Naturgeschichte der Infektionskrankheiten des Menschen - Frank Macfarlane Burnet - E-Book

Naturgeschichte der Infektionskrankheiten des Menschen E-Book

Frank Macfarlane Burnet

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Beschreibung

Der Nobelpreisträger Frank Macfarlane Burnet schildert die Infektionskrankheiten als ein Schlüsselthema der Conditio humana. Er zeigt, wie sich in dem die Erkrankung auslösenden Kampf zwischen Erreger und Opferorganismus Grundprozesse des Lebens, Wachstum und Tod, enthüllen. Das Buch gibt Einblick in den chemischen Bauplan der Erreger, schildert anschaulich die Angriffs- und Abwehrstrategien, die komplizierten ökologischen Beziehungen des Menschen zu den Organismen seiner Umwelt. Indem es die schrittweise Eindämmung großer Seuchen, die jahrtausendelang die Menschheit dezimiert haben, nacherzählt, aber auch die Negativfolgen dieses Fortschritts – die Gefahr der Übervölkerung und die Entwicklung biologischer Massenvernichtungsmittel – eindringlich beim Namen nennt, ist das Buch gleichzeitig ein fesselndes Stück Evolutions-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 557

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Frank Macfarlane Burnet

Naturgeschichte der Infektionskrankheiten des Menschen

Aus dem Englischen von Hannelore Kinzel und Volker Kinzel

FISCHER Digital

Inhalt

Conditio humana [...]Zu diesem BuchVorwort zur deutschen AusgabeVorwort zur dritten AuflageDanksagungenErster Teil Biologische Überlegungen1. Kapitel Ökologische Gesichtspunkte2. Kapitel Die ›Entwicklungsgeschichte‹ von Infektion und AbwehrZweiter Teil Die Krankheitserreger3. Kapitel Bakterien4. Kapitel Protozoen5. Kapitel VirenDritter Teil Die Abwehrmechanismen6. Kapitel Normale Abwehrreaktionen gegen bakterielle Infektionen7. Kapitel Die Entwicklung einer Immunität gegen Infektionskrankheiten8. Kapitel Das chemische Äquivalent der Immunität – die Antikörper9. Kapitel Die weitere Bedeutung der Immunität10. Kapitel Was macht Bakterien gefährlich?Vierter Teil Die Naturgeschichte der Infektionskrankheiten11. Kapitel Wie sich Infektionen ausbreiten12. Kapitel Die Übertragung von Infektionen zwischen verschiedenen Spezies – Tierreservoirs13. Kapitel Das Wesen von Epidemien und die Überhandnahme von Infektionskrankheiten14. Kapitel Epidemien endemischer Erkrankungen15. Kapitel Die Altersverteilung von Infektionskrankheiten16. Kapitel Immunität als epidemiologischer Faktor17. Kapitel Allgemeine Prinzipien der Kontrolle von Infektionskrankheiten18. Kapitel Antibakterielle MedikamenteFünfter Teil Einige bedeutsame Infektionskrankheiten19. Kapitel Diphtherie20. Kapitel Influenza21. Kapitel Tuberkulose22. Kapitel Pest23. Kapitel Cholera24. Kapitel Malaria25. Kapitel GelbfieberSechster Teil Epilog26. Kapitel Neue Krankheitsbilder und ein Ausblick in die ZukunftAnhangGlossarNamen- und Sachregister

Conditio humana

 

Ergebnisse aus den Wissenschaften vom Menschen

 

Herausgegeben von Thure von Uexküll und Ilse Grubrich-Simitis

 

Berater:

Johannes Cremerius · Hans J. Eggers Thomas Luckmann

Zu diesem Buch

Wie jedes pflanzliche und tierische Leben ist auch das Leben des Menschen ständig durch Infektionserreger bedroht. Die Infektionskrankheiten als ökologisches Problem, als Konsequenz der Beziehungen der Lebewesen zu- und untereinander und als Folge ihrer Evolution sind das Leitthema dieses Buches.

Seit Menschengedenken haben Pest, Cholera, Gelbfieber, Malaria, Diphtherie, Tuberkulose und Influenza, zusammen mit Hunger und Krieg, die Menschheit dezimiert, bis mit der Entwicklung der Bakteriologie in den 80er Jahren des vorigen und der Virologie in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts die ersten Dämme gegen ihre verheerenden Wirkungen errichtet werden konnten. Aber auch die moderne Medizin hat Krankheit und Tod durch Infektionskrankheiten nicht zu beseitigen vermocht. Darüber hinaus schufen der Kampf gegen die Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie die Entwicklung von Antibiotika und Impfstoffen, mit ihren Konsequenzen wie Bevölkerungsexplosion und Altersverschiebung, neue Gleichgewichte und damit – bei allen Erfolgen – neue Probleme, so die Begünstigung weltumspannender Pandemien oder den Hospitalismus. Auch heute kann das Aufschießen eines bislang nicht in Erscheinung getretenen Agens oder eine neue Erregermutante zu einer Bedrohung für den Menschen werden.

Die fesselnde und klare Darstellung, das Feuerwerk illustrativer Beispiele geben Laien und Fachmann gleichermaßen Einsichten in diesen Aspekt menschlichen Daseins. Das Buch des australischen Nobelpreisträgers vermittelt überdies einen Einblick in moderne Immunologie und immunologische Theorienbildung mit ihrer Bedeutung für das Verständnis biologischer Individualität.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die erste Fassung dieses Buches wurde im Jahre 1937 geschrieben; verschiedener Verzögerungen wegen konnte sie jedoch erst 1940 unter dem Titel Biological Aspects of Infectious Disease erscheinen. Das Buch hat auch jetzt noch vieles von dieser ersten Fassung an sich, obwohl es hinsichtlich der Fakten 1950 und 1960 auf den neuesten Stand gebracht wurde. Es verstand sich von Anfang an wesentlich als ein Versuch, die Infektionskrankheiten von einem ökologischen Standpunkt aus zu betrachten – »aus der Sicht des Biologen, für den der Mensch und die Mikroorganismen Gegenstände gleich großen Interesses darstellen«.

1937 hatte Domagk gerade die heilende Wirkung des ›Prontosils‹ bei Streptokokkeninfektionen nachgewiesen, und die Revolution der Chemotherapie war noch in ihren ersten Anfängen. Jede nachfolgende Überarbeitung des Buches wurde so zu einer Demonstration des inzwischen erreichten Fortschritts bei der Kontrolle der Infektionskrankheiten. Dabei war es immer wieder interessant, die sich verändernden Forschungsmethoden zu beobachten. Vor 1940 wurden die größten Fortschritte im Verständnis von Infektion und Immunität bei den Pneumokokken gemacht, welche vor allem Neufeld in Deutschland und Avery in den Vereinigten Staaten untersuchten. Die Entdeckung zunächst des Sulfapyridins und dann des Penicillins brachte es mit sich, daß seit 1940 fast nichts Neues mehr über die Naturgeschichte der Pneumokokkeninfektionen zu berichten war. Ich bemerke hier auch, daß ich in der ersten Fassung noch stark an die Möglichkeit glaubte, Bakteriophagen könnten eine bedeutsame Rolle in der Epidemiologie der Cholera spielen. Dieses Kapitel wurde damals mit d’Herelles Behauptungen abgeschlossen, welche bis heute nicht widerlegt sind.

Seit 1960 erleben wir den Triumph der Molekularbiologie. Die Strukturen von DNS und RNS sind im Prinzip bekannt, einige Formen der Transfer-RNS sogar in allen Einzelheiten. Der genetische Code ist bis in die ›Interpunktion‹ hinein untersucht und als universell für alle Lebensformen erwiesen worden. Enzyme und Antikörper sind als Aminosäuresequenzen und in dreidimensionaler Form beschrieben worden. Es ist eine großartige Bilanz von Leistungen – und ich komme mir vor wie ein Atheist im Kardinalskollegium, wenn ich sage, daß keine von ihnen auch nur in irgendeinem Zusammenhang mit der Naturgeschichte der Infektionskrankheiten des Menschen steht. Wenn ein Körper eine wirksame Immunitätsreaktion gegen die Infektion X entwickeln kann und wir in der Lage sind, diese Reaktion mit irgendeinem harmlosen Impfstoff hervorzurufen bzw. durch Kutantest oder Antikörper nachzuweisen, daß sie wirklich stattgefunden hat, dann kann diese Infektion unter Kontrolle gebracht werden. Das Wissen um den Aufbau der viralen RNS oder um die Konfiguration der Kontaktflächen von Antikörpern hilft uns weder zu verstehen, wie Mikroorganismen in der Natur überleben noch wie menschliche Krankheiten verhütet werden können.

Wenn mein Buch zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt irgendeinen Wert hat, dann den eines nützlichen Gegengewichts, welches zu einem Ausgleich zwischen den ökologischen und biochemischen Ansätzen in der Biologie führen könnte. Beide sind notwendig für ein solides Verständnis der Biologie – aber für eine Einsicht in die medizinischen und sozialen Probleme des Menschen ist der ökologische Ansatz immer noch der wichtigste. Ich bin einigermaßen stolz darauf, schon 1937 geschrieben zu haben: »Eine menschliche Population, die sich ungehindert fortpflanzt, wird sich in zwölf bis fünfzehn Jahren verdoppeln, wenn es keine Todesfälle durch Infektionskrankheiten mehr gibt. Soll moderne Gesundheitspflege irgendeinen Nutzen für die Welt oder auch nur für ein Land haben, das durch sie von Krankheiten befreit wird, dann muß sie mit der Erziehung zur Familienplanung einhergehen.«

Auch im Jahre 1970 muß diese Lektion noch gelernt werden.

Melbourne, Juni 1970

F.M. Burnet

Vorwort zur dritten Auflage

Seit dem Erscheinen dieses Buches vor 25 Jahren hat sich unsere Einstellung zu den Infektionskrankheiten grundlegend gewandelt. Damals hatte man bereits die Möglichkeit erkannt, Infektionskrankheiten völlig unter Kontrolle zu bekommen. Die Verwirklichung dieser Möglichkeit machte aber erst in jüngerer Zeit rasche Fortschritte. Wir erlebten eine Periode, die so bedeutende Forschungsergebnisse wie die Entdeckung der Antibiotika und die Synthese künstlicher Insektizide aufzuweisen hat.

Heute werden diese Erkenntnisse mit großem Erfolg in die Praxis umgesetzt; zeitweise glaubt man sogar schon, über Infektionskrankheiten schreiben heiße über bereits Vergangenes schreiben. Es gibt aber immer noch ungelöste Probleme auf diesem Gebiet; vergessen wir vor allem nicht, daß die scheinbare Bedeutungslosigkeit der Infektionskrankheiten in weiten Teilen der Welt ausschließlich vom reibungslosen Funktionieren zivilisatorischer Einrichtungen und der wachsamen und ununterbrochenen Anwendung in der Vergangenheit erworbener Kenntnisse abhängt.

