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Was verbindet einen verlassenen Bauernhof in der Nähe von Triest, drei entführte Zahnärzte, eine Horde von Straßenhunden und das Gold eines chinesischen Händlers aus Lateinamerika mit einem Klavierträger, der sein In-der-Welt-Sein einer inneren Migration ins Panoptikum seiner Vergangenheit im Hongkong der 1980er opfert? Und was hat das Ganze mit Lucas Cranach und den größten Diktatoren des 20. Jahrhunderts zu tun? Daniel Breuer webt einen transkulturellen Klangteppich, dessen lose Fäden drei Generationen und drei Kontinente verbinden, um das Vergangene in einem drastischen Schlussakkord in der Gegenwart aufschlagen zu lassen.
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Seitenzahl: 228
Veröffentlichungsjahr: 2016
verlag duotincta
E-Book
DANIEL BREUER
nathanroad.rec
ROMAN
Daniel Breuer wurde 1977 in Teheran geboren. Als deutschstämmiger Chilene wuchs er in Santiago de Chile, Istanbul und Brüssel auf. Es folgte ein Studium der Islamwissenschaft, Iranistik und Philosophie in Berlin. Danach mehrere längere Auslandsaufenthalte in Asien und Mittelamerika. Um sich das Schreiben zu ermöglichen, übte er über die Jahre verschiedene Jobs in Bars, Museen und auf Baustellen aus, er war Reiseleiter, Pizzabäcker, Zahnkurier u.v.m. Seit 2014 lebt und schreibt Daniel Breuer wieder in Berlin.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Erste Auflage 2016
Copyright © 2016 Verlag duotincta Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Typographie: Verlag duotincta, Berlin
Einband: Nadine Tsalawasilis, Stuttgart
Cover-Fotografie: Daniel Breuer
Printed in Germany
ISBN 978-3-946086-12-3
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www.duotincta.de
Am Morgen des elften Tages und kurz vor dem Ende ihrer unfreiwilligen Mobilisierung versucht Walter Montgomerie doch noch zu fliehen.
Es ist der Morgen, nachdem Alfons Georges Hirt die erste Nacht bei ihnen auf dem Sofa geschlafen hat, und Pavlo Arango ist irritiert, dass sein Freund ihn nicht eingeweiht und einfach so zurückgelassen hat. Zwanzig Minuten später ist es Amadeus Rolf, dem die Flucht auffällt und sie jagen augenblicklich los, um ihn einzufangen. Es sind die letzten zwei Tage, eigentlich könnten sie auf ihn verzichten, aber die Gefahr, dass er alles auffliegen lassen würde, ist zu groß.
Sie rennen zum Auto, sie haben ihre Waffen dabei, die Reifen drehen durch auf den Kieselsteinen vor dem Haus, eine Staubwolke – wie im Film, denkt Amadeus Rolf, sie rasen los, und als hätten sie es vorher schon gewusst, wo er langlaufen würde, entdecken sie ihn kurze Zeit später hinter einer Rechtskurve auf der Landstraße, die runter zur Küste abgeht, jetzt keine dreißig Meter entfernt, er dreht sich um, während er weiterläuft, er hat das Auto zu spät gehört, er erkennt seine zwei Entführer, flüchtet rechts rein, durch den Wald, in der Hoffnung sie würden mit dem Auto nicht weiterkommen, stecken bleiben oder was auch immer, er denkt nicht, er rennt nur, er versucht so schnell er kann über das Dickicht zu kommen, er muss anhalten, hier kommt er nicht durch, und weiter, da lang, über das Holz …
Amadeus hält mit dem Auto an der Stelle, wo er im Wald verschwunden ist und sie sehen, dass er es noch nicht wirklich weit geschafft hat: Nicolai Orvieto Lee drückt ruhig den Knopf der elektrischen Fensterheber. Er holt das Blasrohr mit der vorbereiteten Hellabrunner Mischung aus dem Handschuhfach, er setzt an, zielt und – trifft den Flüchtenden mit dem kleinen, giftigen Pfeil direkt hinten in den Nacken. Walter Montgomeries Hand schießt wie eine Kralle hin zum Schmerz und wenige Herzstöße weiter klappen ihm die Knie zusammen und er sackt auf das Moos und die Äste unter ihm, er versucht nochmal aufzustehen, fickt euch doch alle selber, will er noch denken, aber ihm wird klar, dass er es nicht mehr schaffen wird und er lässt sich fallen und gibt sich diesem schnellen, weichen, wunderbaren Rauschen hin.
