Nebelinsel - Zoe Gilbert - E-Book

Nebelinsel E-Book

Zoe Gilbert

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Beschreibung

Neverness ist eine Insel fern aller Landkarten. Die salzige Luft ist schwer vom Duft der Ginsterbüsche, und etwas Mystisches liegt über dem Land. Es ist der Ort wundersamer Geschichten, die von einer alten Inselgemeinschaft erzählen. Ihr Leben ist geprägt von der rauen Natur, archaischen Bräuchen und mythischen Kräften, die in die Realität eindringen. Da ist beispielsweise Verlyn Webbe, der mit einem Flügel statt eines zweiten Arms geboren wurde. Oder Plum, die von einem Mann entführt wird, aus dessen Locken sie winzige Muscheln kämmt. Mit jeder Erzählung taucht man tiefer ein in die Welt von Neverness und verfällt ihrem einzigartigen Zauber.

Weitere berührende Wunderraum-Geschichten finden Sie in unserem kostenlosen aktuellen Leseproben-E-Book »Einkuscheln und loslesen – Bücher für kurze Tage und lange Nächte«

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Buch

Neverness ist ein ganz besonderer Ort. In dunklen Katen steigt einem der Geruch von Schafwolle, kalter Asche und feuchtem Reet in die Nase. Man hat den Geschmack von geräuchertem Fisch auf der Zunge, Finger gleiten über raue Ochsenhaut. Zugleich ist der Alltag der Menschen wundersam und voller Zauber. Immer wieder verschwimmen die Grenzen zwischen Menschen- und Tierwelt. Wertlose Gegenstände können größte Bedeutung annehmen und kleine Taten unübersehbare Konsequenzen haben. Das Leben der Inselgemeinschaft wird von uralten Bräuchen bestimmt, und ihre Erfahrungen reichen die Bewohner in dunklen Mythen von Generation zu Generation weiter. Doch auch wenn ihre Wirklichkeit eigentümlich und märchenhaft ist, sind diese Menschen keine Märchenfiguren. Sie sind so real wie das Meer und der Wind, und ihre Sorgen, Leidenschaften und Schwächen sind uns so vertraut, als wären es unsere eigenen. Dem Zauber, der von ihren Geschichten ausgeht, kann sich niemand entziehen.

»Eindringlich und prallvoll mit Leben. Hier ist jede Geschichte ein Zauber, eine Allegorie, ein nebelverhangenes Gedicht, aufgespürt im Dunkel unserer Vergangenheit.« Guardian

Weitere Informationen zur Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Roman

Aus dem Englischen übersetzt vonRegina Rawlinson

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»Folk« bei Bloomsbury Publishing

An imprint of Bloomsbury Publishing Plc

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © 2018 by Zoe Gilbert

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München

Collage: Ruth Botzenhardt

Landkarte und Illustrationen im Innenteil: © 2018, Isobel Simonds

Redaktion: Regina Carstensen

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24279-4V001

www.wunderraum-verlag.de

Für meine Mutter

HORCH, WIE DER RHYTHMUSdurch das Ginsterlabyrinth rollt. Der Abend dämmert schon, es ist die Zeit zwischen dem letzten Rest Sonne und dem ersten Stern, die Tür des Tages schließt sich; bald wird die Nacht sie endgültig versiegeln. Hämmernde Schritte hallen durch die gewundenen Tunnel im Ginster, Herzen klopfen im Takt dazu, alles überlagert vom Keuchen und Schnaufen der Jungen. Ihre Atemwölkchen verlieren sich über ihnen im Dornendickicht. Sie tragen Ärmel aus Ochsenhaut, haarig und schwarz. Das Leder stinkt. Die Ellenbogen schwitzen. Die weißen Hemden kleben an der Haut, ungeschützt wippen die frisch geschorenen Köpfe zwischen den stacheligen Büschen auf und ab.

Vier Wachstumszeiten, in denen der Ginster seine Stacheln verdoppelt, Kammern und Durchgänge, ja ganze Räume aus Dornen gebildet hat. So grausam hat er sein Labyrinth verwoben und verflochten, dass sich keiner der Jungen den Weg hindurch merken konnte.