Seit dem Erscheinen der zweiten Auflage im Jahre 1953 haben verschiedene Forschungszweige wieder beachtenswerte Fortschritte zu verzeichnen. Die Viren des Trachoms und des Schnupfens wurden isoliert; es gelang, gegen die Kinderlähmung wirksame Impfstoffe zu entwickeln. Außerdem warf die 1957 aufgetretene Influenza-Pandemie ein ganz neues Licht auf die furchtbare Pandemie von 1918.

In der Immunologie änderten sich die Schwerpunkte; mit dem Aufkommen der Selektionstheorie der Antikörperbildung richtete sich jetzt die Aufmerksamkeit auf Antikörper und zelluläre Probleme gleichermaßen.

Die bei weitem wichtigste Weiterentwicklung muß aber in der raschen Abnahme infektionsbedingter Todesfälle gesehen werden. In hochzivilisierten Ländern sank, dank der Chemotherapie, die Zahl der an Tuberkulose Verstorbenen bis 1957 auf zehn bis zwanzig Prozent des Standes von 1946 ab. Auch die Malaria gelangt immer mehr unter Kontrolle; man spricht sogar bereits über ihr völliges Verschwinden von der Erde. Als Folge davon kommt aber das schwerste soziale und auch politische Problem unserer Zeit auf uns zu, die besonders in Asien drohende Übervölkerung.

Ich habe versucht, das neue Material ohne Erweiterung des Umfanges in das Buch aufzunehmen. Die meisten Kapitel wurden weitgehend neugeschrieben.

Melbourne, Januar 1962

F.M. Burnet

Danksagungen

Ich danke Dr. J.H.L. Cumpston, der mir gestattete, Zahlenangaben aus seiner Geschichte der Infektionskrankheiten in Australien für die Tabelle 1 und die Abbildungen 4 und 6 (teilweise) zu verwenden. Abbildung 7 wurde aus den Proceedings of the Royal Australasian College of Physicians abgedruckt.

Erster Teil Biologische Überlegungen

1. Kapitel Ökologische Gesichtspunkte

Infektionskrankheiten nehmen und nahmen immer schon einen bedeutenden Platz im täglichen Leben ein. In jeder Generation mußten die Leute aus dem Volk, so gut es ging, mit den praktischen Problemen dieser Erkrankungen fertig werden. Priester, Philosophen und später Wissenschaftler standen aber vor der sicher schwereren Aufgabe, die Bedeutung derartiger Krankheiten aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand ihrer Zeit heraus zu erklären. In der Vergangenheit war die Einstellung der Menschen gegenüber Epidemien und Infektionen sehr lange von einem kuriosen Gemisch aus Irrlehre und einer Portion guten Menschenverstandes geprägt. Dabei muß daran erinnert werden, daß man um die Übertragbarkeit so charakteristischer Krankheiten wie Pest und Lepra, mit all ihren praktischen Konsequenzen, bereits im Mittelalter wußte und daß folgerichtig durchdachte Maßnahmen zur Verhütung oder Eindämmung von Seuchen angeordnet wurden. Die in Venedig im Jahre 1403 vorgenommene Einrichtung einer Quarantäne für Reisende aus Seuchengebieten genügt als Beispiel. Die allgemeine Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen Infektionskrankheiten und städtischem Unrat sowie dem Mangel an persönlicher Reinlichkeit geht freilich erst auf neuere Zeit zurück.

Nachdem die theoretischen Vorstellungen zeitweise phantastische Formen angenommen hatten, regte sich nach der Zeit des Hippokrates allenthalben der Wunsch, die allzu einfache Erklärung der Krankheit als göttliches Strafgericht durch die Zurückführung auf handgreifliche Ursachen zu ersetzen. Eine Infektion schien sich offenbar durch die Luft von Mensch zu Mensch auszubreiten; es war daher nur natürlich, sich vorzustellen, daß Infektionen sich ebenso ausbreiten wie der unangenehme Geruch vereiterter Wunden oder Aasgestank in der Luft. Von alters her sah man das Verwesen vornehmlich menschlicher Leichen als gleichbedeutend mit dem Ausbrüten von Erkrankungen an. Im beginnenden 19. Jahrhundert machte man unzureichende, stinkende Abwasseranlagen allgemein für das Entstehen von Typhus und Diphtherie verantwortlich. Noch 1890 erklärten gut informierte Epidemiologen die Entstehung von Pestepidemien, Grippe- und Gelbfieberseuchen mit der Diffusion gasartiger Leichengifte aus den Gräbern. Sie wußten zwar, daß im Körper derartig Infizierter erneut infektiöses Material entstehen konnte, welches auch für die Ausbreitung einer Epidemie sorgte, doch bildeten ihrer Meinung nach bestimmte Klimabedingungen und eine besondere Bodenbeschaffenheit den eigentlichen Entstehungsgrund für solche Seuchen.

Pasteur und Koch schienen das Geheimnis um die Infektionskrankheiten für immer gelüftet zu haben. Durchfälle, Schüttelfrost, Geschwüre, Furunkel, nicht zu reden von den ungeheuren Pestseuchen – sie alle konnten auf Infektionen mit Bakterien oder ähnlichen Mikroorganismen zurückgeführt werden. Schon einige Jahre zuvor hatte man sich zumindest in England um ein Leben unter verbesserten hygienischen Bedingungen bemüht. Diese Bemühungen erhielten durch die neu aufkommende Wissenschaft der Bakteriologie enormen Auftrieb. Man besaß nun eine wissenschaftliche Grundlage für die Forderung nach sauberem Wasser, ausreichenden Abwasseranlagen, einer einwandfreien Nahrungsmittel- und Milchversorgung sowie einer nicht zu hohen Bevölkerungsdichte. Antisepsis und Asepsis erlaubten in der Medizin, vor allem in der Chirurgie, umwälzende Neuerungen. Der Typhus verschwand; die Säuglingssterblichkeit nahm rasch ab, und eine neue Chirurgie, frei von der Furcht vor Sepsis, blühte auf. Einige wirtschaftlich wichtige Gebiete in den Tropen konnten von Gelbfieber und Malaria befreit werden. Diese Triumphe – und es waren echte Triumphe – erlangten die öffentliche Anerkennung, die ihnen gebührte. Die medizinische Forschung, insbesondere die Bakteriologie, wurde zu einer ungemein wichtigen Wissenschaft.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges konnte man behaupten, daß zumindest die praktischen Probleme der Behandlung von Infektionskrankheiten gelöst waren. Der Erfolg des Penicillins bei der Behandlung von Wundinfektionen während des Krieges leitete eine neue Phase jener revolutionären Therapie ein, die mit den Sulfonamiden 1935 begonnen hatte. Seit 1946 kam eine steigende, fast verwirrende Anzahl neuer Antibiotika und anderer antibakteriell wirkender Medikamente auf den Markt, darunter auch einige Mittel gegen penicillin-resistente Mikroorganismen wie das Tuberkelbakterium. Obwohl die neuen Medikamente häufig kritiklos Anwendung fanden und gelegentlich Unheil anrichteten, beeinflußten sie die Infektionskrankheiten insgesamt überwiegend vorteilhaft. Im Jahre 1961 konnte man ohne Übertreibung sagen, daß kein zuvor gesunder Mensch an einer Bakterien- oder Protozoeninfektion zu sterben brauchte, wenn er nur rechtzeitig ein entsprechend eingerichtetes Krankenhaus erreichen konnte, bevor die Infektion irreparable Schäden im Organismus angerichtet hatte. Neue Insektizide und die Anwendung neuer Methoden beseitigten sogar in relativ unterentwickelten Ländern viele von Insekten übertragene Erkrankungen. Die Malaria wurde 1950 vielleicht für immer aus den Vereinigten Staaten verbannt, und das Fleckfieber spielte, dank einer Kombination von Schutzimpfung und verbesserten Maßnahmen gegen den Läusebefall, im Krieg keine besondere Rolle mehr.

In verschiedener Hinsicht ist es berechtigt, die Mitte des 20. Jahrhunderts als das Ende einer der größten sozialen Revolutionen der Geschichte anzusehen. Der Ausschaltung von Infektionskrankheiten aus dem täglichen Leben gebührt dabei das Hauptverdienst. Wäre Frieden auf Erden, so könnte damit gerechnet werden, daß die Sterblichkeit in allen Erdteilen weiter zurückginge und daß Infektionskrankheiten relativ bedeutungslos würden, wie das für moderne Staaten heute schon zutrifft.

Parallel mit der Entwicklung praktischer Maßnahmen zur Verhütung und Behandlung von Infektionen interessierte man sich zunehmend auch für die Krankheitserreger selbst. In der Frühzeit systematischer Erforschung der Infektionskrankheiten waren die Bakteriologen von Haus aus Ärzte. Sie interessierten sich für die Isolierung krankheitserregender Keime, für die Entwicklung diagnostischer Verfahren, für die Herstellung von Heilseren und für die experimentelle Erzeugung von Infektionen im Tierversuch. Mit zunehmender Entwicklung der Biochemie konnten die Wissenschaftler dann zeigen, daß gerade Bakterien zum Studium grundlegender Fragen der Chemie der lebenden Materie geeignet sind. Seit 1930 nimmt daher die Physiologie der Bakterien – die im wesentlichen Biochemie ist – einen bevorzugten Platz in der Forschung ein. In der Nachkriegszeit, besonders nach der Entdeckung von Lederberg und Tatum, daß Bakterien sich kreuzen lassen, entwickelte sich die Bakteriengenetik plötzlich zu einem äußerst aktiven und in die Zukunft weisenden Forschungszweig. Seit 1960 konzentrieren sich die medizinisch orientierten Bakteriologen darauf, Viruserkrankungen mit den Mitteln der Gewebekultur zu studieren. Neue Arbeiten an Bakterien werden von Biochemikern und Genetikern gemeinsam durchgeführt – ja, sie setzen geradezu diese Kooperation voraus. Es ist bezeichnend für die moderne Biologie, daß die Nobelpreise für Medizin in den Jahren 1958 und 1959 an Wissenschaftler vergeben wurden, die genetische Fragestellungen mit biochemischen Methoden bearbeiteten und als Modelle gerade Mikroorganismen verwendeten.

