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Finn ist lustig, Katharina ist erfolgreich, Emilia ist gut aussehend, Jan ist sportlich, und Kevin ist dumm. Namen wecken automatisch Assoziationen in uns, die wir mit einem Attribut verknüpfen - bewusst oder unbewusst. Das geht sogar so weit, dass Lehrer Kevin und Justin nicht nur weniger zutrauen als Alexander oder Maximilian, sie benoten sie mitunter auch schlechter. Und das bei gleicher Leistung. Aber woran liegt es, dass wir Menschen anhand ihres Namens beurteilen? Woher kommen die Ströme und Trends? Und mit welchen Namen machen Eltern auf keinen Fall etwas falsch? Namensforscherin Gabriele Rodríguez analysiert Herkunft und Entwicklung von Namen und gibt Tipps für Individualisten, die ihre eigenen Namen kreieren wollen.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
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GABRIELE RODRÍGUEZ
NAMEN
MACHEN
LEUTE
GABRIELE RODRÍGUEZ
NAMEN
MACHEN
LEUTE
WIE VORNAMEN UNSER LEBEN BEEINFLUSSEN
Abbildungsverzeichnis:
S. 17: © Joanel
S. 29, S. 45, S. 94, S. 102, S. 105: © Anna-Maria Müller
S. 36, S. 202, S. 230-246: © Thomas Liebecke, www.onomastik.com
S. 247: © Swen Reichhold / Universität Leipzig
Originalausgabe
2. Auflage 2017
Verlag Komplett-Media GmbH 2017, München/Grünwald
www.komplett-media.de
ISBN eBook: 978-3-8312-5793-5
Konzept und Realisation: Detlef Dreßlein
Lektorat: Redaktionsbüro Julia Feldbaum, Augsburg
Korrektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Umschlaggestaltung: X-Design, München
Satz: Daniel Förster, Belgern
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.
INHALT
Einführung
Der Alltag einer »Namenberaterin«
Entscheidungskriterien zur Namenswahl
Ein Phänomen – der »Kevinismus«
Von supergut zu grottenschlecht!
»Kevinismus« mit Fragezeichen
Die Auswirkungen – nomen est omen
Die alten Germanen – warum wir Namen haben
Aus dem Lebensalltag
Zeichen von Kampf und Krieg
Tierisches
Eingliedrig, zweigliedrig, dreigliedrig
Leit- und Familiennamen
Das Comeback im Heute
Heiliger Bimbam – wie die Christianisierung die Namengebung veränderte
Die ersten Modenamen – mit Luther in die Neuzeit
Namen aus Frankreich und England
Namen aus dem Osten und Norden
Das 20. Jahrhundert
Neue Zeiten – wie sich die Vornamen nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten und veränderten
Und heute?
No-Gos im deutschen Sprachraum
»Hach, wie süß, der kleine Adolf…« – das absolute Tabu
Jesus und Maria – vergängliche Tabus
Namen mit negativer Bedeutung oder Assoziation
Komplizierte religiöse Beinamen
Das Mädchen Pepsi-Carola – wenn man heißt wie in der Werbung
Von Sportartikeln, Schokolade und schwedischen Möbelhäusern
Mein Kind, eine Automarke?
Limo, Knäcke und Kinderspielzeug
Von der kleinen Borussia Müller, McDonald Schulze und der süßen Rumpelstilzchen Schmidt
Do-it-yourself-Namen
Filme, Fußball und Hitparade – der Einfluss der Stars
Er rollt und rollt
Film und Fernsehen
Musik
A boy named Sue – wie Mädchen zu Mädchen und Jungen zu Jungen werden
Paris und Orlando reisen nach San Diego – Städte als Vornamen
Highlights aus aller Welt
»Fallbeispiele« von Chile bis USA
Indianernamen
Ein Beispiel aus dem Ausland: russische Vornamen
Politische und regionale Ursprünge
Es grünt so grün – Pflanzennamen
Klangliches – warum es okay ist, Namen einzudeutschen
Fifi Trixibelle, Emma Tiger und Wilson Gonzales – was Promis und bildungsferne Schichten verbindet
Von »Jayden Gil« bis »Jax Llewyn«
Gedanken zum Abschluss
Ein paar Empfehlungen für die Namengebung
Anhang
Zugelassene »besondere« Vornamen
Abgelehnte Vornamen
Namenmoden im Wandel der Zeit
Onogramme: Vornamenlexikon
Das Image von Namen – zwischen Wahrnehmungen und Wirklichkeit
Über die Autorin
Literaturverzeichnis
EINFÜHRUNG
Ich begann meine Arbeit im Jahr 1994 in einem riesigen Büro in der neunten Etage des ehemaligen Universitätshochhauses. Mit einer Schreibmaschine, einem Telefon, einigen Namenbüchern, Akten mit Gutachten und einer Datenbank, die aus losen Karteikarten mit Vornamen bestand. Im ersten Jahr bekam ich rund 100 Anfragen zu Vornamen und etwa 50 Anfragen zu Familiennamen.