Inmitten des Fußgetrappels rennt Crab, dass ihm die lockere Erde unter den Sohlen wegrutscht. Er ist ein schmächtiges Kerlchen und nimmt zum ersten Mal am Ginsterlauf teil. Unter seiner blassen Kopfhaut zeichnet sich der Knochen ab. Er mag der Kleinste sein, aber er ist auch der Schnellste. Wo die letzten gelben Blüten prangen, prescht er schlitternd durch spitze Kurven und vorbei an Hügeln und Buckeln. Im dunkelnden Blau dieser Stunde wirbelt er am Ende der Sackgassen herum, duckt sich durch kratzende Bögen. Hier und da begegnet er anderen Jungen, die ihre lederbewehrten Arme in den Ginster strecken und mit den ungeschützten Fingern darin herumtasten, unter den Stichen der Dornen zusammenzuckend.

Crab hat sich noch nicht ins Dickicht gestürzt. Mit den Augen sucht er die dunkelsten Stellen des Ginsters ab. Wenn er findet, was er begehrt, wird er kopfüber hineinspringen, kühner als alle anderen. Ginstermutter, stößt er mit heißem Atem flüsternd hervor.

Schau jetzt bergab, wo die Mädchen warten, unterhalb des stacheligen Waldes mit den flirrend gelben Blüten. Sie trampeln mit ihren Stiefeln im Heidekraut. Sie lassen die Sehnen ihrer langen Bögen schnalzen, als hätten sie Pfeile eingelegt, und dehnen die Sehnen, bis sie reißen. Mit diesen Bögen haben sie echte Pfeile tief in den Ginster geschossen, bis ins dunkelste Dickicht. Die bunt gemusterten Bänder, die daran hängen, heben sich flatternd von den schwarzen Nadeln des Ginsters ab. Manche Mädchen haben ihre Pfeile mit Nägeln beschwert, damit sie weiter fliegen. Alle Mädchen haben ihre Namen auf die Stoffstreifen gestickt. Einige haben noch einen roten Punkt hinzugesetzt, den Faden immer wieder an derselben Stelle eingestochen, bis ein Knötchen entstand, das dem Jungen, der ihren Pfeil findet, verrät, dass ihn bei seiner Rückkehr nicht nur ein Kuss auf den Mund erwartet.

Jedes Mädchen wünscht sich den rötesten Kuss, den Kuss eines Jungen, der sich für ihren Pfeil so tief in die Dornen gewagt hat, dass seine Lippen einem blutigen Nadelkissen gleichen.

Werrity Prowd sammelt die anderen um sich. Ihr Blick ist lauernd, die Lippen zum Schmollmund gespitzt. »Wen willst du küssen?«, fragt sie die Mädchen der Reihe nach: Plum, das Waisenkind, Linnet, die goldblonde Erntekönigin, March und Grey, die mürrischen Töchter des Jägers. Sie lachen und geben flüsternd die Namen preis.

Die Letzte, die sie fragt, ist Madden Lightfoot, das Stallmädchen. Sie ist in diesem Jahr zum ersten Mal bei den Bogenschützinnen dabei. Ihr Band hat die dottergelbe Farbe der Ginsterblüten. »Man kann sich nicht aussuchen, wer den Pfeil findet«, antwortet Madden. »Und ich verrate sowieso nicht, wen ich küssen will.«

Werrity grinst höhnisch und verschränkt die Arme über ihrem runden Bauch. »Bloß weil du hübsch bist, brauchst du dir noch lange nicht einzubilden, dass du den besten Jungen abkriegst. Der ist für mich bestimmt.«

»Schlampe«, faucht Grey.

»Hast du noch nicht genug?«, fragt March und stupst Werrity mit der Spitze ihres Bogens in den Bauch.

Wende dich ab von der Heidekrautflanke des Berges, richte den Blick auf die seewärtige Seite. Atme die Luft ein, rieche den Rauch. Männer und Frauen zünden bereits die Fackeln an und reichen sie weiter. Das ganze Dorf Neverness ist gekommen: Fischer und Bauern, Schäfer und Jäger, Vogelhändler und Fiedler, Brauer und Imker, Näherin, Hebamme, Müller und Barde. Jedes Jahr versammeln sie sich, wenn die Mädchen ihre Pfeile abschießen und die Jungen durch den Ginster rennen, um sie aufzustöbern. Sie lechzen nach Feuer, können es kaum erwarten, aber Brauch ist Brauch. Erst wenn das Spiel der Jungen und Mädchen vorbei ist und sie sich für den Abend zu Paaren zusammengefunden haben – ein Kuss für jedes Seidenband –, werden sie ihre dornige Ginstermutter niederbrennen.

