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Napoleon E-Book

Johannes Willms

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Beschreibung

Die erste große Napoleon-Biographie eines deutschen Autors seit hundert Jahren.

Johannes Willms erzählt die faszinierende Lebensgeschichte Napoleons (1769-1821) – eines Mannes, der von ganz unten kam und zum Herrscher über den europäischen Kontinent aufstieg. Karriere, Größenwahn und Niedergang des Korsen beschreibt der bekannte Historiker und Journalist mit souveräner Quellenkenntnis und einer Fülle von Anekdoten. Sein Buch schildert jedoch nicht nur ein atemberaubendes Leben, sondern entfaltet zugleich das Panorama eines turbulenten Zeitalters, dem Napoleon seinen Namen gab.

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Seitenzahl: 1500

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JOHANNES WILLMS

NAPOLEON

EINE BIOGRAPHIE

Pantheon

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Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

 

April 2007

 

Copyright © der Originalausgabe 2005 by Verlag C.H. Beck oHG, München

 

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, München Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-641-21693-1V002

Inhaltsverzeichnis

CopyrightERSTES BUCH - DER ZAUBERLEHRLING
ERSTES KAPITEL - KORSISCHE ANFÄNGEZWEITES KAPITEL - DER OPPORTUNISTDRITTES KAPITEL - KRIEGSKUNSTVIERTES KAPITEL - POLITIK IST DAS SCHICKSALFÜNFTES KAPITEL - PROCONSUL PER ITALIAMSECHSTES KAPITEL - SANDKASTENSPIELESIEBTES KAPITEL - DER 18. BRUMAIRE
ZWEITES BUCH - DER DIKTATOR
ERSTES KAPITEL - BONAPARTE ERFINDET NAPOLEONZWEITES KAPITEL - MARENGODRITTES KAPITEL - DER TRÜGERISCHE FRIEDENVIERTES KAPITEL - DAS ERBE DES CONSULATSFÜNFTES KAPITEL - EIN MORD UND EINE KRONESECHSTES KAPITEL - DER KAISERSIEBTES KAPITEL - AUSTERLITZ
DRITTES BUCH - DER IMPERATOR
ERSTES KAPITEL - DIE MASKE FÄLLTZWEITES KAPITEL - DER EUROPÄISCHE KRIEGDRITTES KAPITEL - GÖTZENDÄMMERUNGVIERTES KAPITEL - RUSSLANDFÜNFTES KAPITEL - DER AUFSTAND EUROPASSECHSTES KAPITEL - WATERLOOSIEBTES KAPITEL - DAS VERMÄCHTNIS VON SANKT HELENA
KARTEN
KARTE 1KARTE 2KARTE 3KARTE 4KARTE 5KARTE 6KARTE 7KARTE 8KARTE 9KARTE 10KARTE 11KARTE 12KARTE 13KARTE 14KARTE 15KARTE 16KARTE 17KARTE 18KARTE 19KARTE 20KARTE 21
ANHANG
ANMERKUNGEN
ERSTES BUCH DER ZAUBERLEHRLING
1. Kapitel Korsische Anfänge2. Kapitel Der Opportunist3. Kapitel Kriegskunst4. Kapitel Politik ist das Schicksal5. Kapitel Proconsul per Italiam6. Kapitel Sandkastenspiele7. Kapitel Der 18. Brumaire
ZWEITES BUCH · DER DIKTATOR
1. Kapitel · Bonaparte erfindet Napoleon2. Kapitel Marengo3. Kapitel Der trügerische Frieden4. Kapitel Das Erbe des Consulats5. Kapitel Ein Mord und eine Krone6. Kapitel Der Kaiser7. Kapitel Austerlitz
DRITTES BUCH · DER IMPERATOR
1. Kapitel · Die Maske fällt2. Kapitel Der europäische Krieg3. Kapitel Götzendämmerung4. Kapitel Russland5. Kapitel Der Aufstand Europas6. Kapitel Waterloo7. Kapitel Das Vermächtnis von Sankt Helena
ZU DEN ABBILDUNGEN
ERSTES BUCHZWEITES BUCHDRITTES BUCH
PERSONENREGISTER

 

 

 

 

«Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht.»

 

ERSTES BUCH

DER ZAUBERLEHRLING

ERSTES KAPITEL

KORSISCHE ANFÄNGE

Bereits die Umstände ihrer Geburt, so wird gerne geglaubt, verweisen auf die künftige Bestimmung großer Persönlichkeiten. Von Napoleon berichtet die Legende, seine Mutter sei am 15. August 1769 – es war der Tag Maria Himmelfahrt – in Ajaccio auf Korsika auf einem Teppich mit Schlachtenszenen aus Homers Ilias niedergekommen. Aus dem Dunkel des Mutterschoßes entlassen, seien diese heroischen Bilder seine ersten Eindrücke der Welt gewesen. Den blühenden Unsinn hat die Mutter später mit dem schlichten Hinweis ins Reich der Fabel verbannt, in ihrem Haus habe es keine Teppiche gegeben.1 Tatsächlich begleiteten andere dramatische Umstände die Geburt Napoleon Buonapartes – so die ursprüngliche, italienische Schreibung seines Familiennamens.

Drei Monate zuvor, am 8. Mai, waren in der Schlacht von Ponte Novo die Träume von korsischer Freiheit und Unabhängigkeit zerstoben. Korsika, das lange unter genuesischer Herrschaft gestanden hatte, war erst im Jahr zuvor an Frankreich abgetreten worden. Seit 1755 war es der korsischen Unabhängigkeitsbewegung unter der energischen Führung Pasquale Paolis gelungen, die Genuesen aus dem bergigen Innern der Insel zu vertreiben und deren zunehmend prekäre Herrschaft auf die Küstenorte Ajaccio, Bastia und Calvi zu beschränken. Paoli war ein politischer Visionär, der sich als der wahre Herrscher Korsikas fühlte, weil er von einer großen Mehrheit der rund 130 000 Inselbewohner unterstützt wurde. Es war ein leichtes Spiel, sich gegenüber der Republik Genua durchzusetzen, die längst den Zenit ihrer Macht überschritten hatte. Umso bitterer musste für Paoli und seine Anhänger die Erkenntnis sein, dass ausgerechnet dieser Erfolg ihnen mit Frankreich nur einen neuen, wesentlich stärkeren Gegner verschafft hatte. Zwar ließ sich der Guerillakrieg für die Paolisten zunächst recht günstig an, verführte sie aber zu jenen verderblichen Übermut, der bei Ponte Novo vor dem Fall kam: Vernichtend geschlagen, flüchteten sich die überlebenden Aufständischen in die Berge. Unter ihnen waren auch Carlo Bonaparte mit seiner Frau Letizia und ihrem am 7. Juli 1768 geborenen Sohn Joseph.

Die Vorfahren der Eheleute lebten seit dem frühen 16. Jahrhundert auf Korsika. Einer seit Anfang des 17. Jahrhunderts nachweisbaren Familientradition folgend, hatte der am 27. März 1746 zur Welt gekommene Carlo Bonaparte ein Jura-Studium an der Universität Pisa begonnen, das er aber ohne förmlichen Abschluss beendete, als er am 2. Juni 1764 die erst vierzehnjährige Letizia Ramolino heiratete. Die Familien der Brautleute gehörten zum korsischen Adel, und auch ihre bescheidenen Vermögensverhältnisse, die sie nach korsischen Maßstäben dennoch als wohlhabend auswiesen, waren vergleichbar. Es war eine Vernunftehe, keine Liebesheirat, die gleichwohl mit dreizehn Kindern gesegnet war, von denen aber nur acht überlebten. Das erste Kind, ein Sohn, der auch schon auf den Namen Napoleon getauft worden war, starb 1765 im Jahr seiner Geburt; auch das zweite Kind, ein Mädchen, starb noch im Säuglingsalter. Erst das dritte Kind, Joseph, überlebte. Napoleon war also der Zweitgeborene, eine Familienkonstellation, die zeitlebens sein bisweilen gespanntes Konkurrenzverhältnis zum älteren Bruder bestimmen sollte.

Von der frühen Kindheit Napoleons sind nur wenige verlässliche Nachrichten überliefert. Ob er tatsächlich mit sieben Jahren eine Schule in Ajaccio besuchte, wo er Lesen, Schreiben und Rechnen lernte und in die Anfangsgründe des Lateinischen und der Alten Geschichte eingeführt wurde, wie immer wieder behauptet wird, ist zweifelhaft Entscheidender für seine frühe Erziehung war das strenge Regiment der Mutter, die den früh ausgeprägten eigenen Willen ihres Zweitgeborenen durch häufige Züchtigungen zu brechen suchte. Napoleon hat ihr das nicht nachgetragen; noch auf Sankt Helena hat er erzählt, er verdanke ihr viel, denn sie habe seinen Verstand geformt und ihm seinen Stolz vermittelt. Das mag man gelten lassen, wenn auch eher anzunehmen ist, dass Letizia ihn häufig mit strafender Hand von den Vorzügen strikter Disziplin überzeugte. Daran hat er im Unterschied zu seinen Geschwistern sein Leben lang festgehalten.

Unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung Napoleons hatte aber auch der ausgeprägte politische Opportunismus seines Vaters Carlo (Charles) Bonaparte, der sich nach der Niederlage von Ponte Novo nicht nur von Paoli abwandte, dem er als Sekretär gedient hatte, sondern sich auch sofort mit den neuen Machthabern arrangierte. Im Februar 1771 trat er als Assessor in den französischen Justizdienst ein. Dieser spektakuläre Seitenwechsel begann schon im folgenden Jahr Früchte zu tragen. Charles Bonaparte gehörte von Anfang an zu jenem Kreis von Kollaborateuren aus den höheren Kreisen der korsischen Gesellschaft, die Charles-Réné Comte de Marbeuf, von 1772 bis 1786 als französischer Militärgouverneur der eigentliche Machthaber Korsikas, in Bastia um sich scharte. Es gehörte zur Politik des Ancien Régime, die Eliten der Insel für Frankreich zu gewinnen. Vermutlich war es auch dem Einfluss Marbeufs zu verdanken, dass Charles Bonaparte 1777 zum Deputierten des korsischen Adels für die Notabelnversammlung in Versailles gewählt wurde.2 Fraglos kann hingegen Marbeufs Einsatz dafür stehen, dass die Kinder des notorisch von Geldsorgen geplagten Charles Bonaparte in den Genuss königlicher Stipendien kamen, die ihnen den Schulbesuch in Frankreich ermöglichten. Joseph wurde für das Priesteramt bestimmt, während Napoleon eine militärische Karriere einschlagen sollte. Zunächst aber mussten beide seit dem 1. Januar 1779 im burgundischen Autun eine Art Vorschule besuchen, um die französische Sprache zu erlernen.

