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Nandini - An den Toren der Erde E-Book

Andreas Feichtinger

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Beschreibung

Wenn der Geist, der alle Wahrnehmung und Tätigkeit verursacht, still und bewegungslos geworden ist, verschwindet die Welt. (Ramana Maharshi)

Nandini hat sich selbst verloren, sie spürt schon lange nicht mehr, wer sie wirklich ist. Ihre Freunde hat sie vor den Kopf gestoßen, finanziell ist sie am Ende und ausgerechnet an ihrem Geburtstag erfährt sie, wer ihre leibliche Mutter war. Entsetzt über ihre Herkunft rennt sie auf die Straße, ein Wagen erfasst sie, schwer verletzt fällt sie ins Koma.
In einer Zwischenwelt trifft sie auf Adinath, eine abenteuerliche Reise durch Licht und Dunkelheit, Triumph und Zweifel beginnt. Wird Nandini der Bedeutung ihres Namens gerecht werden und dem Ruf ihrer Seele folgen? Durchschaut sie den Sinn hinter all den menschlichen Dramen? Erkennt sie die wahre Aufgabe des Bösen und wird sie die Schleier um das Mysterium der Dualität lüften?

Ein Roman über die unendliche Kraft von Gleichmut, Vergebung und der inneren Mitte.


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ERSTER TEIL
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
ZWEITER TEIL
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
DRITTER TEIL
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Epilog
Mantra für die gesamte Menschheit
Quellen & Literaturhinweise

 

 

 

 

 

 

Nandini

 

 

Andreas Feichtinger

Nandini – An den Toren der Erde

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2021 Andreas Feichtinger

Lektorat: Maria F. Anna

Umschlaggestaltung: »Dream Design Cover and Art«

Verlag: tolino Media

 

 

www.andreasfeichtinger.com

 

 

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Bibliografische Information der Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation im Gesamtkatalog; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Andreas Feichtinger

 

 

 

 

 

Nandini

An den Toren der Erde

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das OM-Symbol besteht aus drei Kurven, einem Halbkreis und einem Punkt. Es symbolisiert die drei Bewusstseinszustände Wachen, Träumen und Tiefschlaf sowie das Höchste Bewusstsein turiya, den »vierten« Zustand.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich danke meiner Frau Maria für ihre unermüdliche Unterstützung. Nur durch ihre Hilfe konnte dieses Buch entstehen.

Ich danke unserem Kind, das nie das Licht dieser Welt erblickte. Es hat mich zu diesem Buch inspiriert.

 

 

 

 

Für meine Stiefkinder und Enkelkinder.

 

 

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung

 

Wenn der Geist, der alle Wahrnehmung und Tätigkeit verursacht, still und bewegungslos geworden ist, verschwindet die Welt. Ramana Maharshi

 

Nandini hat sich selbst verloren, sie spürt schon lange nicht mehr, wer sie wirklich ist. Ihre Freunde hat sie vor den Kopf gestoßen, finanziell ist sie am Ende und ausgerechnet an ihrem Geburtstag erfährt sie, wer ihre leibliche Mutter war. Entsetzt über ihre Herkunft rennt sie auf die Straße, ein Wagen erfasst sie, schwer verletzt fällt sie ins Koma.

In einer Zwischenwelt trifft sie auf Adinath, eine abenteuerliche Reise durch Licht und Dunkelheit, Triumph und Zweifel beginnt. Wird Nandini der Bedeutung ihres Namens gerecht werden und dem Ruf ihrer Seele folgen? Durchschaut sie den Sinn hinter all den menschlichen Dramen? Erkennt sie die wahre Aufgabe des Bösen und wird sie die Schleier um das Mysterium der Dualität lüften?

 

Ein Roman über die unendliche Kraft von Gleichmut, Vergebung und der inneren Mitte.

 

 

 

Über den Autor

 

Andreas Feichtinger, geboren 1958, lebt in Österreich, ist verheiratet und hat vier Stiefkinder. Neben seiner Tätigkeit in der Wirtschaft beschäftigte er sich seit Jahrzehnten mit Psychologie, speziell den Ansätzen der systemischen Aufstellungsarbeit, CranioSacral-Therapie und NLP. Selbsterforschung, Achtsamkeitsschulung, ein intensives Auseinandersetzen mit Dr. Helen Schucmans „Ein Kurs in Wundern“ sowie vergleichende Studien der großen mystischen Traditionen und östlichen Weisheitslehren wie den vedischen Schriften markieren seinen Lebensweg. Seit seinem Übertritt in den Ruhestand 2019 widmet er sich dem Schreiben von Romanen.

 

ERSTER TEIL

 

 

Brahman ist wirklich.

Die Welt ist unwirklich.

Dein Selbst ist Brahman.

 

Shankaracharya Advaita Vedanta (»Ende des Wissens«)

 

 

Nichts Wirkliches kann bedroht werden.

Nichts Unwirkliches existiert.

Hierin liegt der Frieden Gottes.

 

Aus »Ein Kurs in Wundern«

 

 

 

Wir sind keine Menschen, die eine spirituelle Erfahrung machen.

Wir sind spirituelle Wesen, die die Erfahrung machen, Mensch zu sein.

 

Pierre Teilhard de Chardin

Prolog

 

»Ich führe dich.«

Überrascht drehte ich mich um und versuchte in der Dunkelheit zu erkennen, zu wem diese junge Stimme gehörte. Eine weibliche Gestalt löste sich von einem Holzverschlag und glitt auf einen Waldweg zu.

Ich nahm die Armbanduhr ab und legte sie mit dem Handy in den Landrover. Meine Augen schmerzten, vier Stunden Flug und sechs Stunden Fahrt hatten mich verbraucht. Die eisige Luft ließ mich frieren.

»Es ist nicht weit.« Das Mädchen schien meine Gedanken zu lesen.

Das Klacken der Zentralverriegelung war eindeutig zu laut in dieser Stille. Nochmals schaute ich zurück auf die Staubstraße, die sich in engen Serpentinen vom Tal bis hierher hochschraubte. Einmal mehr wunderte ich mich über diesen seltsamen Ort. Es war nur der Name eines Dorfes gewesen, der vor meinem geistigen Auge aufgeblitzt war. Keine Adresse, keine Koordinaten. Ein paar Augenblicke später der Zeitpunkt unserer Zusammenkunft. Sonst nichts.

Wie immer.

Ich suchte im Dunkeln nach den anderen, war aber offenkundig zu früh. Meine eingerosteten Gelenke schmerzten, ich streckte mich und folgte ihr.

Wir erklommen einen Pfad, der steil anstieg. Alle, die sich hier versammeln sollten, waren angehalten, die letzten Schritte zu Fuß zurückzulegen, schweigend, wie es das Ritual verlangte. Das Mädchen ging für mein Alter etwas zu schnell und war bald im Schatten des Waldes verschwunden. So war ich einmal mehr gezwungen, meiner Intuition zu folgen. Zwanzig Minuten später war ich am Gipfelkreuz angelangt.

»Warte hier«, rief die junge Frau. »Ich sperre von innen auf.«

Ich sah mich um, weit und breit gab es nichts aufzusperren.

»Hier bin ich.« Ihre Stimme schien aus allen Richtungen zu kommen.

Wieder einmal war ich zu sehr nach außen orientiert, ich schloss die Augen, richtete meine Aufmerksamkeit nach innen, sprach mein persönliches Mantra. Mit den Händen formte ich mein Kraftzeichen, mein drittes Auge öffnete sich. Jetzt stand sie vor mir, groß und prächtig. Dort, wo soeben noch das wuchtige Gipfelkreuz mit seinen Stahlseilen gegen den Sturm gestanden war, erhob sich majestätisch unsere Kirche. Die hohen Fenster waren wie immer erleuchtet.

Das Mädchen verschwand im Nebeneingang, nach wenigen Augenblicken hörte ich das Rasseln des Schlosses. Knarrend öffnete sich das Tor, warmes Licht warf Muster auf die Stufen, die hinauf zum Haupteingang führten. Der Schein von einhundertvierundvierzig Kerzen, eine für jeden von uns.

»Sie werden gleich da sein.« Die junge Frau deutete eine Verbeugung an und lief denselben Weg zurück, den wir gekommen waren.

Ich nutzte diesen Moment des Alleinseins und betrat das Hauptschiff. Wie liebte ich den Duft von warmem Wachs. Jedes Mal beeindruckte mich die Schlichtheit unserer Kirche aufs Neue. Der Altar war aus Ebenholz geschnitzt und formte ein Schwert und einen Bogen mit Pfeil. Ich blickte empor zum Gewölbe mit seinen Fresken, sofort erfasste mich wieder die Magie der Symbole hinter den üppigen Darstellungen der zwölf Tierkreiszeichen. Langsam durchschritt ich den Mittelgang und vertiefte mich für einige Momente in jede der Seitenkapellen mit ihren Signa für jedes Zeitalter. Vorne, direkt unter der Kuppel, sah ich sie dann. Einhundertvierundvierzig Stühle mit rotem Samt bezogen, aufgestellt in zwölf Reihen. Nein. Ein Platz war in Weiß.

Der Grund unseres Treffens, geliebter Bruder. Ihre Gedanken erreichten mich vom Portal.

Ich wandte mich um, mit weit geöffneten Armen eilten wir aufeinander zu und umarmten uns. Ich grüße das Licht in dir, meine Schwester.