Tritt ein in das Labyrinth, und koste von der Lust, die die Füße immer schneller durch den Ginster treibt. Es ist die Lust der Jungen an der Jagd nach den verborgenen Bändern. Doch es ist auch die Lust nach etwas Dunklerem. Ginstermutter. Die Nacht bricht herein, und in den Augen brennt ein fiebriges Feuer. Bloße Schädel und lederbewehrte Arme wühlen sich unter Gewimmer in die Dornennester. Erregtes Keuchen angesichts der stechenden Schmerzen. Jungen, die sich in den Dornen verfangen, treten panisch um sich und schälen sich aus ihren Hemden. Als einer, seinen bandgeschmückten Pfeil schwenkend, aus dem Labyrinth rennt, heben die anderen nicht einmal den Kopf.

Weiter unten, im Heidekraut, winkt Plum ihn zu sich ins violette Dunkel. Die anderen Mädchen verrenken sich die Hälse nach einem Blick auf seinen Mund, damit Plum nicht mogeln kann, indem sie sich die Lippen selbst blutig beißt.

Oben stolpert Crab durchs Labyrinth, die Ochsenhautärmel sind ihm auf die Hände gerutscht. Er hat den zerstochenen Schädel des Jungen gesehen, der den Berg hinuntergelaufen ist. Er verreibt die Blutströpfchen, die aus seinen Fingern quellen, und geht auf demselben Weg wieder zurück, tastet nach Wurzeln und knorrigen Stämmen, die ihm bekannt vorkommen, und versucht, den Pfeil zu finden, der sich am tiefsten ins Dickicht gerammt hat.

Da leuchtet ein weißes Band in einer Dornenhöhle, weiter als eine Jungenkörperlänge vom Pfad entfernt. Wenn er es haben will, kostet es ihn mehr als nur Kratzer. Er wird sich die Haut aufreißen. Crab ballt die Fäuste in den Ärmeln und schiebt sich hinein.

Zünde die letzte Fackel an, und folge den Männern und Frauen aus Neverness, die sich mit ihren lodernden, knisternden Flammen am Saum des Ginsters verteilen. Zwischen ihnen huschen boshafte Schatten – alle Wunden, alle Ängste, aller Zorn des vergangenen Jahres –, die die Dorfbewohner an den Haaren ziehen, ihnen ein Bein stellen. Das Ginsterfeuer wird sie ausräuchern und die Luft für die neue Jahreszeit reinigen.

Nur wenige Mädchen warten noch unten im Heidekraut. Grey tritt March gegen die Zehen, und sie stechen einander mit ihren zerbrochenen Bögen. Mit verkniffener Miene hält Werrity Prowd nach den letzten Jungen Ausschau, die noch den Hang herunterkommen müssen. Madden steht abseits und starrt in den Himmel.

»Wie viele noch?«, ruft ihnen ein Mann von weiter oben zu. Der Wind reißt ihm die Frage von den Lippen und ertränkt sie im Meer.

Den ganzen Herbst über hat es Crab, wenn er schlief, in den Beinen gezuckt, ist er im Traum durch das Ginsterlabyrinth geprescht, aber die Pfeile mit den Bändern haben sich seinen Fingern immer wieder entzogen. Erst am Tag vor dem Feuer findet er heraus, was er machen muss, um zu gewinnen.

Als Crab in halsbrecherischem Tempo zur Schenke gelaufen kommt, steht die Falltür zum Keller noch offen, mit einem Keil festgeklemmt. Von unten hallt Jungengeschrei herauf. Er landet in einem wilden Durcheinander: Hemden fliegen durch die Gegend, Ochsenhautärmel dreschen auf Köpfe ein. Im Keller stinkt es nach Tierhaut und Jungenschweiß, nach dem Bierdunst aus den Fässern. Crab bückt sich über den offenen Sack, der auf dem Boden liegt, und greift sich die letzte Rolle Ochsenhaut. Sie ist haarig und schwarz, steif wie Baumrinde.