An diesem Tag begann für den erst neunjährigen Napoleon ein Leidensweg, dessen Härten er noch in der Verbannung auf Sankt Helena lebhaft beschwor. Angeblich wurde er von den Mitschülern wegen seines fremdartigen Aussehens, seiner korsischen Herkunft und seiner eigenwilligen Aussprache des Französischen, die er bis ans Ende seiner Tage nicht ablegen sollte, gehänselt, weshalb er sich in stolze Isolation geflüchtet haben will. Allerdings soll es ihm auch gelungen sein, sich bei manchen Raufereien Respekt zu verschaffen. Das habe ihn schon früh in eine gewisse «Führungsrolle» gebracht. Inwieweit dies alles zutrifft, wissen wir nicht. Jedenfalls ist die berühmte, von Napoleon angeblich geleitete Schneeballschlacht – eine der Ikonen in Abel Gances Filmklassiker – die sich im Winter 1783–84 während der letzten Monate seines Aufenthalts an der Militärschule zu Brienne zugetragen haben soll,3 Legende. Stattdessen verharrte er im Einzelgängertum, das er sich, diesem Alter und einer solchen Situation nur gemäß, mit allerlei Machtphantasien ausschmückte, bei denen er sich in der Nachfolge Paolis zum Helden der korsischen Unabhängigkeit träumte.4 Überdies beschäftigte er sich mit der Lösung algebraischer Probleme oder verschlang in französischer Übersetzung – Griechisch lernte er nie, das Studium des Lateinischen war ihm ebenso zuwider wie das des Deutschen – die Doppelbiographien Plutarchs, Macphersons Ossian oder die militärischen Schriften des Marschalls Moritz von Sachsen.

Die fünf Jahre, die Napoleon nach der Vorschule in Autun, vom 15. Mai 1779 bis zum 17. Oktober 1784 in der kalten Fremde der von Benediktinern geleiteten Militärschule von Brienne-le-Château zubrachte, ohne Heimat oder Familie wieder zu sehen, mit der er nur in spärlichem brieflichen Kontakt stand, müssen ihm als eine erste Zeit des Exils erschienen sein. Brienne liegt im ödesten, damals von häufigen Überschwemmungen heimgesuchten Teil der unter einem oft grauen, lastenden Himmel sich erstreckenden Ebene der Champagne, in die nur einige elende Dörfer eingesprengt waren. Die Militärschule, eine von einem Dutzend ähnlicher Einrichtungen im Frankreich des Ancien Régime, hatte rund 110 Schüler. Fünfzig von ihnen waren, wie Napoleon, königliche Stipendiaten. Sie wurden von schlecht bezahlten und entsprechend gering qualifizierten Lehrkräften unterrichtet, die ihren Zöglingen lediglich eine gewisse Allgemeinbildung vermitteln sollten.5 Die jeweils besten Schulabgänger erhielten als Kadetten eine weiterführende Ausbildung als Offiziersanwärter bei der Artillerie, im Ingenieurswesen oder bei der Marine, die nur mittelmäßig Begabten wurden der Infanterie zugewiesen, während jene, die selbst den geringen Anforderungen der Kavallerie nicht entsprachen, wieder in ihre Elternhäuser zurückkehren mussten. Militärischen Zuschnitt hatte diese Schulerziehung allenfalls den spartanischen Bedingungen nach: Die Schüler, die in engen, jeweils nur mit einer Bettstatt, einem Wasserkrug und einer Waschschüssel ausgestatteten Zellen untergebracht waren, wurden sommers wie winters um 6 Uhr geweckt. Nach einem sehr frugalen Frühstück – Brot, Wasser sowie einige Früchte –, das im Speisesaal eingenommen wurde, begann der Unterricht. In den Vormittagsstunden wurden Latein, Geschichte, Mathematik, Geographie, Zeichnen und Deutsch unterrichtet. Dann folgte eine zweistündige Mittagspause. Das Mittagessen, ebenfalls gemeinsam eingenommen, war etwas nahrhafter, wenngleich nicht minder eintönig: in der Regel eine Suppe, ein Stück gekochtes oder gebratenes Fleisch, Salat oder Gemüse und Dessert. Am Nachmittag gab es dann die «leichteren» Fächer wie Schönschrift, Fechten, Tanz und Musik. Die Speisenfolge des Abendessens glich der der Mittagstafel. Um 22 Uhr wurden alle Schüler in ihre Schlafzellen eingesperrt.

Diesem harten Regiment entsprach es auch, dass die Schüler nur in Ausnahmefällen – bei Tod oder schwerer Erkrankung eines Elternteils – Erlaubnis erhielten, die Schule kurzzeitig zu verlassen. Umgekehrt wurde kein Zweifel daran gelassen, dass Elternbesuche durchaus unerwünscht seien. Schulferien waren nicht vorgesehen. Lediglich zwischen dem 21. August und dem 8. September gab es keinen Unterricht. Stattdessen mussten die Schüler unter Führung ihrer Lehrer lange Ausflüge in das trübselige Umland unternehmen, dem einzig die Silhouette des Schlosses von Loménie de Brienne, auf einem Hügel unmittelbar hinter der Militärschule, eine gewisse Allüre gab.

Man kann sich unschwer ausmalen, welchen Einfluss diese von strikter Disziplin bestimmte Monotonie auf die charakterliche Bildung eines lebhaften, stolzen, leicht zu Zornesausbrüchen neigenden, einzelgängerischen Kindes hatte.6 Über seine fortgeschrittene Reife, eine Frucht der entbehrungsreichen Jahre in Brienne, gibt ein Brief Aufschluss, den Napoleon unmittelbar nach Abschluss dieser Schulzeit am 25. Juni 1784 an seinen Onkel Joseph Fesch schrieb: Charles Bonaparte war am 21. Juni in Begleitung seines Sohnes Lucien in Brienne eingetroffen, wo er ihm das durch Napoleons bevorstehenden Abgang frei werdende Stipendium verschafft hatte. Bei dieser Gelegenheit erzählte der Vater Napoleon von der finanziellen Misere, in der sich die Familie befand, und fügte hinzu, dass sich Bruder Joseph vom Priesterberuf abgewandt habe und nun ebenfalls eine militärische Karriere anstrebe. Dass der Bruder dafür aber alles andere als geeignet sei, lässt Napoleon den Onkel zunächst mit Argumenten wissen, die jene seines Vaters paraphrasieren: Joseph betrachte den Militärberuf nur unter dem Blickwinkel eines Garnisonsoffiziers. Für das gesellschaftliche Leben dieser Leute sei er gut geeignet, nicht aber für die kämpferischen Aspekte des Metiers. Dann folgen augenscheinlich Napoleons eigene Einwände gegen Josephs beabsichtigten Berufswechsel: «Er ist für den priesterlichen Stand ausgebildet worden. Es ist jetzt zu spät, dies noch bestreiten zu wollen. Der Bischof von Autun (ein Bruder des Comte de Marbeuf) hätte ihm eine üppige Pfründe verschafft und er konnte mit Gewissheit darauf rechnen, seinerseits Bischof zu werden. Welche Vorteile hätte dies für die Familie!» Trotz dieser vielversprechenden Aussichten beharre er jedem guten Rat zuwider darauf, eine Karriere zu beginnen, für die ihm alle notwendigen Talente fehlten. Wenn er zur Marine wolle, müsse er wenigstens zwei Jahre lang Mathematik pauken, von der er nichts verstehe. Außerdem neige er zur Seekrankheit. Entschiede er sich stattdessen für das Ingenieurwesen, dann brauche er mindestens vier bis fünf Jahre, um in die Anfangsgründe einzudringen, danach aber stünde er doch immer noch am Beginn einer Karriere. Außerdem wäre er gezwungen, den ganzen Tag zu arbeiten, ein Erfordernis, das sich mit seinem leichtsinnigen Charakter nie vereinbaren lasse. Entsprechendes gelte übrigens auch, wenn er die Laufbahn eines Artillerieoffiziers einschlagen wollte, selbst wenn hier die Ausbildungszeit bis zum untersten Offiziersgrad nur 36 Monate betrage. Bliebe also nur die Infanterie. Mit anderen Worten: «Er will den ganzen Tag mit Nichtstun verbringen, möchte von morgens bis abends nur Pflaster treten und, was noch schlimmer ist, was stellt ein kleiner Infanterieoffizier schon vor? Dreiviertel der Zeit ist er ein elendes Subjekt und das ist genau das, was weder mein lieber Vater, noch Sie, noch meine Mutter oder gar mein lieber Onkel, der Erzdiakon (Lucien) wollen, zumal er schon jetzt erste Anzeichen von Leichtfertigkeit und Verschwendung hat erkennen lassen.»7

In dieser erschreckend hellsichtigen und von kühler Pragmatik gekennzeichneten Analyse, die der noch nicht fünfzehnjährige Napoleon von seinem gerade ein Jahr älteren Bruder Joseph gibt, tritt einem nicht nur die Eifersucht auf den Erstgeborenen entgegen; es zeigen sich bereits wichtige Wesenszüge, die den späteren General, den Ersten Consul und schließlich den Kaiser charakterisieren werden. Dieser Fünfzehnjährige ist noch nicht erwachsen, aber sein Brief macht zwischen den Zeilen deutlich, dass er eine Verantwortung vor sich sieht, die ihn vor der Zeit als Mann fordern wird. Nie spricht er aus, dass er offenbar schon in diesen Jahren keine hohe Meinung von seinem allzu opportunistischen Vater hatte, der als rechter Hans Dampf, ewiger Projekteschmied und Prozesshansel das bescheidene Familienvermögen verschwendete. Umso größer war der Zorn auf Joseph, der als Ältester die Pflicht hatte, den Familienclan vor Bankrott und Schande zu bewahren, sich aber aus schierer Leichtfertigkeit dieser Verantwortung entzog. Schon jetzt, so beweist dieser Brief vor allem, war er bereit und willens, als Zweitgeborener die Pflichten des Erstgeborenen auf sich zu nehmen und für die Familie zu sorgen. Mit diesem Bündel verließ er im Oktober 1784 Brienne, langte gegen Ende des Monats in Paris an und trat als «cadet gentilhomme» in die École Militaire ein, die in dem dreizehn Jahre zuvor fertiggestellten Prachtbau am Champ de Mars untergebracht war.