Eine vielleicht bedauerliche Tendenz akademischer Kreise besteht darin, die Bedeutung der Existenz von Mikroorganismen in der Umwelt zu vernachlässigen und sich nur mit ›domestizierten‹ Keimen zu befassen, mit denen so leicht in Flaschen und Röhrchen umzugehen ist. Freilich, andere Gebiete der Biologie werden dabei keineswegs vernachlässigt. Zahlreiche, wenn auch nicht ganz so viele Forscher beschäftigen sich immer noch mit den sogenannten ökologischen Aspekten der Infektionskrankheiten. Insgesamt läßt sich die Biologie ja in zwei große Gruppen einteilen. Die eine untersucht Struktur und Funktion lebender Organismen und deren Bestandteile: dazu gehören Anatomie, Physiologie, Zytologie, Biochemie usw. Auf der anderen Seite gibt es Disziplinen, die den Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umwelt und untereinander nachgehen und dabei sowohl das Zusammenleben innerhalb einer Art als auch dasjenige mit anderen Arten zu beleuchten suchen. Der weitgespannte Begriff ›Ökologie‹ umfaßt also die Beziehungen zwischen Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen; im menschlichen Bereich kann man auch die Sozialwissenschaften unter diesen Oberbegriff subsumieren. – Heute gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, die Bakterienökologie zu studieren. Bei jeder Arbeit über die Genetik und Biochemie von Bakterien muß man unbedingt wissen, wie sich die Millionen Individuen in Bakterienkulturen gegenseitig beeinflussen und warum sie im Experiment unter veränderten Bedingungen überleben oder auch absterben. Größere Bedeutung für den Menschen besitzt ein von der Wissenschaft etwas vernachlässigter Zweig der Mikrobenökologie: die Epidemiologie. Sie untersucht die für die Ausbreitung von Infektionskrankheiten verantwortlichen Umweltfaktoren. In vieler Hinsicht ergänzen sich diese Richtungen, und gerade durch ihre Zusammenarbeit liefern Laboratoriums- und Feldforschung die besten Voraussetzungen für das Verständnis der breiten Problematik der Infektionskrankheiten.

Abb. 1 Die Tendenz der Mortalität bei einigen Infektionskrankheiten in England und Wales während des 20. Jahrhunderts. Gezeigt werden die relativen Todesraten bei Masern, Keuchhusten, Darminfektionen und Tuberkulose. Die absoluten Verhältnisse sind anders; sie sind hier jedoch logarithmisch aufgetragen, wobei die Waagrechten jeweils Zehnerpotenzen markieren. Zwischen 1936, bevor die erste Fassung dieses Buches geschrieben wurde, und 1960 haben sich die Todesfälle infolge Keuchhusten und Masern um fast das Hundertfache verringert.

Seit dem 18. Jahrhundert gab es immer wieder gebildete Laien, die aus Interesse an der Natur in ihrer freien Zeit das Leben von Pflanzen und Tieren beobachteten. Viele dieser Amateurwissenschaftler, angefangen bei Isaak Walton und Gilbert White, berichteten über die Lebensweise von Tieren. Nicht wenige von ihnen interessierten sich für die Nahrungsgewohnheiten der Vögel, ihre Werbung und ihren Nestbau. Andere verbrachten Jahre mit der Enträtselung der Lebensgewohnheiten von Insekten, besonders in den Miniaturstaaten der Ameisen, Bienen und Termiten. In jüngerer Zeit gesellte sich zu diesen Amateurforschern der geschulte Biologe, der mit seinen vorwiegend systematischen Untersuchungen das als Naturkunde bekannte Gebiet und damit die Ökologie in den Rang einer Wissenschaft erhob. Wie das Wort schon andeutet, ist Ökologie die Lehre von den ökonomischen Prinzipien im Bereich des Lebendigen. Die Ökologie der Tierwelt befaßt sich mit der Lebensweise von Tieren als Individuen und als Art, mit ihren Gewohnheiten bei der Nahrungssuche und der Fortpflanzung, mit den für sie günstigen Umweltbedingungen und mit ihren Feinden. Diese Faktoren bestimmen die zahlenmäßige Stärke einer Spezies zu einer gegebenen Zeit und an einem gegebenen Ort. Bisweilen führen aber unmerkliche Änderungen in der Umwelt einer Tierspezies zur Ab- oder Zunahme der Zahl ihrer Individuen; zumeist sind dann umfassende ökologische Untersuchungen nötig, um das Überhandnehmen oder Aussterben mancher wirtschaftlich bedeutsamen Tierarten ursächlich zu klären. Wie viele, vielleicht alle Wissenschaften, entwickelte sich auch die Ökologie ursprünglich aus einem gewissen praktischen Bedürfnis heraus. Einerseits existieren zahlreiche Schädlinge, deren Überhandnehmen zu großen wirtschaftlichen Verlusten, zur Vernichtung von Ernte, Haustieren oder Lebensmittelvorräten führt; andererseits gibt es enorm wichtige freilebende Tiere wie Pelztiere, Fleischfresser in subarktischen Gebieten, Speisefische in der Nordsee, Wale in der Antarktis usw., deren Dezimierung oder gar Aussterben unbedingt verhindert werden muß. Will man Schädlinge unter Kontrolle bringen oder wertvolle Tiere vor der Ausrottung bewahren, dann müssen die physikalischen Bedingungen ihrer Umwelt, jedes Detail ihres Lebensablaufes sowie Zahl und Lebensgewohnheit ihrer Feinde bekannt sein. Die Aufgabe des geschulten Ökologen besteht darin, diese Beziehungen genau zu untersuchen und die gewonnenen Erkenntnisse nutzbringend anzuwenden.

Jede Tierart vermehrt sich weit stärker, als es notwendig wäre, um die Ausfälle infolge Altersschwäche oder Unfall zu ersetzen. In der Natur ist aber noch mit anderen einschränkenden Faktoren zu rechnen. Die zahlenmäßige Stärke einer Population kann als Resultat des Widerstreits zweier entgegengesetzter Kräfte betrachtet werden: auf der einen Seite steht der ›Populationsdruck‹ einer Spezies mit einem Überschuß an Nachkommen, auf der anderen Seite die konstante Vernichtung von Individuen durch Naturkatastrophen, Kälte, Überschwemmungen, Raubtiere, Parasiten und Infektionskrankheiten. Mit Ausnahme einiger großer, sich nur langsam vermehrender Tiere besitzen die meisten Arten eine so schnelle Generationsfolge, daß sie sich nach einer für sie günstigen Umweltveränderung fast explosionsartig vermehren. Grundsätzlich kann die Fähigkeit zu rascher Fortpflanzung in den meisten Fällen als gesichert gelten. Die Aufmerksamkeit des Ökologen braucht sich dann nur noch auf die beiden eigentlichen Faktoren zu richten, die für die zahlenmäßige Stärke einer Tierart verantwortlich sind: auf die Menge der verfügbaren Nahrung und die Aktivität der Feinde. Zu den letzteren gehören solche, die ihre Beute fangen und fressen wie die Raubtiere, und Parasiten, die in den Geweben eines Wirtes schmarotzen. Gewissermaßen zwischen Raubtier und Parasit stehen beispielsweise blutsaugende Insekten und Blutegel. Alle Feinde wollen in gleicher Weise ihren Unterhalt aus ihrer Beute decken. Für das Überleben ist es also notwendig, weder zu verhungern noch gefressen zu werden. Damit erkennen wir in der Ernährung das zentrale Thema der Ökologie.

Jeder tierische Organismus benötigt als Nahrung bestimmte Eiweißformen zum Aufbau der eigenen Gewebe, außerdem Fett oder Kohlenhydrate für den Energiehaushalt. Der chemische Aufbau der Substanzen kann zwar innerhalb des Körpers variiert werden, doch müssen unentbehrliche Bausteine wie bestimmte Aminosäuren und einfache Kohlenhydrate von außen zugeführt werden. Nur die grünen Pflanzen können diese Verbindungen aus anorganischem Material selbst synthetisieren. Somit hängen alle tierischen Organismen in ihrer Ernährung ursprünglich von Pflanzen ab. Vermutlich lebt mehr als die Hälfte aller Tierspezies und weitaus der größte Teil aller Individuen sogar direkt von Pflanzen oder pflanzlichen Produkten. Die Möglichkeiten vegetarischer Ernährung sind unendlich vielfältig. Die einzelligen Protozoen leben von winzig kleinen Algen, Fische und Mollusken von Wasserpflanzen; Insekten und Kolibris saugen Honig aus Blüten; andere Tiere ernähren sich von Samen, Früchten und Blättern, von Rinden und Wurzeln. Insektenlarven und Termiten benötigen Holz, durch das sie ihre Gänge fressen. Zahlreiche Insekten existieren von Pflanzensäften. Einige Tierarten wie Protozoen und bestimmte Korallen schließen kleinste grüne Algen direkt in ihr Gewebe ein und nützen so deren pflanzliche Syntheseleistung. Auf diese Weise brauchen sie keine vegetarische Nahrung.

Sämtliche Pflanzenfresser können in ihrem Verdauungstrakt pflanzliches Material zu einfachen Molekülen aufschließen und aus diesen körpereigene Eiweiße und Fette neu aufbauen, wobei unverdauliche Bestandteile ausgeschieden werden. Dieser Vorgang läßt sich als Aufbereitung und Konzentration hochwertiger Nährstoffe für andere Lebewesen interpretieren, denn fast jedes Tier läuft Gefahr, die Beute eines Raubtieres zu werden. Mit Ausnahme der größten gilt das sowohl für Herbi- wie Karnivoren. Die Nahrungsquelle jeder Tierart kann letztlich über eine oder mehrere Stufen auf ihren pflanzlichen Ursprung zurückgeführt werden. Dazu folgendes ungewöhnlich komplizierte Beispiel: Haifische fressen größere Fische, diese kleinere Fische, welche hauptsächlich von Krebsen leben. Krebse nehmen Protozoen auf und diese wiederum kleinste Algen, pflanzliche Einzeller, die schließlich die Nahrungsquelle der meisten Wasserbewohner darstellen. Eine derartige Folge, wobei der Größere immer den Nächstkleineren verspeist, wird als Nahrungskette bezeichnet. Sie hat gewöhnlich bei Landbewohnern weniger Glieder. Ein Löwe nimmt Pflanzen über nur eine Zwischenstation auf, denn seine Beute sind große, pflanzenfressende Säugetiere. Eine wesentlich längere Kette zieht sich von den zahlreichen kleinen Insekten, die Pflanzensäfte einsaugen, wie Blatt-, Pflanzen- und Schildläusen, über die Larve des Marienkäfers zu den Vögeln hin. Die Vögel vertilgen diese Larven direkt oder indirekt über ein weiteres Glied, die Spinne. Eulen und Falken beschließen endlich die Kette.