Dally Oxley, ein Junge, den er kennt, sieht, wie er sich den Ärmel nimmt. »Jetzt brauchst du bloß noch den anderen, dann hast du ein Paar!«, brüllt er über den Tumult hinweg. »Nimm, was du kriegen kannst.«

Crab nickt und zieht sich die Ochsenhaut über. Sie schlackert, ist für dickere Arme als seine bestimmt. Die am kräftigsten gebauten Jungen, die sich die besten Ärmel längst umgeschnürt haben, fechten mit den Unterarmen. Er entdeckt Sandy Rincepan, der breitbeinig auf einem Fass hockt, während ihm Drake, der schneidigste der sieben Webbe-Brüder, eine Klinge durch die Haare zieht. Die ersten Büschel liegen auf dem Boden. Fast alle haben schon blank rasierte Schädel. Dally Oxley zeigt auf seinen kahlen Kopf. »Soll ich sie dir schneiden? Pie hab ich gerade auch schon geschoren.«

Pie ist Dallys Bruder, zwei Jahre älter, aber doppelt so groß und schwer. Crab schüttelt den Kopf. »Ich komme heute Abend unters Messer.«

Plötzlich hören das Kämpfen und Schreien auf. Ein Junge hat entdeckt, dass sie durch die Kellertür beobachtet werden, und bringt die anderen zum Schweigen.

»Wenn Pie Oxley da unten ist, könnt ihr ihm ausrichten, dass ich ihm einen roten Knoten sticke, der so dick ist wie eine Rosine«, sagt eine Stimme.

In der Ecke stößt jemand einen Pfiff aus. Drake Webbe ruft: »Und was ist mit mir, Werrity?«

»Träum weiter«, sagt das Mädchen und verschwindet.

»Die Mädels glauben, es geht dabei bloß um sie«, sagt Dally zu Crab. Er knüllt ein zerknittertes weißes Hemd zusammen und wirft es ihm zu. »Alles bloß, dass wir uns einen Kuss von ihnen abholen und uns dafür halb häuten lassen.«

»Ich will keinen Kuss von Werrity«, sagt Crab. Alle Jungen haben Werrity schon geküsst. Sie hilft ihrer Mutter oben in der Schenke aus und serviert nicht nur Bier, sondern auch verstohlene Blicke. Ihre Lippen sind immer zum Schmollmund gespitzt, zum Küssen bereit. Aber Crab hat schon den ganzen Herbst über Madden Lightfoot im Auge. Wie er selbst arbeitet auch sie auf der High Farm, als Lehrling im Pferdestall. Vor ein paar Monaten hat sie ihn, was Größe und Kraft angeht, überholt. Die Sommersonne hat ihre Beine und Arme brotbraun gefärbt. Sie traut sich bei den Pferden mehr zu als er. Wenn sie dem Hengstfohlen gut zuredet, wünscht Crab sich, sie flüstere ihm etwas ins Ohr.

»Klar«, sagt Dally. »Wir geben den Mädels ihre Küsse. Aber in Wahrheit willst du dasselbe, was wir alle wollen.«

Rings um Crab erhebt sich ein rhythmischer Sprechgesang.

Ginstermutter, Goldmutter. Stech mich. Leck mich.

Die Jungen scharen sich um Pie Oxley, der mitten im Keller steht, einen Kopf größer als der Rest. Er hat schon dreimal beim Ginsterlauf mitgemacht, seine Kopfhaut und die nackten Schultern sind mit roten Pünktchen übersät. Er fasst sich in den Schritt und mimt ein lustvolles Stöhnen. Dally und die anderen Jungen johlen.

Ginstermutter. Goldmutter. Ich stech dich. Du stichst mich.

»Sie kommt mich noch mal holen!«, ruft Pie grinsend und unter heftigem Keuchen.

»Das nennt man Glück!«, brüllt Dally Crab über die lauten Stimmen hinweg zu. »Kein Küsschen von einem Mädel im Heidekraut. Dass dich die Ginstermutter holt.«

Als Pie sich umdreht und mit gereckten Fäusten den Rhythmus schlägt, starrt Crab auf seinen rot gesprenkelten harten Rücken.