Verglichen mit Brienne waren die Zustände hier auf den ersten Blick geradezu luxuriös. Um das Wohl und Wehe der 215 Kadetten kümmerten sich nicht nur dreißig Professoren und ein Bibliothekar, sondern auch Priester, Reitlehrer, Stall- und Pferdeknechte, Waffenschmiede, Ärzte und Pfleger, Pförtner und Wachpersonal, Lampenanzünder, Schuh- und Perückenmacher, Gärtner, Köche, Küchenhilfen und sonstige Dienerschaft.8 Die Kadetten bekamen zweimal im Jahr, am 1. Mai und am 1. November, eine eigene blaue Uniform mit rotem Kragen und weißen Handschuhen gestellt, wie sie auch an den Kadettenanstalten in der Provinz getragen wurde. Die Unterbringung entsprach dem frugalen Standard, der in Brienne gegolten hatte, weshalb sich Napoleons gegenüber Las Cases auf Sankt Helena gemachte Bemerkung wohl nur auf die Vielfalt und die Qualität der hier gereichten Speisen bezog: «In der École Militaire wurden wir ganz verschwenderisch ernährt und bedient, ja, man betrug sich uns gegenüber in jeder Hinsicht so wie man sich gegenüber Offizieren von großem Reichtum verhält, gewiss von größerem Vermögen, als die meisten unserer Familien vorzuweisen hatten und sicherlich weitaus mehr, als die meisten von uns später je würden aufweisen können.»9

Im übrigen war das schulische Regiment nicht weniger rigide als in Brienne – der Unterricht dauerte von sieben Uhr früh bis sieben Uhr abends. Zugleich aber waren die Leistungsanforderungen an der École Royale wesentlich höher: Der Stundenplan umfasste Mathematik, Geographie, Geschichte, französische Grammatik, Festungsbau, Zeichnen, Fechten und Tanzen. Außerdem wurden die Kadetten jeden Tag gedrillt, Schieß- und Geländeübungen gab es jeweils Donnerstags und Sonntags. Wie in Brienne lagen Napoleons Leistungen in Mathematik weit über dem Durchschnitt der meisten Mitschüler; auch war er ein begeisterter Fechter, während Zeichnen und Tanzen nicht zu seinen Stärken zählten. Laut Reglement erhielten die Kadetten grundsätzlich keine Genehmigung, die Anstalt für Ausflüge, beispielsweise nach Paris, zu verlassen, Zuwiderhandlungen wurden mit Haftstrafen geahndet.

Eben als Napoleon sich in der École Royale eingelebt hatte, starb Charles Bonaparte am 24. Februar 1785 in Montpellier an Magenkrebs. Die Todesnachricht erreichte den Sohn Anfang März, man darf aber bezweifeln, dass sie ihn besonders bewegt hat.10 Charakteristischerweise galt seine erste und einzige Sorge jetzt dem materiellen Wohlergehen der Mutter, die eine vielköpfige Familie versorgen musste. Joseph hatte unterdessen den väterlichen Wünschen entsprochen und in Pisa ein Jurastudium aufgenommen. Auch Lucien war von den Zuwendungen der Witwe abhängig. Er besuchte mittlerweile in Aix-en-Provence das Priesterseminar, während der siebenjährige Louis, die fünf Jahre alte Pauline, die dreijährige Caroline und der gerade ein Jahr alte Jérôme noch bei der Mutter in Ajaccio lebten. Außer für Napoleon war lediglich für seine Schwester Elisa gesorgt, die, ebenfalls auf Kosten des Königs, bei den Nonnen in St. Cyr bei Paris zur Schule ging. In einem Brief vom 28. März 1785 bat Napoleon seinen Großonkel, den Erzdiakon Lucien – dank seines Geizes der Einzige in der engeren Verwandtschalt, der über ein gewisses Vermögen verfügte – «die Stelle des Vaters einzunehmen, den wir verloren haben».11 Dass die Vormundschaft des geizigen Verwandten weder eine gute noch eine dauerhafte Lösung für die vielen Familienprobleme sein würde, war Napoleon bewusst. Aber solange er die École Militaire besuchte und über kein eigenes Einkommen aus einer Offiziersstelle verfügte, blieb ihm keine andere Wahl. Deshalb musste er so schnell wie möglich sein Studium in Paris beenden. Normalerweise dauerte es zwei Jahre, um das erforderliche Pensum zu bewältigen; nicht selten benötigten die Kadetten aber auch drei oder gar vier Jahre. Napoleon gelang dies in knapp einem Jahr: Als 42. von 58 Kandidaten bestand er im September 1785 die Offiziersprüfung. Am 30. Oktober verließ er Paris, um sich beim Artillerieregiment de la Fère zu melden, das im südfranzösischen Valence stationiert war. Dort sollte er im Rang eines Unterleutnants seinen Militärdienst antreten.12

Carlo Bonaparte

Letizia Bonaparte

Diese erste Garnisonszeit wird sich, abgesehen von der Ausbildung zum Artilleristen, kaum von den Jahren unterschieden haben, die er in Brienne oder Paris zugebrachte hatte. Jetzt freilich war er nicht mehr Mündel und Schüler zumeist inkompetenter Lehrer, sondern, zumindest in der reichlich bemessenen dienstfreien Zeit, Herr seiner eigenen Entschlüsse. Er versagte es sich aber, die ungewohnte Freiheit zu nutzen, ihm bislang unbekannte Seiten des Lebens zu erkunden, sich wie seine Kameraden den harmlosen Zerstreuungen einer Provinzstadt hinzugeben oder erste Frauenbekanntschaften zu machen. Der Grund für diese Askese lag weder in seiner Schüchternheit noch in seinem übersteigerten Lern- und Diensteifer. Es lag ihm vielmehr daran, so viel Geld wie irgend möglich von seinem schmalen Sold – alle Zulagen eingerechnet rund 920 Livres pro Jahr13 – für die in Ajaccio darbende Familie zu erübrigen. «Alle familiären Sorgen», so bekannte er später, «haben mir meine Jugendjahre verdorben; sie haben sich auf meine Stimmung ausgewirkt und mich vor der Zeit ernst werden lassen.»14 Dieser Ernst fand seinen Niederschlag in ersten literarischen Zeugnissen, die sich erhalten haben: etwa in einem Manuskript, das mit viel Pathos die jüngste Geschichte Korsikas und das Wirken Paolis beschwört, das aber vor allem zeigt, wie stark dieser Gegenstand seiner jugendlichen Träume ihn noch immer beschäftigte; außerdem ein seinem Lebensalter wie der grassierenden Werther-Mode geschuldetes larmoyantes Fragment über den Selbstmord und ein Aufsatz, in dem er eine gegen Rousseau veröffentlichte Schrift kritisiert und zurückweist.15

Alle diese Hervorbringungen sind nur deshalb von einigem Interesse, weil Napoleon sie geschrieben hat. Davon abgesehen sind es nur hastig hingeworfene, uninspiriert formulierte und wegen ihres «hohen Tons» und ständiger Wiederholungen ermüdende Nichtigkeiten, die als zwanghafter Zeitvertreib einer zwar gequälten, literarisch aber völlig untalentierten Seele erscheinen. Sein damaliges Befinden fasste Napoleon einmal in die Worte: «Selbst wenn ich nichts zu tun hatte, plagte mich der vage Gedanke, dass ich keine Zeit verlieren dürfe.»16 Damit beschrieb er eine Obsession, die seinen Charakter wie sein als verschlossen geschildertes Wesen umso mehr prägen musste, als er für sie weder ein Ventil noch ein Ziel hatte. «Welche Wut treibt mich, meine Selbstzerstörung zu wünschen? Was soll ich auf dieser Welt beginnen? Da ich nun einmal sterben muss, wäre es dann nicht besser, selber Hand an sich zu legen?», heißt es in dem Fragment über den Selbstmord. Gut, dass solche spätpubertäre Rhetorik selten die Folgen hat, die sie ankündigt. Von früh an in seinem Leben – das immerhin zeigen jene ersten literarischen Arbeiten – fühlte er sich vom amor fati getrieben, von dem Drang, dem eigenen Leben einen unverwechselbaren gestalterischen Sinn zu geben. In dieser ersten Zeit seines Garnisonsdienstes in Valence war für Napoleon nur noch nicht entschieden, welche Richtung er einschlagen solle – die künstlerisch-literarische oder die militärisch-politische –, damit dieser amor fati sich seinen Talenten entsprechend entfalten könne.