Amadeus Rolf und Nicolai Orvieto Lee steigen aus dem Auto und gehen ihn holen. Sie legen ihn auf die Rückbank und fahren zurück zum Hof, wo schon die anderen warten und die jetzt, als er reingetragen wird, erschrocken sind über seinen Zustand. Er wird im Wohnzimmer auf der Couch vor dem Fernseher abgelegt und zur Sicherheit mit einer Handschelle an einem der Heizkörper festgemacht.
Von da an ist Walter Montgomerie nicht mehr derselbe. Er ist auch nicht mehr wirklich zugänglich. Es dauert erstmal mehrere Stunden, bis er aus der Narkose wieder erwacht, weit länger, als es bei seinem Körpergewicht eigentlich sein dürfte. Es ist beunruhigend. Er sagt acht Stunden lang nichts und dann ist er mit einem Mal völlig wesensverändert. Er ist schwermütig, vulgär, irre. Fast feindlich. Nicht nur seinen Entführern, auch den anderen gegenüber. Mit Pavlo Arango redet er gar nicht mehr. Marco Caruso nennt er nur noch Fotze und wenn Isabel Brigadio ins Zimmer kommt, verzieht er sein Gesicht zu einer Maske und macht Sachen mit seiner Zunge, die zeigen sollen, dass er sie leckt.
Nicolai Orvieto Lee kommt rein und Walter Montgomerie macht so seltsame steife Gesten, die offenbar ihm gelten. Nicolai versteht es zunächst nicht. Erst als mehrfach das Wort »Gaucho« fällt und der Kranke faucht, als wolle er Katzen verschrecken, versteht Nicolai Orvieto Lee, dass er damit gemeint sein muss. Er stellt das Essen, das er für ihn vorbereitet hat, auf den Wohnzimmertisch und geht wieder raus, Amadeus Rolf hinterher, und sie hören ihn noch, wie er eine Sirene oder irgendwelche Winde nachmacht.
»Was sollen wir mit ihm machen?« Amadeus kann ihn zwar nicht ausstehen, aber er macht sich trotzdem Sorgen.
»Lass nur, der beruhigt sich wieder.« Nicolai Orvieto Lee ist nicht wirklich überrascht. Er kannte so ähnliche Ausbrüche von den Arbeitern seines Großvaters, die sich während des argentinischen Staatsbankrotts Ende 2001, als in den Lagerhallen nichts mehr zu tun war, ständig mit sowas zugedröhnt hatten, um sich anschließend von den vietnamesischen Nutten die Füße machen zu lassen. Das sei überhaupt das Beste auf der Welt, hatten sie ihm immer wieder gesagt. Er war 16 Jahre alt, aber mitgenommen hatten sie ihn nie. Sie sagten, die Mädchen in Argentinien würden es nicht mit einem Halbchinesen treiben und mit einem aus Uruguay schon gar nicht und vor allem nicht die teuren vom Nagelstudio, das könne er vergessen.
»Wahrscheinlich eine Reaktion auf das Ketamin.« Nicolai Orvieto Lee hängt noch den Erinnerungen an diese fernen Lagerhallen nach. Ihm ist in diesem Moment, als wenn er im Laufe der wenigen Jahre dort mehr vom Leben erfahren hätte, als in all den späteren, die er (angeekelt von seiner Generation) in den Hörsälen der Universidad de Buenos Aires verbracht hatte. Soundso viele Semester im falschen Milieu, bis er endlich alles hinwarf, um in Europa die Bilder Lucas Cranachs im Original zu sehen.