Allen aufgeführten Beispielen ist gemeinsam, daß das Beutetier immer kleiner ist als das erbeutende Tier. Am Ende jeder Nahrungskette finden wir größere Fleischfresser: Igel, Eule, Wolf, Löwe, Raubwal, Hai – ausnahmsweise auch einige Pflanzenfresser wie z.B. den Elefanten. Dieser ist infolge seiner Größe gegen Angriffe von außen gefeit. Manche Tiere haben also keine sichtbaren Feinde. Sie sind aber vom Befall durch kleinere Parasiten bedroht. Was nützt es dem Tiger, König des Dschungels zu sein, wenn seine Lunge von Würmern zerfressen wird.

Die Lebensweise der Parasiten gleicht im wesentlichen derjenigen der Fleischfresser. Nur die Art, wie sie ihre Nahrung aus den Organen von Lebewesen holen, ist anders. Dabei ist es nicht immer leicht zu entscheiden, ob ein echter Parasitismus vorliegt oder nicht. Im allgemeinen sind Parasiten kleiner und weniger differenziert als ihr Wirt. Sie leben auf der Haut, in Geweben oder Körperhöhlen und ernähren sich von der lebenden Substanz des Wirtes. Da wir gerade die Art der Ernährung bei den einzelnen Tieren betrachten, können wir sagen, daß sich unter diesem Aspekt sämtliche Parasiten zusammenfassen lassen. Krankheitserreger wie parasitierende Würmer benutzen das Wirtsgewebe lediglich als Nahrungsquelle für eigenes Wachstum und zur eigenen Vermehrung.

Als Beispiel dafür, wie sich die komplexen Beziehungen zwischen der Ernährung einer Spezies und deren Bereitstellung als Nahrungsquelle für andere Spezies in der Zahl der vorkommenden Individuen ausdrücken, soll einer der ersten und durchschlagendsten Erfolge der angewandten Ökologie geschildert werden. Bald nachdem Orangenplantagen in Kalifornien zu einem wichtigen Erwerbszweig geworden waren, führte die Ausbreitung einer Schildlausart zu empfindlichen Ernteschäden. Die Orangenbäume waren mit zahlreichen kleinen weißen Polstern übersät, in deren Schutz die Schildläuse den Saft aus dem Holz saugten. Bald erkannte man, daß man es nicht mit einem in Amerika heimischen, sondern einem aus Australien eingeschleppten Schädling zu tun hatte. Dort lebt er hauptsächlich auf Akazien und verursacht selbst beim Befall von Orangenplantagen keine nennenswerten Verluste. Das unterschiedliche Verhalten der gleichen Schildlaus in Australien und Kalifornien war nicht etwa durch das Klima bedingt, sondern dadurch, daß sie in ihrer eigentlichen Heimat die Hauptnahrungsquelle für eine Marienkäferart darstellt. Auf diese Weise hält sich die zahlenmäßige Stärke beider Insektenarten automatisch im Gleichgewicht. Gibt es besonders viele Schildläuse, so finden die Larven der Marienkäfer ausreichend Nahrung, und es können sehr viele Käfer schlüpfen. Eine größere Anzahl von Marienkäfern hat eine Dezimierung der Schildläuse zur Folge, so daß für die nächste Generation nicht mehr genügend Futter bereitsteht, die Zahl der Marienkäfer also abnehmen wird. Insgesamt stellt sich ein Gleichgewicht ein; in Gegenwart weniger natürlicher Feinde nimmt das Nahrungsangebot zu und umgekehrt. – In Kalifornien gab es jedoch keine dem australischen Marienkäfer vergleichbaren Raubinsekten, die die Schildläuse hätten reduzieren können. Die logische Folgerung war, daß man den natürlichen Feind in den Orangenanbaugebieten ansiedelte, um der Schädlingsplage Herr zu werden. Das erfolgte auch im Jahre 1889, und sobald das anfängliche Problem überwunden war, eine genügende Anzahl dieser Käfer zu züchten, wurde das Experiment zu einem triumphalen Erfolg. Seit dieser Zeit sind die Schildläuse in Kalifornien relativ harmlose Schädlinge.

Dieses Beispiel zeigt uns das Verhalten eines Lebewesens, hier der Schildlaus, in seiner natürlichen und in einer neuen Umwelt und kann im wesentlichen für eine große Zahl praktischer ökologischer Probleme als charakteristisch gelten. In Australien konnten sich Schildläuse ebenso wie die übrigen dort heimischen Tiere und Pflanzen frei entwickeln und in einer relativ gleichbleibenden Umwelt in Millionen Jahren aneinander anpassen. In der Zeit vor der ausgedehnten Besiedelung durch Europäer hatte die Wechselbeziehung zwischen den Spezies bei Tieren und Pflanzen die Anzahl der Individuen einer jeden Spezies so weit determiniert, daß ausgeglichene und stabile Verhältnisse gewährleistet waren. Die Interaktion zwischen Schildlaus und Marienkäfer ist nur eine der zahllosen Beziehungen zwischen Tierarten, bei welchen der Futterbedarf der einen die Stärke einer anderen Spezies bestimmt.

Die ökologischen Voraussetzungen, unter denen sich annähernd stabile Populationen lebender Organismen entwickeln können, sind von Botanikern detaillierter untersucht worden als von Zoologen. Die Grundprinzipien sind gleichwohl im Tierreich dieselben wie in der Pflanzenwelt. Einen letztlich stabilen Vegetationszustand in einzelnen Gebieten nennen die Pflanzenökologen ›Klimax‹. Nicht selten vernichten der Mensch oder Naturkatastrophen – Brände, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche – die Flora einer ganzen Gegend völlig. Wird das Land nun sich selbst überlassen, so können wir eine sich regelmäßig wiederholende Reihenfolge von Veränderungen bei der Rückkehr der pflanzlichen Besiedelung in diesen Bezirk beobachten. Die ostindische Insel Krakatau ist dafür das beste Beispiel. Im Jahre 1883 wurde durch den ungeheuren Vulkanausbruch auf dieser Insel jegliches Leben ausgelöscht, aber innerhalb von 60 Jahren war sie wieder von einem dichten tropischen Urwald bewachsen. Zuerst besiedelten vom Wind herbeigetragene Bakteriensporen die leblose Vulkanasche, dann einfache Pflanzen, Moose und Farne. Später sproßten Gräser und Sträucher aus den von der See angespülten Samen. 23 Jahre nach dem Vulkanausbruch hatte sich ein Wald aus Kokospalmen, Feigenbäumen und anderen Bäumen entlang der Küste entwickelt und wuchs allmählich landeinwärts. In weiteren 50 Jahren wird Krakatau, falls keine neuen Katastrophen eintreten, wieder völlig von tropischem Regenwald bedeckt sein. Diese Aufeinanderfolge verschiedener Vegetationstypen beobachten wir in allen Landstrichen, die ihrer Flora beraubt und ohne weiteren Eingriff von außen sich selbst überlassen werden. In jedem Fall kommt es zu einem für die betreffende Region charakteristischen Endzustand, einer ›Klimax‹, die hauptsächlich durch Klima und Bodenbeschaffenheit bestimmt wird. Als eine solche Klimax können der tropische Regenwald, die grasbewachsene Prärie, der Kiefernwald oder andere Vegetationstypen gelten; sie bleibt, ist sie einmal erreicht, im wesentlichen bestehen und kann fast nur durch lang anhaltende Klimaänderungen oder durch Menschenhand gestört werden.

Parallel mit Vegetationswechseln spielen sich Veränderungen in der Tierwelt ab, und mit dem Erreichen der Klimax bei einer bestimmten Flora pendelt sich auch ein unsicheres Gleichgewicht unter den Tierarten ein. Diese wechselseitige Angleichung ist ein ungeheuer komplizierter Vorgang, denn alle beteiligten Nahrungsketten sind natürlich miteinander verwoben, und jede Tierart ist von Zeit zu Zeit Schwankungen in der Zahl unterworfen; dennoch wird insgesamt bei konstanten Umweltbedingungen ein angemessener, annähernd stabiler Zustand aufrechterhalten. Solange die Zahl der Individuen nicht unter ein bestimmtes Minimum abfällt, gilt: Je niedriger die Populationsdichte einer Spezies ist, desto bessere Bedingungen hat sie, sich zu vermehren, denn für jedes Individuum steht mehr Nahrung zur Verfügung. Gewöhnlich können die natürlichen Feinde immer nur die gleiche Beutemenge verbrauchen; zudem haben Feinde wie Parasiten und Fleischfresser dann weniger Gelegenheit, Beute zu machen und müssen sich mit diesem wenigen begnügen. Sobald andererseits die Zahl der Individuen anwächst, sind die Nahrungsvorräte begrenzt. Parasiten und solche Feinde, die sich auf eben die betreffende Tierart spezialisiert haben, können eine größere Aktivität entfalten. So finden wir in der belebten Welt allenthalben die Tendenz, daß sich automatisch Gleichgewichte einstellen – unruhige Gleichgewichtslagen freilich, die eher dauernd nach oben und unten über das Mittelmaß hinausschwingen, als daß sie ruhig stünden und damit Gefahr liefen, beim Eintritt eines neuen Organismus in die Umwelt völlig aus der Balance zu geraten.

Australien bietet einige treffende Beispiele für derartige Veränderungen, vielleicht weil der gesamte Kontinent vom Eozän bis zur Besiedelung durch Europäer infolge seiner geographischen Lage von den übrigen Erdteilen praktisch isoliert war. Pflanzen, die in ihren Ursprungsländern relativ harmloses Unkraut sind, breiteten sich nach ihrer Einschleppung in Australien meist rasend schnell aus und beherrschten in manchen Gegenden bald die Flora – wie z.B. der bestens bekannte Feigendistelkaktus. Im Süden Australiens würden die fruchtbaren Täler in Brombeersträuchern ersticken, geböte der Mensch diesen nicht dauernd Einhalt. Das offene Land wird heute von Disteln überwuchert. Die im Südosten heimischen Säugetiere sind von Hasen, Kaninchen und Fuchs fast völlig verdrängt; lediglich das Baum-Opossum konnte sich zahlenmäßig halten.

Aus Australien selbst wurden aber ebenfalls Schädlinge, meist Insekten, in andere Länder eingeschleppt. Wir erwähnten bereits die Schildlaus auf Akazien und Orangenbäumen. Eine Singzikade aus Queensland ruinierte in kurzer Zeit fast die gesamte Zuckerindustrie auf Hawaii. Durch die Einführung geeigneter Raubwespen aus Australien konnte der Schädling aber unter Kontrolle gebracht werden. Es gibt Dutzende von ähnlichen Beispielen in der Literatur über Ausbreitung und Eindämmung ökonomisch relevanter Plagen. Sicherlich existieren unter den lebenden Organismen unzählige vergleichbare ökologische Konstellationen, deren genaue Erforschung dem Menschen einfach noch nicht wichtig genug erschien.