Dahinter verbarg sich eine ältere Ungewissheit, die sich jetzt mit neuem Ungestüm meldete: Verwies ihn seine Bestimmung auf Korsika oder auf Frankreich, sollte er sich als Korsen oder als Franzosen empfinden? Angesichts der Hänseleien seiner Schulgenossen in Brienne und auch abgestoßen von dem ihn tief befremdenden Adelsstolz seiner französischen Mitkadetten in Paris, hatte er sich in sein korsisches Heimatgefühl geflüchtet. Dass er aber Unterleutnant geworden war und in der Waffengattung seiner Wahl, der Artillerie, diente, das verdankte er allein Frankreich. Die militärische Karriere, die er so früh und so glücklich begonnen hatte und von der er später in seinem Leben, als ihm die große Wirkung seiner Selbststilisierung längst zur virtuos gehandhabten Gewohnheit geworden war, behauptete, er habe von Geburt an keine andere Wahl gehabt,17 ließ sich nur in und mit Frankreich realisieren. Solche Zweifel trugen erheblich dazu bei, sein damaliges Empfinden fiebriger Existenzungewissheit zu steigern. Erleichterung verschaffte ihm ein erster längerer Aufenthalt auf Korsika, wohin er im August 1786 nach fast achtjähriger Abwesenheit aufbrach.

Als Napoleon am 15. September 1786 in Ajaccio eintraf, sah er nicht nur zum ersten Mal die meisten seiner jüngeren Geschwister – lediglich Elisa war ihm vertraut, und Luciens Aufenthalt in Brienne hatte sich für einige Monate mit dem seinen überschnitten –, sondern ihn überfiel jetzt unmittelbar die materielle Misere, in der seine Mutter leben musste. Von den finanziellen Abenteuern Charles Bonapartes erwies sich vor allem eines als besonders schwerwiegend. Auf das Versprechen, staatliche Subventionen zu erlangen, hatte der Vater erhebliche Mittel in die Anlage einer Maulbeerbaumschule investiert, da auf Korsika eine Seidenraupenzucht in großem Stil aufgezogen werden sollte. Wegen der notorischen Finanzkrise des Ancien Régime blieben jedoch die Subventionen aus, und der schöne Plan einer korsischen Seidenproduktion löste sich in Luft auf. So blieb die angelegte Maulbeerbaumpflanzung nutz- und wertlos zurück, ihr Unterhalt aber war kostspielig. Noch in seiner letzten Lebensphase hatte Charles Bonaparte die Hoffnung nicht aufgegeben, die Pariser Regierung wenigstens zu einer angemessenen Entschädigung seiner Ausgaben zu bewegen. Diese Aufgabe fiel nun Napoleon zu. Bald stellte sich aber heraus, dass diese Angelegenheit in der Urlaubsfrist nicht zu lösen war. So kam er am 21. April 1787 mit Hinweis auf seinen angegriffenen Gesundheitszustand um deren Verlängerung für weitere fünf Monate bis zum 1. Dezember 1787 ein, die ihm anstandslos bewilligt wurde.18 Schließlich wurde ihm auf sein Bitten hin Urlaub bis zum 1. Juni 1788 gewährt. Das war erstaunlich, denn für gerade einmal zehn Monate Militärdienst wurde er damit alles in allem 21 Monate frei gestellt!

Nachdem der junge Bonaparte in Korsika vergeblich alle Fäden gezogen hatte, um die leidige Subventionsfrage der Maulbeerbaumschule zu klären, reiste er nach Paris, wo er Anfang Oktober 1787 eingetroffen sein dürfte, um hier in direkten Verhandlungen mit Regierungsstellen eine Lösung zu erreichen.19 Während dieses Aufenthalts erhielt er zum ersten Mal einen Eindruck von der Stadt und bandelte im Palais Royal, der Stätte des Vergnügens und der Ausschweifung,20 mit einer Prostituierten an, die dem Siebzehnjährigen die «Jungfräulichkeit» nahm. Es war für Napoleon ein Erlebnis mit gemischten Gefühlen, das keineswegs die sexuelle Erweckung bedeutete, von der in der «Beichte» die Rede ist, die er als guter Schüler seines damaligen Idols Rousseau einige Tage später niederschrieb.21 Charakteristischerweise nennt er darin Neugier und Mitleid als die Motive, die ihn dazu bewegt hätten, jenes Mädchen anzusprechen: «Ihre Schüchternheit machte mir Mut und ich sprach sie an … Ich sprach sie an, obwohl ich jemand bin, der mehr als jeder andere von der Verderbtheit ihres Tuns überzeugt ist, halte ich mich doch immer schon durch einen einzigen Blick für beschmutzt Aber ihr blasses Gesicht, ihre magere Gestalt, ihre zarte Stimme ließen mich nicht einen Augenblick zögern».22 Diese erste Begegnung mit dem anderen Geschlecht endete damit, dass Napoleon, der sich laut seiner «Beichte» nur über das Schicksal des Mädchens erkundigen wollte, der Verführte war. Bis zur Begegnung mit Joséphine de Beauharnais kam nur noch eine solche Erfahrung hinzu. Das war Désirée Clary, die Tochter eines reichen Kaufmanns, deren ältere Schwester Bruder Joseph geheiratet hatte. Ursache für diese Zurückhaltung Napoleons dürfte vor allem seine ausgesprochene Menschenscheu gewesen sein, die ihn ein Leben lang jegliche Intimität fürchten ließ. Später war es die große Stärke Joséphines, diese Scheu zu überwinden, die wohl daher rührte, dass er ein durch die Mutter geprägtes Bild von den Frauen hatte, denen er zeitlebens mit linkischem Respekt begegnete.23

Napoleons Demarchen wegen der Maulbeerbaumpflanzung blieben ebenso erfolglos wie die früheren Versuche des Vaters. Als er am Neujahrstag 1788 nach Ajaccio zurückkehrte, stellte sich daher die finanzielle Misere des Clans noch düsterer dar. Napoleon fiel nun endgültig die Rolle des Ernährers und Clanchefs zu, die ihm Joseph nicht streitig machen konnte oder wollte, zumal er erst im Frühsommer 1788 sein Jurastudium in Pisa beendete. Ende Mai 1788 verließ Napoleon Korsika, um sich zu seinem Regiment im burgundischen Auxonne zu begeben. Hier setzte er die ihm vertraute spartanische Lebensweise fort und mietete eine nur mit Bett, Schreibtisch und Lehnstuhl möblierte Kammer. Da die Dienstpflichten in Auxonne wesentlich geringer waren als in Valence, konnte er sich mit noch größerem Eifer als zuvor seinen Studien widmen. Welches Pensum er während der rund fünfzehn Monate in Auxonne durchackerte, darüber geben die 27 Notizhefte Aufschluss, die er in dieser Zeit mit Lektürefrüchten und eigenen Elaboraten füllte. Auxonne war gewissermaßen seine «Universität». Von morgens um 4 Uhr bis abends um 10 Uhr, unterbrochen nur von einem kargen Mahl, das er gegen 3 Uhr nachmittags einzunehmen pflegte,24 saß er über seinen Büchern, rastlos lesend, exzerpierend oder eigene Gedanken formulierend.

Anhand der Notizen lassen sich vier große Interessengebiete unterscheiden. Zunächst galt sein Augenmerk jenen militärtheoretischen Schriften der Zeitgenossen, die sich dem taktischen Einsatz der Artillerie widmeten und deren Kenntnis seiner eigenen Karriere in dieser Waffengattung von Vorteil sein konnte. Mit dem intensiven Studium der Werke von Gribeauval, Vallière, Surirey de Saint-Rémy, du Teil und Guibert erwarb er sich rasch ein Detailwissen,25 mit dem er seine Vorgesetzten verblüffte. Wesentlich umfangreicher waren die universalhistorischen, naturhistorischen oder geographischen Studien.26 Thematisch eng damit verwandt ist Napoleons Beschäftigung mit Werken und Aufsätzen zur damaligen politischen Situation Frankreichs.27 Sein andauerndes Interesse an Korsika bezeugt ein Notizheft, das unter dem Titel Nouvelle Corse ein merkwürdiges literarisches Fragment Napoleons enthält.28

Während seines Aufenthalts in Ajaccio hatte Napoleon umfangreiches Material für eine Geschichte der Insel gesammelt,29 mit deren Vorarbeiten er bereits in Valence begonnen hatte. Spätestens im Sommer 1788 scheint sein korsischer Patriotismus durch die Erlebnisse und Begegnungen auf der Heimatinsel neu entflammt zu sein. So verkehrte er damals freundschaftlich mit dem fast gleichaltrigen Advokaten und glühenden korsischen Nationalisten Carlo-Andrea Pozzo di Borgo,30 der wenig später sein Todfeind werden sollte und dessen Clan die Bonapartes nach korsischer Sitte vendetta schworen. Zum Vorschein kam dieser Patriotismus aber erst mit der Einberufung der Generalstände nach Versailles, die dem Ausbruch der Revolution unmittelbar vorausging und die Frankreich in einen Zustand fiebriger Erwartung stürzte. Napoleon wollte diese Gärung ausnutzen und durch eine flammende Schrift Öffentlichkeit wie Regierung auf das drückende Los seiner Landsleute hinweisen. Diese Absicht wird in dem berühmten Brief vom 12. Juni 1789 an den im Londoner Exil lebenden Paoli angedeutet: «General, ich wurde geboren, als das Vaterland unterging. Dreißigtausend Franzosen, die über unsere Küsten hereinbrachen, ertränkten den Thron der Freiheit in Strömen von Blut. Das war das schreckliche Schauspiel, das mir als erstes unter die Augen trat. – Die Schreie der Sterbenden, das Klagen der Unterdrückten, die Tränen der Verzweifelten umgaben meine Wiege seit meiner Geburt. – Sie verließen unsere Insel und mit Ihnen verschwand die Hoffnung jeglichen Glücks. Sklaverei war der Preis unserer Unterwerfung. Zerschmettert von dem dreifachen Joch des Militärs, des Gesetzgebers und des Steuereintreibers, leben unsere Landsleute ihr verachtetes Leben … verachtet von denen, die alle Macht der Herrschaft in Händen halten.»31 Napoleon erhielt weder eine Antwort Paolis auf dieses bereits vom Pathos der kommenden Revolution durchtränkte Schreiben, noch gelangte die angekündigte Schrift an die Öffentlichkeit.32