 

Nach und nach trafen alle ein, die Plätze füllten sich. Jeder schwieg und hielt seine Aufmerksamkeit nach innen gerichtet. Nur der Stuhl in Weiß blieb leer. Eine Stunde verharrten wir im Schweigen.

Um Mitternacht erhob sich die Auserwählte. Sie schritt auf den Altar zu, sank auf die Knie und verneigte sich vor den Insignien unserer Gemeinschaft. Dann stand sie auf und drehte sich zu uns. »Schwester Saella wird nicht wieder kommen. Sie hat ihren Körper abgelegt, ihre Arbeit auf Erden ist getan.«

Wir wussten, was dies bedeutete.

»Ich hatte gehofft, euch ihre Nachfolgerin vorstellen zu können«, fuhr die Auserwählte fort. »Doch Aischa ist uns leider verloren gegangen.«

Ein Raunen ging durch die Reihen.

»Unsere Zeiten werden dunkler, meine geliebten Brüder und Schwestern.« Die Stimme der Auserwählten war leiser geworden. »Kriege, Terror und Naturkatastrophen nehmen zu, wie ihr wisst. Die Erde braucht uns. Wir wollen darauf vertrauen, dass ein Mann oder eine Frau den Weg zu uns finden wird, um Schwester Saellas Platz einzunehmen.«

Wir verharrten in tiefem Schweigen.

Sie wandte sich zu Schwert, Bogen und Pfeil, kniete erneut nieder und berührte mit den Lippen den Boden. Dann stand sie auf, schritt auf ihren Platz zurück und setzte sich.

Bis in die Morgenstunden saßen wir still und baten um Segen für Mutter Erde. Dann, so lautlos, wie wir gekommen waren, erhoben wir uns und verließen diesen geheiligten Ort. Viele wandten sich wie ich noch einmal um, die Kerzen waren erloschen, das Tor geschlossen. Ich richtete meine Sinne nach außen und sah wieder das wuchtige Gipfelkreuz.

Schweigend machten wir uns auf den Weg dorthin, von wo wir aufgebrochen waren. Der chinesische Chirurg in seine Klinik, in der er sein Skalpell dem Arzt neben sich übergeben hatte. Der afrikanische Geschäftsmann zu seinem Kunden, bei dem er mitten in einer Verhandlung aufgestanden und zum Flughafen geeilt war. Die dänische Lehrerin zurück in den Turnsaal, wo sie das Fußballspiel abgepfiffen und ihre verdutzten Schüler nach Hause geschickt hatte. Das deutsche Freudenmädchen in ihre Dachkammer, wo sie sich aus den Armen ihres Freiers entschuldigte. Sie alle waren, wie ich, dem inneren Ruf hierher gefolgt, wissend, dass es keinen Aufschub gab. Die Balance der Erde lag in unseren Händen.

Man sagt, es wäre nie ein Bruder oder eine Schwester einem Treffen fern geblieben. Keinem einzigen seit mehr als fünfundzwanzigtausend Jahren.

 

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, welche Aufgabe mir zuteilwerden würde. Der Ruf ereilte mich Wochen später, ich war tief in meine Meditation versunken. Es sollten mir Einblicke in ihr bisheriges Leben aber auch in ihren weiteren Weg gewährt werden, ohne einzugreifen. Das war Bedingung.

Jetzt, wo ich einen Punkt hinter den letzten Satz meiner Niederschrift setze, muss ich lächeln und doch ist in mir eine tiefe Traurigkeit. Eine gewisse Schwermut, weil ich sie ziehen lassen muss, ein Lächeln, weil ich staune, welch gewaltiger Packen Papier es geworden ist. Dabei hatte ich nie die Absicht, so etwas wie dies zu schreiben. Ich fühlte es eher als zwingende Kraft, die mir gewährten Sichten festzuhalten, eine heilige Besessenheit, ihre Geschichte aufzuschreiben.

Ich blicke aus dem Fenster meiner Klause und frage mich: Wo weilst du mittlerweile, Nandini? So viel von dem, was du erlebt hast, ähnelt meinem Leben. Du lieber Himmel! Dein Leben? Mein Leben? Ist es nicht dasselbe? Sehe ich Berge, Flüsse und Seen schon wieder als etwas von mir Getrenntes? Ich denke, es wird Zeit, wieder in die Stille zu gehen. Meine Erinnerungen haben es einmal mehr geschafft, mich in den Schleiern der Illusionen zu verlieren. Klarheit und Gewissheit, diese werden mir dabei helfen, mich zu erinnern: Wer ich vor meinen Gedanken und Gefühlen immer schon gewesen bin.

Wir werden uns begegnen, Nandini. Mögest du mit deinem Licht allen Suchenden den Weg leuchten.

 

Bruder Konrad

An einem lauen Septemberabend in den Bergen Aragons

 

Kapitel 1

 

Klosterneuburg 2005

 

»Verpisst euch! Lasst mich in Ruhe!« Mit einem Knall fiel die Türe hinter ihr ins Schloss. »Fahrt doch zur Hölle!«

Reitgerte und Helm flogen gegen die Wand und krachten mit dem Foto ihrer Geschwister zu Boden. Ihre Wangen glühten vor Zorn. Sie hatte die Zähne zusammen gebissen, um ihre Tränen zu verbergen, jetzt aber brachen alle Dämme. »Ich hasse euch!«

 

»Kringel, mit den roten Locken,

Sommersprossen, Nabelspeck,

hoch zu Ross mit Stinkesocken,

Katzenmist und Hundedreck.«

 

Nandini schoss zum Fenster und riss die Flügel zu. Dort unten standen sie und hielten sich die Bäuche vor Lachen.

 

»Kringel auf dem Apfelbaum,

Pflegt das Hörnchen und die Eule

Katz` und Frosch im Hosensaum.

Sterben sie, wird sie zur Heule.«

 

Sie fetzte die Rollos hinunter, hechtete zur Zimmertür und tastete nach dem Schlüssel. »Mist.« Susan musste ihn versteckt haben. Erst vor Kurzem hatte sie sich geweigert, ihr Zimmer zu öffnen, war tagelang vom Unterricht fern geblieben und ließ die Mahlzeiten auf dem Esstisch verkommen. Das hatte sie nun davon.

Wie satt sie es hatte. Sie warf sich aufs Bett. Warum wurde sie ständig wegen ihres Aussehens verspottet? Wieso verhöhnten ihre Geschwister sie, wenn sie Rosenstolz etwas ins Ohr flüsterte, Katzen aus den Bäumen rettete oder Frösche zum Teich dirigierte? Warum äfften sie alle nach, sobald sie im Garten tanzte, auf einem Bein die Treppe auf und ab hüpfte oder mit Emmanuel sprach?

»Nandini führt schon wieder Selbstgespräche.« Nicht nur ihre Kameraden aus der Klasse schüttelten den Kopf, auch manche Lehrer rieben sich das Kinn, wenn sie sich zuflüsterten: »Dieses Kind! Nandini ist anders als die Anderen.«

Sie schob sich hoch, trat zur Wand und drehte den Spiegel zu sich. Zugegeben, für ihr Alter war sie zu klein geraten. Mit den Fingern walkte sie ihre Speckröllchen. »Du fettes Ekel!« Wie sie sich dafür hasste! Auch für die fülligen Schenkel in den immer zu kurzen Hosen. Und erst diese grässlichen Pullis! Aber was sollte sie tun? Alle hier waren gezwungen, Kleidung aus zweiter Hand zu tragen. »Nein, Mutter. Das ist Mode von vorgestern!«, hatte sie am Vorabend gerufen und sich geweigert, diese alten Klamotten anzuziehen. »Sei froh, dass du lebst!« Immer dieselbe Leier von Susan. »Nimm es, sonst ist Rosenstolz gestrichen!« Ständig wurde sie mit ihrem Pony erpresst. Vergeblich hatte sie versucht, wenigstens die zweitschönste Jacke aus den Spendenkartons für das Waisenhaus zu ergattern. Dieses scheußliche Ding mit dem Blumenmuster, wie sie darin aussah!

Am schlimmsten aber empfand sie ihr rotes Strubbelhaar und diese entsetzlichen Sommersprossen. Ihre Frisur mit den wie Finger nach oben ragenden Haarbüscheln brachte ihr den Spitznamen Kringel ein. Der Heimweg von der Schule wurde zum Spießrutenlauf, wenn ihre Geschwister hinter ihr herjagten und ihr diesen verhassten Namen nachjohlten. Wie oft war sie deswegen mit Rotz und Tränen in ihrem Zimmer gesessen oder aus ihrem Schlaf hochgefahren, um den Rest der Nacht in ihren Träumen auf ihre Brüder und Schwestern einzuschlagen.

Ihr tränennasser Blick glitt über ihr Gesicht. Das Einzige, was sie an sich mochte, war das Vergissmeinnichtblau ihrer Augen. Auf die war sie stolz, ja, diese liebte sie. Wie ihren Namen. Nandini. Das klang schön, hatte etwas Weiches. Sie griff nach dem Tischtuch und wickelte es um den unteren Teil des Spiegels. Ein letzter Knoten, jetzt konnte sie ihn betrachten, den kleinen Ausschnitt, der nur ihre Augen verriet. Endlich. Sie versank in den eigenen Seen tiefen Wassers.

 

»Kringel, mit den roten Locken,

Sommersprossen, Nabelspeck ...«

 

»Haut ab!« Sie preschte zur Tür und riss sie auf. »Verschwindet!«

Vor der Tür standen Kurt, Georg, Maria und Eva. Sie machten auf dem Absatz kehrt und rasten die Treppe hinunter.