Die Entwicklung eines annähernd ausgeglichenen Verhältnisses zwischen konkurrierenden Spezies ist für die Beziehung zwischen Wirt und Parasit ebenso charakteristisch wie für jede andere derartige Interaktion. Das Parasit-Wirt-Verhältnis ist aber noch durch besondere Bedingungen gekennzeichnet, die zu berücksichtigen sind. Die meisten Parasiten können nur auf einer oder einer geringen Anzahl eng verwandter Wirtsspezies leben. Das Hauptproblem eines Parasiten, will er überleben, besteht in der Übertragung seiner Nachkommen von einem Wirtsindividuum zum nächsten. Hierfür hat die Natur alle möglichen Methoden entwickelt. Gewöhnlich wird eine ungeheure Zahl von Nachkommen bereitgestellt. Viele Larvenformen finden in anderen Tieren, deren Lebensgewohnheiten die Übertragung auf den neuen, eigentlichen Wirt gewährleisten, ihren Zwischenwirt. Es ist auch einleuchtend, daß unabhängig von dem Übertragungsmodus eines Parasiten eine erhöhte Populationsdichte empfänglicher Individuen die Übertragbarkeit steigert. Nehmen wir an, wir haben zehn Hühner in einem sehr großen Gehege. Eines von ihnen ist von Kokzidien befallen, im Darm parasitierenden Protozoen, die durch infizierten Kot aufs Futter übertragen und somit verbreitet werden. Wahrscheinlich wird es dann sehr lange dauern, bis ein weiteres Huhn erkrankt – sicher übrigens an einer ziemlich milden Infektion, weil es nur relativ wenige Parasiten aufgenommen haben kann. Sind aber 500 Hühner, darunter ein infiziertes, in demselben Gehege untergebracht, so ist für jedes Huhn die Chance 50mal größer, innerhalb kurzer Zeit infiziert zu sein. Erkranken erst einige Tiere und beginnen sie, die Parasiten auszuscheiden, dann wird sich diese Infektion mit zunehmender Geschwindigkeit ausbreiten, bis alle Hühner befallen sind. Außerdem sind sie dauernd Reinfektionen ausgesetzt und leiden unter heftigeren Krankheitsschüben, was sich in einer höheren Sterblichkeit niederschlägt. Genauso verläuft auf einer Geflügelfarm erfahrungsgemäß eine Kokzidienepidemie, wenn die Sicherheitsvorschriften nicht beachtet werden.

Die periodisch wiederkehrenden Landplagen durch kleine Nager seien als natürliches Beispiel wechselseitiger Beeinflussung von Populationsdichte und Parasitenaktivität erwähnt. Die Lemmingschwärme in Skandinavien bieten dafür ein klassisches Beispiel; hier in Australien sind wir mehr mit Mäuseplagen vertraut. In manchen Jahren vermehrt sich die eingewanderte Hausmaus so ungeheuer stark, daß in Getreide- und Heuschobern in einer einzigen Nacht Mäuseschwärme buchstäblich eimerweise eingefangen werden. Sperber, Eulen und Katzen leben im Überfluß; Vögel wie der Ibis ändern ihre normale Lebensweise und ernähren sich von Mäusen. Trotzdem können sämtliche Feinde die enormen Mäuseplagen nur um ein weniges reduzieren; gleichwohl hören diese in der Regel ziemlich plötzlich wieder auf. Zunächst findet man wenige tote Mäuse; die Zahl der übrigen sinkt rasch auf oder unter den Normalstand. Hier sind Infektionskrankheiten am Werk. Sobald die Mäusepopulation eine bestimmte Dichte überschritten hat, findet eine schnelle Übertragung von Parasiten, Bakterien und anderen Erregern in hoher Konzentration statt. Den Bakteriologen boten sich nur selten günstige Gelegenheiten, die Mikroorganismen, die für die Beendigung der Mäuseplagen in Australien verantwortlich sind, zu bestimmen. Wir können aber sicher sein, daß die Erregerart von Mal zu Mal wechselte. Im Jahre 1940 untersuchte ich selbst Mäuse aus den Weizenanbaugebieten im nördlichen Victoria, wo eine Mäuseplage monatelang anhielt. Alle waren an einer Pilzaffektion der Gesichtshaut und an abszeßähnlichen Anschwellungen der Glieder, hervorgerufen durch eine seltene Bakterienart (Streptobacillus moniliformis), erkrankt. Ein anderes Mal trat eine Mäuseplage in Queensland gleichzeitig mit einer weitverbreiteten Form von Fleckfieber beim Menschen auf, wobei es ohne weiteres denkbar ist, daß eine Infektion dieser Art dann die Mäuseplage auch beendet hat.

Die Verkleinerung einer anomal großen Tierpopulation durch Parasiten (einschließlich der krankheitserregenden Mikroorganismen) ist nur ein weiterer Beleg für den Grundsatz, daß eine gewisse Populationsdichte notwendig für die Erhaltung einer Spezies ist.

Inwieweit treffen nun die genannten ökologischen Gesichtspunkte für den Menschen zu? Seit Jahrhunderten stand und steht der Mensch am rechten Ende einer Vielzahl von Nahrungsketten. Er hat sich wie andere Säuger laufend über die zum Überleben seiner Art notwendige Zahl hinaus vermehrt. In Ermangelung menschenfressender Raubtiere verhinderten andere Faktoren eine Übervölkerung. Der einfache Hungertod mag manchmal eine Rolle gespielt haben; häufiger jedoch wirkte sich die Lebensmittelknappheit indirekt in erzwungener Auswanderung, inneren und äußeren Kriegen, eingeschränkter Fruchtbarkeit und starker Säuglingssterblichkeit aus. Das alles trug zur notwendigen Reduzierung der Bevölkerungsziffer bei. Weit mehr trugen Hungersnöte jedoch zum Überhandnehmen und zur wachsenden Virulenz von Infektionskrankheiten bei. In Kriegen und Hungersnöten haben Bakterien wahrscheinlich immer einen höheren Blutzoll vom Menschen gefordert als Hunger und Schwert selbst. Sogar in den kurzen Zeiten des Friedens und des Wohlstandes haben Infektionskrankheiten eine wichtige Rolle gespielt. Sie waren es hauptsächlich, die bis zum 19. Jahrhundert eine Übervölkerung verhinderten; in einigen Teilen der Welt ist das ja auch heute noch so. Indessen sinkt mit der zunehmenden Elimination dieser Krankheiten aus allen dichter besiedelten Ländern die Säuglings- und Kindersterblichkeit schrittweise immer weiter ab. Das größte politische Problem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es jetzt, der beginnenden Bevölkerungsexplosion Herr zu werden.

Man bedarf lediglich der Kenntnis dieses kurzen historischen Zeitraums, um einzusehen, daß die Ausbreitung der Zivilisation zum größten Teil nichts anderes als die Ansammlung größer und größer werdender Menschenmengen in begrenzten Räumen darstellt. Eine Zivilisation ohne Städte ist undenkbar – und gerade diese waren bis in das 19. Jahrhundert hinein die Keimzentren für Infektionskrankheiten. Wie sollte es auch anders sein? Jahrhundertelang kannte man keine der heute gängigen Vorsichtsmaßnahmen, um die Ausbreitung von Bakterien und tierischen Parasiten zu verhüten. Die Straßen der Städte waren mit Unrat von Mensch und Tier übersät; Wasser kam aus verseuchten Quellen, und überall gab es Ratten, Läuse und Flöhe. In einer derart verschmutzten Umgebung zusammengepfercht, waren alle Städter Tag für Tag unvermeidlich der Infektionsgefahr ausgesetzt. Es ist deswegen auch nicht verwunderlich, daß die Stadtbevölkerung im Laufe der Geschichte immer wieder vom Land her ergänzt werden mußte. Nur wenige Städte konnten ihre Einwohnerzahl aus sich heraus halten. Die Anziehungskraft des ›Herdenlebens‹ war schon immer stark genug, um einen stetigen Strom ehrgeiziger Menschen aus den dünner besiedelten und daher gesünderen Landgegenden anzuziehen. Im großen und ganzen ist die Geschichte des gesamten Altertums und des Mittelalters von den immer wieder aus den Steppen und Gebirgen Osteuropas und Zentralasiens hervorbrechenden Nomadenstämmen geprägt, die in die zivilisierteren Gebiete und Städte in China, Indien, Mesopotamien, in das Mittelmeergebiet und Westeuropa einfielen. Das Leben der Nomaden war ein gesundes Leben. Ihre Nachkommen konnten sich selbst so lange halten, wie die Steppe sie erhalten konnte. Nach jeder Eroberungsflut nahmen die Sieger die Lebensgewohnheiten der unterworfenen Stadtbevölkerung an, und Krankheiten sorgten nun dafür, daß ihre Kinder nicht mehr in gleicher Zahl das Erwachsenenalter erreichten wie während des Nomadendaseins.

In den folgenden Kapiteln müssen wir die Gründe besprechen, warum nicht alle Einwohner dieser unhygienischen Städte an Infektionskrankheiten zugrunde gingen. Wir werden uns dabei nur das wichtige ökologische Problem des menschlichen Zusammenlebens in stark bevölkerten Gemeinwesen betrachten. Vernünftigerweise darf man erwarten, daß sich in einem dichtbesiedelten, aber nach außen abgeschlossenen Gebiet ohne Rücksicht darauf, welche Erreger sich anfangs darin befunden haben, schließlich ein ausgewogener Zustand einstellt. Ebenso muß man annehmen, daß die Einschleppung eines gefährlichen neuen Erregers in dieses System das Gleichgewicht empfindlich stören wird. Die Geschichte gibt dafür viele Beispiele. Vor der Entdeckung durch Europäer waren die pazifischen Inseln ziemlich dicht besiedelt. Es gab wenig endemische Krankheiten; die Bevölkerung war im ganzen sehr gesund. Als Händler, Missionare und Sklavenjäger ihr Werk beendet hatten, hatten ein Dutzend oder mehr epidemische Infektionskrankheiten aus Europa, verbunden mit einer allgemeinen Demoralisierung, die Bevölkerung einer Inselgruppe wie der Hebriden auf ein Zehntel der ursprünglichen Einwohnerzahl reduziert.

