen die jungen Leute sich kennenlernen konnten und vielleicht sogar ineinander verliebten. Bei uns gab es so etwas nicht. Mein Vater hatte sich von der Welt zurückgezogen und bemühte sich nicht, andere Eltern mit Söhnen kennenzulernen; er hatte bisher auch keine Ehe für mich arrangiert. Allmählich begriff ich, warum Amah ihm deswegen ständig böse war. Ich liebte meinen Vater, doch er kümmerte sich nicht um mich, und diese Erkenntnis schmerzte. Niemand würde mich heiraten wollen; ich war zu einem Dasein als alte Jungfer verdammt. Ohne Ehemann würde ich erst recht in Armut versinken, könnte keine Familie gründen und keinen Respekt als Mutter erlangen. Verzweifelt vergrub ich das Gesicht im dünnen Baumwollkissen und weinte mich in den Schlaf.

In jener Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich streifte durch das Haus der Familie Lim. Doch es war ganz still dort. Und es war hell, aber da war keine Sonne, nur eine Art weißer Nebel, wie er mittags manchmal aufzieht. Als ich weiterging, schienen Teile des Hauses tatsächlich wie in einem Nebel zu verschwinden, in einen dünnen weißen Schleier gehüllt. Wie an dem Nachmittag, als ich dort gewesen war, lief ich durch die kunstvoll bepflanzten Innenhöfe, schummrigen Flure und weitläufigen Salons, aber diesmal hörte ich nirgends Stimmen und sah auch keine geschäftige Dienerschaft. Doch ich war nicht allein. Jemand beobachtete mich, durch einen Türspalt oder die Balustraden des oberen Stockwerks. Ich begann, schneller zu laufen, hastete von einem Korridor zum nächsten, doch alle sahen erschreckend gleich aus.

Schließlich gelangte ich in einen weiteren Innenhof mit einem Lotusteich. Er sah fast so aus wie der, den ich nachmittags gesehen hatte, nur wirkten die Blumen irgendwie künstlich, wie Räucherstäbchen, die in den Boden gesteckt worden waren. Ich hielt inne und überlegte, was ich tun sollte, als ich plötzlich jemanden hinter mir bemerkte. Ich drehte mich um und erblickte einen seltsamen jungen Mann. Er trug ein prächtiges traditionelles Gewand, das ihm bis zu den Knöcheln reichte. An den Füßen, die sonderbar kurz und breit wirkten, trug er schwarze, spitz zulaufende Hofschuhe. Sein Gewand leuchtete in grellen Farben, doch sein Gesicht sah ganz gewöhnlich aus, rundlich, mit fliehendem Kinn und von Aknenarben übersät. Er sah mich an und lächelte beflissen.

»Li Lan! Ich habe mich so danach gesehnt, dich wiederzusehen!«

»Wer sind Sie?«, fragte ich.

»Du erinnerst dich nicht an mich, oder? Es ist schon zu lange her. Aber ich erinnere mich noch an dich. Wie hätte ich dich auch vergessen können?«, sagte er und machte eine ausladende Geste. »Deine schönen Augenbrauen, Nachtfaltern gleich. Dein Mund, wie eine Hibiskusblüte.«

Er strahlte mich an. Mir wurde übel. »Ich will nach Hause.«

»Nicht doch, Li Lan«, sagte er. »Bitte setz dich. Du weißt nicht, wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe.«

Er schnippte mit den Fingern, und ein üppig gedeckter Tisch erschien, beladen mit gekochtem Huhn, Melonen, kandierter Kokosnuss und Törtchen in schreienden Farben, wie sein Gewand. Die Orangen sahen aus wie hingeschmiert, der giftgrüne pandan-Kuchen leuchtete wie Meerwasser kurz vor einem Taifun. Ein Berg an Überfluss, der auf beklemmende Weise einem Stapel Opfergaben für die Toten glich. Der Mann drängte mich zu einer Tasse Tee.

»Ich habe keinen Durst«, sagte ich.

»Du bist schüchtern, ich weiß«, erwiderte die unerträgliche Kreatur, »aber ich genehmige mir trotzdem eine Tasse. Siehst du? Ist das nicht köstlich?« Er trank mit genießerischer Miene.

»Meine liebe Li Lan«, sagte er schließlich. »Weißt du denn wirklich nicht, wen du vor dir hast? Ich bin Lim Tian Ching! Der Erbe der Familie Lim. Ich bin gekommen, um dir den Hof zu machen.«

Mir war so schlecht, dass mir schwindelig wurde.