Nandini schlug die Tür hinter ihnen zu. Das war zu viel. Sie musste abtauchen in ihre Welt, die freundlicher war als die Wirklichkeit da draußen. Sie klemmte den Stuhl unter die Klinke, eilte zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Jetzt war der Raum in warmes Orange getaucht, alle Gemeinheiten aus ihrem Reich verbannt. Vor dem Bett kniete sie nieder und schob Bücher, Pullis und Socken beiseite. Andächtig, als ob es etwas Heiliges wäre, zog sie ihre Ledermappe mit den Zeichnungen hervor. Sie angelte nach der Schatulle mit den Stiften. Das war ihr Geheimnis, war ihr Trost. All diese Farben, der Geruch des Papiers öffneten Tore zu ihren wahren Welten. Zärtlich strich sie mit den Fingern über die Mappe, erfühlte das raue Leder, erinnerte sich, wie sie den fleckigen Einband in einer Mülltonne vor dem Wirtschaftsgebäude entdeckt hatte. Immer wieder verbarg sich dort unnütz Gewordenes, sie angelte es hervor, dann schummelte sie sich mit ihrer Beute in ihr Zimmer und versteckte alles unter ihrem Bett. Sie schloss die Augen, blähte die Nasenflügel und roch an dem gegerbten Leder. Diese brüchige Mappe, ja, das war das Kostbarste, das sie je gefunden hatte.

Seufzend zog sie eine Zeichnung nach der anderen aus dem Ledereinband. Jede stellte eine Szene dar, in der Lily ein Abenteuer bewältigte. In ihrer Fantasie ließ sie ihre Heldin über Regenbogen flüchten, Brücken durch die Himmel bauen oder die Zeit zurückdrehen. Es gab keine noch so brenzlige Lage, aus der Lily nicht mit List und Geschick entkommen konnte. Wie stolz sie auf ihre Zeichnungen war. Wie viele Nächte war sie über ihre Entwürfe gebeugt gesessen, um Lilys Erscheinung mit ihrem inneren Bild in Einklang zu bringen. Dutzende Skizzen landeten im Papierkorb, den sie am Morgen, bevor die anderen wach wurden, zu den Mülltonnen brachte und unter weggeworfenes Zeug stopfte. Denn eines hatte sie sich geschworen: Niemand sollte Lily und ihre geheime Welt jemals zu Gesicht bekommen.

»Helft mir!« Nandini rotzte in ihr Shirt. »Lily! Emmanuel! Bitte holt mich hier raus.« Sie bat Emmanuel oft um Hilfe, schließlich war er ihr Schutzengel. Immer war er da, wenn sie Rat suchte, doch heute flehte sie ihn an: »Nimm mich fort von hier.«

»Ich bin hinter dir!«

Wieder hatte sie das Gefühl, seine Arme zu spüren. Sie schloss die Augen, übergab sich seiner Führung. Ohne nachzudenken, sprang sie hoch, ihr Innerstes verschmolz mit den Echos aus anderen Dimensionen. Ihr Körper begann sich zu winden, vollführte erst eine, dann eine zweite Drehung. Sie beugte sich, trippelte vor und zurück, ihre Bewegungen wurden fließender, spürte, wie sich ihre Verzweiflung in Ruhe verwandelte. Das innere Schwarz verzauberte sich in Weiß, danach in goldenes Licht. Immer kraftvoller drehte sie sich, zu Musik, die unhörbar war für irdische Ohren. Sie tanzte, wurde getanzt, gab sich hin, fühlte sich leicht, voller Würde, war aufgeregt und dennoch ruhig. Für alle Ewigkeiten dort verweilen zu dürfen: Das war ihre tiefste Sehnsucht.

Ein Rütteln an der Tür riss sie aus ihrer Welt. »Mach die Tür auf! Das Essen wird kalt!«

Nandini erstarrte. Susan stand vor der Tür. Ihr inneres Zuhause zerstob wie welke Blätter im Herbstwind. Sie biss sich auf die Lippen und überlegte, ob sie nicht antworten sollte. Doch da war die Erinnerung an das letzte Mal, als sie nach Tagen wieder am Esstisch Platz genommen hatte. Zum Abendbrot, das zu einem Gefecht des Schweigens und verstohlener Blicke verkommen war.

Sie kapitulierte. »Ich komme gleich.«

»Beeilung, alle warten auf dich.«

Verloren verstaute Nandini ihre Zeichnungen unter dem Bett, verstreute Pullis, Socken und Hosen, um die gewohnte Unordnung wieder herzustellen. Ein Blick in den Spiegel ließ sie die Tränen von den Wangen wischen und die Haare richten. »Völlig sinnlos!« Sie zeigte sich selbst die Zunge, entfernte den Stuhl unter der Türklinke und trottete mit hängendem Kopf, ihre Seele im Schlepptau, zum Esszimmer.

Schweigen ergriff den Raum, als sie eintrat. Alle Geschwister starrten auf ihre Teller und schlürften ihre Suppe. Sie schob sich auf ihren Platz, tat so, als hätte sie die unausgesprochene Rüge nicht bemerkt, die im Raum hing wie dichter Nebel. Ihre Ziehmutter saß am Kopf des Tisches. Ihre hagere Gestalt mit dem etwas zu langen Hals, der kantige Schädel und das graue, streng nach hinten gekämmte Haar erinnerten sie immer an einen Geier. Ihre Gesichtszüge waren hart und unnahbar. Ihr Blick glitt hinab zu Susans Händen. Sie hatte schöne, schlanke Finger, die stets gepflegt waren. Einmal nur gehalten werden,dachte Nandini. Mam spüren. Ein Bild schob sich vor ihr inneres Auge, in dem sie von Mama liebevoll umarmt und gestreichelt wurde. Ein Rieseln lief durch ihre Wirbelsäule. Sie sah hoch, begegnete Susans Blick. War da ein verstecktes Lächeln?

Nandini richtete sich auf. Es war einer der Momente, in denen sie sich am liebsten an den Hals ihrer Ziehmutter geworfen hätte. Sich ausweinen, so lange, bis alles Unerlöste erlöst, alles Unausgesprochene ausgesprochen war. Die tiefe Sehnsucht nach ihrer Mutter öffnete ihr Herz und schnürte ihr die Kehle zu.

»Du riechst nach Reitstall, Nandini.« Wieder diese Kälte in Susans Augen. »Wasch dich, bevor du zu Tisch kommst. Hast du mich verstanden?«

Die Rüge traf sie wie ein eiskalter Guss. »Ja, Mutter.«

»Kurt, Georg, Maria und du, Eva.« Susans Stimme schnitt wie ein Messer durch den Raum. »Lasst Nandini in Ruhe und hört mit euren Hänseleien auf. Sonst droht Hausarrest.«

Georg strich sich seine geölte Locke aus dem Gesicht. »Aber sie hat doch ...«

»Kein Wort mehr.«

Alle starrten betroffen auf ihre Teller und löffelten schneller als zuvor.

Susan suchte Nandinis Blick und nickte.

Nandini schluckte. Es war das erste Mal, dass Mutter für sie Partei ergriffen hatte. Wenigstens das, dachte sie. Endlich ist sie einmal auf meiner Seite.

Kurt neben ihr hatte seinen Ellbogen an ihre Lende herangeschoben. Er holte aus und hieb zu. Der Schmerz fuhr Nandini bis in den Schädel. Sie biss die Zähne zusammen, streckte ihr Bein und trat mit dem Absatz in sein Schienbein.

»Kotzbrocken«, presste Kurt hervor, seine Finger verkrallten sich im Tischtuch.

Aus den Augenwinkeln versuchte Nandini zu erkennen, ob Susan etwas mitbekommen hatte. Diese rührte schweigend in ihrem Teller und hielt den Kopf gesenkt.

Nandini grinste. Erst jetzt merkte sie, wie sie sich an ihre Serviette klammerte. Sie löste den Griff, strich das Papier glatt, nahm den Löffel zur Hand und begann, ihren Namen in die Suppe zu schreiben.

Kapitel 2

 

Sechs Jahre später

 

Der Duft von frisch gebackenem Brot durchzog das Haus. Nandini lugte um die Ecke. Das Esszimmer war hell erleuchtet, der Tisch festlich gedeckt. Susan hatte zu ihren achtzehnten Geburtstag das beste Geschirr auftragen lassen, Kristallgläser und Stoffservietten unterstrichen den feierlichen Rahmen.

Sie schlich zurück in ihr Zimmer und schloss leise die Tür. Gleich würden ihre Geschwister und die gut gemeinten Ratschläge ihrer Ziehmutter über sie herfallen, außerdem mochte sie es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Ein letzter Blick in den Spiegel. Seit sie Yoga praktizierte, kleidete sie sich in Pluderhosen und übergroßen Shirts. Wie sie ihre Brüder und Schwestern kannte, konnte sie sich auf Gemeinheiten und spitze Bemerkungen über ihre Erscheinung gefasst machen. Hektisch löste sie den Schal und wickelte ihn neu, um ihren Busen zu kaschieren.

Am Gang wurden Stimmen hörbar.

Nandini drehte sich zu den Kartons, die zur Abreise am nächsten Tag bereitstanden. Vier von ihnen enthielten die Mappen mit den unzähligen Bildergeschichten mit Lily, die sich über die Jahre zu ihrem persönlichen Tagebuch entwickelt hatten. Ihrer kleinen Heldin hatte sie all ihre Sorgen, Konflikte und Sehnsüchte anvertraut, daher hielt sie seit Tagen ihr Zimmer verschlossen, um sie alleine zu verpacken.