Die Namenforschung oder auch »Onomastik« hat eine lange Tradition an der Universität Leipzig. Seit etwa 100 Jahren wird auf diesem Gebiet geforscht, und seit 1991 ist es möglich, das Fach an der Universität Leipzig zu studieren. Im Jahr 1990 wurde darüber hinaus die »Deutsche Gesellschaft für Namenforschung e.V.« gegründet.
Aber schon seit den 1960er-Jahren existiert eine Namenberatungsstelle, die Auskunft zu allen Fragen rund um das Thema »Namen« gibt. Lediglich zwischen 1990 und 1994 musste sich unsere Universität neu sortieren und orientieren.
Da sich jedoch ein großer Bedarf an Beratung vor allem zu Personennamen zeigte, wurde die Stelle im Jahr 1994 neu eingerichtet – anfänglich als ABM-Maßnahme. Mehr oder weniger zufällig bekam ich diesen Posten, nachdem mein Universitätsvertrag ausgelaufen war und ich zwei Jahre in einem Projekt der Zentralstelle für Genealogie gearbeitet hatte. Zuvor hatte ich nie etwas von Namenberatung gehört.
Im Jahr 1995 berichtete eine Journalistin der Deutschen Presse- Agentur (dpa) über meine Arbeit und über die ersten kuriosen Namenwünsche wie Crazy Horse und Borussia, die ich bearbeitete. Danach wurden die Anfragen immer mehr. Sie kamen aus ganz Deutschland und dem Ausland (vor allem aus Österreich und aus der Schweiz).
Um die Stelle langfristig zu finanzieren, haben wir im Jahr 1999 Gebühren für schriftliche Auskünfte und Gutachten eingeführt. 2001 kam ein gebührenpflichtiges Telefon dazu. Und das kam so: Am 26. Oktober 2001 stand mein Telefon nicht still. Alle wollten Auskünfte zu den männlichen Vornamen Jaden und Gil haben. Reporter von Fernsehen und Radio standen Schlange für ein Interview. Ich dachte damals, wir müssten einen dieser Automaten haben, an dem sich jeder eine Nummer ziehen kann. Grund war die Geburt des Sohnes von Steffi Graf und Andre Agassi – und seine Vornamen, eben Jaden und Gil, denn die kannte hierzulande niemand.
Dabei gab es den alten friesischen Namen Jaden, sowie die Kurzform Gil von Gilbert oder Gilian schon viel früher. An diesem Tag im Oktober habe ich kein einziges Gutachten schreiben können. Ich gab nur mündliche Auskünfte. Kostenfrei. Am Abend sagte ich, schon leicht ermattet, zu meinem damaligen Chef, Professor Jürgen Udolph: »Wenn wir jetzt Geld für jede Auskunft bekommen hätten, dann hätte sich das gelohnt.« Er kam dann auf die Idee, ein kostenpflichtiges Beratungstelefon für mündliche Auskünfte einrichten zu lassen, um unsere Arbeit zu finanzieren.
Der Alltag einer »Namenberaterin«
Auch nach über 20 Jahren, die ich nun mit dem Thema »Namen« verbringe, wird es mir nicht langweilig. Ich lerne immer neue Namen und Aspekte der Namengebung kennen. In der ersten Zeit meiner Tätigkeit musste ich noch viel über fremde Namensysteme dazulernen. Zwar wurde ich in meinem Studium der Sprachwissenschaft mit vielen Sprachen konfrontiert, aber mit Namen eher weniger. Zugutekamen mir mein Studium der Slawischen Philologie (mit Spezialfächern wie etwa »Tatarisch«) in der damaligen Sowjetunion und ein Erweiterungsstudium der Romanistik.
Es ist schon ziemlich hilfreich, mehrere Sprachen zu sprechen.
In den ersten Jahren konnte ich mir noch nicht vorstellen, dass Eltern ihren Kindern einmal Namen aus den entlegendsten Gegenden der Welt geben würden. Ich bekam viele Anfragen zu Vornamenlisten. Die einen wollten französische Vornamen, die anderen japanische Vornamen, wieder andere hawaiische Vornamen. Manche suchten Vornamen aus der schöngeistigen Literatur. In den 1990er-Jahren gab es noch nicht so viele Vornamenbücher wie heute. Die Eltern waren auf der Suche nach einem besonderen Namen, den sie aber in diesen Büchern nicht fanden. Auch war damals die Suche im Internet noch nicht möglich oder unüblich.