Die lange Inkubationszeit seines korsischen Patriotismus endete, als er im Sommer 1789 erneut zum Besuch seiner Heimat beurlaubt wurde. Am 9. September brach er auf. Über Valence und Lyon reiste er nach Marseille und machte dort dem abbé Raynal, dem Verfasser der von ihm bewunderten Histoire philosophique et politique des etablissements et du commerce des Européens dans les deux Indes, seine Aufwartung. Ende September traf er in Ajaccio ein. Nachrichten vom Geschehen bei der Versammlung der États Généraux in Versailles und vom Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 waren längst nach Korsika gelangt und hatten auch hier die Gemüter erregt. Dabei gerieten aber die politischen Fronten in eine für die Zustände auf der Insel typische Verwirrung. Persönliche, aber politisch kostümierte Interessen überkreuzten sich mit den Gegensätzen zwischen der kleinbäuerlichen Landbevölkerung und den grundbesitzenden Schichten, die zumeist in den kleinen Städten den Ton angaben.33 Traditionelle Clan-Rivalitäten und die mit der Revolution auftretenden weltanschaulichen Auseinandersetzungen machten das Bild noch diffuser. Schneller noch als in Frankreich sahen sich die royalistischen Kräfte von der überwältigenden Mehrheit der Revolutionsanhänger zurückgedrängt, auch wenn erst nach und nach klar wurde, dass höchst unterschiedliche Ziele verfolgt wurden. Nach französischem Vorbild wurde auf der Insel eine Konstituierende Versammlung einberufen, nach deren erstem Beschluss Korsika künftig nicht mehr als erobertes Land, sondern als integraler Bestandteil Frankreichs zu gelten habe. Im Februar 1790 verabschiedete dieselbe Versammlung eine Amnestie für Paoli und forderte den Rebellen zur Rückkehr aus seinem Londoner Exil auf.

Beide Beschlüsse waren unmittelbar aufeinander bezogen: der zweite gibt einen klaren Hinweis darauf, worauf der erste zielte: Paoli, so die Überlegung vieler, zu denen man auch Napoleon rechnen darf, der sich schon in die Rolle eines jungen «Leutnants» des alten korsischen Freiheitshelden hineinträumte, sollte Chef eines innerhalb des französischen Staatsverbands weitgehend autonomen Korsika werden. In welcher Exaltation Napoleon damals gewesen sein muss, lässt ein Text ahnen, den er zwei Jahre zuvor während seines Aufenthalts in Paris zu Papier gebracht hatte: Sur l’amour de la Patrie.34 Dieses inhaltlich belanglose Fragment, das antike, besonders spartanische Größe rhapsodisch besingt, ist nur bemerkenswert wegen der Abschätzigkeit, mit der Frankreich bedacht wird. Ohne es bei Namen zu nennen, heißt es gleich anfangs: «Was wenigstens außer allem Zweifel steht, ist die Tatsache, dass ein Volk, das nur der Galanterie verfallen ist, selbst jene Kraft verloren hat, die es braucht, um zu erkennen, dass es so etwas wie einen Patrioten geben könne.»

Die politische Gleichstellung Korsikas mit den anderen französischen Provinzen, für deren Belange Napoleon sich sofort heftig engagierte, fand ihren einflussreichen korsischen Widersacher im Comte de Buttafoco.35 Buttafoco war es gewesen, der Rousseau 1764 aufgefordert hatte, für Korsika eine Verfassung zu entwerfen. Das hatte damals einiges Aufsehen erregt und dem Comte den Anstrich eines korsischen Patrioten verschafft. Paoli ernannte ihn zu seinem Bevollmächtigten bei den Verhandlungen mit Frankreich, die Buttafoco veranlassten, im glatten Widerspruch zu seinen Instruktionen dem Duc de Choiseul eine Annexion der Insel nahe zu legen. Dieser Verrat machte ihn zur bête noire der korsischen Patrioten, die dennoch nicht verhindern konnten, dass Buttafoco als Vertreter des korsischen Adels im Juni 1789 zur Versammlung der Generalstände nach Versailles entsandt wurde. Hier gelang es ihm, auch den Deputierten des Inselklerus, abbé Peretti, für seine pro-französischen Ansichten zu gewinnen, während die beiden Abgeordneten des Dritten Standes von Korsika, Salicetti und der Comte Colonna de Cesari Rocca, ein Neffe Paolis, die Linie der korsischen Patrioten vertraten.

Die politischen Gegensätze zwischen den korsischen Deputierten wirkten sich auf der Versammlung der Generalstände besonders nachhaltig aus, da man in Versailles mit weitaus wichtigeren Dingen beschäftigt war als dem künftigen Status von Korsika. Den beiden Vertretern des Dritten Standes der Insel war ein Projekt mitgegeben worden, das ein gewähltes Komitee ausgearbeitet hatte: die Assemblée d’État, die eine Autonomie im Sinne der korsischen Patrioten vorsah. Der französische Kommandant der Insel hatte daraufhin eine Versammlung mobilisiert, die einen gegenteiligen Beschluss verabschiedete. So stand es, als Napoleon in Ajaccio erschien. Er stürzte sich mit seinem Bruder Joseph unverzüglich in den Meinungskampf, predigte den Bürgern der Stadt das Evangelium der dreifarbigen Kokarde und agitierte sowohl für die Einrichtung eines politischen Clubs wie für die Aufstellung einer Nationalgarde – Aktivitäten, die weder dem französischen Militärgouverneur gefallen konnten noch sich mit Napoleons Stellung als Offizier der französischen Armee vereinbaren ließen. Angesichts der freudigen Erregung, seiner Rastlosigkeit endlich ein Ziel geben zu können, wird das dem jungen Mann ziemlich gleichgültig gewesen sein. Es kam, wie es kommen musste: Französische Truppen wurden nach Ajaccio verlegt, der Belagerungszustand wurde über die Stadt verhängt, der Club verboten und die Nationalgarde aufgelöst.36

Angesichts dieser Entwicklung behielten Napoleon und seine Mitstreiter erstaunlicherweise kühlen Kopf. Die Kräfteverhältnisse waren zu eindeutig verteilt, einen Bürgerkrieg der Patrioten gegen die frankreichtreuen Korsen hätten letztere leicht für sich entschieden. Als Ausweg bot sich an, den Nachweis zu liefern, dass nicht die Patrioten, sondern die mit dem Militärgouverneur verbündeten korsischen Royalisten illegal gehandelt hatten. Diesem Zweck diente eine von Napoleon redigierte Adresse, die den in Versailles tagenden und mittlerweile als Nationalversammlung firmierenden vormaligen États Généraux zugesandt werden sollte. Um seine Hauptverantwortung für dieses Schriftstück richtig zur Geltung zu bringen, unterschrieb Napoleon als erster: «Buonaparte, officier d’artillerie». Der Eröffnungssatz glich einer Kanonensalve: «Sobald die Machthaber sich eine Autorität anmaßen, die im Widerspruch zum Gesetz steht, sobald Abgeordnete ohne Mandat für sich in Anspruch nehmen, im Namen des Volkes zu handeln, wenn sie sich gegen dessen Ansichten aussprechen, dann ist es den Einzelnen erlaubt, sich zu versammeln, Widerspruch einzulegen und auf diese Weise der Unterdrückung Widerstand entgegen zu setzen.»37 Sodann wird der anhängige Konflikt in extenso erläutert und die Versammlung aufgefordert, die Wünsche der korsischen Patrioten durch einen entsprechenden Beschluss zu unterstützen. Um dieser Demarche den in revolutionären Zeiten unerlässlichen Effekt zu geben, wurde ihre Verabschiedung in Bastia mit einem kleinen Volksaufstand gegen Barrin, den Intendanten der französischen Zivilverwaltung, garniert, bei dem Napoleon vermutlich seine Hand im Spiel hatte. Der Intendant ließ Soldaten aufmarschieren, Schüsse fielen und Patriotenblut floss. Diese Vorgänge verfehlten, sobald sie in Versailles bekannt wurden, nicht die beabsichtigte Wirkung. Auf Antrag des Abgeordneten Salicetti, der dabei von dem Philosophen Volney, einem der Sekretäre der Versammlung, unterstützt wurde, beschloss die Konstituante, Korsika den übrigen französischen Provinzen in allen Belangen, Rechten und Pflichten gleichzustellen. Außerdem wurde für alle Anhänger Paolis und ihn selbst eine Amnestie verkündet.

Das war ein bemerkenswerter Erfolg für die Sache der korsischen Patrioten, die die überwältigende Mehrheit der Inselbevölkerung stellten. Dass Napoleon an dieser «Befreiung» Korsikas durch Frankreich einen erheblichen Anteil hatte, war um so mehr geeignet, seinen politisch-patriotischen Enthusiasmus zu erhitzen, als er sich gleichzeitig damit vom Verdacht der Illoyalität reinigen konnte. Das änderte gleichwohl nichts daran, dass er sich in der Folgezeit durch den Eifer, mit dem er die pünktliche Umsetzung dieses Beschlusses der Nationalversammlung einforderte, bei den französischen Inselbehörden denkbar unbeliebt machte. So schrieb der Kommandant von Ajaccio, La Féraudière, am 26. Dezember 1789 an den Kriegsminister in Paris: «Dieser junge Offizier wurde an der École Militaire erzogen, seine Schwester ist in Saint-Cyr und seine Mutter wurde mit Wohltaten der Regierung förmlich überschüttet; er wäre besser bei seinem Regiment aufgehoben, denn hier sorgt er ohne Unterlass für Unruhe.»38 Tatsächlich war Napoleon damit beschäftigt, seinem Clan in Ajaccio eine politische Basis zu schaffen. Die bevorstehenden Kommunalwahlen lieferten dafür den willkommenen Vorwand. Der zu wählende Stadtrat sollte vorzüglich aus Freunden und Anhängern des Bonaparte-Clans bestehen. Es gelang, einen seiner Neffen auf den Stuhl des Bürgermeisters zu setzen, während Bruder Joseph zum Stadtverordneten gewählt wurde. Er selbst beschied sich damit, einfaches Mitglied der Nationalgarde zu werden. Auch so konnte er die weitere Entwicklung beeinflussen, musste doch sicher gestellt werden, dass das als nächstes zu wählende Direktorium des Departements mit korsischen «Patrioten» besetzt wurde. Im übrigen galt es abzuwarten, bis Paoli aus seinem Exil zurückgekehrt war und die Führung Korsikas übernahm.39