»Die hat ihn ganz zerstochen«, raunt Dally ihm ins Ohr. »Bevor er mit dem Stechen dran war. Sie hat einen Mund wie ’ne Schüssel Maulbeeren. So saftig. Pralle, volle Lippen, vom Rumkauen auf den Dornen. Damit besorgt sie es dir, und das ist ein Gefühl wie zehn Münder gleichzeitig. Wenn sie dich holt, kommst du aus dem Ginster als Mann wieder raus.« Dally sieht seinen Bruder neidisch an. »Wie ’ne Schüssel Maulbeeren«, wiederholt er.

Das Singen geht weiter. Ginstermutter. Dornenmutter. Saug mich auf, saug mich aus.

»Und wie kriegt man die Ginstermutter?«, fragt Crab.

»Du musst der Blutigste sein. Zerfetzt und zerstochen. Sie kommt erst, wenn das Feuer fast bei ihr ist, und nur, wenn du blutig genug bist.«

Pie Oxley hat sich zu den Bierfässern durchgekämpft. Er tritt aus einem den Zapfen heraus, fängt das schäumende Nass mit einem Eimer auf und stemmt ihn in die Höhe, dass es schwappt. »Trinkt auf die Ginstermutter. Trinkt auf sie, dann trinkt sie euch aus!«

Nachdem Ma Prowd die Jungen aus dem Keller gejagt hat, trödelt Crab durch den nassen Sand zur Fischerhütte seines Vaters. Unterwegs taucht er den Kopf in das graue Novembermeer, um den Biergestank loszuwerden. Fröstelnd schüttelt er sich das Wasser aus den Haaren. Mit den Lippen formt er stumm Madden Lightfoots Namen, doch er flüstert Ginstermutter.

Die erste Hütte, an der er vorbeikommt, gehört den Webbes. Auf der Schwelle hockt Verlyn, gegen die Kälte zusammengekauert. Neugierig beäugt er die Ochsenhautärmel, die Crab bei sich hat.

»Hab gerade deinen Bruder gesehen.« Crab deutet mit dem Kopf zur Schenke. »Machst du nicht mit beim Ginsterlauf?«

Verlyn zeigt auf seinen unförmigen Jackenärmel. Crab hat seinen Flügel oft auf dem Schulhof gesehen, als sie noch klein waren. »Dafür braucht man zwei starke Arme«, antwortet Verlyn. »Viel Glück.«

Verlegen lässt Crab den Kopf hängen. Er weiß, dass er ins Fettnäpfchen getreten ist. Heiße Röte schießt ihm ins Gesicht. »’tschuldigung«, murmelt er. Hoffentlich hat Verlyn sein Stoßgebet nicht gehört.

»Du musst mir hinterher alles erzählen!«, ruft Verlyn ihm nach, als Crab gegen den Wind weiterstapft.

Sein Vater steht bis zu den Knien in einem Gewirr aus Netzen, als er die geteerte Hütte betritt. Gill Skerry ist Fischer und rund wie ein Fass.

»Ich flicke schon für die nächste Fangzeit«, sagt er. »Na, kommst du zum Scheren?«

Sie bringen den Hocker nach draußen, und Crab kniet sich davor, den Wind im Rücken. Dicke dunkle Locken rollen von der Klinge seines Vaters über den Sand davon.

»Den Rest machen wir mit dem Rasiermesser, wenn wir zu Hause sind. Dann bist du so glatt wie ein Ei.«

Crab befühlt seinen Kopf, der nicht rot gesprenkelt ist wie der von Pie Oxley, und Nadelkissenschultern hat er auch nicht. »Hast du in meinem Alter beim Ginsterlauf mitgemacht?«, fragt er.

»Da hab ich doch deine Mutter zum ersten Mal geküsst.«

»Und du hast keine Stiche abbekommen?« Der Rücken des Vaters ist so weiß wie frisches Pergament. Rot ist seine Haut nur, wenn seine Frau ihm nach einer Nacht auf dem Boot mit der Bürste den Fischgeruch abschrubbt, bevor sie ihn ins Bett lässt.

»Klar habe ich Narben.«

Crab dreht sich zu ihm um.