»Aber Sie sind doch tot, oder?«

Kaum war das Wort meinem Mund entschlüpft, zog es sich zusammen, wie faltig werdende Haut. Die Farben um mich herum verblassten, die Konturen der Stühle verschwammen. Dann, als hätte man den Knall einer reißenden Saite gehört, war alles wieder wie vorher. Weißes Licht schien, das Essen auf dem Tisch leuchtete bunt. Lim Tian Ching schloss mit schmerzerfüllter Miene die Augen.

»Ich verstehe, wie schockierend das für dich sein muss, meine Liebe, aber reiten wir nicht darauf herum.«

Ich schüttelte protestierend den Kopf.

»Ich weiß, du bist ein zartfühlendes Wesen«, fuhr er fort. »Ich möchte dich nicht quälen. Wir versuchen es ein anderes Mal.«

Mit einem wehmütigen Lächeln verschwand er im Nebel. Ich zwang mich mit aller Kraft aufzuwachen. Ich kam mir vor, als kämpfte ich mich mühsam durch einen Mangrovensumpf, doch nach und nach wurden die Farben schwächer, bis ich keuchend die Augen aufschlug und das Mondlicht erblickte, das sich über mein Kissen ergoss.

Den Rest der Nacht konnte ich kaum schlafen. Mein Körper war schweißgebadet, und mein Herz raste. Am liebsten wäre ich nach unten gegangen und wie früher als Kind zu Amah ins Bett gekrochen. Als ich noch klein war, hatte ich oft bei ihr geschlafen, und der stechende Geruch des Tigerbalsams, den sie sich gegen ihre Kopfschmerzen auf die Schläfen tupfte, hatte mich beruhigt. Doch wenn ich jetzt zu ihr gegangen wäre, hätte sie sich nur aufgeregt und mir alle möglichen Hausmittelchen verabreicht. Ich war hin und her gerissen, weil ich Angst hatte und mich mutterseelenallein fühlte, aber Amah war sehr abergläubisch, und die Erwähnung von Lim Tian Ching hätte sie tagelang aufgewühlt. Erst als es zu dämmern begann, fiel ich in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen schien die Sonne, und meine Anspannung ließ nach. Wahrscheinlich hatte ich schlecht geträumt, weil ich zu viel über die Lims nachgedacht und zu viel von ihrem Konfekt genascht hatte. Außerdem wollte ich Amah gegenüber nicht zugeben, dass ich vorm Einschlafen über Ehemänner nachgedacht hatte. Und ich hatte Schuldgefühle wegen meiner Begegnung mit dem jungen Mann, der Uhren reparierte.

Als ich abends zu Bett ging, fürchtete ich, mich könnte erneut ein Albtraum heimsuchen, aber ich schlief wider Erwarten gut, und auch die folgenden Nächte verliefen ohne weitere Zwischenfälle. Nach einer Weile vergaß ich das verstörende Erlebnis, denn meine Begegnung mit dem jungen Uhrenexperten beschäftigte mich viel mehr. Immer wieder musste ich daran denken, wie klug er gewirkt hatte und wie schade es war, dass jemand, der über so viel Wissen verfügte, als Diener arbeiten musste. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, mit den Fingern durch sein kurz geschnittenes Haar zu fahren. In einem freien Moment betrachtete ich mein Gesicht in dem kleinen Lackspiegel, der früher meiner Mutter gehört hatte. Als ich noch ein Kind war, achtete mein Vater kaum auf mein Äußeres. Ihn interessierte mehr, wie ich über Gemälde dachte und wie geschickt ich beim Kalligrafieren den Pinsel schwang. Gelegentlich sagte er, dass ich meiner Mutter ähnelte, doch das schien ihm eher Schmerz als Freude zu bereiten, denn anschließend zog er sich jedes Mal zurück. Was Amah betraf, tadelte sie mich häufiger, als dass sie mich lobte, doch bei ihr wusste ich, dass sie alles für mich getan hätte.

Einige Tage später fragte ich sie: »Amah, in welcher Beziehung stand meine Mutter eigentlich zu Madam Lim?«

Wir waren gerade auf dem Heimweg, nachdem wir Stoff für ein neues Kleid gekauft hatten. Irgendwie war es Amah gelungen, das Geld dafür aufzutreiben. Das machte mich sehr verlegen; sie musste es sich vom Munde abgespart haben. Alle Amahs legten den Großteil ihres Lohns zurück, damit sie etwas für den Ruhestand hatten. Sie gehörten einer besonderen Dienstbotenklasse an, die gelegentlich »schwarz-weiß« genannt wurde, weil sie eine Uniform aus weißer chinesischer Bluse und schwarzer Baumwollhose trugen. Manche waren ledige Frauen, die nicht heiraten wollten, andere kinderlose und unvermögende Witwen. Wenn sie Amahs wurden, ließen sie sich das Haar zu einem kurzen Bob schneiden und traten einer bestimmten Schwesternschaft bei. Sie zahlten regelmäßig Mitgliedsbeiträge und legten ihr Geld dort an, und wenn sie sich nach jahrzehntelanger Arbeit im Dienste anderer zur Ruhe setzten, zogen sie ins Heim der Schwesternschaft, wo sie versorgt wurden – eine der wenigen Alternativen für ledige oder kinderlose Frauen, um die sich sonst niemand kümmerte, wenn sie gebrechlich wurden.