Sie überprüfte noch einmal, ob die Klebebänder hielten, horchte, ob jemand am Flur war, dann schnappte sie sich eine warme Decke, schlich sich aus dem Raum, nahm die andere Treppe und verließ das Haus durch den Hintereingang. Sie musste zu ihrem Kraftplatz im Garten, um ihre Gedanken zu ordnen.

Der Stein unter den Bäumen war ihr zum Freund geworden in all den Jahren, die sich in der Zeit verloren hatten. Der Herbst hatte seine schönsten Farben ausgepackt, ein kalter Wind trieb Berge von Blättern vor sich her. Wie oft war sie hier gesessen und hatte mit Mam und Pa gesprochen. »Warum dieser Unfall? Wie konnte es sein, dass nur ich überlebt habe?« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Mam, Pa«, flüsterte sie, »gebt mir bitte Kraft und Mut.« Noch einmal glitten ihre Augen über jedes Detail dieses Gartens, den sie so lieb gewonnen hatte.

Das Knirschen von Schritten ließ sie hochfahren. Susan kam auf sie zu, zwei Gläser in der Hand.

»Da bist du ja.« Ihr Blick war streng, beinahe prüfend, als ob sie sich fragte, ob ihr Pflegekind reif genug war, in die Welt entlassen zu werden.

Ihr Atem wurde kürzer. Nach so vielen Jahren wurden ihre Handflächen immer noch feucht, wenn ihre Ziehmutter auftauchte.

»Ich habe soeben mit Doktor Clement Details besprochen, was Rosenstolz betrifft.« Susans Tonfall war sanfter als erwartet. »Es sieht gut aus. Darauf stoßen wir an, was meinst du?«

»Oh Mam, danke!« Nandini stand auf und nahm das Weinglas. »Das ist echt cool! Wann kann er nachkommen?«

Susan lächelte. »Immer wenn du dich freust, nennst du mich Mam. Sonst bin ich für dich Mutter. Fällt dir das auf?« Ohne auf Nandinis Frage einzugehen, hakte sie sich bei ihr unter und zog sie den Kiesweg entlang. »Du wirst dir dein Geld einteilen müssen, als Floristin verdienst du anfangs nicht viel. Die Miete, das Handy und jetzt die Einstellgebühr. Da bleibt dir kein Spielraum, Kind.«

Nandini schluckte. Das wusste sie selbst, sie konnte rechnen. Doch ohne Rosenstolz war ein Leben in einer so großen Stadt undenkbar.

»Aber um deine Frage zu beantworten«, fuhr Susan fort. »Ab Jänner, in knapp sechs Wochen. Diese Zeit wirst du ohnehin brauchen, um dich in der Gärtnerei einzuarbeiten.«

»Ja, Mam, das ist mir klar.« Sie legte Entschlossenheit in ihre Stimme, um erwachsen zu wirken.

Susan bog mit ihr in einen Seitenweg. »Hast du mit Doktor Clement schon über den letzten Kaufpreis gesprochen?«

»Ja, habe ich. Ich bekomme Rosenstolz fast geschenkt. Zweihundert Euro. Er hat mir nur das Versprechen abgenommen, gut auf ihn aufzupassen. Ehrlich, Mam, hast du da die Finger im Spiel gehabt?«

Susans Gesicht wurde ernst. »Nein. Ich vermute, sein Sohn steckt dahinter. Er hat wohl einen Narren an dir gefressen. Aber jetzt ist das ohnehin kein Thema, wo du abreist.«

»Paul?« Nandini spürte, wie sie errötete. »Einen Narren gefressen? An mir?«

Susan blieb stehen. »Schlag dir das gleich wieder aus dem Kopf, mit dreißig ist er zu alt für dich. Denk an deine Zukunft!« Sie ging langsam weiter. »Dann müssen wir uns nur noch um den Transport kümmern.«

»Oh ja, der Transport.« Sie zupfte Susan am Arm. »Mam?«

»Ja?«

Nandini suchte nach den richtigen Worten. »Hab ich dir jemals danke gesagt, dass du mir Rosenstolz ermöglicht hast?«

Susan schien zu überlegen. »Du hast immer vor dich hingeträumt, Nandini«, sagte sie endlich. »Stets warst du mit deinen Gedanken irgendwo, nur nicht dort, wo man dich gebraucht hätte. Es war sicher Zufall, dass uns Doktor Clement genau in dieser Zeit das Angebot gemacht hat, dass einer von euch auf Rosenstolz reiten darf. Ich weiß bis heute nicht, warum, vielleicht wollte er etwas Gutes tun oder seine Pferde mussten bewegt werden.«

»Das wusste ich gar nicht.«

Susan zuckte mit den Schultern. »Nein, aber mir war damals sofort klar, dass das eine Chance war, dich mit den Füßen auf die Erde zu bringen. Die Arbeit mit Tieren erfordert Disziplin.« Sie lächelte. »Also musste ich mir etwas einfallen lassen, wie ich dich dazu bringen konnte, reiten zu lernen.«

»Dir etwas einfallen lassen?«

»Ja. Du hattest zwar immer schon eine Liebe für die Tierwelt, aber für Rosenstolz die Verantwortung zu übernehmen, ihn regelmäßig zu bewegen und das ganze Reitzeug in Ordnung zu halten, das habe ich dir zu dieser Zeit, verzeih mir, nicht zugetraut.«

Nandini blickte zu Boden. »Ich glaube, damit hattest du damals wohl recht.«

»Aber ich wusste auch, wie neugierig du immer warst«, fuhr Susan fort. »Keine versperrten Kästen, keine zugeklebten Kuverts, die du nicht heimlich geöffnet hast.«

»Mam!« Nandinis Ohren begannen zu glühen.

»Lass es gut sein. Ich habe Doktor Clements Angebot in einen Umschlag gesteckt und verschlossen auf den Küchentisch gelegt. Dann schrieb ich deinen Namen darauf und habe ihn gleich wieder durchgestrichen, um ihn durch einen anderen zu ersetzen.«

»Mist!« Nandini wusste, wie es danach weiterging.

»Ja. So konnte ich sicher sein, dass du aus der Haut fahren und dein Recht einfordern würdest, Rosenstolz reiten zu dürfen.« Susan blieb stehen und sah sie an.

»Oh Mam, ist mir das peinlich!«

Ihre Ziehmutter drehte sich um und schlenderte weiter. »Habe ich ...« Sie blickte über ihre Schulter, jetzt schien sie nach Worten zu suchen. »Habe ich dir jemals gesagt, wie stolz ich auf dich war, wie rasch du diese Kunststücke auf Rosenstolz vollführen konntest, mein Kind?« Sie kam auf sie zu und legte ihr die Hand auf den Arm.

Nandini starrte sie an und schluckte. Wie hatte sie sich jahrelang nach Lob und einer Geste der Liebe von ihrer Ziehmutter gesehnt. Doch in diesem Moment war sie nicht in der Lage, Susans Worte in ihr Herz zu lassen. »Ach ja, beim Voltigieren«, sagte sie schnell und drehte sich weg. »Du meinst dieSchere und den Spagat.« Die plötzliche Nähe war ihr unerträglich.

»Ja.« Susan zog die Hand zurück, ihre Stimme war mit einem Schlag rau. Schneller als zuvor ging sie auf das Wohnhaus zu. »Schere und Spagat, so heißen sie.«

Nandini schlich ihr verdattert nach.

Kurz vor dem Eingang hielt Susan inne. Sie angelte umständlich ein Kuvert aus ihrem Mantel und reichte es ihr. »Ein Geschenk für dich. Alles Gute zum Geburtstag.«

»Danke.« Nandini nahm den Umschlag. »Ein Brief?«

Susan nickte.

Nandini blickte auf die Adresse.

Frau Nandini Birago

c/o Kinderheim »Hainhausen«

Ulmenweg 28, 3400 Klosterneuburg

 

Sie drehte den Brief um, als Absender stand in kunstvoll geschwungenen Lettern:

 

Kunstakademie Salzburg

 

»Was ist das?«

»Mach ihn auf.«

Nandini öffnete den Umschlag, zog ein Schreiben hervor und begann zu lesen.

 

Sehr geehrte Frau Birago,

nach Durchsicht Ihrer uns zugesandten Bilder hat unsere Kommission beschlossen, Sie ab dem kommenden Sommersemester zur Meisterklasse »Schule der Gestaltung« zuzulassen. Wir beglückwünschen Sie zu ihren ausdrucksstarken Arbeiten und freuen uns, Sie im Kreise unserer Nachwuchskünstler begrüßen zu dürfen.

Bitte nehmen Sie zwecks Abklärung weiterer Details Kontakt mit unserem Sekretariat auf.

 

Nandini spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Was um Himmels willen soll das? Hast du in meinen Sachen gekramt?«

Susan starrte sie mit aufgerissenen Augen an. »Nein! Wie kommst du darauf?«

»Aber woher weißt du von meinen Zeichnungen?«

»Gott behüte. Du hast sie jahrelang in den Mülltonnen vergraben, da habe ich sie wieder herausgezogen und gesammelt. Stück für Stück. Eine Auswahl daraus hab ich an die Akademie gesandt.«

»Du hast was?«

»Ich dachte, ich mache dir damit eine Freude.«

»Du hättest mich wenigstens fragen können.« Nandini wurde schwindlig, sie schnappte nach Luft. »Du hattest nicht das Recht dazu, Mutter! Du hasst ... das ist ...« Sie zerknüllte den Brief, schleuderte das Glas auf den Boden und rannte ins Haus.