»Hier drunter.« Der Vater reißt an seinen verfilzten Haaren.

»Und der Lauf hat dich zum Mann gemacht?«, fragt Crab mit brennend roten Wangen. Er hat getrocknetes Meersalz um die Augen.

Der Vater lacht trocken. »Dafür braucht es bloß harte Arbeit und ein paar Raufereien.« Er umschließt Crabs dünne Arme mit den Fäusten, als wären sie die Henkel einer Milchkanne. »Mit dreizehn war ich so kräftig wie ein Stier. Ich hatte es nicht nötig, durch ein Ginstergestrüpp zu rennen, um einen Kuss zu ergattern. Ich habe beobachtet, dass du ein Auge auf die Madden Lightfoot geworfen hast. Gut. Wenigstens siehst du ohne deine Locken nicht mehr wie ein Mädchen aus.« Er hebt Crab bei den Armen hoch, läuft mit ihm bis zum Schaumstreifen am Wasser und taucht ihn im Meer unter.

Komm nun wieder zurück, die steilen Uferfelsen hinauf, wo die Männer und Frauen aus Neverness mit ihren Fackeln warten. Über ihnen leuchten die ersten Sterne am Himmel. Die Tür des Tages hat sich fast geschlossen, doch auch das Jahr selbst dreht sich in den Angeln. Die Tage schrumpfen, die Nächte dehnen sich aus.

Schmecke das Feuer und das Salz in der Luft. Das Spiel hat lange genug gedauert. Die Ginstermutter muss brennen. So süß auch der Duft ihrer sonnendurchglühten Blüten, so hilfreich ihre Klammerfinger, mit denen sie die Wäsche zum Trocknen aufspannt: Sie ist jähzornig. Wer ihr etwas Böses tut, dem zieht sie die Haut ab. Die Leute aus Neverness wollen sie knistern hören, wollen sie eingehen sehen, wollen ihren letzten Atemzug atmen.

Ein weißes Hemd kommt aus dem Ginster geschossen. »Wie viele noch?«, ruft einer aus der Reihe der Fackelträger, Gill Skerry, Crabs Vater. »Warten da unten noch Mädchen?« Ein Mädchen für jeden Jungen, einen Pfeil für einen blutigen Kuss. Oben bei den Fackeln rauscht ohrenbetäubend der Wind. Züngelnd verwandelt er die Flammen in fauchende Drachen. Gill Skerry will sich selbst überzeugen und geht mit gesenkter Fackel um den Saum des Ginsters herum.

Wieder springt ein blutender Junge aus dem Labyrinth, prescht an Gill Skerry vorbei den Berg hinunter. Es ist Pie Oxley. Er schwenkt ein gelbes Band. Es stehen nur noch zwei Mädchen im Heidekraut. Madden Lightfoot hebt die Hand. Der Preis gehört ihr. Werrity Prowd heult wütend auf.

»Wie viele noch?« Gill Skerrys Stimme zerstiebt in der Dunkelheit. Aber Werrity läuft schon Pie Oxley nach, der Madden den Berg hinunter- und durch ein Loch in der Hecke aufs angrenzende Feld zieht.

Höre die Wut in Werritys Stimme. »Das geht doch nicht!«, schreit sie. »Pie Oxley gehört mir!«

Gill Skerry hebt die Fackel und leuchtet in das verlassene Heidekraut. Kein Mädchen mehr in Sicht. Er stapft zurück zum Ginstersaum. »Auf geht’s!«, ruft er. Der Wind schleudert seine Stimme hoch in die Luft, wo eine Möwe schreit, ein weißer Geist in der Dunkelheit. Die Fackeln rücken vor, die Flammen greifen nach dem Ginster.

Crab zappelt wie ein Fisch an hundert Haken. Die Arme in der steifen Ochsenhaut sind nach vorn gereckt. Das Band, auf das er es abgesehen hatte, ist nicht mehr zu erkennen. Es ist zu dunkel. Er hat Blut in den Augen. Er hängt mit der Hose fest, mit dem zu großen weißen Hemd. Die Dornen drücken sich hindurch, bohren sich in seine Haut. Er ist am tiefsten ins Dickicht eingedrungen, hat es am längsten darin ausgehalten. Er wird der Blutigste von allen sein.