Man findet ja heute im Internet Namen aus der ganzen Welt. Es gibt zahlreiche Vornamenseiten und Foren. In den 90er-Jahren hatte ich noch mehr Zeit und habe vielen Eltern mit ganz speziellen Namenlisten geholfen. Die Wartezeit beim Arzt habe ich zum Beispiel genutzt, um Namenbücher nach bestimmten Vornamen bzw. nach verschiedenen Aspekten zu durchsuchen. In unserer Beratungsstelle haben wir unter anderem Listen mit Vornamen aus der schöngeistigen Literatur, romanische und griechische Vornamen, asiatische Vornamen, friesische Vornamen, »intelligente« Namen, Namen von Göttern, indianische Namen, englische und angloamerikanische Vornamen, Namen, die mit Y- und J- beginnen, männliche Vornamen, die mit D- beginnen sowie Vornamen in der Bedeutung »Gottesgeschenk« oder mit den Bedeutungselementen »Bär« und »Stärke«. Ich war schon oft sehr gefordert, da die Wünsche teilweise äußerst speziell waren. Zum Beispiel der hawaiische Name Keanu, der in den 1990er- Jahren durch Keanu Reeves, den kanadischen Schauspieler mit hawaiischen Wurzeln, nach Deutschland gekommen war. Ungewöhnlich für das Deutsche war die Endung des Namens. Ich bekam 1995 die Anfrage – und hatte keine Ahnung.
Zuerst dachte ich an die englisch-irischen Namen Kean oder Keane. Allerdings werden die ganz anders ausgesprochen. Internet hatte ich damals noch nicht, also ging ich in die Universitätsbibliothek und wälzte Bücher. In der Zwischenzeit hatte sich die Mutter eine Bestätigung des Namens aus Honolulu besorgt und legte sie mir vor. Damit war klar: Es handelt sich um einen hawaiischen Namen. Ich arbeitete mich in die Sprache und das dortige Namensystem ein, auch nachdem die Anfrage bearbeitet war. Dies hilft mir heute noch. Wenn Eltern mir erzählen, dass Tane ein hawaiischer Name sei, kann ich dies verneinen, da die hawaiische Sprache kein T kennt. Die entsprechende hawaiische Form lautet Kane. Allerdings kommt Tane im polynesischen Raum vor, nur eben nicht auf Hawaii.
Einmal suchte ein Vater für seine Tochter einen biblischen Namen mit einer besonderen Bedeutung. Ich musste passen. Solche Listen hatte ich nicht. Er erzählte mir, dass sich er und seine Frau bis zur Geburt keinen Namen für das Kind ausgesucht hätten. Sie wollten sich das Kind anschauen und dann erst nach einem Vornamen mit den Eigenschaften des Kindes suchen. Zudem sollte es ein Name aus der Bibel sein. Was tun? Ich gab ihm das Büchlein »Die Namen der Bibel« und schlug ihm vor, dieses durchzuarbeiten. Er verbrachte einen ganzen Tag in der Beratungsstelle, schrieb sich einige Namen heraus und wollte sie dann seiner Frau präsentieren. Leider habe ich nie erfahren, welchen Vornamen die Tochter bekommen hat.
Seit dieser Zeit schaue ich mir die Babys, mit denen Eltern zu mir kommen, genau an und finde, dass die meisten Eltern doch den riehtigen Namen gewählt haben – er passt. Einmal kam ein deutsch-russisches Elternpaar zu mir, die ihren Sohn Dimir nennen wollten. Die Mutter hatte einen tatarischen Migrationshintergrund und wählte diesen Namen, der übrigens auch in den Schreibformen Demir, Temur, Timur und Timor vorkommt und auf das turksprachige »temir« in der Bedeutung »Eisen, der Eiserne« bzw. auch »stark, standhaft« zurückgeht. Der kleine Junge hatte ein schönes Gesicht mit großen Pausbacken. Er war groß und kräftig. Die Bedeutung des Namens passt, dachte ich mir. Ähnlich war es bei den Eltern, die ihre Tochter Naima nennen wollten. Naima ist eine weibliche Bildung zum arabischen männlichen Namen Naim in der Bedeutung »weich, zart, zärtlich, fein; sorglos; Glück, Annehmlichkeit, glücklich im Leben«. Naima kann dann mit »die Zarte, Feine, Glückliche« übertragen werden. Im Kinderwagen lag ein kleines, sehr zartes Mädchen.
Ab und zu erhalte ich auch Anfragen von Autoren, die ein Buch schreiben. Sie suchen nach Vornamen für ihre Figuren. So spielte eine Geschichte zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Autorin fragte nach den häufigsten Vornamen 1947 und 1948 in Berlin. Auch bei solchen Anfragen versuche ich zu helfen.
Heute erkundigen sich viele Eltern bei mir, viel öfter als noch vor zehn Jahren, ob der gewählte Vorname zum Familiennamen passt, ob er vielleicht zu den sogenannten »Unterschichten-Namen« gehört oder einfach, wie ich die gewählte Namenkombination finde.