Wie es aussah, hatte Amah ihr Erspartes für mich geopfert. Ich schämte mich dafür. Wenn unsere Familie tatsächlich inzwischen so arm war, suchte sie sich besser eine neue Stelle. Oder sie setzte sich einfach zur Ruhe. Alt genug dafür war sie jedenfalls. Falls ich heiratete, konnte ich sie ja als Zofe mitnehmen, so wie meine Mutter es damals nach ihrer Heirat getan hatte. Als ich Amah einen Blick zuwarf, während sie neben mir herlief, überkam mich eine Woge der Zuneigung für diese winzige Gestalt. Sie machte mir mit ihrer Strenge oft das Leben schwer, doch sie war mir treu ergeben.

»Soweit ich weiß, waren deine Mutter und Madam Lim Cousinen zweiten oder dritten Grades«, sagte sie.

»Aber bei Madam Lim klang es, als hätte sie meine Mutter gut gekannt.«

»Das mag sein. Doch ich glaube nicht, dass sie sich nahestanden. Daran würde ich mich erinnern. Madam Lim ist eine gebürtige Ong. Ihre Familie wurde reich, weil sie Eisenbahnstrecken für die Briten baute.«

»Sie sagte, sie hätten als Kinder miteinander gespielt.«

»Tatsächlich? Vielleicht ab und zu. Aber sie war keine enge Freundin deiner Mutter, so viel steht fest.«

»Warum tut sie dann so?«

»Wer weiß schon, was im Kopf einer reichen tàitai vorgeht?« Plötzlich lächelte Amah, ihr Gesicht so faltig wie das einer Schildköte. »Sie wird schon ihre Gründe haben. Die Dienerschaft sagt, der Haushalt sei nicht schlecht. Die Lims trauern natürlich noch um ihren Sohn. Es war ein großer Verlust für sie, als er letztes Jahr starb.«

Ich nickte mitfühlend. »Jetzt hat sie also nur noch Töchter?«

»Nein, die Töchter sind von der zweiten und der dritten Frau.«

»Die dritte Frau habe ich gesehen, die zweite nicht.«

»Sie starb vor einigen Jahren an Malaria.«

»Oh.« Ich schwieg kurz. »Die dritte Frau scheint schwierig zu sein«, fuhr ich schließlich fort.

»Ach, die! Sie war ein Niemand, als der Hausherr sie heiratete. Keiner weiß, woher sie überhaupt kommt. Angeblich aus einer Stadt im Süden, vielleicht Johor, wenn nicht sogar Singapur.«

»Kommen die Frauen denn miteinander aus?«

Nur reiche Männer konnten sich mehrere Gattinnen leisten, weshalb die Tradition der Vielehe immer seltener gepflegt wurde. Außerdem missbilligten die Briten sie, vor allem deren Frauen, die Mems. Sie waren natürlich auch dagegen, dass ihre Männer sich einheimische Geliebte nahmen. Ich konnte es ihnen kaum verdenken. Mir hätte es auch nicht gefallen, zweite, dritte oder gar vierte Frau zu werden. Eher wäre ich weggelaufen und hätte mein Leben als Mitglied der Amah-Schwesternschaft verbracht.

»Es geht so. Sie konkurrieren ja ständig darum, einen Erben zu gebären. Dieses Glück war offenbar nur Madam Lim beschieden.«

»Wie war eigentlich Madam Lims Sohn, Lim Tian Ching?«, fragte ich. Trotz der Hitze überlief mich ein Schauer, als mir mein Traum wieder einfiel. Normalerweise vermied Amah es, über Lim Tian Ching zu reden, aber vielleicht konnte ich ihr diesmal ja doch ein paar Informationen entlocken.

»Ziemlich verwöhnt, habe ich gehört.«

»Das kann ich mir vorstellen«, platzte es aus mir heraus, aber sie nahm gar nicht Notiz davon.