Heiß und keuchend geht sein Atem. Sein Herz rast. Er kann nicht hören, was sein Vater den Fackelträgern zuruft. Er kann auch Madden Lightfoot nicht hören, die im benachbarten Feld zu Werrity sagt: »Du kannst ihn haben. Ich wollte sowieso Crab Skerry.«

Crab wird von wabernden Rauchwolken eingehüllt. Er spuckt und hustet. Sein Körper ist klebrig von Schweiß und Blut. Hoffentlich ist er blutig genug. Er hört auf zu zappeln und blinzelt sich die Sicht frei. Der Husten rüttelt seine Schultern, schnürt ihm die Brust zusammen.

In der rauchig glühenden Ginsterhöhle macht er eine Gestalt vor sich aus, begleitet von ihrem eigenen Licht. Eine gezackte schwarze Silhouette vor einem Hintergrund aus dem Orange des Sonnenaufgangs. Sie trägt ein knisterndes Dornengewand. Kerzenhelle Blumen sprühen durch sie hindurch, aus ihr heraus. Ihre Haare sind Dornen. Ihre Augen sind Bernstein. Crab liegt ganz still, die Schmerzen weichen der Wärme. Gelbe Finger lecken wie Flammen. Sie nimmt ihn in ihre stacheligen Arme und hebt ihn hoch. Es ist, als pressten sich zehn Münder auf seinen Bauch. Hitze ergießt sich durch seine Lenden, seine Schenkel. Ginstermutter, flüstert Crab. Friss mich auf.

Tauklopfer, Tauhopser,

Lämmerfreund,

Flinkfuß, Leichtfuß,

Farnkrauthocker.

Grubensitzer, Furchenflitzer,

Gelb Gefleckter,

Hasenherz, Mümmelmann,

Kornfeldlangohr.

WAS NÜTZT DAS?«, SAGTTurpin, als Ervet den schweren Topf so schnell hochwuchtet und über das Herdfeuer schwenkt, dass das Wasser auf die Steine schwappt. Er greift nach Mütze und Stiefeln, stampft mit den Füßen auf den sandigen Läufer. »Was, frage ich dich. Jetzt kann ich mich noch nicht mal aufwärmen, bevor ich aus dem Haus muss.«

Er klopft sich auf Arme und Schenkel und bückt sich zum Fenster, um in die hartnäckige Nacht hinauszusehen.

»Es ist jetzt einen Monat her. Du kannst das Kind nicht für immer bei der Amme lassen. Versprich mir, dass du Frieden machst und deine Tochter heute nach Hause holst.« Der nicht enden wollende Aprilregen trappelt über das Dach. Tropfen klopfen an die Scheiben, wollen herein. »Hat dir der Fuchs deine Zunge gestohlen, Ervet?«

Ein Hase, würde sie am liebsten antworten. Ein Hase hat sie, aber sie schluckt die Bosheit herunter. Das war eine ihrer ersten Lektionen in Turpins Haus: Wenn sie will, dass ihr frisch angetrauter Ehemann heil mit dem Fischerboot heimkehrt, darf sie nicht über Hasen sprechen, ja nicht einmal an sie denken. Ein Hase ist für einen Fischer der schlimmste Unglücksbote. Ganze Nächte, ganze Fänge sind schon verloren gegangen, weil ein Fischer auf dem Weg zu seinem Boot wieder umgekehrt ist, nachdem er einen Hasen zu Gesicht bekommen hat.

Ervet kennt alle Namen für einen Hasen, die es gibt. Damit hat sie Turpin kurz nach der Hochzeit eines Nachts bei sich zu Hause gehalten. »Tauklopfer, Tauhopser, Kornfeldlangohr!«, hat sie gerufen und ihn wieder hinter den Bettvorhang gezogen. Sie ist überzeugt, dass Turpin ihr in jener Nacht, in dem nach Meer stinkenden Bett, den glänzenden Hering eingepflanzt hat, der in ihrem Bauch den Winter über und bis in den Frühling hinein immer größer geworden ist, glitschend und mit seinem fürchterlichen Schwanz peitschend. Wie froh sie den ganzen letzten Monat war, das Ding endlich los zu sein.

Der Topf ist noch kalt. Turpin steht bereits an der Tür.