»Aber die Hunde haben nicht so reagiert.«
»Vielleicht reagieren Menschen nun mal empfindlicher darauf. Keine Ahnung. Der, von dem ich es habe, meinte noch, wir sollten nicht zu viel auf einmal nehmen. Der dachte, ich würde es für uns wollen, und dann hat er noch gesagt, dass manche Leute etwas schräg draufkommen können, aber das legt sich spätestens nach ein paar Tagen.«
»Aber in ein paar Tagen sind wir bestenfalls gar nicht mehr hier. Wir können ihn schließlich nicht liegen lassen.«
»Doch, können wir«, Nicolai Orvieto Lee sucht nach dem passenden Ausdruck, »wenn er wieder klar ist, wird er schon nach Hause finden. Außerdem kann es ja auch sein, dass er in der Zwischenzeit wieder runterkommt. Zur Not müssen die anderen sich um ihn kümmern, das geht schon. Außerdem hat er mich Gaucho genannt. Wie kommt der darauf?«
»Ist halt ein Arschloch.« Davon ist Amadeus Rolf überzeugt. Seine unbegründete, überhebliche Art hat ihn schon die ganze Zeit über angekotzt. »Das hat man doch schon am ersten Tag gesehen. Bei diesen Drogen kommt dann alles nochmal stärker hervor und am schlimmsten sind diese gut gelaunten Arschlöcher, die sich daran gewöhnt haben, ständig alles rauszulassen und ihrer scheiß Lebensfreude unterzuordnen, weil ihnen wahrscheinlich schon als Kind immer recht gegeben wurde.«
Nicolai Orvieto Lee weiß erstmal nicht, was Amadeus damit meint. »Wie, recht gegeben? Was hat denn das damit zu tun?«
»Erinnerst du dich, wie er neulich über seine kleine Philippino-Schlampe geredet hat?«
»Ja?«
»Genau das meine ich.«
Ich auf einem Beifahrersitz. Das pressende Blau über den Knien, darüber gleichmäßige Ellbogenhitze oder: die Ebene vor mir.
Verschluckt und beschleunigt vom Grau der Armatur. Ein Lastwagen, fließend über Asphalt durch eine Gegend ohne Übergänge. Vorbei an Plastiktüten in trockenen Sträuchern verhangen. Wir oder die einzigen Farben in einer sonst ununterbrochenen Fläche aus Entfernung.
Der Teer, der diese Fläche in zwei ungleichmäßige Teile teilt. Ich möglicherweise auf der größeren Seite. Die anderen meinetwegen. Ich möglicherweise auf einem Beifahrersitz. Mein Vorwärtskommen in den Händen eines anderen. Ein gelenktes Leben mit Armlehne und 6-Wege Sitzverstellung. So ist es also. Ein Voraussehen unter dem Sonnenschutz, ein verwegenes Teilhaben ohne Tat. Ich kann mich nicht erinnern eingestiegen zu sein.
Neben mir der ehemalige Held einer Schweizer Umzugsfirma. Sein Name ist Alfons. Alfons Georges Hirt. Er hat Depressionen. Er fährt Lastwagen, das macht es erträglich. Alfons hat ein Problem: die Gravitation.
Mitte der 80er Jahre macht er mit der ersten Frau, die ihn bis dahin begeistert hatte, in einem Hotelzimmer in den Chungking Mansions in Hongkong eine Art Wilhelm Tell Nummer, bei der sie aus dem Fenster springt und 15 Stockwerke tief in seine Erinnerung rast.
Alles andere ist Spekulation.
Gravitation ist Zuneigung. Manchmal kann Alfons kaum die Füße heben. Es ist die Erde, sie liebt Alfons. Die Erde ist an allem schuld. Zuneigung ist Gravitation, es heißt, der Mann schützt die Frau vor der Welt – sie schütze ihn vor sich selbst. Wovor kann die Erde Alfons schützen? Er fährt Lastwagen, das macht es erträglich.
Alfons hat keine großspurigen Ideen. Vielleicht hätte er gerne welche, aber sie ziehen ihn runter. Selbstverwirklichung zum Beispiel – keine Lust. Er sieht, wie es die anderen machen, er fragt: und dann? Er versteht’s nicht. Wovon Alfons was versteht, wovon er wirklich was versteht: Klaviere.
Nicht Musik, Klaviere. Musik muss sein, aber sie begeistert ihn nicht. Ohne Musik würde er nicht Lastwagen fahren, das erkennt er schon an, aber selber hören oder womöglich noch machen – no.
Alfons Georges Hirt, so steht es in seinem Reisepass, hat alle Klaviere dieser Welt getragen: Yamaha, Steinway, Bösendorfer, Fazioli, Bechstein, rauf und runter – das volle Programm einer Schweizer Spedition, die sich auf schwere Instrumente spezialisiert und er von Anfang an dabei. Über fünfzehn Jahre. Was er nicht mag: Dänemark. Ihn stört die Leichtigkeit.
Ein Klavier zu tragen – nicht, weil man geliebt werden möchte. Ein Klavier zu tragen, um zu wissen, dabei zu wissen – unter der Last – was Liebe ist.