»Er war angeblich nicht so tüchtig wie der Neffe. Aber besser, wir lassen das Thema ruhen. Man soll nicht schlecht über Tote reden.«

KAPITEL 4

Mit ihrer Idee, mir ein neues Kleid zu nähen, hatte Amah den richtigen Riecher gehabt, denn einige Tage später erhielt ich abermals eine Einladung der Lims. Diesmal luden sie auch meinen Vater ein. Zur Nacht der Siebenen sollte es ein musikalisches Fest mit einer Privatvorführung für Familie und Freunde geben. Da es kaum öffentliche Vergnügungsstätten gab, die von Frauen aus guter Familie besucht werden konnten, wurden hin und wieder private Feste veranstaltet. Amah hatte mir schon oft davon erzählt, wie mein Großvater früher den großen Innenhof unseres Hauses dafür herrichten und eine Bühne aufbauen ließ. Doch solche Feste gab es bei uns schon lange nicht mehr. Umso mehr freute ich mich darauf, bald eines erleben zu dürfen. Mein Vater hatte die Einladung angenommen. Master Lim gehörte zu seinen ehemaligen Geschäftspartnern; obwohl sie kaum noch miteinander zu tun hatten, pflegten sie weiterhin Kontakt. Mein Vater lebte zwar sehr zurückgezogen, doch manchmal überraschte er mich.

In der Nacht der Siebenen wurde die Legende vom Kuhhirten und der Weberin gefeiert. Als ich noch klein war, hatte Amah mir die Geschichte der beiden himmlischen Liebenden oft erzählt: Es war einmal ein junger Kuhhirte, der nichts weiter besaß als einen alten Ochsen. Eines Tages sprach der Ochse plötzlich zu ihm und sagte, dass er vielleicht eine Frau fände, wenn er sich am Teich im Gebüsch verbarg und auf die himmlischen Webermädchen wartete. Der Kuhhirte befolgte den Rat des Ochsen, und als die Weberinnen badeten, versteckte er die Sachen von einem der Mädchen. Als die junge Weberin, deren Sachen er versteckt hatte, danach Ausschau hielt, sprach er sie an und bat sie, seine Frau zu werden. Und so geschah es. Doch dann, eines Tages, starb der Zauberochse. An diesem Punkt unterbrach ich Amah jedes Mal aufgeregt, um ihr Fragen zu stellen. Doch anstatt darauf einzugehen, erzählte sie unbeirrt weiter. Sie nahm es sehr genau damit und gab ihre Geschichten stets mit den gleichen Worten wieder.

Als der Zauberochse im Sterben lag, sagte er dem Kuhhirten, er solle sein Fell aufbewahren, denn es könne ihm nützlich sein, falls er in Not geriete. Bald darauf erfuhr die Himmelskaiserin, dass eine ihrer besten Weberinnen einen Sterblichen geheiratet hatte. Die Himmelskaiserin war darüber so erzürnt, dass sie befahl, die Weberin in den Himmel zurückzuholen. Der verzweifelte Kuhhirte folgte seiner Frau auf dem magischen Ochsenfell, zusammen mit ihren beiden Kindern, die er in zwei Körben an den Enden einer Stange trug. Doch die Himmelskaiserin, die verhindern wollte, dass der Hirte zu seiner Frau gelangte, nahm eine Haarnadel und malte einen Fluss an den Himmel, die Milchstraße, die die beiden Liebenden fortan voneinander trennte. Doch jedes Jahr an einem bestimmten Tag erbarmen sich seitdem die irdischen Elstern der beiden Liebenden und bilden gemeinsam eine Brücke am Himmel, auf der sie sich treffen können. Das ist die Begegnung der beiden Sterne Wega und Altair, am siebten Tag des siebten Mondmonats.

Wenn Amah mir diese tragische Legende erzählte, konnte ich nie verstehen, warum daraus ein Fest der Liebenden geworden war. Es gab kein glückliches Ende, nur endloses, quälendes Warten auf beiden Seiten der Milchstraße. Der Ochse faszinierte mich weitaus mehr. Woher wusste er, dass die himmlischen Weberinnen zum Teich kommen würden? Warum konnte er plötzlich sprechen? Und was mich am meisten beschäftigte: Warum musste der Ochse sterben? Doch Amah wich meinen Fragen stets aus. »Bei der Geschichte geht es um die beiden Liebenden, Dummerchen«, sagte sie nur. Vielleicht war dieses Fest ja etwas für junge Mädchen, die ihre Gesichter in Blumenwasser badeten und nach guter alter Tradition im Mondschein Nadeln um die Wette einfädelten und Lieder sangen, um die Kunst des Nähens zu preisen. Die Möglichkeit, an solchen mädchenhaften Aktivitäten teilzunehmen, hatte sich mir allerdings nie geboten, denn bei uns bedeutete die Nacht der Siebenen, Bücher in der Sonne zu trocknen.