»Wenn es hell wird, kommt meine Mutter.« Er nimmt ein Robbenfell vom Haken und schüttelt das Salz heraus. »Und am Mittag die Amme.«

Sie beißt sich auf die Lippen.

»Sei nett, Ervet. Meine Mutter will dir doch nur unter die Arme greifen. Sie meint, dass dir der Frühjahrsputz guttut.« Er wirft sich das Robbenfell um die Schultern. »Ich dachte mir, wir nennen das Kind nach ihr, Iska.« Als er sich zu ihr beugt, um ihr über den Kopf zu streichen, zuckt sie vor dem Fischbalggestank, der schon jetzt an seinen Händen klebt, zurück. Turpin knallt die Tür zu, dass eine feine Gischt hereinweht.

»Grubensitzer, Furchenflitzer, Farnkrauthocker«, murmelt Ervet und schläft wieder ein.

Als jemand ihren Namen brüllt, schreckt sie hoch. Ma Turpin hält in der einen Faust ein Knäuel Putzlumpen, in der anderen den Henkel eines Eimers. Und während jenseits der kalten Steinmauern die fahle Sonne lockt, steckt Ervet schon bald in einem von Ma Turpins Kitteln und muss von ihr lernen, was sie gar nicht lernen will. Wie man mit Sand das Heringsfett vom Herdstein schrubbt. Wie man ein Robbenfell richtig einölt. Wie man die Ausweidemesser schärft. Wie man die Fische ausnimmt und einsalzt und auf Schnüre fädelt, um sie, stinkenden Wäscheleinen gleich, in den Rauch des Kamins zu hängen.

Ma Turpins Hände sind mit Warzen wie mit Seepocken übersät. Wenn sie Ervet ausschimpft, klingt ihre Stimme wie das Bellen einer Robbe. Turpins Sachen sind verkrustet und verdreckt, blafft sie. Turpins Tasse ist nicht gespült, blafft sie. Es gibt nicht genug Seife, es gibt zu viel Schmutz. »Was treibst du den lieben langen Tag, statt für deinen Mann das Haus blitzblank zu putzen?«, fragt sie. Sie stehen im Garten und schütteln die Fischschuppen aus dem Läufer. Ervet blickt über Ma Turpins Schulter zu dem grünen Hügel hinüber. Dahinter liegt das Moor mit seinem süßen Binsenduft. Dorthin hat sie sich im langen, bitteren Winter und im nasskalten Frühling verkrochen, wenn Turpin auf dem Meer war, während sich der Hering in ihr krümmte und immer schwerer wurde. Im Moor steht das verlassene Haus ihres Vaters. Sie hat ihre Aufgaben als Fischersfrau vernachlässigt, um dort die vom Wind verwehten Schindeln und vom Salz zerfressenen Böden auszubessern.

»Mein Sohn ist das eine.« Ma Turpin funkelt Ervet böse an. »Aber das Kind ist seins und damit meins, und ich lasse nicht zu, dass es in diesem Dreck verkommt. Merk dir das.«

Am liebsten würde Ervet ihr den Läufer vor die Füße werfen und geradewegs ins Moor gehen. Stattdessen wirft Ma Turpin ihr den Läufer vor die Füße und rennt an ihr vorbei. Das Mädchen Werrity ist gekommen, auf dem Arm ein Bündel, das in einen Schal gewickelt ist. Ma Turpin nimmt es ihr ab, bringt es zu Ervet und lässt Werrity auf dem Weg stehen.

Aus dem Schal, der ein Schuppenmuster hat und nach Fisch riecht, glänzen die grauen Augen hervor, die sich anscheinend nie schließen wollen und Ervet immer nur anstarren. Das Ding sperrt den Mund auf und nuckelt.

»Siehst du das?«, bellt Ma Turpin, die ihr so dicht auf den Leib gerückt ist, dass Ervet ihren heißen Heringsatem im Mund schmeckt. »Sie will deine Milch. Es ist jetzt einen Monat her, Ervet. Höchste Zeit, dass du Werrity ablöst, sonst denkt deine Kleine noch, die nichtsnutzige Zitzendeern wäre ihre Mutter. Und wir wissen doch alle, dass sie nichts taugt.«

...Ende der Leseprobe