Zuneigung ist Gravitation. Alfons hat sich das Schweben abgewöhnt. Weils ihm so schwer fiel. An einer unüberwindbaren Stelle seines Lebens, in seinem Fall kurz vor dem Rückflug in ein vollstrecktes Leben, hörte er damit auf.
Hongkong 1985. Er hatte diesen Auftrag eine Woche zuvor erledigt. Danach die Ereignisse, die ihn von da an verfolgen sollten. Auf der Flughafentoilette des Kai Tak Airports hatte er außerdem begriffen, mit weit aufgerissenen und unerträglich strapazierten Augen begriffen, dass diese Depressionen, alle Depressionen womöglich, nur eine lethargische Form von Hysterie waren. Eine gegen sich gekehrte, übersentimentale Trübung. Eine Ausdruckslosigkeit, aber letztendlich doch nur eine Art inwendige Hysterie, eine Hyperbel ohne Sprache – oh Gott, dachte er, und man kann ja nicht die ganze Zeit rumschreien – noch bevor seine hochgerissenen Augenbrauen wieder herabgesackt waren. Alfons hatte es begriffen und hysterisch war ihm einfach zu peinlich.
Zu peinlich. Mit den gleichen strapazierten Augen, die nur er ansehen konnte, hatte er aufgehört zu existieren. Auf einer Flughafentoilette im Spiegel, den er mit seiner Schweinshand eben nicht zerschlagen hatte, wie sie es in schlechten Filmen normalerweise tun, sondern festgehalten, und er hatte gesehen, was sie sahen:
Er hatte weggesehen.
Keine zehn Tage später fing es mit diesen unerträglichen Wundern an – Gottes Wunder, so nannte er sie, auch wenn er gar nicht unbedingt an Gott glaubte –, die in Gestalt einer Horde losgelassener Hunde ihn zu verfolgen begannen.
Er hatte seinen Auftrag eine Woche zuvor erledigt. Er hatte selber beschlossen, diese Tage dranzuhängen, und er hatte die Umbuchung und die übrigen Hotelkosten übernommen. Er fuhr zum Flughafen, mit weiteren zwei Tagen Verspätung, aber der Fall war abgeschlossen, man hatte es ihm gesagt.
Man hatte ihn gewissermaßen entlassen und ihm gesagt, dass er nach Hause fahren soll. Er nahm sein Gepäck, eine gelbe Tasche aus wasserdichter Plane, die kurzen gepolsterten Schlaufen, die er über die Schulter legte, und ging zum Auto, das ihn direkt zum Flughafen bringen würde.
In seinem Gepäck ein grelles, unerklärliches Paar Frauenschuhe aus der Sammlung Imelda Marcos. Die Polizisten und auch die Mitarbeiter der Schweizer Botschaft hatten sich darüber gewundert. Blaue Pumps mit einem gestickten Muster aus Anemonen und persischen Pfauen, kaum getragen. Er hatte ihnen nicht erzählt, dass er sie einem Hotelangestellten aus dem Peninsula abgekauft hatte. Auch nicht, dass dieser wiederum (er hatte es mehrfach bei seinen Vorfahren geschworen), nachdem die Diktatorengattin abgereist war, sie unter dem Bett in ihrem Zimmer gefunden hatte.
Er hatte ihr vor wenigen Tagen diese Schuhe gezeigt. Er wollte sie ihr schenken, sie hatte sie gleich angezogen und war damit so übertrieben durch das Zimmer stolziert. Diese etwas zu großen Schuhe der alten Schönheitskönigin, Größe 39½, und ihre kleinen, aber verhältnismäßig breiten Füße darin. Wie sie nach vorne rutschten und mit der Verse hinten nicht mehr rankamen.
Eine limitierte Auflage von Salvatore Ferragamo, das hatte ihm der Hotelangestellte außerdem versichert. Sie fand sie hässlich. Sie wollte sie nicht haben. Auch wenn sie ihr nicht gepasst hatten, er brachte es nicht übers Herz, sie nach allem, was in den letzten neun Tagen passiert war, auch noch zurückzulassen.
Man hatte sich über ihn gewundert. Möglicherweise zu Recht gewundert. Man hielt ihn für einen Spinner – nicht gefährlich, aber doch so, dass man sicher gehen wollte, ob er auch tatsächlich ins Flugzeug steigt.