Europäische Städte, Hauptanschauungsmaterial in der Geschichte der Epidemiologie, hatten immer wieder mit Nachbarstädten Kontakt. Neue Krankheiten wie der ›Schwarze Tod‹ konnten mit Ratten und deren Flöhen von Stadt zu Stadt ziehen, oder, wie die Syphilis am Ende des 15. Jahrhunderts, mit erobernden Armeen ihre Reise durch ganz Europa antreten, oder sie wurden, wie 100 Jahre zuvor die Cholera, unerkannt durch Fuhrleute von Ort zu Ort mitgeschleppt. Belagerungen, Überschwemmungen und Dürreperioden brachten Hungersnöte und störten auf diese Weise das Gleichgewicht zwischen dem Menschen und seinen Parasiten. Es gab niemals eigentlich die Möglichkeit, einen Modus vivendi mit allen Mikroorganismen und Parasiten, die für den Menschen pathogen sind, zu finden.

Verlassen wir die ›unhygienische‹ Vergangenheit, und betrachten wir die gegenwärtige Zivilisation aus derselben Blickrichtung. Da haben sich zwei Dinge gewandelt. Zunächst haben wir Methoden entwickelt, um bestimmte Infektionsformen, die früher eine besondere Rolle spielten, unter Kontrolle zu bekommen – Infektionen, die durch Schmutz oder direkt durch menschliche Fäzes verbreitet oder von obligaten und fakultativen Parasiten wie Flöhen, Läusen oder Moskitos übertragen wurden. Eine gut funktionierende Kanalisation und Wasserversorgung sowie andauernde Reinlichkeit haben uns in den gemäßigten Breiten von Typhus, Dysenterie, Cholera, Pest, Flecktyphus und Malaria befreit. Wir sind aber noch nicht in der Lage und werden es vielleicht auch nie sein, die Ausbreitung von Erkrankungen zu verhindern, die durch die sogenannte ›Tröpfcheninfektion‹ übertragen werden. Erkältungen, Halsentzündungen, Grippe, Masern und ähnliche Krankheiten werden von Mensch zu Mensch durch kleine Speicheltropfen weitergegeben, die beim Kauen oder Sprechen in die Luft gesprüht werden. Solange Menschen in großen Gemeinschaften ihrer Arbeit nachgehen müssen, wird diese Quelle dauernder Infektion bestehenbleiben. Wenn überhaupt etwas die Gefahr der Ausdehnung solcher Infektionskrankheiten hat anwachsen lassen, dann die ungeheure Zahl und die Reiselust heutiger Städter. Diese Tatsache führt uns zu der zweiten großen Veränderung in der Gegenwart. Ausmaß und Geschwindigkeit des Reiseverkehrs zwischen allen zivilisierten Ländern der Erde haben dem Menschen eine einzige große Umwelt im biologischen Sinn geschaffen. In Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland treffen wir überall genau dieselben Infektionskrankheiten an. Die parasitierenden Mikroben, vor denen wir uns nicht schützen können, haben eine echte Chance, ein relatives Gleichgewicht mit ihrer Wirtsspezies zu erreichen, wie wir es als Klimax oder Endzustand der Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen definiert hatten. Für verschiedene Erkrankungen scheint das bereits eingetreten zu sein. Die gewöhnlichen Kinderkrankheiten wie Masern, Windpocken, Diphtherie, Keuchhusten und Mumps breiten sich epidemisch aus und haben auch gelegentlich Todesfälle zur Folge, doch sinkt die damit verbundene Sterberate von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. In Ländern mit ausgebautem Medizinalwesen und guter Medikamentenversorgung zur Behandlung der für Todesfälle und langwierige Leiden verantwortlichen Komplikationen können diese Erkrankungen schon keine nennenswerte Sterblichkeit mehr für sich verbuchen. Die betreffenden Erreger werden zwar weiterhin vorhanden sein, doch werden sie sich kaum noch im täglichen Leben bemerkbar machen.

Auf die genannten Kinderkrankheiten folgt eine bedingte oder vollständige Immunität gegen Reinfekte. Wie wir später noch im Detail zu erläutern haben, erkranken eben wegen dieser anschließenden Immunität nur Kinder. Am Beispiel der Masern können wir nachzeichnen, was sich gewöhnlich abspielt. Wenn eine Gegend etwa ein Jahr masernfrei war, wird irgendein Kind vielleicht von einem Kind aus einer anderen Stadt angesteckt. Dieses Kind infiziert nun seinerseits in der Schule eine Anzahl Fünf-, Sechs- und Siebenjähriger. Alle nicht schon durch eine frühere Masernerkrankung Gefeiten, die Kontakt bekommen, werden davon erfaßt werden. Das bedeutet also, daß in der Regel Kinder in den ersten Schulklassen und Kleinkinder aus denselben Familienkreisen betroffen sind. Jedes empfängliche Kind wird sich unweigerlich bereits beim Kontakt mit einem im katarrhalischen Prodromalstadium befindlichen Kind die Masern zuziehen. Manche kommen zwar auch mit der Infektion in Berührung, entwickeln aber kein eigentliches Krankheitsbild, weil die aufgenommene Erregerdosis zu klein war. Charakteristische Masern können bei guter Pflege völlig ausheilen, und der kleine Patient wird wieder gesund wie zuvor. Schwächliche, leicht kränkelnde Kinder können aber auch eine Lungenentzündung bekommen und sterben. Die Epidemie wird sich fortschreitend über die Stadt oder den betreffenden Landstrich ausbreiten, nach zwölf bis vierzehn Tagen ihren Höhepunkt erreichen und sich unter normalen Umständen nicht wesentlich abschwächen, bis sie einen Großteil aller empfänglichen Kinder ergriffen hat. Sobald diese ihre Krankheit hinter sich haben, sind alle immun; die Keime können sich zunehmend schwerer behaupten. Schließlich werden die Masern aus dieser Gegend verschwinden; das Virus aber hat unterdessen in ähnlicher Weise andere Bezirke erfaßt. Nach etwa zwei Jahren ist eine große Zahl empfänglicher Kinder nachgeboren, und der Kreislauf kann von neuem beginnen.

Es ist üblich, die Ausbreitung von Epidemien mit einem Waldbrand zu vergleichen. Wo das Feuer einmal gewütet hat, wird es erst wieder Nahrung finden, wenn neues Unterholz nachgewachsen ist. Vielleicht können wir den Vergleich noch etwas weiter spinnen und uns eine besondere Baumart vorstellen, die es natürlich in Wirklichkeit nicht gibt – eine Baumart, die in ihrer Jugend aus dem Stamm brennbare Schößlinge sprießen läßt, deren obere Teile, von denen die spätere Entwicklung ausgeht, aber unbrennbar sind. Wenn nun ein Feuer über einen solchen Wald hinweggeht, verlieren die Bäume zwar die untersten Triebe, bleiben aber am Leben. Es sei ein Charakteristikum unseres Baumes, daß einmal entfernte untere Triebe niemals wieder ausschlagen; nur neue Sprossen können auswachsen. Manchmal vernichtet ein besonders starker Brand wohl einen jungen Baum, doch die meisten werden überleben und bei weiteren Bränden feuerfest sein. Im Wald mag außerdem Windstille herrschen und das Feuer nur langsam um sich greifen. Bisweilen bleibt ein Waldstück jahrelang von Bränden verschont, aber früher oder später wird der ganze Bezirk wieder erfaßt werden – dann nämlich, wenn ausreichend neue Triebe an einst verheerten Bäumen ausgesproßt sind, um einem Flächenbrand Nahrung geben zu können. Ein spezieller Gesichtspunkt sollte bei diesem Vergleich noch betont werden. Wenn das Feuer jahrelang gemiedene Waldgebiete wieder heimsucht, lodern die lang ausgewachsenen brennbaren Äste besonders heftig auf, und es werden dann viel mehr Bäume zugrunde gehen als sonst. Als eine Maserninfektion auf die Sandwich-Inseln (Hawaii) gelangte, kam es zu einem derart heftigen Auflodern. Fast die gesamte Bevölkerung erkrankte, und mehrere tausend Menschen starben.

Auf mancherlei Art können wir die Naturgeschichte der Masern aufzeichnen. Wir dürfen aber die wechselseitige Abstimmung zwischen Mensch und Masernvirus nur dann als Gleichgewicht bezeichnen, wenn wir das für eine große Bevölkerung und für einen sehr langen Zeitraum annehmen. Innerhalb einer einzelnen Gemeinschaft ähnelt diese Wechselbeziehung eher einer weit hin und her schwingenden Schaukel. Trotzdem haben wir hier ein klares Beispiel, wie sich der Mensch und der Erreger einer Infektionskrankheit aneinander anpassen, ohne daß dem Wirt ein ernster Schaden entsteht und die Existenz des Virus bedroht ist.

Eine andere Möglichkeit zur Entwicklung einer gegenseitigen Toleranz sehen wir beispielsweise an den Auswirkungen der Psittakose. Die Psittakose, auch Papageienkrankheit genannt, wurde in den Jahren 1929 und 1930 international bedeutsam, als infizierte Papageien aus Südamerika für eine große Zahl menschlicher Erkrankungen in Europa und Nordamerika verantwortlich gemacht werden konnten. Wie bei vielen anderen Infektionskrankheiten vermutete man auch hinter der Psittakose des Menschen eine ernste Erkrankung epidemischer Natur. Als wir aber ihr Wesen Schritt für Schritt zu erkennen begannen, wurde klar, daß ihr epidemisches Auftreten lediglich ein zufälliges und relativ ungewöhnliches Vorkommnis darstellte. Es lohnt sich, den Weg der Enträtselung der Psittakose etwas genauer zu betrachten, da er ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist, wie sich ein wissenschaftliches Interesse von rein medizinischen auf biologische Gesichtspunkte verlagert. Die Erforschung der Psittakose ist relativ jung. Sie begann 1930, als Wissenschaftler in England, Deutschland und Amerika gleichzeitig verkündeten, daß es sich bei dem Erreger um ein filtrierbares Virus und nicht, wie ursprünglich angenommen, um ein Bakterium handele. 30 Jahre später war endlich gewiß, daß der fragliche Keim tatsächlich weder als Virus noch als Bakterium zu klassifizieren ist, sondern daß er, wie auch die Rickettsien, die unter anderem das Fleckfieber erregen, eine Zwischenstellung einnimmt. Für unsere Betrachtung ist es ziemlich gleichgültig, wie wir den Erreger einordnen. Die praktische Bedeutung der wissenschaftlichen Ergebnisse liegt in der Isolierung des Keimes und der Entwicklung von Nachweismethoden bei erkrankten Menschen und Papageienvögeln. Damit waren die notwendigen Voraussetzungen zum weiteren Verständnis der Naturgeschichte dieses Erregers gegeben.