Eine Mutter rief mich beispielsweise aus dem Raum München an und erkundigte sich nach dem männlichen Vornamen Gustav. Auch dieser Name erlebt heute eine Renaissance. Das Problem der Mutter lag darin, dass die Verwandtschaft meinte, Gustav hätte in Bayern keine Tradition. Sie brauchte Gegenargumente. Gustav wurde sehr wohl auch in Bayern häufig vergeben. Belege gibt es schon seit dem 18. Jahrhundert für Süddeutschland. In München gehörte Gustav um 1900 sogar zu den zwanzig häufigsten männlichen Vornamen. Eine bekannte bayrische Koseform dieses Namens lautet Gustl, bekannt auch durch den bayrischen Schauspieler Adolf Gustav Rupprecht Maximilian Bayrhammer, genannt Gustl Bayrhammer (geboren 1922). Und mein Lieblingsmaler Gustav Klimt (geboren 1862 in Wien) trägt auch diesen Namen.
Die Eltern sind immer wieder erstaunt, was in Namen steckt bzw. wie viele Informationen ein Name enthalten kann. Ein Zeichen dafür, dass Eltern in Deutschland die Namen in der Regel nicht nach ihrer Bedeutung wählen. In den meisten Fällen sind es der Wohlklang und die positiven Assoziationen zum Namen. In bestimmten Zeiten werden ähnliche Klangmuster bevorzugt. Man nehme nur die heute beliebten männlichen Vornamen Christian, Sebastian, Florian, Julian, Fabian und Maximilian, die alle auf »-ian« enden. Mädchen werden oft auch mit dem Namen »geschmückt«. Man denke nur an die vielen weiblichen Vornamen, die auf Blumenbezeichnungen oder Edelsteinnamen zurückgehen.
DA KOMMT WAS ZUSAMMEN
Eine halbe Million Vornamen haben wir mittlerweile in unserer Datenbank. Und jedes Jahr kommen gut 1000 dazu. Heute verfügt das »Namenkundliche Zentrum« der Universität Leipzig über eine moderne Ausstattung, eine eigene Bibliothek sowie über eine digitale Datenbank, ohne die die bis zu 3000 Anfragen im Jahr nicht zu bewältigen wären. Ich habe mich mittlerweile vor allem auf Vornamen spezialisiert, gebe aber auch telefonische Auskünfte zu Familiennamen und anderen Namenarten.
Seit über zehn Jahren ist die Namenberatung der Universität nun auch auf Messen wie »Baby & Kids« sowie auf Genelogentagen präsent. Neben dieser Arbeit halte ich Vorträge und Workshops auf Messen, in Schulen, in der Universität, in Bildungseinrichtungen, bei Vereinen, Behörden und Standesämtern. Die wissenschaftliche Arbeit darf dabei nicht zu kurz kommen. Es werden Statistiken erstellt und die gesammelten Daten zur Verwendung in der Namenberatung ausgewertet. Am interessantesten sind die Tagungen, Konferenzen und Kongresse, an denen ich teilnehme und bei denen ich Vorträge halte. Man tauscht sich mit Kollegen aus der ganzen Welt aus. Mittlerweile habe ich zahlreiche Kollegen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Österreich, Russland, aus der Ukraine, aus Spanien, Frankreich, Mexiko oder Kuba, mit denen mich eine enge Freundschaft verbindet. Die Teilnahme an Tagungen und Kongressen dient der Weiterbildung, dem Austausch und der Präsentation der Arbeit der Namenberatungsstelle.
Auf Reisen bin ich immer auch auf der Suche nach neuen Namen sowie nach neuen Namenbüchern. Ein Namenforscher kann wohl nie abschalten, was Namen angeht. Jedes Namensschild, jeder gehörte oder gelesene Name wird sofort analysiert. Jedenfalls geht es mir so, und ich habe mein privates Umfeld schon angesteckt. Da kommen schon mal Fragen: Was ist denn »Tipporn« für eine Name, oder ist das überhaupt ein Name? Hast du schon den weiblichen Vornamen »Rahaf« in deiner Datenbank? Ich war letztens in »Geilenkirchen«, merkwürdiger Ortsname, oder? Wie kommen denn solche Doppelfamiliennamen wie »Peter-Silie« oder »Lange-Poppen« zustande? Und, und, und … Das Thema betrifft ja auch jeden persönlich. Ich erzähle gern über Namen. In mehr als zwanzig Jahren hat sich eine Menge Wissen zu diesem Thema angesammelt. Einmal sagte man mir, ich wäre diesbezüglich ein wandelndes Lexikon. Aber es kommt schon vor, dass ich doch mal vom Thema Namen abschalten möchte und keine Lust auf das Erklären derselben habe. Dann antworte ich, auf die Frage, was ich beruflich mache, einfach nur mit: »Ich arbeite an der Uni!«
Meine Arbeit ist interessant, abwechslungsreich und voller Überraschungen. Wenn ich früh zur Arbeit gehe, weiß ich nie, was mich an diesem Tag erwartet. Welche E-Mail-Anfragen kommen, wer anruft und warum, welche Eltern mit ihren Babys vorbeischauen.