 

Nandini wagte nicht, das Licht in ihrem Zimmer anzudrehen. Vor ihr standen die Kartons mit den Scherben ihrer innigst gehüteten Welt. Sie sank auf ihr Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Was alles hatte Susan zu Gesicht bekommen?

Ihre Gedanken fühlten sich an wie klebriger Honig. Ihre Ziehmutter hatte ihre Zeichnungen nach Salzburg geschickt. Wer wusste noch von Lily, ihren Sorgen und Sehnsüchten? Ihre Hände waren schweißnass. Wie nackt sie sich fühlte, wie auf einem Präsentierteller vorgeführt. Sie angelte nach einer Decke und schlich zur Tür. Weg, nur weg von hier.

Draußen im Korridor hörte sie hektisches Flüstern, Susan scheuchte ihre Geschwister auf die Zimmer.

»Du lieber Himmel!« Ihr Herz raste. Wussten etwa auch ihre Brüder und Schwestern von den Zeichnungen? Doch nein, sie hätten sie mit diesem Wissen an die Wand genagelt. Das konnte sie ausschließen.

Sie legte das Ohr an die Tür, horchte, bis es still war, und griff zur Türklinke. Ein Klopfen ließ sie mitten in der Bewegung innehalten. Der Schlüssel war an seinem Platz. Unter der Tür sah sie Licht aber auch einen Schatten. Wer immer vor ihrem Zimmer stand, hätte eintreten können.

»Nandini?« Es war Susan.

Sie schwieg.

Ihre Ziehmutter klopfte ein zweites Mal. »Nandini? Wir sollten reden.«

Nandini bebte. Nein!, schrie sie innerlich. Einem Blitz gleich nahm eine geheimnisvolle Kraft von ihr Besitz, wirbelte ihren Körper herum, die Hände streckten sich zur Zimmertür. Sie spürte, wie schwarzes Licht aus der Mitte ihrer Handflächen in Richtung ihrer Mutter schoss. »Was willst du reden?«, schrie sie. »Es gibt nichts mehr zwischen uns! Gar nichts. Geh und lass mich in Frieden!«

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sich die Schritte ihrer Ziehmutter entfernten. Funken von Lust und Triumph blitzten in ihr auf. In ihrem Inneren, weit unten in einer dunklen Ecke, gab es einen Schatten, der diesen Moment mit geifernden Lefzen einsaugte. Fast zärtlich legte er den Fehltritt, dessen Susan sich schuldig gemacht hatte, in eine Schatulle, zu all den anderen Verletzungen, um daraus ein Geschoss zu formen. Eine Kugel, um sie abzufeuern. Auf die Welt. Oder auf sich selbst.

Bleierne Schwere schob sich über ihr Inneres, das Bild verschwand.

Ihr war speiübel. Sie fühlte sich wie eine Fremde in einem wächsernen Körper. Nacken, Kiefer und Handgelenke glühten vor Schmerz, sie versuchte, durchzuatmen. Weg, nur weg von hier.

 

Sie brauchte kein Licht, um zum Reitstall zu finden. Die Umrisse mehrerer Pferde hoben sich gegen das Dunkel der Dämmerung ab. Leise pfiff sie ihre drei Töne, um Rosenstolz zu rufen. Sofort kam Bewegung in das Rudel, ein Schatten löste sich und kam auf sie zu. »Komm her, mein Prinz!«, flüsterte sie und öffnete die Arme. Doch wenige Meter vor ihr stoppte Rosenstolz, blähte die Nüstern und stieg hoch. Beide Vorderbeine ruderten in der Luft, die Hufe donnerten zu Boden, Rosenstolz fegte zur Seite, schlug mit den Hinterbeinen aus und galoppierte wiehernd davon. Die anderen Pferde stoben in alle Richtungen auseinander. Nandini beobachtete entsetzt dieses Schauspiel, so etwas hatte sie noch nie erlebt.

»Eine Glanzleistung!« Jemand hinter ihr applaudierte.

Sie fuhr herum.

Paul musterte sie mit besorgtem Blick.

 

»Mit oder ohne?«

»Mit.«

Eine verstaubte Glühbirne tauchte den Sattelraum in gedämpftes Licht. Paul stellte eine Zuckerdose und zwei Tassen auf den Amboss. »Setz dich.« Er schob sich auf die Holzbank.

Sie ließ sich ihm gegenüber nieder, Paul langte nach einer Thermoskanne und goss Tee in beide Schalen.

»Heiß, gib acht.« Er nahm seine Tasse, blies in sie hinein und blickte sie an. »Und?«

Ihre Gedanken rasten. Er wollte sicher wissen, warum sie sich um diese Zeit hier herumtrieb. »Also«, sagte sie und nestelte an ihrer Bluse. »Weil ich morgen abreise und Rosenstolz erst in ein paar Wochen wiedersehe ... Ach ja, danke, dass ich ihn so günstig haben kann. Hab ich das dir zu verdanken?« Wie hoffte sie, das Thema wechseln zu können.

Paul zuckte nur mit den Schultern und nippte an seinem Tee.

»Okay, also, da dachte ich, oder besser, da kam in mir so eine tiefe Sehnsucht hoch, du weißt ja, wie lieb ich Rosenstolz habe, und bis Jänner, das ist eine lange Zeit ...«

»Zoff mit Susan?« Er stellte die Tasse ab.

»Nein, überhaupt nicht.« Sie räusperte sich. »Ich wollte ihm nur einen Apfel bringen, morgen wird es hektisch, da kann es sein, dass ich keine Gelegenheit mehr dazu habe.«

»Warum zittern deine Hände?«

»Tun sie nicht.« Sie schob sie unter ihre Pobacken.

»So richtigen Stunk, hm?« Paul stand auf, griff ins Regal und holte eine Keksdose hervor. »Sind nicht mehr jung, aber was Besseres gibt`s hier nicht. Nimm.«

Sie langte nach einem Lebkuchen und verschlang ihn auf einen Sitz. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war.

»Mein alter Herr kennt Susan schon eine ganze Weile«, brummte Paul und fischte sich gleichfalls einen Keks aus der Dose. »Wahrscheinlich sind es zwanzig Jahre oder so, vielleicht mehr. Er meint, sie sei hart, aber herzlich.«

Nandini befeuchtete ihren Finger und las jeden Brösel vom Tisch auf. »Hart ja, herzlich nein.«

»Soll aber eine gute Frau sein, deine Mutter.«

»Sie ist nicht meine Mutter.«

»Gott im Himmel, das weiß ich.« Er schob ihr die Dose hin. »Lang zu. Sei gnädig, soviel ich weiß, hatte sie ein schweres Leben. Hatte vor vielen Jahren einen Mann. Ist früh gestorben, weiß der Teufel. Soll sich versoffen haben oder so. Hat sie uns nie Genaues drüber erzählt, sie sagt immer nur, Gott habe ihn ihr genommen. Danach allein diesen Laden zu führen, den ganzen Haufen, ich meine, euch alle zu bändigen. Kann schon sein, dass man da mal die Nerven wegwirft.«

»Sie hat die Nerven nicht weggeworfen, sie hat mich verraten.« Sie biss sich auf die Lippen. »Das mit dem Mann, das hat sie uns nie erzählt.«

»Warum sollte sie?« Er warf ein Stück Zucker in seine Tasse. »Ihr seid Kinder.«

»Ich bin kein Kind mehr.«

»Herrje, nein. Das bist du nicht, im Gegenteil.« Er musterte sie. »Du bist inzwischen zu einer bezaubernden Frau herangewachsen.«

»Ich muss jetzt wieder.« Verlegen stand sie auf, griff nach der Decke und drehte sich weg. Er sollte nicht sehen, wie sie rot anlief.

»Bleib doch.« Paul fasste sie bei der Hand und zog sie zurück. »Wir sollten Rosenstolz einfangen. So kannst du ihn nicht zurücklassen.«

Sie setzte sich wieder, vermied es, ihn anzusehen, und schlürfte weiter an ihrem Tee.

»Was willst du wirklich hier?«, fragte Paul nach einer Weile.

Nandini atmete tief durch. »Okay. Ich hatte vor, bei Rosenstolz zu übernachten.«

»Hier übernachten? Da ist mein Alter aber arg dagegen, das weißt du, oder?«

»Ich dachte, nur heute. Ausnahmsweise.«

»Weil du morgen abreist. Na, du hast Ideen. Lass mich nachdenken.« Paul überlegte. »Gut, ich nehme es auf meine Kappe. Dann schläfst du heute Nacht in seiner Koje. Aber du erzählst niemandem davon, hörst du? Sonst stehen hier bald alle Schlange und wir sind hier ein Reitstall und kein Hotel.«

Nandini atmete erleichtert auf. »Das ist lieb von dir. Danke!« Sie hielt ihm die Hand hin. »Versprochen. Top.«

»Top.« Er klatschte ihr die Hand ab, umfasste schnell ihre Finger und drückte sie. »Bin gerne für dich da, das sollst du wissen. Wollen wir deinen Prinzen einfangen?«

»Okay.«

Er wuchtete sich hoch. »Rosenstolz hat sich vorhin eigenartig verhalten. Hast du eine Erklärung, warum?«

»Keine Ahnung.« Für einen Augenblick blitzte das Bild vor ihr auf, wie sie Susan angeschrien hatte. »So hab ich ihn noch nie erlebt«, flüsterte sie und zog den Kopf ein.