Unterdessen neigte sich Napoleons Beurlaubung ihrem Ende zu. Er bat deshalb am 16. April 1790 um Verlängerung von vier Monaten bis zum 15. Oktober, die ihm auch umstandslos gewährt wurde.40 Bis zum Eintreffen Paolis arbeitete er weiter emsig daran, die politische Position seines Clans in Ajaccio zu festigen. Diesem Zweck diente u.a. die Vorbereitung einer Versammlung der korsischen Wahlmänner für den September in Orezza, auf der sich Joseph und Onkel Fesch als Kandidaten des Wahlkreises von Ajaccio für die künftige Gesetzgebende Versammlung Korsikas vorstellen sollten. Alles weitere würde jedoch von der Unterstützung Paolis, des babbo, abhängen. Kaum hatte der am 17. Juli in Maginajo korsischen Boden betreten, trafen Joseph und Napoleon mit ihm in Ponte-Novo zusammen.41

Leider gibt es keinen Bericht darüber, was bei dieser ersten Begegnung zwischen dem Idol und seinem glühenden Bewunderer gesprochen wurde. Vermutlich blieb der babbo sehr reserviert gegenüber den beiden «Söhnen von Charles». Vor allem Napoleon trat er mit erheblichem Misstrauen gegenüber. Napoleon blieb diese Kälte nicht verborgen. Er setzte deshalb alles daran, Paoli von seinen lauteren Absichten zu überzeugen und ihn für sich zu gewinnen. Wie die weitere, gut dokumentierte Entwicklung ihrer Beziehung zeigt, haben alle Anstrengungen jedoch nichts gefruchtet. Er konnte sich damals noch keine plausible Alternative zu seiner Selbstverwirklichung im korsischen Patriotismus vorstellen, weshalb er auf die Anerkennung des babbo angewiesen blieb.

Die Versammlung von Orezza zwischen dem 9. und 27. September 1790 machte die neuen Machtverhältnisse auf der Insel deutlich: Paoli wurde zum gleichsam unumschränkten Herrscher Korsikas bestellt. Dass ihn die Bonapartes dabei unterstützten, änderte nichts daran, dass Josephs Ehrgeiz, eines der vier Mitglieder des Départementaldirektoriums zu werden, enttäuscht wurde; dessen Plätze erhielten ausnahmslos Vertraute des babbo, während Joseph sich noch glücklich schätzen durfte, wenigstens ins Direktorium des Distrikts von Ajaccio gewählt zu werden.42 Die Bonapartes wurden von den anderen Clans, die sich seit je um Paoli geschart hatten, auf Distanz gehalten. Die Absicht war jedem Kenner der korsischen Verhältnisse klar: Während man mit Lippenbekenntnissen seine unverbrüchliche Anhänglichkeit an die neuen, durch die Revolution in Frankreich geschaffenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse versicherte, konnte man umso ungestörter daran arbeiten, die Insel nach den eigenen Interessen und ganz im Geist der alten patriarchalischen Ordnung zu organisieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Paoli und seine Anhänger in einen unüberbrückbaren Gegensatz zum neuen Frankreich geraten würden, dem der babbo ohnehin mit kaum verhüllter Abneigung begegnete.43

Napoleon blieb in seinem Irrtum befangen. Einerseits versuchte er beharrlich, die Gunst des babbo zu erlangen; andererseits schloss er sich den korsischen «Jakobinern», den enragierten Revolutionsfreunden, an, deren stärkstes Band der gemeinsame Hass auf den als «antipatriotisch» geltenden Abgeordneten Buttafoco war. Napoleon gab diesem Hass in einem Brief Ausdruck, den er im Club zu Ajaccio unter dem Jubel der Anwesenden vorlas.44 Diese drängten ihn dazu, das Schreiben drucken zu lassen, um dessen Verbreitung zu gewährleisten. Am 14. März 1791, inzwischen nach Auxonne zurückgekehrt, schickte er gleich mehrere Exemplare an Paoli. Die Antwort des babbo muss ihn tief getroffen haben. «Machen Sie sich nicht die Mühe, die Machenschaften eines Buttafuoco (sie) aufdecken zu wollen. Dieser Mann kann von einem Volk nicht geachtet werden, das seit je die Ehre geschätzt und das augenblicklich seine Freiheit wiedererlangt hat. Allein seinen Namen genannt zu sehen, wird ihm ein Vergnügen bereiten. Er kann auf keinen anderen Ruhm mehr hoffen, als auf den, nach dem der Brandstifter des Tempels von Ephesos strebte. (…) Überlassen Sie ihn getrost der öffentlichen Verachtung oder Gleichgültigkeit.»45

Selbst diese fast beleidigende Abfuhr brachte Napoleon nicht zur Einsicht, dass er sich mit seinem korsischen Engagement in eine Sackgasse verrannt hatte. So leckte er seine Wunden und hoffte auf die Zukunft. Tatsächlich hatte er auch keine andere Wahl, denn um seine Mutter zu entlasten, hatte er seinen dreizehnjährigen Bruder Louis mit nach Auxonne genommen. Die Gegenwart des kleinen Bruders schränkte seine ohnehin bescheidenen Lebensumstände noch mehr ein. Von 93 livres Monatssold musste die Miete für zwei primitive Kammern, Essen und Kleidung bezahlt werden. Als Napoleon im Juni 1791 zum Leutnant befördert wurde, stieg sein Monatssold zwar auf 100 livres, aber diese Zulage wurde von den Ausgaben für eine neue Uniform mehr als aufgebraucht. Damals machte er zum ersten Mal Schulden.46

Als Leutnant wurde Napoleon zu einem anderen Regiment versetzt, das im schon vertrauten Valence stationiert war. Neben seinen gewohnten Lektüren und Schreibarbeiten frequentierte der junge Offizier jetzt auch die Sitzungen der hier ansässigen Société des amis de la Constitution. Aufschlussreich für seine politischen Ansichten ist vor allem ein Essay, den er als Antwort auf die von der Akademie von Lyon gestellte Preisfrage Déterminer les vérités et les sentiments qu’il importe le plus d’inculquer aux hommes pour leur bonheur schrieb. Der Essay ist ein nicht ungeschicktes Potpourri seiner gesammelten einschlägigen Lesefrüchte aus den Schriften Rousseaus, Mablys oder des Dramatikers Raynal mit einer Hommage an Paoli, der als das Muster eines vorbildlichen Menschenfreundes und weisen Staatsmanns gezeichnet wird. Insgesamt jedoch vermittelt der Text einen eher vagen Eindruck, nach welchen Grundsätzen eine Gesellschaft verfasst sein müsse, um allen ihren Mitgliedern gleichermaßen Glück zu gewährleisten.47

Seine Einstellung zum tagespolitischen Geschehen – die gescheiterte Flucht des Königs war damals das vieldiskutierte Ereignis – gibt ein Brief viel besser wieder, den er am 27. Juli 1791 an seinen Freund, den Kriegskommissar Naudin, schrieb: «Was die gekrönten Häupter (Europas) anbelangt, die nur Pferde lenken können, so verstehen diese den Zusammenhang der Verfassung überhaupt nicht, weshalb sie sich in deren Verachtung flüchten. Sie sind überzeugt davon, dass dieses Chaos unvereinbarer Ideen den Untergang Frankreichs heraufbeschwören wird … So, wie sie diese die Dinge auffassen, möchte man glauben, dass unsere aufrechten Patrioten sich gegenseitig erwürgen wollen, mit ihrem Blut die Erde von den Verbrechen, die gegen die Könige begangen wurden, reinigen und anschließend ihre Häupter tiefer denn je vor dem mit Mitra geschmückten Despoten, dem klösterlichen Fakir und vor allem dem Briganten aus Pergament beugen. Deshalb hüten sie sich sehr wohl, irgendeine Bewegung zu machen. Sie lauern nur auf den Ausbruch eines Bürgerkriegs, der ihrer Ansicht wie jener ihrer einfältigen Minister zufolge, unweigerlich kommen muss.»48

Dieser Brief, in dem sich Napoleon zu einem Jakobinismus à la française bekennt, ist noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Als er ihn schrieb, wollte er sich längst wieder beurlauben lassen und nach Korsika eilen, wo die Wahlen für die Assemblée Législative, für die Bruder Joseph kandidieren sollte, stattfanden. Sowohl um die Wahl Josephs sicherzustellen, als auch um seine Träume zu realisieren, musste er sich zuvor mit Paoli arrangieren. Sein Gesuch auf einen halbjährigen Urlaub wurde nach anfänglichen Schwierigkeiten schließlich genehmigt, und so reiste er Anfang September 1791 ein weiteres Mal nach Korsika, diesmal entschlossener denn je, dem eigenen Clan in der innenpolitischen Szene der Insel politische Geltung zu verschaffen.