Viele Leute finden meine Arbeit toll. Es gibt aber auch traurige Momente: wenn ich zum Beispiel einen Vornamen für ein tot geborenes Kind bestätigen soll. Da bin ich immer froh, wenn die Standesbeamten mich anrufen und nicht die betroffenen Eltern. Aber einmal meldete sich auch ein Vater und wollte den Namen für sein Kind bestätigen lassen. Am Ende sagte er: Es ist leider bei der Geburt gestorben. Für mich ist das immer ein Schock. Wenn ich ihm mein Beileid ausdrücke, hilft ihm das wohl wenig. Wenigstens dürfen diese Sternenkinder auch ihren eigenen Vornamen bekommen.
Es gab auch einen Fall, da wurde ich um geschlechtsneutrale Vornamen gebeten, die man gleichermaßen Jungen und Mädchen geben kann. Der Standesbeamte wollte sogar auf einen eindeutigen Zweitnamen verzichten.
Der Vater erzählte mir, dass sein Kind mit beiden Geschlechtsmerkmalen auf die Welt gekommen sei. Man könne noch nicht sagen, in welche Richtung sich das Kind entwickeln würde. Die Ärzte legten den Eltern nahe, sie sollen sich schon einmal in eine Richtung orientieren. Für die Eltern eine schlimme Situation. Der Vater konnte sein Herz bei mir ausschütten. Und ich erstellte ihm eine Liste geschlechtsneutraler Namen. Leider bekomme ich nie eine Rückmeldung. Die Lebensgeschichten bleiben für mich ohne Ausgang.
Manchmal jedoch werde ich auf Baby-Messen, auf denen ich oft die Namenberatung präsentiere und Vorträge zur Vornamengebung gehalten habe, auch überrascht. Eltern präsentieren mir ihre Kleinoder Schulkinder, denen ich vor Jahren den Vornamen bestätigt habe. Einmal bekam ich auch einen Brief von Jonael, der sich dafür bedankte, dass ich 2001 den Vornamen Jonael bestätigt habe.
Als Namenberaterin muss man eigentlich immer im Dienst sein. Ich bekomme oft Anfragen von Journalisten, die ganz schnell Informationen zu einem aktuellen Thema brauchen. Letztes Jahr kamen Leute vom Fernsehen sogar am Wochenende zu mir in den Garten, um ein Interview aufzunehmen, das noch am gleichen Tag gesendet werden sollte. Und auch im Urlaub hat man nicht immer Ruhe vor den Radio- und Fernsehleuten. 2008 rief mich ein Radiosender an, ich machte gerade einen Spaziergang durch Madrid. Oder im Juni 2015, als die Namen Sturmhart Siegbald Torsten, zuvor fälschlicherweise Sturmhorst, durch die Medien gingen, musste ich einige Anfragen zu diesen Namen beantworten. Es war der letzte Arbeitstag vor meinem Urlaub. Am nächsten Tag auf der Fahrt zum 200. Jubiläum der Schlacht von Waterloo in Belgien wollte ein privater Fernsehsender unbedingt noch eine Stellungnahme zu diesen Namen vor der Kamera. Ich sagte, dass dies leider nicht möglich ist, da ich mich auf dem Weg nach Belgien befinde. Sofort kam die Rückfrage: Wo sind Sie gerade? Ich antwortete: Auf der Autobahn kurz vor Kassel. Zu meinem Erstaunen kam sofort die Antwort: Da haben wir auch ein Studio und können ihnen ein Team schicken. Also gab ich ein Interview auf einem Rastplatz Nähe Autobahn bei Kassel. Was tut man nicht alles für die Journalisten, die nie Zeit haben und immer aktuell sein müssen. Zum Glück sind das aber Ausnahmen.
Entscheidungskriterien zur Namenswahl
Interessant ist, dass sich Kinder und Eltern bei der Auswahl des Vornamens schon von Geburt an in einem Konflikt befinden. Die Eltern, das ist die Tendenz der letzten Jahre, wollen etwas Einzigartiges und Außergewöhnliches finden. Sie möchten, dass sich ihr Kind von anderen abhebt – mit einem besonderen, symbolischen, individuellen Vornamen.
Die Kinder aber, und das bedenken leider viele Eltern nicht, empfinden anders. Sie wollen sowohl im Kindergarten als auch in der Schule eigentlich so sein wie die anderen. Eben gerade nichts Besonderes. Für Kinder und Heranwachsende ist es wichtig, dazuzugehören und sich nicht von den Altersgenossen abzuheben. Und viele der ach so originellen und einzigartigen Vornamen stellen diese Verbindung zu anderen nicht her und sorgen im schlimmsten Fall sogar dafür, dass das Kind gehänselt oder ausgeschlossen wird. Auch daran sollten Eltern denken, bevor sie mit Vorschlägen kommen, wie sie beispielsweise im Anhang dieses Buches (siehe Seite 206 ff.) aufgelistet sind.
Ich mache meinen Beruf mittlerweile so lange, dass mich viele Standesämter kennen und sagen: »Wenn Leipzig das genehmigt, dann tragen wir das ein.« Entsprechend groß ist auch die Verantwortung, die ich habe. Letztendlich aber kann auch ich immer nur eine Einschätzung abgeben – und eine Empfehlung an das Standesamt. Entscheiden wird jedoch immer das Amt selbst. Oder wenn die Eltern so weit gehen wollen: das Gericht.