Sie tauchten in die Nacht hinaus.

 

Paul schnalzte mit der Zunge, das Rudel kam auf ihn zugelaufen. Rosenstolz blieb in einiger Entfernung stehen. »Ruf ihn.«

Nandini pfiff abermals die drei Töne, Rosenstolz schnaubte und setzte sich in Bewegung. Paul öffnete das Gatter, Nandini lief auf ihr Pony zu und fasste es am Halfter. »Brav, mein Prinz, so ist es gut!« Sie streichelte seine Blesse und kraulte ihm die Ohren. »Ist ja wieder gut.«

Paul schloss das Tor hinter ihnen. »Ich lass euch jetzt alleine. Gib mir dein Wort, dass du keine Dummheiten machst.«

»Ehrenwort.«

»Gut.« Paul lächelte, dann marschierte er auf das Wohnhaus zu.

»Paul?«

Er drehte sich um.

»Könntest du ...?« Sie schluckte. »Wenn du schon für mich da sein willst, wäre es möglich, dass du mich morgen nach Salzburg fährst?«

»Ich soll dich nach Salzburg fahren?«

Nandini nickte.

»Was wird deine Mutter dazu sagen?«

Nandini blickte zu Boden.

Er fuhr sich mit den Händen durch die Locken. »Nichts lieber als dass, Nandini, nur ...« Er überlegte. »Mal sehen. Ich kläre das morgen. Rechne nicht fix damit, aber ich tu, was ich kann.«

»Danke, Paul, vielen Dank! Gute Nacht!«

»Ich zeig dir noch, wo du Decken findest, die eine wird nicht reichen. Es wird kalt.«

 

Nandini richtete sich ihr Lager ein und legte sich hin. Rosenstolz machte ein paar Schritte vor und zurück, dann stand er still.

Hat der Tag doch noch gut geendet, dachte sie, gähnte und rollte sich ein. Morgen also war der Tag, an dem sie endlich das Waisenhaus hinter sich lassen würde.

Sie zog die Decken zurecht, im nächsten Augenblick fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Kapitel 3

 

In den Wäldern des Ural 3000 v.Chr.

 

Nan’dahar fror entsetzlich und hatte Hunger. Sie holte aus, warf den Stein, so weit sie konnte, und duckte sich. Die Wölfe wirbelten herum und stoben den Schneehang hinauf.

Ein paar Augenblicke später waren sie hinter der Kuppe verschwunden. Sie hetzte los, auf die Reste der Ziege zu, die die Meute in Stücke gerissen hatte. Gierig stopfte sie sich blutige Fleischbrocken in den Mund, drehte sich dabei im Kreis, achtete auf jede Bewegung. Die Wölfe konnten jeden Moment zurückkommen, dann war sie deren Beute.

Endlich war sie satt, sie wischte sich über die Lippen. Geduckt preschte sie zurück in Richtung ihrer Höhle. Die Nacht würde klirrend kalt werden, ihre Felle waren zerrissen und boten kaum noch Schutz vor dem eisigen Wind. Sie war Kälte gewohnt, doch heute war es besonders schlimm.

Erschöpft erreichte sie den Eingang, schob einen Felsbrocken zur Seite, legte sich auf den Bauch und zog sich durch die Öffnung. Der Geruch von Exkrementen stieg ihr in die Nase. Schnell zog sie den Stein wieder vor den Zugang, jetzt war es stockfinster. Sie griff nach ein paar Fellen, die sie sich mit den Sehnen eines Rehs zu einer Decke geheftet hatte und schlüpfte darunter. Nun musste sie warten. Warten auf die Schritte jener Frau, die bereits täglich an ihrem Unterschlupf vorbeieilte.

Sie starrte ins Dunkel. Seit sich die Blätter verfärbten, war sie diesem Mädchen mit den Pelzen an Füßen und Schultern nachgeschlichen, hatte sich ihr bis zur Hütte von Ayo’ham an die Fersen geheftet. Wenn diese Frau in seiner Kaluppe verschwunden war, hatte sie sich hinter die Bretterwand gekauert, um die beiden durch eine Ritze zu beobachten.

»Lass uns fortgehen«, gurrte sie jedes Mal.

»Ich habe noch Geschäfte zu erledigen.«

»Dann sag mir endlich, wann!« Die Stimme des Mädchens wurde in diesen Momenten immer eiskalt. »Ich ertrage meinen Mann nicht mehr. Er ekelt mich an! Schau her!« Sie griff sich an die Schulter, löste eine Nadel aus ihrem Umhang, der weich zu Boden glitt. »Deine Belohnung, wenn du mich mit dir nimmst.« Nackt stand sie vor ihm. »Ich gehöre dir, mach mit mir, was du willst.«

»Oh, Sady’aya.«

Nan’dahar ballte die Fäuste, wie sie die beiden hasste. Seit dem letzten Mal schien er bereit zu sein, mit ihr fortzugehen. »Nimm nur das Nötigste mit«, hatte er ihr nachgerufen, als sie davongeschlichen war.

Sie musste sich beeilen, sonst war die Gelegenheit dahin.

Die Kälte ließ sie zittern. Ihre Hand tastete nach dem Stein, den sie sich sorgsam ausgesucht hatte. Jeden Schritt hatte sie sich überlegt, bis ins kleinste Detail. Sie brauchte nur Geduld zu haben. Das Mädchen wird wieder kommen.

Kapitel 4

 

Klosterneuburg

Nandini schoss die Treppe hinauf. »Die nehme ich selbst, Paul! Die dort im Eck, die ist schwer.«

»Gut.« Paul wuchtete eine Kiste hoch.

Sie stemmte sich die letzte Schachtel mit ihren Zeichnungen auf die Schulter und schleppte sie die Stiegen hinunter. »Ich glaub, das war`s dann.«

»Ich schau, dass nichts verrutscht. Kannst dich schon mal verabschieden.« Paul beugte sich in den Fond seines Wagens und schob einige Gepäckstücke zurecht.

Ihre Geschwister standen wie verloren umher, unbeholfen in ihre Handys vertieft.

»Bis bald dann mal.« Mit einem eisigen Lächeln drückte Nandini Susan und ihren Brüdern und Schwestern einen flüchtigen Kuss auf die Wangen, kletterte in den Wagen und atmete erleichtert durch.

»Das war ja herzerweichend«, knurrte Paul, ließ den Motor an und fuhr die Auffahrt hinab.

Nandini beobachtete Susan im Rückspiegel, wie versteinert blickte sie ihnen nach. Dann bog Paul in die Hauptstraße ein.

»Hat Mutter gleich zugestimmt?«, fragte Nandini und wischte sich mit den Händen über die Augen.

»War wie ferngesteuert.« Paul hielt lässig mit zwei Fingern das Lenkrad und kaute an einem Zahnstocher. »Bin mir nicht mal sicher, ob sie überhaupt zugehört hat. Nehmen wir die Landstraße? Braucht ein bisschen länger, aber wir haben`s ja nicht eilig, oder?« Er grinste.

»Keine Ahnung?« Nandini strich sich über den Arm, ihr Herz pochte bis zum Hals.

»Dann werte ich das als Zustimmung.« Er warf den Blinker und bog scharf ab.

Nandini schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Die Ereignisse des Vorabends machten ihr gehörig zu schaffen.

»Was gehst du an in Salzburg?« Paul suchte im Radio nach Musik. »Hast du einen Job?«

»Ja. Gärtnerei.« Sie war froh, dass er sie auf andere Gedanken brachte. »Als Blumenbinderin gibt es nicht viele Möglichkeiten.«

»Toller Beruf. Ist kreativ.« Er warf seinen Zahnstocher aus dem Fenster und angelte sich einen neuen. »War das schon immer dein Traumjob?«

Nandini schüttelte den Kopf. »Hat Mutter entschieden. Sie bestimmt, was wir machen. Sie will wohl nicht, dass wir ihr zu lange auf der Tasche liegen.« Sie biss sich auf die Lippen. »Aber es ist okay so.« Sie überlegte, ob sie ihm von dem Brief von der Akademie erzählen sollte, entschloss sich jedoch, zu schweigen. »Und du?«

Paul verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Mein alter Herr hat mir angedroht, den Geldhahn abzudrehen. Also habe ich Gas gegeben. Ausbildung zum Facharzt. Neurologie.«

»Klingt gut.«

»Ja. Er hat ja recht. Aber sag mal.« Er stupste sie am Arm. »Du haderst gewaltig mit deiner Mutter, oder sehe ich das falsch?«

Nandini zuckte mit den Schultern und blickte aus dem Fenster.

»Auf die Gefahr hin, dass ich belehrend wirke.« Paul stellte das Radio leiser. »Hinter jedem Konflikt steckt ein verborgener Segen, Nandini.Du musst nur einen Schritt zurücktreten und die Situation aus der Distanz betrachten.«

»Ein verborgener Segen? Was soll das sein?«

Paul stieg aufs Gas und setzte zu einem Überholmanöver an. Im nächsten Moment bremste er scharf ab und ordnete sich wieder ein. »Blödmann.« Er deutete dem Fahrer vor sich mit der Faust. »Erst abbremsen und dann beschleunigen, du spinnst wohl. Sonntagsfahrer.«

Nandini blickte betreten zur Seite.