Aus diesem Grund begleiteten ihn die zwei Typen von der Botschaft, die während der Fahrt entweder aus dem Fenster sahen oder sich über das kommende Pferderennen im Happy Valley unterhielten. Sie behandelten ihn wie einen verirrten Vogel. Ein Blaukehlchen vielleicht – er hatte sie auf den Wäscheleinen vor den Fenstern beobachtet, als er die fünfzehn Stockwerke hinuntergesehen hatte –, ein traumatisiertes Vögelchen, das von selber so nicht wieder rausfinden würde.
Sie fuhren ihn zum Flughafen, und weil noch Zeit blieb, bevor der Check-in aufmachen sollte, setzten sie sich nochmal hin und tranken etwas, Eistee oder sowas.
Die beiden Botschaftsangestellten rauchten. Sie boten ihm auch eine an, er wollte nicht, er wollte lieber ins Bad, sich die Zähne putzen, es war schon eine Weile her.
Er geht also los, seine Tasche hatte er für die beiden sichtbar liegen gelassen. Er steht eine Weile vor dem Spiegel. Das Wasser geht immer wieder aus. Er hält die Hände drunter, er will sich das Gesicht waschen, er kommt mit dem Kopf näher ran und dann passiert es, dass er nicht nur diese Stelle sieht, so wie sie möglicherweise ausgesehen hatte, sondern mit der Hand, nass wie sie war, gewissermaßen diese Stelle – packt.
Das Zurückbleiben, wenn man ein Klavier nach mehreren Stockwerken irgendwo abstellt. Die flehenden Lederriemen, das Ausatmen der Dielen und die Pianisten, die auf den Boden sehen. Parkett + Pianist: ein Akkord. Es muss mit der Musik zu tun haben. Pianist + PVC: das gibt es nicht.
Alfons kann für einige Minuten über Klaviere reden, als wenn er glaubhaft etwas von Musik beziehungsweise der jeweiligen Bedeutung eines bestimmten Klaviers für sie verstehen würde. Als wenn sie ihn berühren würde.
Von der Klarheit des Diskants bis zur profunden Bassfülle sind das Modell C-227 und das größere Modell D-274 die unübertrefflichen Mittler zwischen dem Komponisten, dem Interpreten und dem Publikum.
So in etwa stand es in einer der Werbebroschüren, die manchmal bei der Abholung unter den Papieren waren und die irgendwann zuhauf in seinem Lastwagen rumlagen.
Der Modulationsreichtum, die Präzision sowie eine breite tonliche Entfaltungsmöglichkeit.
Hilfreich war auch:
Seine leichte Spielbarkeit und sein einzigartiger Toncharakter. Die reiche Skala seiner Klangnuancen und sein beseelter Ton haben das Modell B-211 selbstverständlich zu dem bevorzugten Instrument der Künstler, der Konservatorien … usw.
Herausragende Qualität der Fertigung und Mechanik hinsichtlich Repetition und Stabilität. Klangtransparenz. Hoher ausgewogener Toncharakter und Subkontra F!
Chinesischer Asphalt. Der Pianist, ein exzentrischer, seit seiner Geburt wohlhabender Akademiker, der immer diese Steve McQueen Brillen trug und der nach Asien auswandern wollte – Hongkong, um genau zu sein – hatte sich ein Appartement im neunten Stock eines Hochhauses im Bezirk Tsim Sha Tsui gemietet.
Zwei Räume für sich, einen für sein Klavier. Ein Flügel und zunächst mal nichts als Kacheln in der ganzen Wohnung, auch in seinem Arbeitsraum, den er später vollständig mit Schaumstoff aus den Exportgeschäften im ersten und zweiten Stock versah.
Die anderen sollten ihn nicht hören, wenn er übt. Es handelte sich um einen 170er Bösendorfer, furniert in Wurzelnuss, knapp über 300 Kilo, also keine große Sache. Vor Ort dann fünf Inder aus den Chungking Mansions nebenan, die beim Verladen halfen, und ihre Töchter, ebenfalls fünf, und ihr Kajal, der die Flure verdunkelte.
Alfons stand unten neben dem Lastwagen, als sie gemeinsam rauskamen und ihm in ihrer gegurgelten Sprache etwas zuriefen. Röcke aus Rot, die raschelten, als er den Knopf der Laderampe drückte.
Er selber war mit dem Flugzeug gekommen. Manchmal, wenn auch selten, es hing von der Entfernung ab und von den Ländern, die zu durchqueren waren, wurden diese Klaviere verschifft und er im Flugzeug hinterhergeschickt, um sicherzugehen, dass das mehrere hundert Kilo schwere Schmuckstück das Treppenhaus auch heil heraufkam. Meistens gab es dann eine Agentur vor Ort, mit der seine Firma zusammenarbeitete und die den Transport und die Zollformalitäten regelte.