Wie sieht nun die Praxis bei den Standesämtern aus, wonach richten sie sich? Grundsätzlich gibt es in Deutschland eine freie Vornamenwahl. Diese wird von den Standesämtern kontrolliert, die allerdings angehalten sind, die gewünschten Vornamen nach drei Kriterien zu überprüfen:
1. Vornamencharakter: Der Name muss ein Vorname sein oder als solcher erkennbar sein. Dabei sind Neubildungen allerdings möglich.
2. Geschlechtseindeutigkeit: Bei nicht eindeutigen Vornamen muss ein weiterer eindeutiger Vorname dazugegeben werden. In den letzten Jahren weicht dieses Kriterium aber mehr und mehr auf. Geschlechtsneutrale Vornamen werden mittlerweile auch ohne Zweitnamen eingetragen.
3. Wohl des Kindes: Der Vorname darf das Kind nicht lächerlich machen. Weder jetzt noch in dessen weiterem Leben. Auch auf die Kombinationen muss dabei geachtet werden. Es können Vornamen abgelehnt werden, wenn diese im Zusammenspiel mit dem Familiennamen nicht passen. Zum Beispiel »Rosa Schlipfer/ Schlüpfer« (und diesen Fall hatte ich tatsächlich schon), »Claire Grube« oder »Axel Schweiss«. Auch bei der Kombination zweier Vornamen weisen wir zumindest darauf hin, dass es problematisch werden könnte: Marie-Johanna klingt eben schnell gesprochen wie »Marihuana«.
Das Klingelschild sollte niemand an seiner Tür haben müssen.
Das wichtigste Kriterium bei der Genehmigung von Vornamen ist mit Sicherheit das Kindeswohl. Denn das kann nachhaltig verletzt sein, wenn die gewählte Bezeichnung als Vorname sprachlich untauglich ist oder inhaltlich als Personenname ungeeignet erscheint. Dass als Vornamen benutzte Wörter über die Bezeichnung eines bestimmten Individuums hinaus einen allgemeinen Aussagegehalt haben, ist nicht nur üblich, sondern seit jeher geradezu Zweck der Namengebung (zum Beispiel bei Assoziationen zu Heiligen oder geschichtlichen Vorbildfiguren).
Die Ausstrahlungswirkung des Namens auf die Person kann sich je nach inhaltlicher Bedeutung und Durchschaubarkeit jedoch auch in ihr Gegenteil verkehren. Der Schutz des Kindes, das sich gegen belastende Namen nicht wehren kann, muss deshalb ein besonderes Anliegen des Rechts sein.
Es gibt aber kein festes Gesetz, sondern nur die oben genannten Regelungen, die allerdings auch interpretierbar und auslegbar sind. Und solche Auslegungen ändern sich im Laufe der Zeit. Früher einmal wurden Namen wie zum Beispiel Summer, Sunshine, Sky, Moon, Sonne, Brooklyn, Madison, Mackenzie, Tiger, Alaska, Woodstock, Junior, King, Prinz, Chelsea oder Emily-Extra abgelehnt. Mittlerweile werden sie aber als Vornamen eingetragen, dank entsprechender Gerichtsurteile. Oder dank unserer Gutachten.
Ebenfalls von Eltern schon gewünschte Vornamen wie Crazy Horse, Porsche, Rumpelstilzchen, Schnuckel, Kirsche, Schröder, Pfefferminze, Joghurt, Whisky, Borussia, Kaiserschmarrn, Superman, Keks oder Flauschi wurden aber abgelehnt.
Und das ist auch gut so.
EIN PHÄNOMEN – DER »KEVINISMUS«
Am 17. Januar 1991 lief der Film »Kevin allein zu Haus« in Deutschland an. Darin spielt ein zugegeben außerordentlich hübscher, niedlicher, smarter und extrem gewitzter Junge namens Kevin (dargestellt von Macaulay Culkin) die Hauptrolle. Vier Wochen später kam dann noch »Der mit dem Wolf tanzt« nach Deutschland – Regie und Hauptrolle: Kevin Costner. Ein Zufall, aber einer mit Folgen. Denn diese beiden Filme setzten etwas in Gang, das bis heute anhält. Und dessen Auswirkungen und Nachwehen gigantisch sind in der Welt der Vornamen.
Es begann ganz harmlos und langsam. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gelangten immer mehr Namen aus dem englischen Sprachraum zu uns: anfangs durch die britischen und amerikanischen Besatzer, dann auch durch die Medien sowie durch die Verbreitung des Fernsehens und der Ausstrahlung vieler Spielfilme (und den darin auftretenden Schauspielern) – und natürlich durch populäre Musiker. Kevin ist im Ursprung ein irischer Name, der so viel bedeutet wie »schön von Geburt, hübsches Kind«. Die Schreibweise »Caoimhín« lautete in der anglisierten Fassung dann Kevin.