»Also. Das mit dem verborgenen Segen hat mir mein Vater schon als Kind erklärt. Es sind Probleme, die sich im Nachhinein als Geschenk erweisen.«

»Probleme sind ein Geschenk?«

»Ja, wenn du deren Sinn erkennst, schon.« Er schaltete einen Gang zurück und drosselte das Tempo. »Ich nenn dir ein Beispiel. Ich war auf einem meiner Trips durch die Vereinigten Staaten und mir ist nach ein paar Wochen wieder einmal das Geld ausgegangen. Da hab ich einen Job als Küchenhilfe in einem dieser feinen Restaurants angenommen. Du weißt schon, die, wo du mehr auf der Rechnung als auf dem Teller hast. Wir haben eine Hochzeit vorbereitet, alle waren im Stress, ich hab Fleisch geschnitten, die Küche war wie immer zu eng. Irgendein Typ hat mich gestoßen und mein Messer fuhr mir ziemlich tief da hinein.« Er deutete auf eine Narbe auf seinem Handballen. »Ab ins Krankenhaus, genäht und wieder zurück. Inzwischen war alles gelaufen, der Nachtisch wurde serviert, ich genehmigte mir auf der Toilette eine Selbstgedrehte, stell dir vor, da sitzt du auf der Muschel, das Streichholz lässt du zwischen deinen Schenkeln in die Schüssel fallen und wumm, irgendein Trottel hatte Öl oder Spiritus dort entsorgt und nicht runtergelassen. Habe mir so ziemlich alles verbrannt, was da so runter hängt.«

Nandini prustete los vor Lachen und errötete bis hinter die Ohren.

»Also wieder ins Spital, die Hand im Verband, der Hintern und alles andere angesengt. Auf meine Antwort auf ihre Frage, wie das passiert ist, haben die beiden Krankenhelfer so gelacht, dass sie die Bahre fallen ließen und ich auf den Boden geknallt bin. Rechter Arm gebrochen.«

Nandini wischte sich Lachtränen aus dem Gesicht.

»Aber jetzt kommt`s, die Krankenschwester, die mir nach dem Eingipsen die Armschlinge verpasste.« Er stieß einen Pfiff aus. »Liebe auf den ersten Blick. Heute sind wir zwar nur noch Freunde, doch damals waren wir danach für einige Jahre zusammen. Dass wir uns kennengelernt haben, das war der verborgene Segen.«

»Das als Geschenk zu bezeichnen, ist aber keine Kunst«, antwortete Nandini und versuchte, sich zu fangen.

»Das hängt vom Zeitpunkt ab, an dem du das beurteilst. Auf dem Operationstisch siehst du das anders.« Paul legte die Stirn in Falten. »Im Ernst, einen verborgenen Segen erkennst du oft erst viele Jahre später.« Er überlegte. »Vielleicht habe ich ein besseres Beispiel. Mein Großvater ...« Er angelte sich eine Wasserflasche vom Rücksitz. »Magst du?« Er hielt sie Nandini hin.

»Gerne.« Sie nippte an der Flasche und gab sie ihm zurück.

Er nahm einen kräftigen Schluck. »Mein Großvater war das, was man unberechenbar und jähzornig nennt. So ein richtig roher Kerl, weißt du?«

Nandini hörte ihm aufmerksam zu.

»Vater hat mir erzählt, wie oft Großvater ihn verdroschen hat, weil er wieder einmal zu viel getrunken hatte. Wenn er aggressiv wurde, weil zu wenig Alkohol oder zu viele Leute im Haus waren. Meine Großeltern hatten sechs Kinder und es gab immer zu wenig Alkohol oder zu viele Leute im Haus. Manchmal konnte mein Vater sich tagelang nicht hinsetzen, so hat Großvater ihm den Hintern versohlt.«

»Auweia.«

»Ja, tut weh. Heute sagt mein alter Herr aber immer wieder: Hätte es meinen Großvater nicht gegeben, hätte er nicht gelernt, die Launen von Menschen blitzschnell zu erfassen. Bei seinem Vater musste er in wenigen Augenblicken abschätzen, wie er drauf war und wie er reagieren sollte. Heute kann er, so sagt er, in kürzester Zeit erkennen, wer Probleme hat oder wer in seiner Kraft ist, wenn er einen Raum voll mit Menschen betritt. Er kann dadurch angemessen reagieren, kann schwierige Situationen ausgleichen, Stimmungen abfangen und sie ins Positive drehen, bevor sie hochkochen. Es hat schon einige Zeit gedauert, betont er immer wieder, aber heute ist er ihm dafür zutiefst dankbar.«

»Dankbar?«

»Ja. Er hätte sich auch ein Leben lang als Opfer fühlen können, aber die Unberechenbarkeit seines Vaters hat er im Nachhinein als Geschenk betrachtet. Das war für ihn der verborgene Segen.«

Nandini blickte aus dem Fenster und überlegte, wie sie das auf ihr eigenes Leben umlegen konnte. Worin lag ein verborgener Segen in all ihren Kämpfen mit Susan und ihren Geschwistern? Welches Geschenk konnte darin liegen, ohne richtige Eltern in einem Waisenhaus aufgewachsen zu sein?

Paul stieg voll in die Bremsen. »Schau dir diesen Hammel an«, polterte er. »Erst lässt er mich nicht vor und jetzt schleift er ohne Grund zusammen. Mit dreißig auf der Landstraße. Sag mal, spinnt der?« Er betätigte die Lichthupe. »Solche Autofahrer hab ich schon gefressen.«

»Und worin liegt der verborgene Segen, in diesem Autofahrer da vorne?« Nandini konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Oh Mann!« Paul sackte in sich zusammen. »Eins zu null für dich.«

Vor ihnen baute sich ein Stau auf.

»Da muss was passiert sein.« Nandini versuchte, im Gegenlicht etwas zu erkennen. Autotüren wurden aufgerissen, aus allen Richtungen liefen Menschen zusammen.

Pauls Wagen rollte aus und kam hinter seinem Vordermann zum Stehen. »Das kann länger dauern.« Er überlegte. »Was hältst du davon, wenn wir dort vorne im Gasthaus warten, bis sich der Knäuel aufgelöst hat?«

»Nur, wenn du mir einen Donut spendierst.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Aber klar. Auch zwei oder drei.« Paul lenkte nach rechts, überholte die Kolonne auf dem Pannenstreifen und bog zum Parkplatz ab.

 

»Passt so.« Paul schob der Kellnerin eine Münze zu und steckte das restliche Geld ein.

Gemeinsam verließen sie das Lokal, schlenderten zum Parkplatz und bestiegen den Wagen. »Ganz schön viel Blaulicht. Aber wie es aussieht, bewegt sich die Kolonne.«

Sie wurden an einem Dutzend ineinander verkeilter Fahrzeuge vorbeigewunken, Einsatzwagen und ein Helikopter standen auf der Fahrbahn. »Da hat es aber ordentlich gekracht«, flüsterte Nandini. Emmanuel, dachte sie, schick diesen Menschen hier viele, viele Schutzengel!

»Schau dir das Wrack an«, murmelte Paul.

Nandini legte die Hand auf seinen Arm. »Sag mal, könnte das unser verborgener Segen gewesen sein?«

»Was meinst du?« Paul musste Acht geben, ein Meer von Glasscherben wurde zusammengekehrt.

»Ich meine, wenn uns der Wagen nicht abgebremst hätte, dann wären wir hier vielleicht ...?« Nandini Magen zog sich zusammen.

Paul sah sie entsetzt an. »Du meinst, dann wären wir hier mittendrin?« Er wurde bleich.

Für den Rest der Fahrt sprach keiner mehr ein Wort.

 

Die Dachwohnung war klein, aber sauber. Paul hatte Nandini geholfen, die Kisten und Reisetaschen die Treppe hochzutragen. Nur ihre Schachteln mit den Zeichnungen wuchtete sie selbst in den dritten Stock.

»Geschafft.« Paul stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich um. »Hier lässt es sich schon aushalten.«

»Ja.« Nandini knetete ihre Finger. »Wird ungewohnt sein für mich, so alleine.«

»Mulmiges Gefühl, hm?«

»Kann man wohl sagen, ja.« Sie sah sich um.

»Soll ich noch bleiben?«

»Ja ... oder nein. Oder ja. Keine Ahnung. Ich würde dir jetzt gerne etwas anbieten, zu trinken meine ich, aber ich hab nichts.«

»Kein Problem. Dann tun wir so, als ob.« Paul trat näher an sie heran und hob seine Hand. »Prost.«

Nandini versuchte zu lächeln. »Hei, okay, Prost.«

Sie stießen mit ihren Knöcheln an.

Paul musterte das Wohnzimmer. »Du wirst dich schneller eingelebt haben, als du glaubst. Und für den Notfall hast du ja meine Telefonnummer.«

»Hab ich die?« Nandini griff nach ihrem Handy und scrollte die Namenliste durch. »Da habe ich eine Nummer. Die ist aber von deinem Vater.«

»Dann ruf ich dich an, dann hast du sie.«

Sie ließ es kurz läuten und drückte wieder ab. »Okay.«

»Versprich mir. Wenn dir die Decke auf den Kopf fällt, rufst du mich an.« Er hielt ihr die Hand hin. »Top?«

»Prima, ja.« Nandini schlug ein. »Top.«

Beide schwiegen.

»Na, dann fahr ich mal wieder.« Paul zögerte, dann kam er auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sanft strich er mit seinen Lippen über die ihren und küsste sie zärtlich auf die Wange. »Schön, dass es dich gibt.«

Nandini schnappte nach Luft. »Also, ich ... Du auch.« Sie zitterte am ganzen Körper. »Ich ruf dich an. Ganz sicher!« Sie löste sich aus seinen Armen, es knisterte bis hinter ihre Ohren.