Er hatte also dieses Klavier aus der alten Wohnung des Pianisten getragen, sie hatten sich über die Besonderheiten seines Modells unterhalten, das überzeugte ihn, er bestand darauf: Alfons sollte es in der neuen Wohnung höchstpersönlich wieder abstellen. Er zahlte ihm sogar das Upgrade in die Business Class, es war das erste Mal für Alfons, Cathay Pacific, er sollte »klaren Kopfes sein, wenn es ans Eingemachte geht«, so hatte der Kunde es ausgedrückt, aber Alfons Georges Hirt konnte die bevorzugte Behandlung der Airline, die breiten Sitze, das Porzellan, die Pralinen und die anderen Aufmerksamkeiten während des Fluges leider nicht genießen, weil neben ihm ein Idiot saß, ein redseliger italienischer Zahnarzt, der ihm noch vor dem Anschnallen erzählen musste, dass er auf einen Ärztekongress eingeladen worden sei, und der sich im Duty Free so viel Parfum aus den Probefläschchen übergeschüttet hatte, dass jede Mahlzeit, jeder Wein, sogar sein eigener Speichel während des Fluges nach Dior Eau Sauvage Extrême schmeckte.
Er setzte die Kopfhörer auf, die ihm der Steward zu Beginn des Fluges ausgehändigt hatte, und erwischte ausgerechnet den Jazzkanal und darin ein für die Fluggesellschaft extra konzipiertes Special zu Bill Evans, den er noch weniger ausstehen konnte, als diesen anderen, diesen – wie hieß der noch? Dieser kindliche Klassik-Virtuose aus Kanada … Er trank drei doppelte Flor de Caña und schlief für den Rest des Fluges beinahe so bequem, wie in der heimatlichen Schlafkabine seines zurückgebliebenen Lastwagens.
Dem Zahnarzt begegnete er in der kommenden Woche noch mehrere Male unten am Hafen oder auf der Fähre, die in kurzen Abständen rüber nach Hongkong Island fuhr.
Viele Jahre später und unter ganz anderen Umständen sollte es nochmal zu einem unerwarteten Treffen zwischen ihm und diesem redseligen Zahnarzt kommen, bei dem sich allerdings beide nicht mehr wirklich an ihre gemeinsame Episode in Hongkong erinnern konnten und bei dem sie höchstens eine vage Vertrautheit empfanden, ein entferntes Gefühl des einander Bekanntvorkommens, mehr aber auch nicht.
Beim dritten oder vierten Mal, als sie sich abends auf der Promenade des Victoria Harbours trafen, sprach er ihn an. Alfons wollte überhaupt nicht reden. Fast wie ein alter Bekannter kam dieser Zahnarzt auf ihn zu, sein Mund wie ein Kolibri, es schien sich nicht mehr vermeiden zu lassen.
Die anderen Male hatten sie sich im Vorbeigehen höchstens Blicke zugeworfen, meistens weggesehen. Jetzt aber kam er, ohne einen Zufall vortäuschen zu wollen, geradewegs auf ihn zu und fragte, ob er sich noch an ihn erinnere?
Er erzählte ihm gleich, was er in den letzten Tagen in Hongkong alles erlebt hatte, er schien nach dieser einen kurzen Nacht im Flugzeug sich ihm irgendwie verbunden zu fühlen, er erzählte von seinem Vortrag, seiner Arbeit, seiner Ehe und, als wenn er es gar nicht mehr unter Kontrolle hätte, erzählte er ihm immer mehr über sich, bis hin zu den intimsten Details seines Aufenthalts und von einigen dunkleren Bereichen seines Charakters, die ihm bis dahin selber unbekannt gewesen seien, und Alfons musste teilweise zur Seite oder auf den Boden sehen, weil er nicht wusste, wie er auf diese ungewöhnliche Offenheit reagieren sollte.