Als Napoleon in Korsika eintraf, hatte der babbo schon alles geregelt. Napoleon wurde nur noch Zeuge, wie Joseph bei den Wahlen durchfiel. Entsprechend den Wünschen Paolis gewannen die Vertreter zweier Clans von unbedingter Loyalität: Pozzo di Borgo und Peraldi, der von Paoli eingesetzte Chef der korsischen Nationalgarde.49 Paoli war aber gerissen genug, die Buonapartes nicht gänzlich vor den Kopf zu stoßen. Joseph wurde damit getröstet, dass er in den Conseil Général der Insel gewählt wurde und auch einen der vier Sitze im Direktorium des Départements erhielt;50 ein Jahr zuvor war ihm das noch verwehrt worden. Es ist sehr fraglich, ob Napoleon damals die herrschenden Machtverhältnisse durchschaute. Wahrscheinlich gab er Joseph, den er für antriebslos, ungeschickt und mittelmäßig hielt, alle Schuld. Dieser hatte es offenbar sträflich versäumt, sich die Achtung und die Zuneigung des babbo zu erwerben. Alles Gelingen, mochte Napoleon wähnen, war nur von seinem eigenen Tun und Wollen abhängig, eine Überzeugung, in der ihn die Mutter nach Kräften bestärkte. Für sie war er der Einzige ihrer Söhne, der das Ideal eines Mannes erfüllte. Von einem Freund der Familie ist die Bemerkung überliefert: «Ein Wort Napoleons war ein Befehl für die ganze Familie Bonaparte.»51 Zweifellos hat sich Napoleon, nachdem Joseph erneut mit seinen politischen Ambitionen gescheitert war, endgültig als der Chef des Clans durchgesetzt.

Der Tod seines Großonkels, des Erzdiakons Lucien, am 16. Oktober 1791 musste seinen korsischen Illusionen neue Nahrung geben. Der alte Geizkragen, als den ihn Napoleon immer darstellte, vermachte dem Clan sein beträchtliches Vermögen und ermöglichte Napoleon damit, seinem Geltungsdrang durch Bestechungszahlungen erfolgreich Nachdruck zu verschaffen.52 Jetzt gelüstete es ihn nach dem Kommando über die Nationalgarde von Ajaccio. Ob sich eine solche Verwendung im Rang eines Majors mit seiner Dienststellung als Artillerieleutnant vereinbaren ließe, wurde auf entsprechende Anfrage hin vom Pariser Kriegsministerium im Dezember 1791 positiv beschieden. Endlich schien die ersehnte Karriere in Korsika ihren Anfang zu nehmen. Am 17. Februar 1792 schrieb er an den für sein Regiment zuständigen Kriegskommissar Sucy: «Nicht zu überwindende Umstände haben mich gezwungen, in Korsika länger zu bleiben, als mir dies meine Dienstpflichten gestatteten. Ich weiß darum, habe mir aber dennoch deswegen keinen Vorwurf zu machen. Heiligere und mir sehr liebe Pflichten rechtfertigen mich.»53 In einem zweiten Brief an Sucy heißt es: «In schwierigen Umständen ist es ein Ehrenposten für einen guten Korsen, in seinem Land zu sein. (…) Um deshalb nicht meine dienstlichen Pflichten zu verletzen, gehe ich mit dem Gedanken um, meine Entlassung zu erbitten. Unterdessen jedoch hat mir der Oberkommandierende des Départements ein mezzo termine (einen Kompromiss) vorgeschlagen, der gestattet, beides miteinander zu vereinbaren, indem er mir den Posten eines Major-Stellvertreters in einem der Freiwilligen-Bataillone anbot.»54

Diese Äußerungen belegen, wie stark der «Korsika-Komplex» Napoleons Entscheidungen nach wie vor beeinflusste. Das stellt seinen Biographen vor ein Rätsel, zumal die Revolution, als deren Anhänger er sich in Wort und Schrift auswies, längst einen Prozess angestoßen hatte, der Frankreich gründlich veränderte. Seit Jahrhunderten bestehende gesellschaftliche Barrieren waren beseitigt worden, und es bestimmten nicht mehr Herkunft oder Stand das Lebensschicksal der Menschen; als ausschlaggebend dafür galten jetzt vielmehr Eignung und Talent, Mut und Durchsetzungsfähigkeit. Zugegeben, solche Perspektiven als kleiner, in armseligen Verhältnissen in einer Provinzgarnison lebender zweiundzwanzigjähriger Leutnant zu überschauen, hieße selbst von einem Napoleon zuviel zu verlangen. Aber eine Ahnung von Aufbruch hätte ihn schon anwandeln können. Es wird ihm kaum verborgen geblieben sein, dass viele seiner adeligen Offizierskameraden, insbesondere die, welche höhere Ränge inne hatten, vor diesen Entwicklungen flohen und ins Exil gingen. Das musste seine Aufstiegschancen enorm verbessern. Da der Ausbruch eines großen Krieges immer wahrscheinlicher wurde, wuchs auch die Aussicht, seine militärischen Talente entfalten zu können.

 

Warum also Korsika? Sollte er partout nicht wahrgenommen haben, dass das Leben auf dieser Insel nur äußerlich von den revolutionären Entwicklungen in Frankreich tangiert worden war? Dass hier manches bloß nachgeäfft, das große Pariser Spektakel lediglich von einer Laienspielschar in Bastia oder Ajaccio aufgeführt wurde, hier zwar auch Volksversammlungen stattfanden, Repräsentativorgane gewählt, Revolutionsclubs eingerichtet und Nationalgarden aufgestellt wurden, aber dass gleichzeitig die Bühne, auf der dieses Theaterstück stattfand, noch immer der alte Sumpf korsischer Intrigen und Familienfeindschaften war, dass der jahrhundertealte Filz von Macht und Nepotismus, von kleinbäuerlichem Hass und Neid sich unverändert behauptete? Was vernebelte ihm die Sinne derart, dass er die armseligen korsischen Hirten mit dem Staatsvolk von Sparta oder Athen verglich, den misstrauischen, machtgeilen und eitlen Greis Paoli in den Rang eines antiken Staatsmanns erhob?

Es gibt auf diese Fragen nicht die eine Antwort, sondern lediglich Vermutungen. Einflussreich war gewiss seine frühe, begeisterte Lektüre Rousseaus, die jene Kinderträume überformte und prägte, in die sich der Knabe in der kalten Zelle zu Brienne geflüchtet und in denen er sich eine strahlende Heldenrolle in der korsischen Heimat ausgemalt hatte. Das waren Vorstellungswelten, aus denen er die Kraft zog, den frühen Entbehrungen und Bedrängnissen zu trotzen. Eine stärkere Wirkung noch hatte womöglich die Mutter, diese überaus energische Persönlichkeit, neben der die Erinnerung an den früh verstorbenen, glück- und erfolglosen Vater verblasste. Fasste Leutnant Bonaparte die besonderen Lebensumstände seines Clans – die junge Witwe war auch die Mutter von vier Kindern, die noch an ihren Rockschößen hingen – nüchtern ins Auge, dann musste er sich sagen: Nulla salus extra Corsicam. Sowohl seine eigenen armseligen Lebensumstände wie die seiner Familie, die sich zwar durch das Erbe des Erzdiakons Lucien etwas verbesserten, ließen ihm letztlich keine andere Wahl, als das eigene und das familiäre Heil in Ajaccio zu suchen. Das alles vermag jene korsische Borniertheit zu erklären, in der Napoleon so lange befangen war.

 

Napoleons Freistellung vom Regimentsdienst zugunsten seines Wunsches, als major-adjoint die Nationalgarde von Ajaccio zu befehligen, geschah allzu voreilig, denn am 3. Februar 1792 erhielt ein Dekret der Nationalversammlung Gesetzeskraft, das es allen Offizieren der regulären Armee untersagte, in Freiwilligenbataillone einzutreten. Alle, die diesen Schritt schon getan hatten, mussten ihn rückgängig machen und sich bis spätestens 1. April bei ihren Einheiten einfinden. Ausgenommen davon waren Offiziere, die zu lieutenants-colonels der Nationalgarden gewählt waren.55 Napoleon setzte nun alles daran, in diesen Rang zu gelangen, was ihm nach mancherlei Auseinandersetzungen und vermutlich mit Hilfe von Bestechungen auch glückte.56

Damit, so schien es, war alles nach seinen Wünschen geregelt: Er konnte für unbestimmt lange Zeit in Korsika bleiben und sich in Ajaccio dank seiner Kommandostellung bei der Nationalgarde in aller Ruhe eine Machtbasis aufbauen. Im Zusammenspiel mit Joseph und gedeckt durch das endlich errungene Wohlwollen Paolis würde sich sein Clan nun entfalten können. Diese Hoffnungen scheiterten aber rasch; schlimmer noch, Napoleon sah sich mit einem Mal in einer Situation, bei der alles auf dem Spiel stand. Der Grund waren Unruhen, die in Ajaccio am Ostersonntag, den 8. April 1792, ausbrachen und bis zum 12. April andauerten. Diese Unruhen, bei denen die rivalisierenden Interessengruppen Korsikas in einen blutigen Konflikt gerieten und ein Offizier der Nationalgarden, mehrere Soldaten der regulären Armee, ein Priester, Frauen und Kinder zu Tode kamen, lieferten den zahlreichen Feinden des Bonaparte-Clans einen willkommenen Vorwand, den lieutenant-colonel Napoleon Bonaparte zum alleinigen Sündenbock zu stempeln und dessen Karriere gründlich zu ruinieren.57 Die Affäre machte besonders heikel, dass die Pozzo di Borgo und Peraldi, die nicht nur von Paoli unterstützt wurden, sondern auch in der Nationalversammlung nicht ohne Einfluss waren, die Nachricht nach Paris trugen, wo die Klärung beim Kriegsministerium anhängig war.58 Gelang es ihnen, sich mit ihrer Version des Konfliktverlaufs durchzusetzen, dann verlor Napoleon nicht nur seinen Posten bei der Nationalgarde von Ajaccio, es drohte ihm auch ein Kriegsgerichtsverfahren, das kaum anders als mit seiner Entlassung aus der regulären Armee enden konnte. Der Hauptvorwurf gegen ihn lautete, dass er dem Bataillon der Nationalgarde von Ajaccio im Verlauf jener Unruhen befohlen habe, die regulären königlichen Truppen, die in der Zitadelle stationiert waren, anzugreifen.