Paul blickte sie irritiert an. »Verzeih mir, ich wollte dich nicht ...«

»Schon gut.« Nandini hob kurz die Hand und ließ sie gleich wieder fallen. »Ich war nur nicht darauf gefasst. Ich melde mich.«

»Sicher?«

»Sicher.«

Paul nickte, kratze sich die Stirn, drehte sich um und ging auf die Wohnungstür zu.

»Paul?«

»Ja?«

»Darf ich dich was fragen?«

Er drehte sich zu ihr. »Klar, immer.«

»Welchen verborgenen Segen könnte es für mich geben? Ich meine, dass meine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind und ich ohne sie aufwachsen musste?« Ihre Kehle wurde eng.

Paul starrte sie an. »Dass deine Eltern bei einem Unfall ...?« Er kam langsam auf sie zu, langte nach ihren Händen und drückte sie sanft. »Ich kann dir auf diese Frage keine Antworten geben, Nandini. Es wären meine Interpretationen, die dir nicht helfen würde.«

Sie senkte den Blick.

Paul hob ihr Kinn wieder an und sah ihr in die Augen. »Aber sei sicher, jede Frage, die du mit deinem Herzen nach innen stellst, wird beantwortet.«

Sie nickte nur.

»Glaub mir, ich wünsche mir, ich könnte dir helfen, Nandini.«

»Alles klar.« Sie versucht zu lächeln. »Ich muss es wohl selbst herausfinden. Trotzdem danke. Und ja, auch dafür, dass du mich hierher gebracht hast.«

»Aber gerne.«

»Komm gut zurück.« Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen.

 

Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Nachdenklich rieb er sich das Kinn, als er die Treppe hinabstieg.

Er blieb stehen und blickte nach oben. Eines wusste er sicher. Nandinis Eltern waren nicht bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Kapitel 5

 

In den Wäldern des Ural 3000 v.Chr.

 

Die Schritte ließen Nan’dahar hochschnellen. Hastig befreite sie sich von den Fellen, schob sich zum Ausgang und spähte durch den Spalt. Sady’aya kämpfte sich mit einem Beutel in der Hand durch den Schnee.

Ihr Körper spannte sich zu einem Bogen, ihr Puls schnellte nach oben. Sie griff nach dem Stein, glitt aus dem Versteck und hastete ihr geduckt hinterher. Diesmal durfte sie dieses Mädchen nicht zu weit kommen lassen.

Sady’aya war schnell. Sehnsüchtig fixierte Nan’dahar deren warme Pelze und Häute, die sie sich um den Körper gewickelt hatte. Die musste sie haben, koste es, was es wolle. Sie holte auf. Plötzlich stoppte Sady’aya und kauerte sich hinter eine Buschgruppe. Ein Rudel Wölfe hatte ihr den Weg verstellt. Schnell suchte sie Deckung neben einem Felsen und hielt die Luft an, der Dunst ihres Atems durfte sie nicht verraten.

Der Wind stand günstig, die Wölfe zogen sich ins Unterholz zurück. Sady’aya schien kein Risiko eingehen zu wollen, sie drehte um und kam wieder in ihre Richtung gelaufen.

Nan’dahar duckte sich tiefer, nahm all Kraft zusammen, bereit, hochzufedern und zuzuschlagen. Jetzt konnte sie Sady’ayas Atem hören, ihre Finger krallten sich um den Stein. Sie schoss aus der Deckung und schlug zu. Doch sie glitt aus und traf nur Sady’ayas Schulter. Deren Schrei zerriss die Stille, das Mädchen stolperte, fiel, raffte sich wieder auf, griff in ihren Umhang und zückte eine Klinge. Nan’dahar setzte ihr nach, mit wilden Stößen versuchte Sady’ayas, sie von sich fernzuhalten. Ein Hieb traf sie am Arm, der Schmerz raubte ihr fast die Sinne. Entsetzt blickte sie auf ihre Wunde, auf das Blut, das den Schnee rot färbte. Sady’aya nutzte die Gelegenheit, drehte sich um und rannte davon. »Ayo’ham!«, schrie sie, warf den Beutel weg und hastete, so schnell sie konnte, den Weg entlang.

Jetzt hieß es, schnell zu sein. Ayo’ham war ein berüchtigter Jäger. Wenn er von ihrem Kampf erfuhr, musste sie selbst um ihr Leben fürchten. Sie verbiss sich den Schmerz und sprengte Sady’aya nach. Zu rennen hatte sie auf ihren Streifzügen gelernt. Sady’aya offenbar nicht. In wenigen Sätzen war sie hinter ihr, warf sich mit einem Schrei auf sie und brachte sie zu Fall. Doch Sady’aya war kräftig, mit Fußtritten setzte sie sich zur Wehr, versuchte, ihr die Klinge in den Leib zu rammen. Sie fing ihren Arm ab und schlug ihr das Messer aus der Hand. Wie besessen hieb sie mit den Fäusten ins Gesicht der jungen Frau. Sady’aya starrte sie flehend an, versuchte, mit den Armen Kopf und Hals zu schützen. Doch Nan’dahar hörte mit ihren Schlägen nicht auf, bis Sady’ayas Hände kraftlos zur Seite sanken. Ihre Augen bewegten sich, als suchte sie etwas, dann erstarrten sie und blickten glasig durch sie hindurch.

Keuchend ließ sie von Sady’aya ab. Ayo’ham konnte jeden Moment hier sein, wenn er ihre Schreie gehört hatte. Sie riss dem Mädchen die Pelze vom Leib, löste die Häute von den Händen, nun lag die junge Frau nackt vor ihr. Der Schnee war blutrot. Ein Muttermal unter dem Kinn Sady’ayas war geplatzt, doch so viel Blut? Ihr eigener Arm! Sie starrte auf die Schnittwunde. Sie war tiefer, als sie befürchtet hatte. Schnell fort von hier, bevor die Wölfe das Blut witterten.

Hastig raffte sie ihre Beute zusammen und hetzte zurück in Richtung ihrer Höhle. Im Laufen umwickelte sie ihren Arm mit einer der Häute, sie durfte keine Blutspur hinter sich herziehen. Keuchend erreichte sie den Eingang, der Schmerz zerriss ihr fast den Schädel. Sie warf das Bündel durch das Loch und zog sich durch die Öffnung, für den Verschlussstein hatte sie keine Kraft mehr.

Wie müde sie war.

Sie ließ sich zurückfallen. Nur etwas ausruhen, dachte sie. Ihr Arm fühlte sich klebrig an. Nur einen Moment schlafen.

Es wurde schwarz um sie.

Kapitel 6

 

Salzburg

Nandinis Augen glitten durch ihre Wohnung. Die Wände waren hell und freundlich, das Licht der Abendsonne warf weiche Muster auf den Boden. Ein Kasten, ein Bett, der Tisch mit zwei Stühlen, die Küchenecke, das Bad. Das also war ihr neues Zuhause.

Sie öffnete eines der Fenster, die kühle Luft strich über ihr Gesicht. Ein Funke flackerte in ihr auf, ein zartes Vibrieren, das sich nach Abenteuer anfühlte. Die ganze Welt lag vor ihr, bunt und reich an Möglichkeiten. Tief sog sie diese Ahnung nach Freiheit ein. Freiheit? Wie ungewohnt sich das anhörte.

Da war aber noch etwas anderes. Was erwartete sie bei ihrem neuen Job? Wie war es, auf sich selbst gestellt zu sein? Konnte sie all die Kosten, die unweigerlich auf sie zukamen, bewältigen? Es fühlte sich an, als ob sich Schatten spinnenartiger Finger über ihre neue Freiheit schoben. Plötzlich fror es ihr, die zarte Vorfreude auf ihr neues Leben machte Angst und Beklemmung Platz. Sie zog die Schultern hoch und schloss das Fenster. »Wir schaffen das«, flüsterte sie. Hastig öffnete sie einen Karton, raffte Kuscheldecken und eine Zeichenmappe an sich und verkroch sich in einem Winkel neben dem Bett.

 

 

»Die Bewässerung läuft vollautomatisch in den Gewächshäusern«, sagte die ältere Dame, »nur diese Reihe hier, die musst du gießen. Am besten gleich am Morgen, wenn du kommst.«

»Mach ich.« Nandini trappte hinter ihrer Kollegin her.

»Aber jetzt einmal schaust du mir zu, wie ich die Gestecke fertigmache. Am besten, du probierst gleich selbst eines.«

 

Die Arbeit in der Gärtnerei ließ sie ihre Ängste vorerst wieder vergessen. Susan fühlte sich offenbar berufen, mehrmals wöchentlich anzurufen. Da sie nie abhob, wurde sie mit Kurznachrichten bombardiert.

»Lass uns über die Sache mit dem Brief nochmals reden, Kind.«

»Hast du dich schon eingerichtet?«

»Vergiss nicht, die Akademie zu kontaktieren.«

Bis ihr der Kragen platzte. »Du nervst, Mutter. Lass mich endlich in Ruhe.«

Postwendend kam Susans Antwort. »Ich komme dich am nächsten Wochenende besuchen.«

»Spar dir den Weg.«

Die Nachrichten ihrer Mutter wurden spärlicher, bis sie ganz aufhörten.

 

»Wunderschön, wie du das machst.«

Nandini blickte hoch, ihr Chef stand vor ihr. »Komm in mein Büro.«

Ihre Handflächen waren feucht, als sie vor ihm saß.