Es ging um Nutten. Genau genommen indische Nutten, die einen zwischendurch aus den Hauseingängen anzischten. Auch Alfons hatte sie bemerkt. Abends standen sie vor dem 7-Eleven oder vor den U-Bahneingängen. Vermutlich waren es also gar nicht ihre Töchter gewesen, als er den Bösendorfer vor ein paar Tagen zusammen mit den Indern hochgetragen hatte. Der türkisfarbene Lidschatten, der Lippenstift, die dreiste Art, mit der sie da rumstanden. Alfons hatte bis dahin eine eher privatere Vorstellung von Glück gehabt. Er hatte sich, wie immer, wenn er das Glück zu demontieren begann, selber an einem menschenleeren Ort gesehen. Diesmal an einem Strand, gewissermaßen in eine andere Zeit versetzt, und er hatte versucht sich vorzustellen, wie das nochmal war mit dem Salz auf der Haut. Kein Porno – alles mit Liebe gemeint. Er hatte aus sich einen stabilen Mann geformt und überlegt, was diese Sonnenbrillen nochmal kosteten.
Das war 1985. Seine war ihm runtergefallen. Die Stockwerke eines verkehrten Willens hinab – in ein Meer aus Menschen. Unmittelbar danach war er uneins geworden, vielleicht auch früher schon, ein Ereignis, dem er jahrelang hinterherfährt. Ein Ereignis, das sich vor mehreren Jahren oder auch Stunden zugetragen haben könnte.
Aber auch wenn dieses Ereignis sich jetzt zum circa 585. Mal in seiner Erinnerung wiederholt und daher für ihn gewissermaßen wirklicher wirkt, als das, was gerade passiert: Alfons Georges Hirt befindet sich in diesem Augenblick nicht draußen in irgendeiner subtropischen Sonne, die Knöchel umspült von warmem Wasser, auch nicht neben der überhitzten Fahrerkabine eines scheppernden Lastwagens – ein indischer TATA LPT 1615 Rigid Truck in Weiß, dessen Laderampe sich gerade öffnet – sondern hinter einem um die eigene Achse drehbaren, länglichen Kippfenster, groß genug für ein Unglück, in einem ansonsten abgedunkelten Hotelzimmer, in dem höchstens die Klimaanlage scheppert.
Kein historisches Fenster, eher eins dieser neuen mit Doppelverglasung im 15. Stock eines sonst runtergekommenen Neubaus aus den 60er Jahren.
Er hat die Gardine jetzt so weit zur Seite geschoben, dass er gerade so heraussehen kann. Er erinnert sich, dass, seit damals das Mädchen mit den breiten Füßen (er ist nicht wirklich sentimental, aber er nennt sie trotzdem so), er erinnert sich, dass seitdem sie damals zum ersten Mal über Nacht bei ihm geblieben und völlig unerwartet an seine Minibar gegangen war, dass er sich seitdem immer noch schämt, bis heute, wenn er Schaschliksauce im Kühlschrank hat.
Schaschliksauce.
Er würde sie nicht mehr ungeschehen machen können. Es war das gleiche Zimmer wie damals. Er hatte darauf bestanden. Auch wenn die Klimaanlage schepperte, der Hotelbesitzer hatte ihn darauf hingewiesen, er wollte es trotzdem. Das gleiche Zimmer, wie damals, als er den Bösendorfer hergebracht und dem Pianisten diese verhängnisvolle Sonnenbrille geklaut hatte, von denen er bestimmt an die zehn Stück in seiner kaum eingerichteten, aber vollständig gekachelten Wohnung rumliegen hatte.
Im Gegensatz zu den Schuhen hatte ihr diese in der Mitte zusammenklappbare Sonnenbrille sehr gefallen. Allerdings konnte er nicht einschätzen, wie ernst sie das meinte. Er glaubte, ihr hätte vor allem der Film gefallen, in dem Steve McQueen dieses außerordentliche Model getragen hatte. Sie hatten The Thomas Crown Affair am Abend vorher noch zufällig in einer Bar in der Nähe der D’Aguilar Street gesehen, wo normalerweise nur Rugby und andere Sportereignisse übertragen wurden. Den damals längsten Kuss der Filmgeschichte. Faye Dunaway, die ihrer Meinung nach die schönste Frau der Welt gewesen sein musste.
Sie kannten sich noch gar nicht. Ein paar Tage höchstens. Sie hatten sich über diesen Film unterhalten und er hatte ihr beim Duschen zugesehen. Sie fuhren mit der Fähre zurück und liefen das letzte Stück zum Hotel. Er sah ihr zu – im Hintergrund läuft Nick Cave, And no more shall we part –, durch den Spalt in der Tür der Duschkabine, die er so weit geöffnet hatte, dass er mit einem Auge durchsehen konnte.
Mit einem Auge.
Sie hatte Shampoo im Gesicht, sie sah ihn nicht.