Der nächste Schritt wurde drei Jahre später in Kalifornien getan. Nach der Epidemie der Jahre 1929/30 hatte man in den Vereinigten Staaten Papageienvögel aus Südamerika mit einer strengen Einfuhrsperre belegt und gehofft, die Erkrankung auf diesem Wege loszuwerden. Nun waren aber die Symptome der Psittakose allen Ärzten bekannt, und man diagnostizierte laufend weitere Erkrankungsfälle bei Menschen, die niemals irgendeine Berührung mit importierten Papageien gehabt hatten. Als Quelle ihrer Infektion entpuppten sich nahezu alle in Nordamerika selbst geschlüpften Wellensittiche. Ein großer Psittakoseausbruch war auf eine Sendung solcher Vögel aus einer kalifornischen Vogelhandlung zurückzuführen. Auf Veranlassung kalifornischer Behörden begann in den Staaten eine großangelegte Untersuchung der Verhältnisse in den Zuchtstätten von Wellensittichen.

Die meisten Menschen kennen den Wellensittich; er wird auch Halsbandsittich oder Sperlingspapagei genannt, stammt aus Australien und kommt dort im spärlich bewaldeten, grasbedeckten Binnenland vor. Die Wildform ist hauptsächlich grün; in der Gefangenschaft sind aber verschiedene Farbvariationen aufgetreten, die sich auch speziell herauszüchten lassen. Jetzt gibt es Schattierungen jeder Farbe von fast reinem Weiß bis zu tiefem Blau, außerdem dutzendweise Zwischentöne von Gelb, Grün und Grau. In den meisten Teilen der Welt ist der Wellensittich gleich hinter dem Kanarienvogel der beliebteste Ziervogel. Ein recht ausgedehntes Gewerbe befaßt sich mit Zucht und Verkauf. In Amerika ist die Wellensittichzucht großen Stils fast nur auf Kalifornien beschränkt, von wo große Mengen dieser Tiere in die anderen Staaten versandt werden.

Die kalifornischen Vogelzuchtstätten boten ausreichend Gelegenheit, das Verhalten des Psittakoseerregers zu studieren. Über die Hälfte der 104 überprüften Züchtereien war damit befallen. In vielen von ihnen wußte man auch, daß ein beachtlicher Teil der Jungvögel erkrankte und manche starben; andere Zuchten hatten trotz Infektion keine sehr hohe Sterblichkeit unter den Wellensittichen zu verzeichnen. Meyer, der die Aufsicht über die Untersuchungen führte, kam zu dem Schluß, daß sich bei infizierten Zuchten die jungen Vögel an dem Kot der älteren Tiere ansteckten und erkrankten. Sichtbare Symptome brauchen dabei nicht unbedingt aufzutreten; überdies werden die meisten Vögel wieder gesund. Sind die Wellensittiche acht Monate alt, so weisen sie keine Infektionszeichen mehr auf. Wenn überhaupt, bleiben bei ihnen nur wenige Erreger, völlig harmlos in Nieren- und Milzzellen versteckt, übrig. Eine bestimmte Anzahl solcher Erreger reicht aber aus, um die Jungvögel der nächsten Zuchtgeneration anzustecken. Auf Grund dieser Erkenntnisse wurden Maßnahmen zur Ausrottung der Psittakose veranlaßt, denen ein sehr beachtlicher Erfolg beschieden war.

Im Laufe seiner Nachforschungen importierte Meyer 200 wilde Wellensittiche aus Australien – in der Annahme, daß diese infektionsfrei seien. Ein bis zwei Monate nach ihrer Ankunft in Amerika stellte man indessen fest, daß einige wenige doch an Psittakose erkrankt waren. Da sie unmöglich in Kalifornien infiziert worden sein konnten, lag die Vermutung nahe, sie könnten den Erreger bereits aus Australien mitgebracht haben. Notwendigerweise mußten jetzt auch Bakteriologen in Australien die Verhältnisse in ihrem Lande prüfen, das man bis zu diesem Zeitpunkt frei von der Erkrankung geglaubt hatte. Wir begannen in Melbourne, die nötigen Untersuchungen durchzuführen. Zunächst besorgten wir uns eine Anzahl junger Papageien aus der nächsten Vogelhandlung. Etwa ein Drittel war von einer milden, aber sicheren Psittakose befallen. Ich brauche hier nicht auf die Details unserer nachfolgenden Versuchsreihen einzugehen; wesentlich ist allein, daß sie uns zeigten, daß wahrscheinlich die meisten der gewöhnlichen australischen Papageien und Kakadus in der Wildnis angesteckt werden. Manchmal war fast jeder Vogel, den wir vom Händler erhielten, infiziert. Bei anderen Stichproben fanden wir wiederum nur wenige Zeichen einer vorangegangenen Erkrankung und keine augenblicklichen Erregerträger. Jede der drei Hauptfamilien, Kakadu, Wellensittich und Lori, lieferte ihren Beitrag an infizierten Tieren.

Bei Beginn der Untersuchungen hatten wir zu der Vermutung geneigt, daß sich der Psittakoseerreger zusammen mit den Papageien in Australien entwickle und mit den Wellensittichen über die ganze Welt verbreite. In den nächsten Jahren lernte man aber eine immer größer werdende Reihe von Vögeln kennen, die mit Erregern vom gleichen allgemeinen Charakter wie die Psittakoseviren infiziert waren. Auf den Färöern im Nordatlantik trat etwa 1933 erstmals eine heftige Pneumonie in Erscheinung, die fast nur Frauen ergriff – und zwar in einer Jahreszeit, da große Zahlen junger Eissturmvögel getötet und zu Lebensmitteln verarbeitet worden waren. Einige Jahre später stand fest, daß sich die Frauen mit Psittakoseerregern infiziert hatten, daß die Infektion unter Sturmvögeln sehr verbreitet war und daß deren Jungtiere auf den Nistfelsen der Färöer ebenso wie die jungen Wellensittiche in den Vogelzüchtereien angesteckt wurden. Die verwilderten Haustauben in den Städten Amerikas, Englands, Australiens und Südafrikas trugen eine relativ harmlose Form des Erregers. Hühner, Enten und verschiedene Seevögel mußten ebenfalls in die Liste aufgenommen werden – und man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß wir es bei der Psittakose mit einer sehr alten, beinahe die gesamte Vogelwelt umfassenden Infektionskrankheit zu tun haben.

Die Verhältnisse unter den Papageien Australiens erbringen den einschlägigen Beweis dafür, wie die Psittakoseerreger in der Natur fortbestehen können. Es ist nicht leicht, an freilebenden Vögeln die gleichen detaillierten Untersuchungen anzustellen, wie sie an gezüchteten Wellensittichen möglich sind; dennoch entsprachen unsere Erkenntnisse so genau den Erwartungen, als ob die Bedingungen in der freien Natur denen in den Vogelzuchten Kaliforniens vergleichbar wären. Die Nestlinge werden aller Wahrscheinlichkeit nach von ihren Eltern infiziert, erleiden einen leichten Anflug der Erkrankung und erholen sich schnell wieder, tragen aber den Erreger etwa ein Jahr lang in sich. In diesem Beispiel erkennen wir eine ausgeglichene, wohlgelungene wechselseitige Abstimmung zwischen Parasit und Wirt. Tatsächlich scheinen in freier Wildbahn nur sehr wenige Papageien an der Psittakose zu sterben oder auch nur von ihr beeinträchtigt zu sein.

Wir wollen den Abschnitt über die Psittakose mit der Darstellung einer kleinen Epidemie abschließen, der wir vor einigen Jahren in Melbourne nachgehen konnten. Es ist eine lehrreiche kleine Geschichte. Der weiße Kakadu wird in Australien gern als Ziervogel gehalten. Er lernt sprechen und kann sich ebenso klug wie zärtlich stellen. Die Nachfrage nach diesem Tier befriedigen Vogelfänger, welche die Nester in hohlen Bäumen, noch bevor die Jungen flügge sind, ausnehmen. In der Stadt werden die Vögel dann von Tierhandlungen oder Gelegenheitshändlern angeboten. Die Epidemie, mit der wir uns jetzt beschäftigen wollen, ging von einer Anzahl von Kakadus aus, die von einem Höker einige Wochen lang in einem sehr engen und verschmutzten Käfig gehalten worden waren. Man diagnostizierte bei Menschen zwei besorgniserregende Fälle von Psittakose, einen davon bei der Frau des Hökers. Auf Veranlassung der Gesundheitsbehörde erfolgte eine Untersuchung der Begleitumstände. Dabei fand man erstens, daß alle in dem Hinterhofschuppen verbliebenen Kakadus infiziert und schwer an Psittakose erkrankt waren, und zweitens, daß wahrscheinlich aus dieser Quelle eine Gruppe von vierzehn Personen infiziert worden war. Fünf von ihnen waren ernstlich erkrankt; Todesfälle traten aber nicht auf.

Hier stoßen wir wieder auf unsere frühere medizinische Überlegung: Irgend etwas mußte das ökologische Gleichgewicht zugunsten des Parasiten verschoben haben. Wildlebende Kakadus weisen sicherlich niemals irgendwelche Symptome dieser Infektion auf. In der Gefangenschaft aber, zusammengepfercht im Schmutz, ohne Auslauf oder Sonnenlicht war ja das Aufflammen irgendeiner latenten Infektion nur zu erwarten. Der Erreger vermehrte sich und überschwemmte den ganzen Organismus. Große Erregermengen wurden mit den Exkrementen ausgeschieden und beschmutzten das Gefieder. Wenn die Vögel herumflatterten, mußten sie zwangsläufig eine Wolke virenhaltigen Staubes aufwirbeln und die ganze Nachbarschaft infizieren.

Die Psittakose ist eigentlich keine sehr ansteckende Krankheit. Zwischen Menschen wird sie nur extrem selten übertragen. Um eine lebensgefährliche Infektion zu erzeugen, muß der Erreger schon in die Lunge inhaliert werden. Das kommt aber gerade dann vor, wenn infizierte Papageien oder Kakadus den Erreger durch ihren Flügelschlag in die Luft wirbeln. Ein oder zwei Fälle sind bekannt, wo erkrankte Papageien in Laboratorien sämtliche Leute im ganzen Gebäude ansteckten. Hier hatte der Luftzug auf den Korridoren die Verbreitung des infektiösen Staubes begünstigt.

Die beschriebene Epidemie in Melbourne war zwar nur relativ klein, erregte aber beträchtliches öffentliches Aufsehen. Man nahm sich die üblen Methoden der Vogelfängerei zu Herzen und erkannte, daß die normale, harmlose Psittakose unserer wildlebenden Kakadus zu einer gefährlichen Erkrankung aufflammen und sogar den Menschen erfassen kann.