In Deutschland wurde der Vorname Kevin wohl zum ersten Mal im Jahr 1969 in Bökingharde in Schleswig-Holstein vergeben. In der DDR gab es 1966 die erste Anfrage zum Namen Kevin. In den folgenden Jahren blieb er zunächst noch extrem selten und war eher ein Name, den sehr gebildete Eltern ihren Kindern gaben. Menschen, die Freunde der keltischen Kultur waren oder im Urlaub nach Irland fuhren – was damals ein außergewöhnliches Reiseziel war –, brachten diesen damals noch sehr exotischen Namen mit. Meistens Akademiker. Vor 1975 wurde der Name in Berlin zum Beispiel nur neunmal vergeben, in den drei Jahren danach zehnmal.
Erst als der damals extrem bekannte und populäre englische Fußballer Kevin Keegan 1977 in die Bundesliga zum Hamburger SV wechselte, wurde Kevin in Deutschland geläufig, und immer mehr Eltern wählten diesen Vornamen. Ende der 1980er-Jahre wurde dann der Schauspieler Kevin Costner auch in Deutschland immer bekannter und beliebter. Er brachte den »Kevin« 1989 erstmals unter die Top 20 der beliebtesten Vornamen in Deutschland. Und dann noch weiter nach oben, als im Herbst 1990 sein Blockbuster »Der mit dem Wolf tanzt« in den USA ins Kino kam. Schon hier wurde der Name Kevin immer häufiger in den Medien genannt: ein wichtiger Grund für die Entstehung von Modenamen.
Aber so richtig verrückt wurde es dann mit »Kevin allein zu Haus«. Quasi aus dem Nichts wurde Kevin 1991 (und auch nur in diesem Jahr) mit Abstand zum beliebtesten Vornamen in Deutschland (vor den Dauersiegern Jan, Patrick, Philipp und Marcel).
Der Erfolg erklärt sich leicht. Neben der sympathischen Filmfigur, weshalb viele Eltern mit dem Namen Kevin ein Kind assoziierten, das man selbst gern hätte, hat Kevin alles, was ein schöner männlicher Vorname braucht. Da ist der Klang, der in Deutschland extrem wichtig ist. Die Deutschen vergeben Vornamen ja schon lange nicht mehr nach der Bedeutung oder der Tradition, sondern vor allem wegen der Lautstruktur. Ein Name muss angenehm klingen, griffig und stimmig sein. Es werden heute in Deutschland vor allem Vornamen mit den Anlauten M-, L- und J- gewählt. Die häufigsten männlichen Endungen sind -n (-ian, -in, -an, -on), -s (-ias, -as, -us, -ius, -es, -is) und -(e) 1, -(e)r. Die weiblichen Vornamen sind vor allem durch die Endungen -a, -ia, -e und -i, -ie, -y gekennzeichnet. Kevin hat zwar mit dem »K« einen harten Anlaut, wird aber durch die Vokale »e« und »i« sowie durch die Endung weicher und wohlklingender. Zudem besteht Kevin aus zwei Silben. Kürzere Vornamen liegen seit einigen Jahren voll im Trend. Dabei ist Kevin im Irischen sowohl ein männlicher wie auch ein weiblicher Vorname. Es erfolgten in Deutschland auch schon Eintragungen als weiblicher Vorname, so zum Beispiel 1978. Mit dem Erfolg des Namens als männlicher Vorname ist die weibliche Form zurückgegangen.
Bei Kevin kommt beispielsweise auch noch das Unterbewusstsein ins Spiel. Es ist nicht so, dass man aus dem Kino kommt und sagt: »So, und jetzt nennen wir unseren Sohn Kevin.« Es ist eher so, dass man den Namen erst einmal positiv besetzt, dann klingt er schön, dann hört man ihn immer öfter, in den Medien, in Gesprächen mit Freuden, und vielleicht nennen auch in der Nachbarschaft einige ihr Kind so. Und schon ist ein Name im Unterbewusstsein verankert. So geht das allen Modenamen: Ein kleiner Schneeball wird zu einer Lawine. Es war damals allerdings noch kein Ausschlusskriterium, wenn man den Namen öfters bei Freunden oder Nachbarn oder im weiteren Umfeld hörte. Heute will ja jeder extrem individuell sein, damals war es eher eine Bestätigung für eine gute Wahl, wenn auch andere diesen Namen an ihr Kind vergaben. Und so nannten in den 1990er-Jahren viele junge Eltern ihr Kind Kevin, völlig unabhängig von Schicht oder Bildungsgrad. Kevin war ein Name wie jeder andere auch, mit einem Hauch Exotik und Extravaganz. Aber irgendwann kippte es.
ZOOTIERE FERN DES »KEVINISMUS«
Zootiere scheinen eher altmodische Namen zu bekommen. Vielleicht fürchten die Namensgeber um den Ruf der Tiere?