Da über diese Angelegenheit in Paris entschieden wurde, musste Napoleon in aller Eile dorthin aufbrechen, um dem Ministerium seine Sicht der Ereignisse vorzutragen. Als er am 28. Mai 1792 ankam, führte er zwei umfangreiche Schriftstücke mit sich, mit denen er die Vorwürfe zu widerlegen suchte. Es handelte sich einmal um den offiziellen Untersuchungsbericht über die Osterunruhen, der vom Direktorium des Départments Korsika erstellt worden war.59 Das andere Dokument hatte Napoleon selbst unter der Überschrift Mémoire justificatif du bataillon des volontaires sur l’emeute du mois d’avril verfasst.60 Dank dieser beiden Zeugnisse sowie im Vertrauen auf die Unterstützung durch die anderen korsischen Repräsentanten in der Nationalversammlung, Arena, Pietri und Leonetti, die den Einfluss seines Feindes Peraldi neutralisierten, wiegte er sich in der Gewissheit, die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen entkräften zu können.61

Sehr viel schwieriger würde es werden, nicht nur seine unerlaubte Entfernung von der Truppe nachträglich zu rechtfertigen, sondern auch seinen deswegen bereits vollzogenen Regimentsausschluss rückgängig zu machen.62 Napoleons Beurlaubung war Ende 1791 abgelaufen, ohne dass er sich um Verlängerung bemüht hätte.63 Aber er hatte Glück. Vermutlich profitierte er davon, dass es wegen der Emigrationswelle in der regulären Armee an fähigen Artillerieoffizieren mangelte. Unter der Bedingung, sofort seinen Dienst in der korsischen Nationalgarde zu beenden, wurde ihm die Beförderung zum Hauptmann rückwirkend vom 6. Februar 1792 einschließlich der seither angefallenen Soldzahlungen in Aussicht gestellt. Dieses großzügige Angebot akzeptierte Napoleon auf der Stelle. Er blieb aber noch bis zur Ausstellung seines Hauptmannspatents am 30. August 1792 in Paris.

Napoleons Pariser Aufenthalt fällt in jene Wochen und Monate, in denen die Französische Revolution sich immer rascher radikalisierte und von ihren anfänglichen Idealen abwandte. Welche Eindrücke ihm dies vermittelte, darüber hat er sich nur sparsam und spät geäußert.64 Dennoch wird ihn das wüste Geschehen nicht unbeteiligt gelassen haben. Kaum in Paris angekommen, war er am 29. Mai 1792 in den Manège-Saal der Tuilerien geeilt, wo die Gesetzgebende Versammlung tagte.65 Damit wohnte er ausgerechnet jener langen, von sieben Uhr abends bis vier Uhr morgens währenden und immer wieder von Tumulten unterbrochenen Sitzung bei, in deren Verlauf dem König die garde constitutionelle per Dekret genommen wurde. Damit war Louis XVI künftig jeglichem Unmut des peuple de Paris schutzlos ausgeliefert. Diese Sitzung hat Napoleon nirgends kommentiert; stattdessen gibt er eine ziemlich unbeteiligte Schilderung der Geschehnisse vom 20. Juni. In einem Brief vom 22. Juni an seinen Bruder Joseph schreibt er: «Die Jakobiner sind Narren, denen jeglicher Verstand abgeht. Vorgestern ist eine Menge von sieben oder acht Tausend, die mit Piken, Beilen, Schwertern, Flinten, Spießen und spitzigen Stöcken bewaffnet waren, zur Assemblee gezogen, um eine Petition zu übergeben. Von dort sind sie zum König gegangen. Der Garten der Tuilerien war verschlossen und wurde von fünfzehntausend Nationalgardisten bewacht. Die Menge hat die Tore gewaltsam geöffnet, ist in das Palais eingedrungen, hat Kanonen gegen die königlichen Gemächer gerichtet, hat weitere vier Türen aufgebrochen, dem König zwei Kokarden angeboten, die eine von weißer Farbe und die andere mit den Farben der Trikolore. Sie haben ihm dann die Wahl gelassen. So wähle doch, haben sie ihm gesagt, ob du hier herrschen willst oder in Koblenz (Koblenz war damals der Hauptsitz der französischen Emigration, J.W). Der König hat sich gut verhalten. Er hat sich die rote Mütze aufgesetzt. Die Königin und der Kronprinz haben dies auch getan. Man hat dem König zu trinken gegeben. Die Menge blieb vier Stunden im Palais. Das Geschehen hat reichlich Stoff für aristokratische Erklärungen in den Feuillantins gegeben. Gleichwohl kann als ausgemacht gelten, dass das ganze ein verfassungsfeindliches und sehr gefährliches Beispiel ist. Sehr schwer vorherzusehen, was aus dem Königreich angesichts derart stürmischer Umstände wird.»66

Als knapp zwei Monate später, am 10. August 1792, ein entfesselter Mob hunderte der Schweizer Garden, die Louis XVI schützen sollten, niedermetzelte und die Toten im Blutrausch grausam verstümmelte, war Napoleon ebenfalls Augenzeuge. Auf Sankt Helena hat er seine damaligen Eindrücke geschildert.67 Im Sommer 1792 hingegen beschäftigte ihn das revolutionäre Geschehen, urteilt man nach seinen Briefen, allenfalls am Rande. Im Mittelpunkt seines Interesses standen vielmehr die korsischen Angelegenheiten, zu denen er Joseph wie auch Lucien, der sich einzumischen begann und dabei verschiedentlich die Pläne Napoleons empfindlich störte, unentwegt Ratschläge erteilte. Lucien, der hellste, unabhängigste und in vieler Hinsicht sympathischste der Brüder, gibt in einem Brief an Joseph vom 24. Juni 1792 eine realistische Charakterisierung Napoleons, die seiner Menschenkenntnis ein vorzügliches Zeugnis ausstellt: «Ich glaube, man muss sich immer über die Umstände erheben, wenn man etwas darstellen und sich einen Namen machen will. Niemand ist in allen Geschichten so verächtlich, wie die Männer, die sich nach dem Wind richten. Ich lasse Dich im Anfall meiner Vertraulichkeit auch wissen, dass ich bei Napoleone (sie) stets einen keineswegs egoistischen Ehrgeiz bemerkt habe, aber doch einen solchen, der bei ihm seine Liebe für das allgemeine Wohl weit übersteigt. Ich bin gerne geneigt, ihn in einem wirklich freien Staat für einen gefährlichen Menschen zu halten … Er scheint mir einen ausgeprägten Hang zum Tyrannen zu haben und ich könnte mir vorstellen, dass es ihm gut anstünde, wenn er König wäre, aber dass dann sein bloßer Name für die Nachwelt wie für einen sensiblen Patrioten ein Name des Schreckens würde.»68

Weder die Radikalisierung der Revolution, die er in Paris unmittelbar erlebte, noch gar der Krieg, den die Koalition der europäischen Mächte gegen das von inneren Wirren geschwächte Frankreich begann, verunsicherten Napoleon in seiner Fixierung auf Korsika. Allein seine überraschende Beförderung zum Hauptmann der Artillerie scheint ihn kurzzeitig ins Schwanken gebracht zu haben. Vermutlich irritierte ihn daran nur, dass seine Beförderung von der Bedingung abhing, den Dienst bei der Nationalgarde von Ajaccio zu liquidieren und zu seinem Regiment zurückzukehren. Dass er in einem Zwiespalt steckte, enthüllt sein Brief an Joseph vom 7. August 1792: «Ich glaube, dass ich mich binnen kurzem entscheiden werde, abzureisen und das Bataillon (die Nationalgarde von Ajaccio, J.W) verlasse. Welchen Gang die Ereignisse auch nehmen, so werde ich wenigstens einen Posten in Frankreich haben.»69

Seine Unentschlossenheit währte aber nicht lange, denn ausgerechnet die Radikalisierung der Revolution verschaffte ihm die Möglichkeit, sich weiterhin beide Optionen offen zu halten. Am 17. August 1792 beschloss die Nationalversammlung die Auflösung aller kirchlichen Einrichtungen und die Konfiskation ihres Besitzes. Für Napoleon bedeutete dies, dass seine sechzehnjährige Schwester Marianna (genannt Elisa), die das Internat von Saint-Cyr besuchte, Frankreich verlassen und nach Korsika zurückkehren musste. Da Elisa diese Reise nicht gut allein antreten konnte, bot Napoleon ihr an, sie zu begleiten.70 Nachdem er Ende August das Hauptmannspatent erhalten hatte, verließen die beiden am 9. September Paris und trafen am 15. Oktober 1792 in Ajaccio ein, wo Napoleon erfahren musste, dass Joseph bei den Wahlen für den Konvent erneut durchgefallen und von den Anhängern Paolis sogar aus dem Direktorium des Departements verdrängt worden war. Seine Enttäuschung milderte jedoch der Umstand, dass die vier gewählten Abgeordneten des Departements Korsika auf die eine oder andere Weise dem Clan der Bonaparte freundschaftlich verbunden waren.71 Für Napoleons korsische Ambitionen bedeutete das neue, trügerische Hoffnungen, denn mochte der babbo der unumschränkte Herrscher der Insel sein, so galt dies keineswegs für seinen Einfluss auf deren Vertretung im Konvent. Außerdem hatte sich der König von Sardinien der europäischen Mächtekoalition gegen die Französische Revolution angeschlossen. Das förderte eine kriegerische Auseinandersetzung mit Sardinien,72 bei der Napoleon, an der Spitze des Bataillons der Nationalgarde von Ajaccio, möglicherweise eine aktive Rolle spielen konnte. In jedem Fall barg diese Konstellation augenblicklich weitaus mehr Chancen, als sie ihm als Hauptmann bei einem Artillerieregiment in der Provinz erwuchsen.

Solche Aussichten, der Freispruch von jeglicher Verantwortung für die Osterunruhen in Ajaccio sowie seine Beförderung zum Hauptmann – all das gab Napoleon ein neues Selbstbewusstsein. Dem misstrauischen Paoli blieb das nicht verborgen.73 So standen sie zueinander, als sie unmittelbar nach Napoleons Rückkehr zusammentrafen. Napoleon wollte jetzt Paoli überreden, seinen Bruder Lucien als Adjutanten zu akzeptieren, was der babbo