Er sah sie an – mit einem Auge – ihr oranges Haar
und mit einem Mal hatte er sowas wie
die Essenz der Ungerechtigkeit gedacht.
– Nur mit einem Auge.
Dem anderen Auge diesen Anblick nicht gestatten.
Er war uneins geworden, aber er hatte seither nie wieder eine Sonnenbrille gehabt. Als das Lied dann vorbei ist, weiß er nicht mehr genau, wohin er eigentlich gesehen hatte. Auch das Hochhaus gegenüber. Er muss die Reihenfolge wiederfinden. Das Rascheln der Gardine, als er sie beiseitegeschoben und direkt in die Sonne gesehen hatte. Er hatte sich, wie mit einem Schlag in den Magen, an ihre rote Halskette erinnert und dass dieser Pianist mit einer Arbeit über Kierkegaard promoviert hatte. Die Hunde in seiner Biographie, die langsam misstrauisch zu werden begannen.
Ironie ist negative Leichtigkeit. Ein holpriger Satz, der sich seit einiger Zeit in seinem Denken wiederholt. Negative Leichtigkeit. Jetzt, wo sein Denken sich entfernt. Das ist ihm noch wichtig. Jetzt, wo die Straße Schlaglöcher bekommt. Die Ebene vor ihm: tief einatmen, Tiefe einatmen – jetzt aber!
Ein paar Mal auf der Erde aufsetzen oder von ihr abheben. Grundsätzlich gedacht. Den Grund, den Satz – so lichterloh gedacht. Es war nicht das erste Mal, dass Alfons lichterloh gedacht hatte.
Oder.
Einmal noch losfahren. Einmal noch, vier Jahre oder so, dann wiederkommen, aber darum geht es im Augenblick nicht. Worum es geht: geradeaus sehen. Durch das Fenster auf das Hochhaus gegenüber. Einen beliebigen Punkt auf der anderen Seite fixieren, nicht nach unten, nach vorne sehen, dabei nichts tun. Stillhalten, zu hundert Prozent gegenwärtig sein, dabei denken. Formulieren. Zusätzlich, also oben – auf die Negation noch draufgesetzt. Asphalt und die Sprache der Traurigen. Kopfstein & Pflaster, die Heilung sozusagen inklusive.
Oder.
Ein Dokumentarfilm über Rupprecht Geiger, dann über die bevorstehende Renaissanceausstellung im Hongkong Museum of Arts. Im Fernsehen hinter ihm. Er sieht aus wie eine tote Frau. Hinter ihm auf BBC. Dazu die Stimme eines alten Mannes. Münder wie schmutzige Stellen, es ist kaum zu ertragen.
Die roten Vorhänge seines Hotelzimmers, jetzt noch lauter. Gott wäre eine Reihenfolge, aber daran sollte er sich erst später erinnern. Eine unüberschaubare Hängung. Alfons hätte nochmal hingesehen – er hätte sofort hingesehen. Er wäre sofort ins Museum gegangen, wenn nur diese Ausstellung schon angefangen hätte. Er hätte Zeitung gelesen, jede Zeitung, wenn nur eine in seinem Zimmer gelegen hätte, einen Bericht über die Vogelgrippe, eine Geschichtssendung im Fernsehen, irgendwas zur Theologie der Bewohner der Sahelzone, oder Wirtschaftsnachrichten im Radio, in einer alten Zeitschrift, er hätte jede Form von Bildung oder Abbildung in diesem Augenblick angenommen, wenn nur dieses Fenster nicht so abweisend und anders als in seiner Erinnerung gewesen wäre. Anders als die ganzen Jahre. Die Pläne, die er gefasst hatte und die im Laufe dieser Jahre fast ein Eigenleben entwickelten, eine von ihm verschiedene Identität mit eigenen Grundsätzen, eigenen Ideen, sogar mit eigenen Ausdrücken, die sich mitunter gegen ihn selber richten und ihn sogar beleidigen konnten. Eine autonome Entität in ihm. Wenn auch keine zweite Persönlichkeit im gängigen Sinne, mehr wie eine Absicht, eine herrenlose, in ihn verirrte Absicht, mit der er sogar seine Gesichtszüge zu teilen genötigt war, ob er wollte oder nicht, mal sie mal er, je nachdem, wo er war und was er gerade tat. Worauf er hinauswollte. In welcher Stimmung er oder sie sich zufälliger Weise befand. Wer gerade Recht hatte.