Antje, das Walross, wurde 1976 geboren und lebte im Hamburger Zoo Hagenbeck.
Cornelius I., ein stattliches Nashorn, lebte im Granby Zoo in Québec.
Heidi, ein Virginia-Opossum aus dem Leipziger Zoo, wurde durch ihr starkes Schielen bekannt.
Karl Wilhelm, das Flusspferd, kam am 17. Juni 2015 im Karlsruher Zoo zur Welt.
Knut, der Eisbär, wurde am 5. Dezember 2006 in Berlin geboren.
Martha, die Wandertaube, war die letzte ihrer Art, die im Zoo lebte. Sie starb 2014.
Von supergut zu grottenschlecht!
Der Prozess der Veränderung in der Bewertung eines Namens ist nichts Neues. Schon in früheren Jahrhunderten war es so, dass ein Name zuerst im Adel oder im gehobenen Bürgertum neu auftrat oder wiederkam. Manch einer, wenn er geeignet war, wurde zum Modenamen. Dann zogen langsam die unteren Schichten nach, die diesen Modenamen der »Oberen« mitbekamen. So begann der Name langsam »abzurutschen«, bis quasi ganz nach unten zu den einfachen Bauern. Für »oben« war er da längst abgegriffen und uninteressant, diese Herrschaften suchten sich wieder neue Namen. So ist der Name im wahrsten Wortsinn »nach unten« durchgereicht worden.
Und auch heute sind die Mechanismen ähnlich. Nur dass der Name nicht vom Adel und dem Bürgertum bis zum Stand der Bauern durchrutscht, sondern von den Akademikern zu den sogenannten bildungsfernen Schichten. Was neu ist: Er wird nicht mehr nur als unoriginell empfunden, nein, seit etwa 20 Jahren bekommen solche Namen – und da sind wir wieder beim »Kevinismus« und dessen Anfängen – auch schnell etwas ganz Negatives mit. Wenn ein Name unten angekommen ist, dann ist er nicht mehr nur langweilig, sondern auch gleich ein Ausdruck für Dummheit oder Faulheit. Warum das erst seit etwa 20 Jahren so ist, ist schwer erklärbar. Eine Rolle spielen sicher Boulevardmedien (Privatfernsehen) und der Comedyboom, der solch griffige Opfer braucht, um Witze zu transportieren. Der Komiker Michael Mittermaier sagte in einem Programm: »Nur Drogenkinder und Ossis heißen Kevin.« Dabei kommt der Vorname Kevin im Westen Deutschlands viel häufiger vor.
Das Internet ist ein weiterer wichtiger Grund, warum Namen heute schnell stigmatisiert werden. Via Facebook oder anderen sozialen Netzwerken geht das heute ganz schnell. So wurde der Name Kevin schließlich zum Synonym des »prolligen Hartz-IV-Kindes«. Bei den Mädchen machte derweil Chantal eine ähnliche »Karriere«. Und mich rufen besorgte Eltern aus gehobenen Schichten an, ob der Name, den sie sich für ihr Kind ausgesucht haben, denn auch schon gefährdet sei.
Erstaunlich ist, dass Kevin in der Unterschicht trotzdem lange ein beliebter Vorname blieb. Dafür ist ein weiteres Phänomen verantwortlich: Während die einen sich längst lustig machen über den Kevin und die Chantal, kommt das in den bildungsferneren Schichten zunächst gar nicht an. Sie haben wenig Kontakt mit denen, die sich über sie lustig machen, sie lesen nicht diese Zeitungen und sehen auch nicht deren Fernsehprogramm. Auch das Verständnis für Ironie und Sarkasmus ist eben nicht so ausgeprägt. Sie bewegen sich vielmehr in Gruppen von Menschen, die (oder deren Kinder) ebenfalls außergewöhnliche oder gar »verrufene« Vornamen haben, und es fällt ihnen nicht weiter auf, dass ihr Name als bildungsfern gilt.
Eine weitere Pointe erhielt das Thema 2009 durch eine Masterarbeit einer Lehramtsabsolventin. Darin befragte sie Grundschullehrer über ihre Namenvorlieben und ihre Assoziationen diesbezüglich. Auch vorgegebene Namen ließ die Absolventin die Lehrer bewerten. Das Ergebnis: Viele Lehrer haben tatsächlich Vorurteile, und sie bewerten Kinder, die Unterschicht-Namen tragen als eher weniger leistungsstark und verhaltensauffälliger. Angeblich hinterfragten 94 Prozent der Lehrer diese Vorurteile kaum. Besonders freundlich und leistungsstark seien dagegen Jungs mit den Namen Alexander, Maximilian, Simon, Lukas oder Jakob; wie auch Mädchen mit Namen wie Charlotte, Nele, Marie, Emma oder Katharina. Eher schlecht bewertet werden hier Chantal, Justin, Dennis, Marvin oder Jacqueline. Absoluter Negativsieger aber ist Kevin. Eine Lehrerin notierte in der Befragung: »Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose.«1