Vielleicht genügen diese Beispiele, um den allgemeinen Standpunkt festzulegen, den wir den Infektionskrankheiten gegenüber einnehmen müssen. Wir können darin einen Konflikt zwischen dem Menschen und seinen Parasiten sehen, der, gleichbleibende Umweltbedingungen vorausgesetzt, zu einem echten Gleichgewicht tendiert, einer Klimax, bei deren Fortbestand Wirt und Parasit unbegrenzt überleben würden. Des Menschen Umwelt verwandelt sich jedoch ständig, weshalb bisher nur wenige Krankheiten dieses Gleichgewicht erreichten. Die praktischen Aufgaben der Krankheitsverhütung und -behandlung erfordern grundsätzlich die Kenntnis der Folgen einer neuen Infektionskrankheit – sowohl für den einzelnen wie für menschliche Gemeinschaften – und darüber hinaus jener Grade der Krankheit, denen gegenüber noch eine gewisse Widerstandsfähigkeit erreicht werden kann. Dann ist es eine einfache Angelegenheit, diese Erkenntnis auch auf Erkrankungen anzuwenden, die bereits auf dem ökologischen Höhepunkt angelangt sind.

Es entstanden zwei voneinander abhängige Forschungsrichtungen, die sich um die Lösung der Probleme von Infektionskrankheiten bemühen. Die Immunologie befaßt sich mit der Reaktion des Individuums auf die Infektion mit Mikroorganismen; sie untersucht, was darüber entscheidet, ob ein Organismus überlebt oder stirbt, welches die physiologischen Vorgänge bei der Überwindung einer Infektionskrankheit und welches die Grundlagen der Immunität nach einer Erkrankung sind. Die Epidemiologie beschäftigt sich mit den allgemeinen Erscheinungen von Infektionskrankheiten – also nicht nur mit Epidemien, sondern auch mit der weniger spannenden, praktisch dauernd stattfindenden Verbreitung von Krankheitserregern innerhalb menschlicher Gemeinschaften. Sie befaßt sich mit der Gemeinschaft oder der Menschheit als Einheit, nicht mit dem Einzelwesen. Selbstverständlich orientieren sich aber ihre Methoden und allgemeineren Schlußfolgerungen im großen und ganzen an der vom Individuum bekannten Reaktionsweise gegen Infektionen. Der Zweck dieses Buches ist es, eine Darstellung der krankheitserregenden Mikroorganismen zu geben, die Abwehrvorgänge im Organismus zu schildern und Ursachen für den hartnäckigen Fortbestand und die Verbreitung von Infektionen innerhalb menschlicher Gemeinschaften aufzuzeigen. Das Buch ist nicht vom Standpunkt eines Arztes oder Pathologen geschrieben, dessen Aufmerksamkeit sich auf den Menschen selbst konzentriert, sondern aus der Sicht des Biologen, für den der Mensch und die Mikroorganismen Gegenstände gleich großen Interesses darstellen.

2. Kapitel Die ›Entwicklungsgeschichte‹ von Infektion und Abwehr

Das Rätsel um das Wesen der Erkrankung bietet unserem Wissensdurst ein fast unerschöpfliches Betätigungsfeld. Dabei kreuzen sämtliche Lebewesen unseren Weg, denn es existiert wahrscheinlich keine Spezies, die nicht zu irgendeiner Zeit entweder Wirte für einen Parasiten oder den Parasiten selbst stellte. Manche spielten sogar beide Rollen. Infektionserkrankungen sind ubiquitär, und jeder Versuch, eine Vorstellung zu gewinnen, wie sie im Lauf der Evolution entstanden sein könnten, führt uns unweigerlich auf die Uranfänge des Lebens zurück.

Astronomen und Geologen haben uns bereits ein ziemlich genaues Bild vom Ursprung des Sonnensystems und von der langsamen Entwicklung der Oberflächenformen unserer Erde gezeichnet. Die meisten Autoritäten auf diesen Gebieten nehmen an, daß die Erde durch Aggregation von kosmischem Staub entstand und vor etwa zwei bis drei Milliarden Jahren ihre jetzige Größe erreichte. Möglicherweise bildete sich eine feste Kruste, die aber nur einen Teil der Oberfläche einnahm und auf den zukünftigen Ozeanbecken schwamm. Darüber schwebte eine dichte Atmosphäre, hauptsächlich aus Stickstoff, Wasserdampf, Kohlendioxyd und flüchtigen Kohlenwasserstoffen. Wahrscheinlich waren auch Spuren ungebundenen Sauerstoffs vorhanden. Mit zunehmender Abkühlung kondensierte sich der Wasserdampf zu Urozeanen. Bis zu diesem Zeitpunkt war auf der Erde Leben unmöglich. Wir können auch ziemlich sicher sein, daß zur Zeit der Erdentstehung auf diesem Planeten kein Leben existierte, und als fast ebenso gesichert annehmen, daß auf keinem erdenklichen Wege aus einem anderen Teil des Universums präformiertes Leben zur Erde gelangt sein kann. Leben muß irgendwann einmal auf der Erde selbst aus lebloser Materie entstanden sein. Allgemein vermutet man, daß die Urmeere große Mengen verschiedener löslicher Verbindungen aus Kohlenstoff und anderen leichteren Elementen aufhäuften, welche ursprünglich eine Art ›Schaum‹ auf den ungeheuren Mengen von geschmolzenem Eisen und Lava gebildet hatten, der Hauptmasse des Planeten zur Zeit seiner Entstehung. Aller Wahrscheinlichkeit nach enthielt die Uratmosphäre keine größeren Mengen an ungebundenem Sauerstoff, und sicherlich erreichte auch viel mehr chemisch aktives ultraviolettes Licht als heutzutage die Erdoberfläche. Bernal nimmt an, daß auf Lehmbänken, die immer wieder einmal vom Flachwasser bespült wurden, Bedingungen geherrscht haben könnten, auf Grund deren eine Vielzahl organischer Verbindungen entstand. Hier fanden die Substanzen geeignete Möglichkeiten zur Adsorption an reaktive Oberflächen von Tonpartikeln; sie konnten von ultraviolettem Licht umgewandelt werden, und instabile Verbindungen waren vor spaltenden Einflüssen sicher. An solchen Stellen könnten sich die ersten Vorläufer der lebenden Substanz gebildet haben.

Die wachsenden Kenntnisse über die chemische Zusammensetzung kleinster Organismen haben auch zu detaillierten Vorstellungen und Vermutungen über die Natur der zwischen lebender Substanz und toter Materie stehenden chemischen Schlüsselverbindungen Anlaß gegeben. In den letzten ein bis zwei Jahren begann sich die Möglichkeit abzuzeichnen, einmal Materie von anderen als unserem eigenen Planeten zu untersuchen. Das eröffnete größere Aussichten als je eines Biologen Traum, die Probleme der Entstehung des Lebens direkt im Laboratorium zu erforschen. Es wäre nur eine Hand voll Staub von der Marsoberfläche mit den darin enthaltenen Mikroorganismen nötig, um jedes erstklassige biochemische Laboratorium auf der Erde jahrelang mit der Untersuchung der gemeinsamen Spuren zweier völlig getrennter Schöpfungswege auszulasten. Aber auch schon eine Diskussion solcher Möglichkeiten würde über unseren gegenwärtigen Erkenntnisstand hinausführen. Soweit wir heute sehen können, begannen irgendwann Riesenmoleküle oder primitive Vorstufen lebender Organismen auf die eine oder andere Art fortlaufend gelöste Kohlenstoffverbindungen und Verbindungen anderer Elemente einzubauen und sich zu wachsenden, selbständigen Einzelwesen zu entwickeln. Eine der Grundeigenschaften der lebenden Substanz besteht ja gerade in dieser fortwährenden Aufnahme und entsprechenden Weiterverarbeitung alles irgendwie geeigneten chemischen Materials.

Von allen möglichen Reisen mit einer ›Zeitmaschine‹ würde ein Biochemiker wahrscheinlich diejenige am fesselndsten finden, welche ihn in jene Zeitalter zurückführte, in denen sich die ersten Stufen der lebenden Materie bildeten. Es läßt sich anschaulich darstellen, welch seltsame Veränderungen wohl an den Rändern von Urmeeren vor sich gingen, wo sich geeignete Nährstoffe anhäuften, die etwa mit den heute verwendeten Nährmedien zur Züchtung von Bakterien vergleichbar sind. Sobald einmal Leben entstanden war, begann es sich wahrscheinlich auch schon exponentiell zu vermehren. Jüngere Formen mögen sich von den Überresten älterer ernährt haben. In der chemischen Zusammensetzung der Meere dürften häufig ubiquitäre Änderungen aufgetreten sein, für welche die lebenden Organismen selbst verantwortlich waren und welche diesen dann oft genug die Lebensgrundlage entzogen. Mit dem Beginn irdischen Lebens waren wahrscheinlich auch sofort alle grenzenlosen Möglichkeiten zur Entwicklung immer leistungsfähigerer Varianten vorhanden. Erfolgreiche Formen konnten sich zu Myriaden vermehren, aus denen bald noch erfolgreichere Varianten entstanden und sich entsprechend fortpflanzten.

Wo Leben ist, da ist auch Tod. Ein möglicherweise labiles, kompliziertes System konnte z.B. durch außerordentliche Hitze irreparabel zerstört werden, so daß weiteres Wachstum nicht möglich war. Die beiden Alternativen, Wachstum und Tod, sind die Angelpunkte der Evolution. Was sich sehr schnell vermehrt und damit den Tod umgeht, wird überleben. Von Anbeginn war das der kritische Prüfstein für alle Lebewesen. Vielleicht wird gerade auch am Beispiel der Infektionskrankheiten die Gültigkeit dieses Grundsatzes, der sich durch die gesamte Naturgeschichte des Lebendigen zieht, deutlich. Fast könnte man sagen, daß das Leben selbst nichts anderes ist als eine Erkrankung der Materie.

Mit dem Fortschreiten der Evolution wich einfaches, noch nicht organisiertes Leben den ersten Mikroorganismen. Diese müssen Einheiten locker geordneter lebendiger Substanz gewesen sein, die nur dann hinreichend funktionierten, wenn sich ihre Größe in bestimmten Grenzen hielt. Zur Erhaltung und Gewährleistung eines fortdauernden Wachstums und mehr oder minder einheitlicher Größen kristallisierte sich das Fortpflanzungsprinzip heraus. Jede organische Einheit erzeugte nun durch Teilung oder auf einem anderen Weg Nachkommen mit gleichen Merkmalen. Sicherlich ernährten sich diese primitiven Lebewesen wie die meisten Bakterien über lange Zeiträume hinweg lediglich durch Aufnahme der im umgebenden Wasser gelösten Stoffe.